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Wolfi Landstreicher/Das Netzwerk der Herrschaft/Religion
Religion: Wenn das Heilige das Wunderbare einkerkert
Es ist wahrscheinlich, dass die menschlichen Wesen schon immer Begegnungen mit der Welt um sie herum und Ausschweifungen ihrer eigenen Vorstellungskraft hatten, die einen wachsenden Sinn für das Wunderbare geweckt haben. Den Ozean zu lieben, den eisigen, minze-farbenen Mond zu verschlingen, in einem verrückten, entzückten Tanz gegen die Sterne zu springen ? dies sind die bösen Vorstellungen, welche die mechanistische Betrachtungsweise der Welt so öde und traurig erscheinen lassen. In dieser Zeit aber hat der Gifthauch des Industrialismus mit seiner seichten, mechanistischen Logik, die der buchhalterischen Weltsicht des Kapitals entspringt, leider viele Köpfe geschädigt und dazu geführt, dass die Vernunft von der Leidenschaft und die Leidenschaft von der Möglichkeit, eine eigene Form von Vernunft zu bilden und ihre eigenen Bedeutungen in der Erfahrung und Erschaffung des Wunderbaren zu finden, getrennt wurde. Deshalb wenden sich viele auf ihrer Suche nach dem Sinn der Freude und des Wunders zu den Heiligen, und vergessen dabei, dass das Heilige selbst der Kerker des Wunderbaren darstellt.
Die Geschichte der Religion ist in der Tat die Geschichte der Armut und des Staates. Diese Einrichtungen gründen alle auf Enteignung und ergeben zusammen eine soziale Entfremdung, die Entfremdung der Individuen von ihrer Möglichkeit, ihr Leben nach eigenen Bedingungen zu führen. Das Eigentum raubt den Individuen der Welt den Zugriff zur materiellen Unabhängigkeit, indem alles in die Hände von wenigen gelegt wird, die es einzäunen und ihm einen Preis setzen. Der Staat raubt den Individuen die Möglichkeit, ihr Leben und ihre Beziehungen nach eigenen Bedingungen zu leben, indem sie durch die Macht, die Leben von anderen zu kontrollieren, in die Hände von wenigen gelegt wird, wodurch ihr Tun in die zur Reproduktion der Ordnung notwendigen Arbeitskraft umgewandelt wird. Auf die selbe Weise ist die Religion (und ihre gegenwärtigen Manifestationen Ideologie und die Psychiatrie) diejenige Institution, die den Menschen seiner/ihrer Möglichkeiten beraubt, die Wechselwirkungen mit der sie umgebenden und mit der ihnen innewohnenden Welt zu interpretieren, indem sie in die Hände einiger weniger SpezialistInnen gelegt wird, die Interpretationen erstellen, die den Interessen der Macht dienen. Die Prozesse, die der Ausführung dieser Enteignungen dienen, sind nicht wirklich geteilt, sondern vielmehr vollkommen miteinander verbunden und bilden ein eingebautes Netzwerk der Herrschaft, aber ich denke, dass in dieser Zeit, wo viele AnarchistInnen am Heiligen interessiert zu sein scheinen, es nützlich ist, die Religion als spezifische Einrichtung der Unterdrückung zu sehen. Seit die Verbindung zwischen Religion und Staat zumindest in westlichen Demokratien seit kurzem relativ zart ist, wenn wir in den dogmatischen Ausbrüchen eines Ashcroft oder den gelegentlichen Segnungen des Papstes verbleiben, so waren Staat und Religion ursprünglich aber zwei Gesichter eines einzelnen Wesens. Wenn die HerrscherInnen selbst keine GötterHeiten oder HohepriesterInnen waren, dann waren sie doch durch eineN GottHeit oder HohepriesterInnen angeordnet, speziell zur Vertretung Gottes auf Erden geweiht, um in seinem oder ihrem Namen zu herrschen. Die Gesetze der HerrscherInnen waren also die Gesetze Gottes, ihre Worte waren die Worte Gottes. Es stimmt, dass sich möglicherweise Religionen entwickelten, die die Gesetze Gottes von denen des Staates unterschieden. Diese Religionen entwickelten sich allgemein bei jungen, Verfolgung erduldenden Leuten, die aufgrund dessen das Bedürfnis hatten, sich an eine höhere Macht als die des Staates zu wenden. Diese Religionen unterstützten also das Konzept der Herrschaft, eines Gesetzes, das über die Menschen wie auch über die irdischen Staaten herrschte. Wenn also die antiken Hebräer "göttliche" von "nicht göttlichen" HerrscherInnen zu unterscheiden vermochten, und wenn die frühen Christen sagen konnten: "Wir sollten Gott mehr gehorchen als den Menschen", dann waren solche Aussagen keine Aufrufe zur Rebellion, sondern zum Gehorsam gegenüber einer höheren Autorität. Die christliche Bibel wird ausdrücklich, wenn sie sagt: "Gib Cesar, was Cesar gebührt" und "Unterwerft euch den existierenden Mächten, denn sie sind durch Gott verordnet". Wenn selektives Lesen von Teilen der jüdisch-christlichen Schriften eine Revolte inspirieren könnte, dann würde dies kaum eine Revolte der Individuen gegen alles, was ihnen ihr Leben wegstiehlt, darstellen. Vielmehr würde es eine Revolte gegen einen bestimmten Staat sein mit dem Ziel, diesen mit einem auf den "Gesetzen Gottes" basierenden Staat zu ersetzen.
