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Erich Mühsam/Staatsräson/zehnter Akt
Amtszimmer des Gouverneurs Fuller in Boston.
Gouverneur Alvin Fuller. Ein Sekretär.
SEKRETÄR mit Akten. Hier sind weitere Erklärungen, Proteste, Petitionen, Drohbriefe und Eingaben verschiedenster Art, die an den Präsidenten Coolidge gerichtet waren und die aus dem Weißen Hause an uns weitergegeben sind.
FULLER. Die Angelegenheit dieser beiden Anarchisten nimmt nachgerade groteske Formen an. Ich ersticke bald in dem Papier, das die Leute in der ganzen Welt vollschreiben, um den höchsten Beamten des Staates Massachusetts über seine Pflichten aufzuklären.
SEKRETÄR. Einige Schreiben habe ich Ihnen, Gouverneur Fuller, zur besonderen Aufmerksamkeit zu empfehlen. Hier ist das Manifest eines französischen Schriftstellers Romain Rolland und hier ein Appell an das amerikanische Volk von einem seiner Kollegen, einem gewissen Anatole France. Es soll sich um angesehene Vertreter ihrer Nation handeln.
FULLER. Mögen die Leute sich mit ihren Schreibübungen um die Skandale im eigenen Lande bemühen. Es ist bald, als ob die Bostoner Regierung keine dringenderen Geschäfte hätte, als diese aufgebauschte Justizbagatelle zu behandeln, ja, als ob es in der ganzen Welt keine wichtigere Aufgabe gäbe, als zwei Schlingel von Staatsfeinden, Gesetzverächtern, Anarchisten, Deserteuren und lästigen Ausländern, die obendrein des schweren Raubmordes schuldig befunden sind, vor dem elektrischen Stuhl zu bewahren.
SEKRETÄR. Schon wieder eine Deputation.
FULLER. Und natürlich wieder in Begleitung des ganzen radikalen Pöbels. Sind die Wachen verstärkt?
SEKRETÄR. Das Gebäude ist gegen jede Gefahr vollkommen gesichert. Es ist ausgeschlossen, daß außer ihren erwählten Sprechern Demonstranten ins Haus gelassen werden.
EIN LAKAI. Eine Delegation des Verteidigungskomitees für Sacco und Vanzetti.
FULLER. Sind Ihnen die Mitglieder der Delegation bekannt?
LAKAI. Rechtsanwalt Thompson ist dabei und die Frau des Sacco mit noch einer Ausländerin, außer dem Mr. Musmanno und drei Arbeiter.
FULLER. Also gut, lassen Sie sie eintreten. Lakai ab. Man muß der Bestie Zucker geben.
FULLWE Geht den Ankommenden entgegen, drückt Thompson, Rosa und Musmanno die Hand. Ich freue mich, Sie wieder bei mir zu sehen, und ich bewundere Ihre unverdrossene und opferfreudige Mühe für Ihre Schutzbefohlenen.
ROSA. Wir wollen von Ihnen keine Schmeicheleien hören, Gouverneur Fuller. Leben und Tod der Verurteilten liegt in Ihrer Hand. Sie haben die Macht, die schreckliche Maschine stillstehen zu lassen, die in zwölf Tagen meinen Mann und den Bruder dieser Frau morden soll. Ich stelle Ihnen Luigia Vanzetti vor.
FULLER gibt Luigia die Hand. Sie haben eine weite Reise gemacht aus liebender Sorge um Ihren Bruder. Seien Sie versichert, daß Sie in mir einen Mann vor sich haben, dem es nicht an menschlichem Verständnis für Ihre Gefühle fehlt.
LUIGIA. Und was können Sie mir für Hoffnungen geben?
FULLER. Ich überlege hin und her, gute Frau. Wären meine Hände nicht so sehr gebunden durch die Gesetze der Vereinigten Staaten –
EIN ITALIENISCHER ARBEITER. Aha, Sie verstecken sich hinter die Gesetze.
MUSMANNO. Gouverneur Fuller, es kann Ihnen nicht entgangen sein, daß die Affäre Sacco und Vanzetti die ganze zivilisierte Welt in ungeheure Aufregung versetzt. In allen Ländern Europas, auch in den großen Städten des Orients und Australiens finden gewaltige Meetings und Demonstrationen statt. Von der gereizten Stimmung der arbeitenden Bevölkerung Lateinamerikas gar nicht zu sprechen. Ich denke, Sie selbst müßten mit Resolutionen und Protesttelegrammen überschüttet werden.
