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Erich Mühsam/Staatsräson/achter Akt
Amtsbüro Thayers in Dedham.
Thayer und mehrere Gerichtsbeamte am Tisch.
Davor Thompson.
THOMPSON. Die Verfassung der Vereinigten Staaten, Richter Thayer, hat die Entscheidung über die beiden Menschenleben in Ihre Hand gelegt. Es handelt sich jedoch nicht allein um zwei Menschenleben, es handelt sich um Ehre und Ansehen der amerikanischen Nation.
THAYER. Sie werden pathetisch, Mr. Thompson.
THOMPSON. Es ist mir ernst. Volle sechs Jahre hängt das Leben der beiden zwischen Freiheit und Tod.
THAYER. Das ist nicht meine Schuld. Der unaufhaltsame Einlauf immer weiterer Einsprüche, Beschwerden, Wiederaufnahmeanträge, fragwürdiger Beweisstücke schiebt die endgültige Entscheidung stets wieder außer Sichtweite.
THOMPSON. Was wäre aber geschehen, wenn es die Verteidigung unterlassen hätte, jede letzte Möglichkeit, die das Gesetz bietet, auszunutzen, wenigstens Zeit zu gewinnen, das entsetzliche Unheil abzuwenden?
THAYER. Was geschehen wäre? Die Gerechtigkeit hätte längst ihren Lauf genommen.
THOMPSON. Der schrecklichste Justizmord der modernen Geschichte wäre verübt worden.
THAYER. Sie haben nun also heute den Zeugen zur Stelle gebracht, der uns erzählen soll, daß nicht Sacco und Vanzetti, sondern er selbst der Mörder von South Braintree war.
THOMPSON. Er wartet auf den Aufruf. – Vorher überreiche ich Ihnen im Auftrage der Gesamtverteidigung unseren neuen Antrag auf Wiederaufnahme des Prozesses, dem 63 notariell beglaubigte Aktenstücke beiliegen. Er ist das Ergebnis der Ermittlungen, welche seit der Ablehnung aller Anträge der Verteidigung durch den Entscheid des Obersten Gerichtshofes vom 12. Mai 1926 von uns angestellt worden sind. Ich rekapituliere kurz den Verlauf des Verfahrens, seit mein Kollege Fred H. Moore die Verteidigung niedergelegt hat und ich, da ich von Anfang an in der Sache gearbeitet habe, vom Verteidigungskomitee für Sacco und Vanzetti zum Hauptverteidiger ernannt wurde. Das geschah im November 1924. Am 1. Dezember des gleichen Jahres legte ich Rekurs ein gegen die Ablehnung des Wiederaufnahmeverfahrens durch Sie, Richter Thayer, am 1. Oktober 1924. Danach richteten sich meine Bemühungen auf die Abstellung der Peinigungen, denen der Verurteilte Vanzetti im Charlestowner Gefängnis und im Irrenhause ausgesetzt war. Am 21. Juli 1925 wurde dem Obersten Gerichtshof die Beschwerdeschrift gegen alle Rechtsbrüche im Umfange von 1454 Seiten vorgelegt. Erst am 11. Januar 1926 trat dieser Gerichtshof in Verhandlungen über die Schrift ein, die, wie gesagt, bis zum 12. Mai gedauert haben und mit der Ablehnung sämtlicher Anträge endeten. Inzwischen ist durch das Geständnis des Portugiesen Madeiros, dessen Angaben von seinem Komplizen Crost, der sich James F. Weeks nennt, bestätigt wurden, ein neues Moment eingetreten, von dem ich die volle Rehabilitierung meiner Klienten mit Sicherheit erhoffe. Alle zur Sache gehörenden schriftlichen Unterlagen befinden sich unter den Dokumenten, die ich Ihnen übergeben habe. Die mündliche Vernehmung des Zeugen Madeiros ersuche ich jetzt in meiner Gegenwart vorzunehmen.
THAYER. Der zum Tode verurteilte Portugiese Celestino Madeiros soll vorgeführt werden.
THOMPSON. Ein Wort noch von Mensch zu Mensch, Richter Thayer. Verhärten Sie nicht aus politischer Voreingenommenheit Ihr Herz gegen die offenkundige Stimme der Wahrheit. In allen Ländern der Erde lauschen Millionen bange Seelen auf Ihr Urteil, das sind nicht nur die Arbeiter, nicht nur die Gesinnungsgenossen Saccos und Vanzettis – nein, es sind Menschen, denen die Ideen des Anarchismus so fern und so feindlich sind wie Ihnen und mir, in denen aber die Pflicht des Gewissens nicht abgestorben ist unter der Berechnung der Zweckmäßigkeiten. Es sind Äußerungen von Ihnen, von Staatsanwalt Katzmann bekannt geworden in Europa, die dem Rufe Amerikas als Land der Zivilisation und Gesittung schweren Abbruch getan haben. Es ist bekannt geworden, daß der Vorsitzende der Geschworenen, die Sacco und Vanzetti verurteilt haben, Mr. Ripley, vor der Verhandlung zu einem Freunde gesagt hat: Hängen müssen sie auf alle Fälle! – In Ihre Hand ist es gegeben, die Ehre der amerikanischen Justiz wieder herzustellen. Hören Sie den Mörder an, der jetzt zu Ihnen sprechen wird, und lassen Sie, Richter, sich nicht beschämen von dem Gerichteten!
