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Erich Mühsam/Staatsräson/vierter Akt

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17. August 1920.

Gefängniszelle in Brockton.

Sacco, Rechtsanwalt Thompson, Aufseher.


THOMPSON eben eingetreten. Lassen Sie mich jetzt mit meinem Klienten allein. Zu Sacco. Ich habe erreicht, daß Vanzetti mit Ihnen zusammen in diese Zelle kommt.

SACCO. Das ist schön. Ich freue mich aufs Wiedersehen. Aber erzählen Sie, rasch, haben sie es gewagt, ihn zu verurteilen?

THOMPSON. Es war der tollste Prozeß, den ich mitgemacht habe. Als Richter Thayer den Saal betrat, hatte er Vanzetti schon verurteilt.

SACCO. Aber es ist doch Irrsinn, Vanzetti eine solche Tat vorzuwerfen. Sie sagten, daß sein Alibi vollkommen erwiesen sei.

THOMPSON. Wir haben 18 Zeugen beigebracht, die bestätigten, daß sie ihn am Tage des Überfalls in Bridgewater in Plymouth Fische verkaufen sahen. Wir haben die Eilfrachtbriefe von der Bahn vorgelegt, die keinen Zweifel lassen, daß er an dem Tage lebende Aale erhalten hatte, also dort gewesen sein muß. Wenn aber Richter wünschen, daß einer schuldig sein soll, dann sprechen sie ihn eben schuldig.

SACCO. Wie hoch haben sie ihn verurteilt?

THOMPSON. 15 Jahre Zuchthaus. Nun, es wird nicht dabei bleiben.

SACCO. Es wird Aufsehen geben in der Öffentlichkeit.

THOMPSON. Im Prozeß wurde alles Aufsehen vermieden. Er ging vor sich, ohne daß vorher wie sonst eine Ankündigung erschienen wäre, obgleich es doch eine Verhandlung mit politischem Hintergrund war.

SACCO. Vielleicht wollte man den politischen Charakter des Prozesses gerade verdunkeln.

THOMPSON. Offenbar. Dabei ist Vanzetti selbstverständlich nur mit dem Verbrechen in Zusammenhang gebracht worden, weil er ein Radikaler ist.

SACCO. Sie hätten genausogut mich verdächtigen können.

THOMPSON. Sicher. Katzmanns Zeugen hätten jeden belastet, den er ihnen hingestellt hätte.

SACCO. Und die Ãœberfallenen selbst?

THOMPSON. Die konnten ja gar nichts sagen. Sie saßen im Auto, wurden von einem andern Auto aus beschossen und schossen zurück. Beide, White wie Cox, haben ihre Angreifer nur von hinten gesehen, als sie schon flüchteten.

SACCO. Was werden Sie tun, um das Urteil umzustoßen?

THOMPSON. Ich habe 20000 Dollar Kaution angeboten, um Vanzettis provisorische Freilassung zu erwirken. Dann kann er selbst mithelfen, die Revision des Prozesses vorzubereiten.

SACCO. 20000 Dollar – ein so ungeheures Vermögen?

THOMPSON. Thayer erklärte, daß darunter keine Freilassung in Frage komme. Ich bringe das Geld aber auf, der Fall ist zu ungeheuerlich.

SACCO. Die Richter stehen im Dienst des Kapitals. Vanzetti ist dem Kapital gefährlich – die Revision wird nicht weniger parteiisch geführt werden als die Hauptverhandlung.

THOMPSON. Nötigenfalls werde ich Gouverneur Fuller in Boston anrufen. Das ist ein rechtdenkender Mann.

SACCO lacht. Dann wäre er kaum schon so lange Gouverneur von Massachusetts. – Hören Sie, es werden Türen geschlossen. Sie werden Vanzetti bringen.


Aufseher mit Rosa Sacco.


SACCO Umarmt sie. Ah! Du! Wie geht's dir? Wie geht's Dante?

ROSA. Er schickt dir die Blumen aus unserem Garten und bittet, du sollst bald wieder nach Hause kommen.

SACCO. Lieber heute als morgen. – Du weißt, daß Vanzetti verurteilt ist?

ROSA. Es ist furchtbar. Dir können sie doch keinen Fallstrick drehen, Nicola?

SACCO. Bewahre. Außer dem Waffentragen ohne Erlaubnis werfen sie mir vorläufig nichts vor.

ROSA. Aber wie lange sich das schon hinzieht!

THOMPSON. Am 26. Mai hat Richter Avri vom Distriktsgericht in Quincy den Fall dem Geschworenengericht übergeben, und am 11. Juni hat das Geschworenenkollegium von Plymouth den Richter Thayer benachrichtigt, daß Ihr Mann wegen des Revolvers in Anklagezustand versetzt wird. Zugleich wurde Vanzettis Prozessierung wegen des Raubüberfalles in Bridgewater verfügt.