FULLER. Allerdings, Mr. Musmanno, die Berichte der amerikanischen Botschafter in allen Ländern lassen keinen Zweifel darüber, daß der Fall die öffentliche Meinung des Auslandes stark bewegt – wie es scheint, mehr als in den Vereinigten Staaten selbst.
ITALIENISCHER ARBEITER. Die eingewanderten Arbeiter in den Staaten stehen ihren Klassengenossen anderswo gewiß nicht nach.
AMERIKANISCHER ARBEITER. Es ist wahr, daß das amerikanische Proletariat durch den Faschismus teilweise stumpf und indifferent geworden ist. Aber nicht allgemein, Gouverneur! Die Illusion des Wohlstandes, mit der die Bourgeoisie durch die Gewährung eines windigen Komforts das Elend des Proletariats zeitweilig zu verschleiern versteht, wird eines Tages zerreißen, und dann werden die Stimmen, die Ihr Staat verstummen machen will, aus den Gräbern die Massen zur Revolution rufen.
FULLER. Bürger! Sie dürfen den Hütern der amerikanischen Verfassung nicht drohen!
THOMPSON. Gouverneur Fuller, auch ich kenne gut die Gesetze des Staates und achte sie. Aber diese Gesetze sind in dem Rechtsfall Sacco und Vanzetti hundertfach verletzt worden. Ich klage den Richter Thayer an, daß er seine Entscheidungen nicht nach den wirklichen Ergebnissen der Untersuchung gefällt hat, sondern nach den Einflüsterungen interessierter Gruppen, die in politisch gefärbten Prozessen leider die Justiz des Landes zu beeinflussen vermögen, und nach seiner eigenen haßerfüllten Meinung gegen die Anarchisten.
FULLER. Ich kann und darf mir solche Unterstellungen nicht zu eigen machen. Der Richter hat unabhängig kraft seiner eignen Überzeugung zu handeln und ist nur seinem Gewissen verantwortlich. Ich habe nicht Partei zu nehmen. Ich bin Beamter, und meine Handlungen werden bestimmt von den Erfordernissen des Staatswohles und der Staatsautorität.
ROSA. Immer der Staat! Der Mensch gilt euch nichts!
FULLER. Ich bin nicht die maßgebende Instanz. Was das Gericht als Recht erkannt hat, muß ich vollziehen.
THOMPSON. Dann frage ich Sie: Durfte Richter Thayer die Geschworenen über ihre Pflichten belehren, wie er es getan hat? Er forderte die Jury auf, ihr Amt aufzufassen wie ein echter Soldat, der dem Geiste der höchsten amerikanischen Loyalität zu folgen habe. Kam es hier auf den Geist der Loyalität an oder darauf, ob Sacco und Vanzetti gemordet haben? Durfte Richter Thayer, um festzustellen, ob die Angeklagten Raubmörder seien, sie darüber zur Rede stellen, warum sie das Land nicht liebten, warum sie von seinen Einrichtungen enttäuscht seien, warum sie behaupteten, die Harvard-Universität werde nur von reichen Leuten besucht? Diente das der Feststellung der Wahrheit oder der Beeinflussung der Geschworenen?
FULLER. Ich bin nicht auf diesen Platz gestellt worden, um die Richter des Landes zu kritisieren.
LUIGIA. Aber wir kritisieren sie, wir, denen die Richter das Leben ihrer Nächsten stehlen.
MUSMANNO. Sehen Sie in die Zeitungen, Gouverneur. Den anarchistischen, den revolutionären Arbeiterblättern könnten Sie vielleicht vorwerfen, was wir dem Richter Thayer vorwerfen, daß sie statt nach den Tatsachen nach der politischen Opportunität urteilen. Aber hier haben Sie den konservativen »Boston Herald«, der jahrelang den Schuldspruch gebilligt hat. Er schreibt, nach der Selbstbezichtigung Madeiros' sei die Unschuld der Männer erwiesen und ihre Hinrichtung würde den Namen Amerikas für alle Zeiten mit Schande beflecken. So lauten Tausende von bürgerlichen Stimmen. Vielleicht ist es nützlich, wenn ich Sie auch an den wirtschaftlichen Schaden erinnere, der den Staaten droht, wenn Sie nicht Einhalt gebieten.
FULLER. Inwiefern wirtschaftlicher Schaden?
MUSMANNO. In Schweden hat sich ein Zweigkomitee des unseren für die Errettung Saccos und Vanzettis gebildet. Es hat den sozialistischen Rechtsanwalt Branting entsandt, um an Ort und Stelle den Sachverhalt zu studieren. Er befindet sich auf der Fahrt nach Boston. Die schwedischen Arbeiter sind entschlossen, wenn es sein muß, das Weltproletariat aufzurufen zum Boykott der amerikanischen Waren.
