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Difference between revisions of "Erich Mühsam/Staatsräson/sechster Akt"
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Arbeiterversammlung in einem Saal zu Boston.
Am Vorstandstisch ein italienischer Arbeiter.
Rosa Sacco, Thompson.
VORSITZENDER. Musmanno Genossen! Das Verteidigungskomitee für Sacco und Vanzetti hat diese Versammlung einberufen, damit die Arbeiterschaft von Massachusetts aus dem Munde des Anwalts unserer Freunde, William G. Thompson, höre, welchen Verlauf die Bemühungen aller rechtschaffenen Menschen und des Proletariats der ganzen Welt genommen haben, um die unschuldig verurteilten Revolutionäre aus der Todesgefahr zu erretten und ihre völlige Rechtfertigung und Befreiung zu erzielen.
Die Geschichte der proletarischen Freiheitsbewegung in den Vereinigten Staaten ist zugleich die Geschichte unerhörter Verbrechen der herrschenden Klasse gegen alle, welche die furchtbare Lage der ausgebeuteten Klassen erkannt haben und die Wege zu bahnen versuchten, auf denen der arbeitende Teil der Menschheit in den Besitz des Bodens und der Arbeitsmittel und dadurch zu Recht und Freiheit gelangen muß. Unvergessen für alle Zeit bleibt der schändliche Justizmord, der in Chicago 1887 an den Führern des Kampfes für den achtstündigen Arbeitstag, an unseren Genossen Spieß, Parson, Fischer, Lingg und Engel, verübt wurde und der die erste Großtat der amerikanischen Justiz im Dienste des amerikanischen Kapitals war. Seitdem reiht sich Justizschmach an Justizschmach, Justizmord an Justizmord in Amerika und in allen anderen kapitalistischen Ländern. Jeder Streik war das Signal zu neuen Rechtsbrüchen. Die Gewaltpolitik der Staaten um die Ölfelder in Mexiko und um die Beherrschung des Finanzmarktes der Welt war zugleich die Kriegspolitik, die zum Eintritt in das Weltgemetzel führte, und die Versklavungspolitik gegen die Arbeiter im eigenen Lande. Erinnert euch der Demonstration der Ku-Klux-Klan-Banditen in San Francisco vom 22. Juli 1916 für die Annexion Mexikos. Eine Detonation sprengte die Demonstranten auseinander. Erinnert euch, wie man darauf die Genossen Tom Mooney und Warren Billings, die nichts mit der Explosion zu schaffen hatten, prozessiert hat. Daß Tom Mooney zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe »begnadigt« wurde, war alles, was mit den zu Bergen getürmten Beweisen für die Unschuld der Genossen erreicht werden konnte. Sie warten heute noch im Kerker auf ihre Befreiung.
Seit dieser Zeit, seit nach dem Siege im Weltkriege auch den Blödesten klargeworden sein mußte, für was für eine Art von Gerechtigkeit der amerikanische Arbeiter sein Blut hergab – seit aber auch in Rußland ein Volk seine Bedrücker niederwarf und das Kapital der ganzen Welt in Angst um seine gestohlenen Reichtümer versetzte – seit dieser Zeit hat sich der Unterjochungskampf des Staates gegen das Proletariat in seiner Schärfe vervielfacht. Die Prosperität der kapitalistischen Wirtschaft Amerikas ist nur eine scheinbare. In Wirklichkeit befindet sich Amerika in einer schweren wirtschaftlichen Krise. Europa ist zu schwach geworden, um die amerikanischen Waren aufzunehmen. Der Markt erstickt in Gold, und die Bourgeoisie zittert vor dem Proletariat, das sich seiner Kraft bewußt wird. Darum bewaffneten sich die jungen Abenteurer der Plutokratie und inszenierten einen Überfall nach dem andern auf revolutionäre Arbeiter, auf die Versammlungshäuser der I.W.W. und auf die Einrichtungen der proletarischen Organisationen. In Italien, der Heimat unserer Kameraden Sacco und Vanzetti, bisher einem der liberalsten Länder der Welt, hat sich eine Umwälzung vollzogen, die dort zum ersten Male die Entkleidung der staatlichen Organe von allen gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Behinderungen der Ausbeuter in ihrem Vernichtungskampf gegen die Ausgebeuteten gewagt hat. Das Beispiel des Faschismus findet in den Vereinigten Staaten von Nordamerika die willigsten Schüler. Denkt an die Bluttaten von Centralia, an die Terrorakte während des Grubenstreiks in West- Virginia – wo waren da die Richter? Keinen Mörder aus den Reihen des Ku-Klux-Klan wissen sie zu finden. Aber die Schandtaten der Faschisten, die sie decken, indem sie sie nicht verfolgen, überbieten sie selber in den Urteilen, mit denen sie die Opfer dieser Schandtaten geißeln. Dem höchsten Gipfel der Niedertracht hat die Justiz erklommen mit der Verurteilung unserer Freunde Sacco und Vanzetti wegen eines gemeinen Raubmordes, von dessen Hergang sie keine Ahnung hatten, bis man sie selber damit in Verbindung brachte. Soweit ist es gekommen in diesem Lande: weil wir Revolutionäre, weil wir Anarchisten sind, kann man es wagen, uns als Mörder aufs Schafott zu bringen, und die Bourgeoisie, verdorben und verfault bis ins innerste Mark, ruft dazu bravo!