ROSA. Läßt sich denn gar nichts tun, um Nicola freizubekommen? Er ist nun schon über drei Monate hier, und ich bin doch in der Hoffnung.

SACCO. Du darfst den Mut nicht verlieren, Liebling. Sie werden mich noch eine Weile festhalten und mit ihren Verhören peinigen, und wenn sie sich überzeugt haben, daß ich über die Bewegung ebenso schweigen kann wie Salsedo und Elia, werden sie mich nach Italien zurückschicken.

ROSA. Wär's nur erst soweit. Aus Amerika ist schon eine wahre Folterkammer geworden.

SACCO. Uns, die wir die Freiheit für alle erkämpfen wollen, erwarten überall Ketten und Gefängniszellen.


Türrasseln. Starke Schritte.
Vanzetti wird vom Kommissar und Polizisten gebracht.


KOMMISSAR. Hier herein. Sie bleiben vorläufig mit dem Untersuchungsgefangenen Sacco zusammen.


Mit Begleitern ab.


VANZETTI. Seit langem die erste erfreuliche Botschaft, die ich höre. Guten Tag, Sacco. Ah – Genossin Rosa. Und Sie finde ich schon hier, Rechtsanwalt Thompson. Dank für Ihre Mühe, wenn sie auch vergeblich war.

THOMPSON. Sie brauchen den Kopf noch nicht hängenzulassen.

VANZETTI. Das ist auch nicht meine Art.

SACCO. Wir wollen sehen, was die Herren weiter mit uns vorhaben. Zusammen in Staatspension wird's uns nicht langweilig werden.

ROSA. Wir werden draußen auch nicht müßig sein, und du, Genosse Vanzetti, wirst so wenig vergessen wie Nicola.

VANZETTI. Ich habe gestern einen Blick getan in die Giftkammer unserer Feinde. Gutes haben wir von denen nicht zu erwarten.

THOMPSON. Die Frage, ob Sie gegen Kaution vorläufig freigelassen werden, muß inzwischen entschieden sein. Staatsanwalt Katzmann hat mir versprochen, mir persönlich Bescheid zu sagen, da er heute doch nach Brockton kommt.

VANZETTI. Er muß hier im Gebäude sein. Ich sah unten sein Auto stehen und erkannte bestimmt den Chauffeur.

ROSA. Ach, dann lassen sie dich vielleicht gleich mit mir fortgehen – dann, Nicola, wüßte ich, daß du auch bald kommst.

SACCO. Laßt uns nicht zu fest auf die Großmut des Mr. Katzmann oder des Mr. Thayer bauen.

VANZETTI. Eher wird ein Tiger an einem Lamm großmütig handeln als diese Leute gegen Anarchisten.


Staatsanwalt Katzmann wird eingelassen.


THOMPSON. Sie bringen den Bescheid über die Annahme der Kaution für meinen Klienten Vanzetti, Staatsanwalt Katzmann?

KATZMANN. Der Antrag ist abgelehnt worden. Es haben sich Verdachtsmomente ergeben, daß der des Überfalles in Bridgewater schuldig befundene Händler Bartolomeo Vanzetti auch an dem Raubmord in South Braintree am 15. April beteiligt war.

VANZETTI. Was?

SACCO. Das ist stark! Das könnten Sie genausogut auch von mir behaupten.

KATZMANN. Darüber ist das letzte Wort noch nicht gesprochen, Mr. Sacco!

ROSA. Um des Himmels willen! Nicola!

SACCO. Ruhig, Rosa, das ist doch alles Unsinn.

THOMPSON. Worauf stützt sich denn der neue Verdacht?

KATZMANN. Das Buick-Auto, von dem aus die Tat in Bridgewater geschah, war vermutlich das gleiche, das bei dem Verbrechen in der Pearl Street benutzt wurde. Auch hat der Beschuldigte über seinen Aufenthalt am 15. April widersprechende Angaben gemacht.

VANZETTI. Ich wollte die Wahrheit sagen, aber ich habe mir niemals träumen lassen, daß man herkommen und mir sagen wird, ich wäre am 15. April stehlen und morden gegangen.

KATZMANN. Ich werde Ihnen die schriftliche Entscheidung über die Kaution unten aushändigen, Rechtsanwalt Thompson. Kommen Sie mit?

THOMPSON. Kopf hoch, meine Freunde!

ROSA. Nicola! Mein Nicola!

SACCO. Geh zu unserm Dante, Liebste. Sag ihm, daß er sich seines Vaters nicht zu schämen brauche, was auch kommen sollte.

VANZETTI. Uns steht ein schwerer Kampf bevor, Sacco!

SACCO. Wir werden ihn als Männer führen.

VANZETTI. Und als Revolutionäre.


Vorhang.


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