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Erich Mühsam/Staatsräson/zwölfter Akt
Freier Platz in Boston. Später Abend. Gedränge.
RUFE. Nieder mit Fuller! Tod den Henkern! Es lebe die Revolution! Freiheit für Sacco und Vanzetti! Nieder mit dem Verräter Coolidge! Rache! Rache an Thayer! Tod Fuller und Thayer! Zum Gefängnis! Rettet Sacco und Vanzetti!
EIN ARBEITER. Ruhe, Genossen! Schwenkt ein Extrablatt.
VIELE. Ruhe! Neue Nachrichten!
1. ARBEITER. In Buenos Aires und Rosario haben die syndikalistischen Gewerkschaften den Generalstreik proklamiert!
RUFE. Bravo! Es lebe der Generalstreik!
1. ARBEITER. In Mexiko nehmen die Demonstrationen turbulenten Charakter an. Die Erregung der Massen ist unbeschreiblich. – In Paris, London, Brüssel, Berlin, Hamburg, Stockholm, Oslo, Kopenhagen demonstrieren Syndikalisten, Kommunisten und Anarchisten gemeinsam für Sacco und Vanzetti!
RUFE. Es lebe die proletarische Solidarität!
1. ARBEITER. In vielen Hauptstädten fühlen sich die amerikanischen Gesandten bedroht und fordern polizeilichen Schutz an.
RUFE. Bravo! Nieder mit der Reaktion! Nieder mit der Dollarjustiz!
2. ARBEITER. Genossen! Hört mich an!
VIELE. Ruhe! Laßt ihn sprechen!
2. ARBEITER. Wir jubeln über die Kundgebungen des internationalen Proletariats, statt selber zu handeln. Es ist bald elf Uhr. In knapp anderthalb Stunden soll das Todesurteil vollstreckt werden!
VIELE. Nein! Rettet Sacco und Vanzetti!
STIMMEN. Was sollen wir tun?
3. ARBEITER. Stürmt das Gefängnis! Holt sie heraus!
4. ARBEITER. Wir kommen nicht hin. Die Straße nach Charlestown ist abgesperrt. Überall Bewaffnete.
EINE FRAU. Zum Gouverneur!
2. ARBEITER. Er ist nicht da. Er hat sich auf sein Landgut gedrückt. Das ist eine kleine Insel, und die Wege dorthin sind mit Militär umstellt.
VIELE. Pfui! Der Feigling! Nieder mit Fuller!
2. ARBEITER. Auch Coolidge und viele Senatoren haben sich aufs Land verzogen und lassen sich bewachen.
RUFE. Die Lumpen! Feige Mörder! Tod Coolidge und Fuller!
ROSA. Genossen! Wir haben Abschied genommen. Wir kommen aus der Todeszelle.
STIMMEN. Still! Saccos Frau, Vanzettis Schwester! Sprich, Genossin.
ROSA. Wir durften nicht länger bleiben.
4. ARBEITER. Ist keine Aussicht mehr?
LUIGIA. Direktor Hendry hat gesagt, bevor er von Fuller keinen Telefonanruf hat, unternimmt er nichts. Er meint, es würde noch Gegenbefehl kommen.
3. ARBEITER. Glaubt den Lumpen nicht. Es sind alle Mörder!
VIELE. Nieder mit Fuller! Nieder mit Thayer!
FRAU. Solange Sacco und Vanzetti noch atmen, müssen wir noch hoffen.
ROSA. Ja, Genossin. Ich will noch nicht verzweifeln. Ihr wißt nicht, was für eine Nacht ich mit meinen Kindern durchlebt habe. Sie hatten uns wieder Mut gemacht. Am 22. Juli war Fuller selbst bei ihnen in der Zelle – sie waren im Hungerstreik. Er hat ihnen zugeredet, hat versprochen, er wolle sich für sie einsetzen, und hat sie dazu gebracht, den Hungerstreik aufzugeben. Zum Abschied hat er beiden die Hand gedrückt.
STIMMEN. Rache an dem Heuchler!
ROSA. Sie wollten es nicht eingestehen, daß sie wieder Vertrauen faßten. Aber wir lasen es in ihren Augen. Und dann eine Hiobsbotschaft nach der anderen. Am 3. August hat derselbe Fuller das Todesurteil bestätigt!
VIELE. Pfui! Nieder mit dem Gouverneur!
ROSA. Drei Tage danach kam der Bericht des Dreimännerausschusses: Schuldig!
1. ARBEITER. Sie haben heimlich hinter verschlossenen Türen verhandelt. Ein abgekarteter Betrug!
4. ARBEITER. Fuller wollte für sich und Thayer nur Deckung haben. Sie haben sich die drei Schurken selbst ausgesucht.
2. ARBEITER. Genossen, wie lange wollen wir hier schreien? Die Reaktion in Charlestown handelt!
LUIGIA. Freunde, Brüder, tut, was möglich ist!
5. ARBEITER. Ruhe! Eine wichtige Neuigkeit!
VIELE. Still! Ruhe! Was ist geschehen, Genosse?
5. ARBEITER. In der Untergrundbahn in New York ist eine Bombe explodiert. Große Verwüstungen. Mehrere Tote, viele Verletzte. Ungeheure Erregung in der Stadt.
VIELE. Bravo! Recht so! Tod der Reaktion!
EINE STIMME. Spitzelwerk!
1. ARBEITER. Wir können es nicht wissen.
2. ARBEITER. Genossen, laßt uns noch einen Versuch machen!
VIELE. Ja, ja – welchen?