FULLER. Das sollte ich abwenden können? Mit allem kommt man zu mir! Ich bin da, um den Staat Massachusetts zu regieren in Übereinstimmung mit den Gesetzen, ohne den Stimmungen und Erregungen einzelner Kreise Rechnung zu tragen, ohne mich auch den Forderungen oder Drohungen des Auslandes zu beugen.
ROSA. Sie wollen nichts tun – das ist alles. Sie wollen wie Katzmann und Thayer, daß der Vater meiner Kinder sterben soll!
FULLER. Sie tun mir Unrecht, Frau Sacco. Auch von der anderen Seite versucht man, auf mich einzuwirken. Unter diesen Akten sind Hunderte von Briefen, die mich auffordern, stark zu bleiben und den Dingen ihren Lauf zu lassen.
ITALIENISCHER ARBEITER. Das glauben wir, daß die Dollardespoten nicht müßig sind!
FULLER. Wie soll ich es allen recht machen? Was ich auch tue und anordne – ein Teil ist immer unzufrieden und bürdet mir die Schuld an allen Folgen auf. Wie komme ich dazu?
ARBEITER. Pontius Pilatus! Er wäscht seine Hände in Unschuld.
LUIGIA. Wir wollen Klarheit! Wir wollen Gewißheit! Es geht um Menschenleben!
FULLER läuft unschlüssig auf und ab. Gut. – Ich bin nicht der Unmensch, für den Sie mich halten. Die Hinrichtung findet am zehnten Juli nicht statt!
LUIGIA. Rosa! – Rosa, hör doch: findet nicht statt!
ROSA. Still! Was werden Sie tun, Gouverneur? Begnadigen Sie?!
FULLER. Die Vollstreckung wird um einen Monat, bis zum 10. August, aufgeschoben.
ROSA bitter. Auf-ge-schoben! Wieder nur aufgeschoben! Wieder nur das fürchterliche Spiel der Katze mit der Maus verlängert!
MUSMANNO. Sie hören, Gouverneur Fuller. Unsere Genossen, die uns zu Ihnen geschickt haben, werden ungeduldig. Was bedeutet der Aufschub?
FULLER. Das Urteil des Richters Thayer aufzuheben steht, wie Sie selbst wissen, nicht in meiner Macht. Alle Rechtsmittel sind bereits erschöpft. Dennoch soll ein übriges geschehen. Ich werde einen eignen Ausschuß aus drei unbefangenen Männern einsetzen, die bis jetzt amtlich mit der Sache nichts zu tun gehabt haben. Dieser Ausschuß soll das ganze Material prüfen, und kommt er zu dem Schluß, daß das Urteil anfechtbar ist – dann soll, dafür verbürge ich mich, an Sacco und Vanzetti kein Unrecht geschehen.
LUIGIA. Oh, Rosa – glaubst du?
ITALIENISCHER ARBEITER. Ein neuer Betrug, eine neue Finte!
MUSMANNO. Aus wem wird der Ausschuß bestehen? Wird er öffentlich tagen?
THOMPSON. Werden dem Ausschuß die Archive des Justizamtes geöffnet werden? Wird er die Geheimverhandlungen zwischen Washington und Boston kennenlernen?
FULLER. Lassen Sie mich alle diese Fragen noch überdenken und mit dem Ausschuß selbst darüber entscheiden. Es wird alles gewissenhaft erwogen werden, und Sie dürfen das Vertrauen haben, daß das große Herz Amerikas für jeden Bedrängten offensteht.
ROSA. Vertrauen? – Nein, Gouverneur Fuller. Ich habe kein Vertrauen mehr. – Aber ich will trotzdem neue Hoffnung schöpfen, um daraus die Kräfte zu stärken, die ich in meinem Kampfe für Sacco und Vanzetti nötig habe. – Komm, Luigia.
MUSMANNO. Täuschen Sie nicht die Hoffnung, die Sie geweckt haben.
THOMPSON. Ich danke Ihnen, Gouverneur Fuller.
ITALIENISCHER ARBEITER. Wir erwarten nichts mehr von Ihrer Gerechtigkeit. Die Arbeiter werden fortfahren zu kämpfen.
FULLER. Leben Sie wohl. Gibt Thompson, Musmanno und den Frauen die Hand und folgt ihnen bis zur Tür. Von der Straße Getöse und Rufe.
FULLER zum Sekretär. Verständigen Sie sofort den früheren Richter Grand und die Professoren Lowell und Pratton; ich habe mit ihnen zu sprechen. Ich denke, das sind zuverlässige Patrioten, die wissen, was sie der Staatsräson schuldig sind.
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