THAYER. Gefühle in Ehren, Anwalt Thompson. Ich werde die Entscheidung treffen, die die Staatsräson erfordert.
THAYER. Sie heißen Celestino Madeiros. Sie sind zu Anfang dieses Jahres wegen eines Raubmordes zum Tode verurteilt worden, und jetzt denken Sie, einmal kann einen der elektrische Stuhl nur töten, und neh men auch die Tat von South Braintree auf sich – wie?
MADEIROS. Das denke ich nicht. Es ist wahr, daß ich dabei war auf der Pearl Street.
THOMPSON. Es wird das beste sein, Sie erzählen den Hergang, wie Sie ihn am 20. Mai in Saccos Gegenwart zu Protokoll gegeben haben.
MADEIROS. Ich war neunzehn Jahre alt, da traf ich in Providence mit vier Italienern zusammen, zwei im Alter von fünfunddreißig bis vierzig, die beiden andern ungefähr zwanzig und fünfundzwanzig. Ich hörte später, das sei die Morellibande gewesen. Die redeten mir zu, ich sollte eine Sache mitmachen, bei der viel Geld zu holen wäre. Mein Logis war in Providence, 180 North Main Street. Von da holten mich die Italiener am 15. April 1920 morgens um vier Uhr in einem offenen Houdsonwagen ab. Der wurde dann in Randolph mit einem Buick-Auto vertauscht.
THOMPSON. Ich mache darauf aufmerksam, daß nach den Feststellungen der Polizei der Raub mit einem Buickwagen ausgeführt wurde.
THAYER. Weiter! Weiter!
MADEIROS. Wir fuhren erst nach Boston, von da nach Providence zurück und dann nach South Braintree, wo ich noch nie gewesen war. Dort kamen wir gegen Mittag an. In Boston waren die andern in ein Lokal gegangen, während ich im Auto wartete. Sie sagten, sie wollten sich erkundigen, wieviel Lohngelder an dem Tage nach South Braintree geschickt würden. In Braintree gingen wir zuerst in ein Lokal, ungefähr zwei bis drei Kilometer von der Schuhfabrik entfernt. Zwei Italiener gingen voran. Dann hörten wir schießen, und als wir mit dem Auto heranfuhren, warfen sie uns Pakete zu und sprangen auf.
THOMPSON. Sacco und Vanzetti waren bestimmt nicht dabei?
MADEIROS. Nein, die hatten gar nichts damit zu tun. Weeks meint, die beiden, die die Tat ausgeführt haben, wären Joe und Mike Morelli gewesen.
THAYER. Wir wollen nicht hören, was andere meinen, sondern was Sie wissen.
MADEIROS. Ich hatte Weeks doch die Leute beschrieben, und der hat mit ihnen gearbeitet.
THOMPSON. Die Beschreibung paßt genau auf die Morellis; Crost alias Weeks hat ausgesagt, daß er Madeiros seit sechs Jahren kennt. Er wurde wegen des mit Madeiros gemeinsam begangenen Raubmordes in der Bank zu Wrentham zu lebenslänglicher Kerkerhaft verurteilt. Er hat erklärt, daß Madeiros mit ihm öfter von dem Raubmord in South Braintree gesprochen hat und daß es sich jedenfalls um die Morellibande von Providence handle. Damit stimmt überein, daß die Polizei in New Bredford, wo die Morellis gearbeitet hatten, gleich nach der Tat Verdacht auf diese Bande hatte. Sie ließ die Sache aber nach der Verhaftung von Sacco und Vanzetti fallen.
THAYER. Nun also, die Polizei hat den Verdacht fallengelassen.
THOMPSON. Es steht fest, daß Mike Morelli zu jener Zeit einen Buickwagen fuhr, der nach dem 15. April 1920 verschwand, und daß Joe Morelli einen 32er Coltrevolver hatte. Die Kugel, die Berardelli tötete, war aus solcher Waffe. Die andern fünf tödlichen Kugeln paßten im Typ und Kaliber zu dem Revolver, den Mike Morelli trug.
THAYER. Das sind doch alles ganz belanglose Sachen.
THOMPSON. Bei der Konstruktion der Indizien gegen Sacco und Vanzetti fand man das nicht.
THAYER. Weiter! Weiter!
MADEIROS. Der Raub von 15776 Dollar wurde unter uns sechs Teilnehmern aufgeteilt. Ich bekam 2800 Dollar, die ich auf die Bank brachte. Kurz nach der Tat wurde ich wegen eines kleinen Diebstahles fünf Monate eingesperrt. Als ich wieder draußen war, hob ich das Geld ab und machte dafür eine Vergnügungstour nach dem Westen und nach Mexiko.
THAYER. Schon gut. Wir werden das aus den Akten ersehen. Aber sagen Sie mal: woher kommt eigentlich Ihr plötzlicher Bekennerdrang? Sie konnten doch vorher so lange schweigen und haben noch nie zu erkennen gegeben, daß Ihr Gewissen von der Art ist, daß es Ihnen keine Ruhe läßt, bevor Sie nicht reumütig gebeichtet haben.
MADEIROS. Ach, ich hätte auch nie ein Geständnis abgelegt. Aber ich weiß doch auch von dem Todesurteil gegen Sacco und Vanzetti und von der Aufregung deswegen. Da sah ich jüngst Frau Sacco, wie sie zu Besuch kam, an der Hand den hübschen Jungen und das kleine Mädchen. Es tat mir um die Kinder leid – –
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