Aber Religion ist viel mehr als nur die jüdisch-christliche Tradition. Deshalb ist es notwendig, das Konzept des Heiligen an sich, die Idee, welche das Herz der Religion auszumachen scheint, zu untersuchen. Diese Tage höre ich häufig, dass Menschen den Verlust des Heiligen beklagen. Ich kann mir das Lachen nicht verkneifen. In dieser Welt, wo Grenzen, Schranken, Zäune, Rasierklingen, Gesetze und Verbote jeglicher Art reichlich vorhanden sind, was ist hier denn nicht heilig? was gibt es noch, das wir berühren können, womit wir und frei aufeinander wirken und uns vergnügen können? Aber natürlich, ich verstehe es falsch. Die Menschen vermissen eigentlich den Mangel des Wundervollen, von Freude, von diesem ausgedehnten Gefühl, ein vibrierendes, lebendes Universum zu verzehren und davon verschlungen zu werden. Aber wenn ihnen dies fehlt, warum sprechen sie von einem Mangel an Heiligem, wenn das Konzept des Heiligen doch selbst das Wunder und die Freude von der Welt getrennt und in eigenes Reich gesteckt hat?
Das Heilige meinte nie wirklich das, was wundervoll, Ehrfurcht erweckend oder Freude bereitend war. Es meinte das, was geweiht war. Die Weihung ist genau der Prozess, der etwas vom normalen Leben - d.h. frei und gleichwertig für alle verfügbar zu sein, um so genutzt zu werden, wie es als sinnvoll erachtet wird ? entfremdet, um es für eine spezialisierte Aufgabe zu behalten. Dieser Prozess beginnt mit dem Aufkommen von SpezialistInnen, die den Sinn der Realität interpretieren. Diese SpezialistInnen sind selbst geweiht, von den Aufgaben eines normalen Lebens entfremdet und durch die Opfer und Gaben derjenigen, die die Realität interpretieren, genährt. Natürlich impliziert das Konzept, dass es Menschen mit einer speziellen Verbindung zum Sinn der Realität gibt, dass bloss ein Sinn existiert, der universell ist und deshalb spezieller Aufmerksamkeit und dem Verständnis seiner Möglichkeiten bedarf. Diese heiligen Personen haben, erst als Schamanen und später als Priester, das Individuum seiner/ihrer Fähigkeit, einen eigenen Sinn zu finden, enteignet. Die eigenen poetischen Begegnungen mit der Welt werden unwichtig und die Orte, Dinge und Lebewesen werden zur reinen Laune ohne eine soziale Bedeutung reduziert. Sie werden durch heilige Orte, Dinge und Einrichtungen ersetzt, welche durch den Priester bestimmt werden und sie werden von nicht-geweihten Laien und Frauen ferngehalten, nur durch die saubere Vermittlung der Rituale präsentiert, um zu garantieren, dass der Verstand der Herde benebelt bleibt, damit sie die gegenwärtige Banalität des Heiligen nicht erkennt.
Es ist exakt die Natur des Heiligen, dass die Vermittlung den Göttern das Leben schenkt. Bei genauer Prüfung muss gefragt werden, was ein Gott denn ist, wenn nicht das Symbol einer verdrängten menschlichen Möglichkeit, einen eigenen Willen zu haben, für sich selbst handeln zu wollen und das Leben und seinen Sinn nach eigenen Massstäben zu gestalten. Die Religion dient durch das Erschaffen von Göttern eigentlich der herrschenden Klasse auf dem wichtigsten Wege. Sie blendet die Ausgebeuteten, so dass sie den wirklichen Grund ihrer Trennung von der Möglichkeit, die Bedingungen ihrer Existenz selbst zu bestimmen, nicht erkennen. Es ist nicht eine Frage der Enteignung oder sozialen Entfremdung, sondern der Trennung, die der Natur der Dinge innewohnt. Die gesamte Macht sei in den Händen der Götter, und wir könnten ihren Willen bloss akzeptieren und danach streben, sie so gut wie möglich zu beglücken. Alles andere sei Selbstüberschätzung. Deshalb verschwindet die aktuelle Enteignung der Möglichkeiten der Menschen, ihr Leben selbst zu gestalten, hinter einem göttlich vorbestimmten Schicksal, das nicht bekämpft werden kann. Und seit der Staat den Willen Gottes auf Erden verkörpert, kann auch er nicht bekämpft werden, sondern muss vielmehr ausgehalten werden. Die einzige Verbindung, die zu dieser heiligen Macht geknüpft werden kann, ist diejenige, die durch die Vermittlung eines religiösen Rituals geboten wird, einer ?Verbindung?, die eigentlich das Andauern der Vermittlung auf jedem praktischen Level garantiert. Das Ende dieser Vermittlung würde das Ende des Heiligen und der Religion bedeuten.