VORSITZENDER. Bevor nun Anwalt Thompson seinen Bericht erstatten wird, gebe ich das Wort unserer lieben Genossin Rosa Sacco, der treuen tapferen Gefährtin Nicola Saccos.
VORSITZENDER. Sie wird uns sagen, wie sie Sacco und Vanzetti zuletzt angetroffen hat und was sie uns von ihnen auszurichten hat.
ROSA. Genossen! Ich bringe euch die Grüße meines guten Mannes, der nun wieder im Gefängnis in Dedham ist, zusammen mit seinem Leidensgefährten. Auch vom Genossen Vanzetti Gruß und Dank. Mit großer Freude haben sie erfahren, daß das Verteidigungskomitee sich nicht damit begnügt, die notwendigen juristischen Schritte zu unternehmen, um das Wiederaufnahmeverfahren herbeizuführen, sondern daß es gelungen ist, die Empörung der Arbeiterschaft der ganzen Welt wachzurufen gegen das Verbrechen, das an ihnen verübt ist. Denn dieses Verbrechen wird ja in Wahrheit an der Arbeiterschaft der ganzen Welt verübt. Unsere Freunde wissen gut, daß Justiz und Recht verschiedene Dinge sind und daß die Gerechtigkeit der Staaten nicht anders zu ehrlichen Taten aufgescheucht werden kann als durch den Druck des Willens derjenigen, denen die Begriffe Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit kein Reklameschild zur Täuschung Einfältiger bedeuten, sondern die Pfeiler der Freiheit, auf denen sich die Welt des Sozialismus aufbauen soll. Zustimmung. Sie glauben an die Kraft des Proletariats, falls sie angetrieben wird von der Einigkeit im Kampf und vom Glauben an den Sieg der Revolution. Beifall.
Genossen! Mein armer Nicola hat schwere Monate hinter sich. Ende 1922 begannen unerträgliche Quälereien, und Thayer ging mit hinterhältigen Vorwänden über alle Beschwerden hinweg. Da trat Sacco im Februar in den Hungerstreik, den er volle dreißig Tage, bis zum 17. März, durchgeführt hat. Am Tage vorher sollte ein wichtiger Termin stattfinden, worüber Rechtsanwalt Thompson ja alles Nötige sagen wird. Aber Sacco war durch die Nahrungsverweigerung so geschwächt, daß er seine Sache nicht hätte führen können. Der Termin mußte ausgesetzt werden. Jetzt schickte Thayer ihn in eine Nervenheilanstalt, das heißt, er lieferte ihn den Irrenärzten aus, wohl in der Hoffnung, daß ein Radikaler, falls man ihn nicht auf die Dauer zum Mörder stempeln kann, mindestens als Geisteskranker hingestellt werden muß. Die Idee wird so und so diskreditiert. Zustimmung. Der Richter hat sich in den Ärzten nicht getäuscht. Am 10. April erklärten sie Sacco für irrsinnig, und Thayer schickte ihn nun in die Anstalt für irre Verbrecher nach Bridgewater. Ich weiß, meine Freunde, daß Saccos Verstand keinen Augenblick getrübt war. Wenn ich mit unserem Sohn Dante und unserer kleinen Inès, die erst geboren wurde, als der Vater schon eingekerkert war, zu ihm kam – ich brauchte ihn nicht zu trösten, er tröstete mich und uns. Der Gedanke aber, der ihn bei Kräften hält, körperlich und geistig, das ist der Gedanke an die große Sache der Revolution, des Sozialismus und der Anarchie. Einen so klaren Geist, einen so ruhigen und in sich gefestigten Menschen konnten auch die Ärzte von Bridgewater nicht allzulange als Wahnsinnigen ausgeben. Am 10. September wurde er als geheilt entlassen und befindet sich jetzt mit Vanzetti zusammen im Gefängnis zu Dedham. Ich habe euch die Grüße der beiden Genossen ausgerichtet und bringe euch ihr Gelöbnis, was auch kommen sollte, der Idee die Treue zu halten und sich ihrer revolutionären Pflicht bewußt zu bleiben. Ich bitte euch, ihnen auch eure Grüße sagen zu dürfen und eure Versicherung, nicht zu erlahmen im Kampfe für ihre Befreiung. Helft mir und meinen Kindern den Gatten und Vater wiederzugewinnen – euch aber und dem Weltproletariat rettet zwei ehrliche und aufrechte Kämpfer für die Befreiung der Arbeiterklasse!