2. ARBEITER. Laßt uns noch Deputationen absenden, eine im Auto zu Fuller, eine zweite direkt nach Charlestown.
VIELE. Ja, richtig! Bildet zwei Deputationen! Wer soll sie führen?
EINE FRAU. Eine Rosa Sacco und die andere Luigia Vanzetti!
VIELE. Bravo, Genossin. – Schnell, Genossin Rosa! Genossin Luigia! Jede mit fünf Arbeitern.
STIMME. Platz! Ruhe! Macht Platz für Genossen Musmanno!
VIELE. Ruhe! Platz da! Der Vorsitzende des Verteidigungskomitees, Genosse Musmanno!
MUSMANNO schwingt ein Papier. Aufgeschoben! Gouverneur Fuller hat einen Aufschub bewilligt!
LUIGIA. Aufschub! Rosa – höre doch! Ein Aufschub!
ROSA. Haltet mich, Genossen – ich kann nicht mehr.
STIMMEN. Lies vor, Genosse Musmanno!
MUSMANNO. Die Bekanntmachung Fullers lautet:
»Die Gerichtshöfe der Republik sind eifrig damit beschäftigt, Beschwerdeschriften und Petitionen, die von den Juristen eingereicht werden, zu behandeln und Beschlüsse zu fassen. Die Gerichtshöfe selbst haben nicht die Macht, Aufschub zu gewähren. Um ihnen jedoch Gelegenheit zu geben, die Anklage gegen Sacco und Vanzetti zu behandeln, und damit sie auf ihre neuen Erwägungen Beschlüsse gründen können, habe ich dem Exekutivrate empfohlen, die Vollstreckung der Urteile an Sacco, Vanzetti und Madeiros um zwölf Tage bis zum 22. August zu verschieben. Der Rat hat einstimmig so beschlossen. Bevor dieser Beschluß gefaßt wurde, hatte auch die Oberstaatsanwaltschaft denselben Vorschlag unterbreitet.«
Genossen! Freunde! Ich war bei den Kameraden in der Todeszelle und habe ihnen die Nachricht gebracht. Sie hatten keine Kraft mehr sich zu freuen.
EINE FRAU. Die Armen!
MUSMANNO. Ihre Köpfe waren schon rasiert, damit der Metallrand des elektrischen Stuhles sicherer wirken könne.
LUIGIA. Entsetzlich! – Bartolomeo!
MUSMANNO. In vierzig Minuten sollten sie sterben.
RUFE. Nieder mit Thayer! Nieder mit der Dollarjustiz!
MUSMANNO. Sie hatten mit allem abgeschlossen.
ROSA. Oh, nicht das erste Mal.
MUSMANNO. Nun heißt es weiter arbeiten! Wir haben zwölf Tage gewonnen. Das ist eine kurze Zeit, aber guter Wille und revolutionäre Kraft können viel schaffen!
2. ARBEITER. Was wird jetzt weiter geschehen, Genosse Musmanno?
MUSMANNO. Sacco und Vanzetti werden noch heute nacht von der Todeszelle ins Gefängnis zurückgebracht.
3. ARBEITER. Zu neuen Todesqualen!
MUSMANNO. Der Oberste Gerichtshof muß noch einmal die Anträge auf ein Wiederaufnahmeverfahren prüfen.
ROSA. Immer derselbe Kreislauf.
3. ARBEITER. Die Schufte stecken ja doch alle unter derselben Decke.
MUSMANNO. Ihr müßt weiter demonstrieren! Jeden Tag auf die Straße!
4. ARBEITER. Das wollen wir. Und wenn der Oberste Gerichtshof wieder nein sagt?
MUSMANNO. Dann bleibt noch der Weg zum Höchsten Gerichtshof in New York und ein Appell an den Präsidenten Coolidge.
3. ARBEITER. Der hat sich schon unsichtbar gemacht.
MUSMANNO. Der Appell an den Höchsten Gerichtshof ist erst zulässig, wenn das Oberste Gericht von Massachusetts versagt hat, und auch dann nur, wenn wir die Unterschrift eines Mitglieds des Bundesgerichts selbst dazu erlangen. Wenn sein Vorsitzender Holmes die Unterschrift nicht gibt, wird Rechtsanwalt Thompson den früheren Präsidenten, Oberrichter Taft, auffordern. Vor allen Dingen muß erreicht werden, daß das Justizministerium seine Akten über den Fall veröffentlicht. Dann wäre der Beweis erbracht, daß die Behörden untereinander gesetzwidrig konspiriert haben.
2. ARBEITER. Das wissen wir doch. Aber keiner wird den anderen ins Unrecht setzen.
4. ARBEITER. Die Staatsräson geht ihnen allen über das Recht.
1. ARBEITER. Ruhe, Genossen! Wieder eine Meldung!
VIELE. Ruhe! Ruhe!
1. ARBEITER. In San Francisco hat heute abend in einer Kirche eine Explosion stattgefunden.
2. ARBEITER. Das ist die Stimme des beleidigten Proletariats.
MUSMANNO. Genossen! Wir müssen natürlich alle gesetzlichen Wege benutzen. Aber es geht nicht um bürgerliches Recht, nicht um Anwendung von Paragraphen und juristischen Formeln. Wir stehen in der schwersten Schlacht des Klassenkrieges. Das internationale Kapital hat das internationale Proletariat herausgefordert. Die Genossen Sacco und Vanzetti, unsere Freunde, sind die vorgeschobenen Posten in diesem Kampf. Wenn sie noch etwas retten kann, so nur die aktive Solidarität ihrer Arbeitsbrüder. Proletarier, vorwärts! Es lebe der revolutionäre Klassenkampf des Proletariats!
GESANG. Brüder zur Sonne zur Freiheit! –
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