MUSMANNO. Euer Beifall bestätigt der Genossin Sacco, daß alle Herzen bei den Gefangenen sind und daß ihr sie bittet, den Kameraden Sacco und Vanzetti unsere brüderliche und kampfentschlossene Solidarität, unsere Grüße und heißen Wünsche zu übermitteln. Ich erteile das Wort dem Verteidiger Thompson.
THOMPSON mit Beifall begrüßt. Den Worten der Liebe will ich keine Beschreibung der erbitterten Gefühle folgen lassen, welche mich angesichts der Haltung der Behörden dieses Landes erfüllen. Sie sollen kahle Tatsachen hören, die Ihnen einen Einblick in den gegenwärtigen Stand der Angelegenheit gewähren mögen. Den äußeren Anlaß zur Verlesung dieses Berichtes gibt der Umstand, daß gestern, am 3. Oktober 1923, vom Hauptverteidiger, meinem Kollegen Fred H. Moore, dem Richter Thayer die Ergänzungsanträge für ein Wiederaufnahmeverfahren vorgelegt worden sind, nachdem bereits am 29. Oktober 1921 vom Verteidigerkollegium die Nichtigkeitserklärung des Urteils beantragt und die Hauptanträge für die Wiederaufnahme einige Tage später beim Gerichtshof zu Dedham registriert worden waren. Richter Thayer lehnte am 24. Dezember 1921 unser Revisionsgesuch ab, und nachdem wir dann am 22. Juli einen neuen Antrag mit den bekannten Gründen und Erwägungen eingereicht hatten, wurde die Erledigung der Formalitäten unter vielerlei Ausreden immer wieder hinausgezögert. Saccos Hungerstreik und seine angebliche geistige Erkrankung wurden vorgeschützt und endlich, am 30. April dieses Jahres, der Termin für unbestimmte Zeit ausgesetzt, da einer der beteiligten Staatsanwälte erkrankt sei.
Die wesentlichsten Faktoren in unseren neuen Anträgen bilden folgende Ermittlungen. Die Zeugin Lola Andrews, auf deren lügnerische Aussage sich der Schuldspruch gegen Sacco hauptsächlich stützte, hatte am 11. September 1922 ihre Bekundung vor den Geschworenen unter notarieller Beglaubigung völlig widerrufen. Kurz nach der Einreichung unseres Antrags aber, am 8. März, konnte der Staatsanwalt eine notariell beglaubigte Erklärung derselben Zeugin vorlegen, worin sie jenen Widerruf widerruft und die Prozeßaussage aufrecht hält. Wir mußten daher weiteres Material über den moralischen Charakter dieser hysterischen Person beibringen, deren Zeugnis von Anfang an nicht hätte verwertet werden dürfen. Wichtiger sind in unserem neuen Dokument die Bekundungen zweier früheren Justizbeamten, Lawrence Letherman und Fred F. Weyand, die die Verwendung gedungener Spitzel aus eigner Kenntnis bestätigen. Die Männer stellen aber in den Berichten außerdem fest, daß im Justizministerium jeder Mensch der Ansicht ist und von vornherein war, daß Sacco und Vanzetti mit dem Verbrechen von South Braintree nie etwas zu tun hatten und daß die Bostoner Behörde nur die von ihr verwahrten Schriftstücke vorzuziehen brauchte, um jede Spur eines Verdachtes gegen die Verurteilten zu tilgen. Letherman schreibt, daß er selbst wie fast alle älteren Beamten immer der Meinung gewesen sei, daß der Mord nur von Berufsverbrechern begangen sein könne. Er nennt den Namen eines von Mr. West, einer Kreatur des Staatsanwalts Katzmann, benutzten Spitzels, der dann selbst wegen schweren Raubes veruteilt wurde und jetzt seine Strafe im Staatsgefängnis von Massachusetts verbüßt. Der andere Gewährsmann, Fred Weyand, kompromittiert besonders einen gewissen Weiß, ebenfalls ein Werkzeug Katzmanns, durch die Enthüllung der Manöver mit dem Spitzel Ruzzamenti. Weiß, der zeitweilig Regierungsbeamter war, wußte genau, daß Sacco und Vanzetti keine Mörder sind. Er sagte zu Weyand ganz offen, daß das keine Rolle spiele, aber es seien schlechte Kadetten und sie müßten bekommen, was sie verdient hätten. Bewegung. Man muß sich der Äußerung einer prominenten amerikanischen Persönlichkeit erinnern, daß es besser wäre, wenn Sacco und Vanzetti den Tod erleiden, auch wenn sie unschuldig seien, als daß die Auffassung des Volkes über die Unantastbarkeit des Gerichtshofes und Gesetzes durch ihre Freilassung erschüttert würde – dann wird man Weylands Behauptung erfassen, daß die Verurteilung das Resultat der Zusammenarbeit der Beamten des Bostoner Justizministeriums mit der Staatsanwaltschaft war.
Ich erwähne noch, daß sogar von dem erwähnten Felix Weiß ein Brief beigebracht werden konnte, worin er seine Beziehung zu den Spitzeln selbst zugibt und gesteht, daß er Katzmann von seiner Kenntnis der anarchistischen Bewegung allgemein und Saccos Teilnahme an der Anarchistengruppe Galleani Mitteilung gemacht hätte. »Als Katzmann mich fragte«, heißt es wörtlich in dem Brief, »was ich über die Teilnahme Saccos an dem Raubmord von Braintree dachte, erklärte ich ihm, daß Anarchisten keine Verbrechen um Geld verüben, sondern um ein Prinzip, und daß das Räuberwesen nicht in ihrem Programm steht.« Sie haben also alle gegen besseres Wissen gehandelt.
Von Bedeutung ist auch die in unseren Anträgen wiedergegebene Erklärung des Schieß sachverständigen Proctor, dessen angebliches Gutachten, die Kugel in Berardellis Körper wäre aus Saccos Revolver gewesen, den Schlußstein auf das konstruierte Beweisgebäude setzte. Proctor hat nach der Verurteilung unter Eid erklärt, daß ihm nie die Möglichkeit gegeben worden sei, sich ein Urteil zu bilden. »Wäre mir«, sagt er, »die direkte Frage gestellt worden, ob ich einen bejahenden Beweis gefunden hatte, so hätte ich damals schon, wie ich es jetzt tue, mit Nein geantwortet.«
Wiederholt haben wir auch betont, daß doch die geraubte Geldsumme – 15776 Dollar – irgendwo geblieben sein muß. Sacco und Vanzetti waren aber nach dem Raubmord dieselben armen Arbeiter wie zuvor. – Doch wozu alle die Mühe? Ein Blick in die Archive des Justizamtes würde genügen, um Verdacht, Anklage und Urteil mit einem Schlage zu zertrümmern. In den fünf Wiederaufnahmeanträgen, die die Verteidigung eingereicht hat, ist die Forderung erhoben worden. Der Generalstaatsanwalt ist ein über das andere Mal aufgefordert worden, uns die Einsicht zu gestatten. Er hat dieses Verlangen niemals auch nur beantwortet.
Ich, meine Freunde und Zuhörer, bin kein Anarchist, kein Revolutionär, sondern ein konservativer Bürger dieses Staates. Aber ich halte auf Gerechtigkeit, und darum sage ich: Eine Regierung, die ihre eigenen Geheimnisse mehr achtet als das Leben ihrer Bürger, ist zur Tyrannei geworden.
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