Wenn wir einmal erkennen, dass es das Geweihte ? sprich die Trennung - ist, welches das Heilige definiert, wird klar, warum Autorität, Eigentum und all die Einrichtungen der Herrschaft heilig sind. Sie sind allesamt soziale Formen der Trennung, die Weihung der Möglichkeiten und des Wohlstandes, die einmal für uns alle für einen spezialisierten Gebrauch zugänglich waren und die wir nun nicht mehr nutzen können, es sei denn durch die entsprechenden Rituale, die die Trennung aufrecht erhalten. Es ist im literarischen Sinne also genau zutreffend, von Eigentum als etwas heiligem und von Waren als Fetischen zu sprechen. Der Kapitalismus ist tief religiös.
Die Geschichte der westlichen Religion war nicht eine von einfacher Akzeptanz des Heiligen und von Gott (ich besitze nicht genug Wissen, um diesbezüglich von nicht-westlichen Religionen zu sprechen). Während des gesamten Mittelalters und sogar darüber hinaus gab es ketzerische Bewegungen, die so weit gingen, die Existenz Gottes und des Heiligen anzuzweifeln. In der Sprache ihrer Zeit ausgedrückt, verneinten diese Bewegungen ? die freien Geister, die Adamiten, die Kanzelpauker und viele andere ? die Trennung, die die Heiligkeit definierte, beanspruchten Göttlichkeit für sich selbst und eigneten sich so ihren Willen und die Möglichkeit, nach eigenen Bedingungen zu handeln und ihr Leben selbst zu gestalten, wieder an. Dies setzte sie natürlich in eine Aussenseiter-Position mit der sie umgebenden Gesellschaft, der Gesellschaft des Staates, der Wirtschaft und der Religion.
Als der Kapitalismus in der westlichen Welt aufkam und sich durch kolonialen Imperialismus verbreitete, entstand eine Bewegung der Revolte gegen diesen Prozess. Weit davon entfernt, eine Bewegung für die Rückkehr zu einer idyllisch geträumten Vergangenheit zu sein, trug sie in sich die Samen der Anarchie und des wahren Kommunismus. Diese revolutionäre Saat spross mit grösster Wahrscheinlichkeit durch die Wechselwirkungen von Menschen mit unterschiedlicher kultureller Herkunft, die auf verschiedene Arten enteignet worden sind ? die Armen von Europa, die ihr Land ?eingeschlossen? fanden (oder sollen wir sagen geweiht, was ja seltsamerweise ein Synonym für gestohlen ist?) und die auf die Strassen und die Weltmeere gezwungen wurden, AfrikanerInnen, die von ihrem Heimatland entführt, von ihren Familien und Kulturen getrennt und in die Sklaverei gezwungen wurden und die indigenen Völker, die noch im Herkunftsort kolonialisiert wurden, sie alle fanden sich enteignet und oftmals niedergemetzelt wieder. Aufstände entland der Atlantischen Küste (in Europa, Afrika und Amerika) waren keine Seltenheit im 16. und Anfangs des 17. Jahrhunderts und beinhalteten üblicherweise eine egalitäre Zusammenarbeit zwischen all diesen Gruppen der Enteigneten und Ausgebeuteten.
Aber meiner Meinung nach besteht eine der grössten Schwächen dieser revoltären Bewegung darin, dass sie sich von der religiösen Sicht der Welt niemals vollständig zu befreien schien. Während die kapitalistische Klasse mehr und mehr Aspekte der Welt und des Lebens aus den Händen der Individuen enteignete, um sie für den eigenen Gebrauch bereit zu halten, und die nur durch die angemessene Vermittlung der Rituale der Lohnarbeit und des Warenaustausches zugänglich wurden, konnten die meisten Rebellen den letzten Schritt der totalen Rebellion gegen das Heilige nicht machen. Sie setzten also vielmehr das eine Konzept des Heiligen gegen das andere, die eine Moral gegen die andere, und beliessen somit die soziale Entfremdung. Dies machte es möglich, dass sich diese Revolte für Demokratie und humanitären Kapitalismus oder Sozialismus wieder erholen konnte, wo "das Volk", die "Gesellschaft" oder "die menschliche Rasse" die Rolle Gottes übernahm.
Religion, Eigentum, der Staat und all die anderen Institutionen der Herrschaft basieren auf fundamentalen Trennungen, die die soziale Entfremdung bedingen. Als solche errichten sie das Heilige. Wenn wir wieder fähig sein wollen, das Wunderbare für uns zurückzunehmen, Wunder und Freude direkt nach unseren eigenen Bedingungen zu erfahren, mit Ozeanen Liebe zu machen oder mit Sternen zu tanzen, ohne Götter oder Priester, die einschreiten, um uns dessen Bedeutung aufzuzwingen - oder einfacher gesagt, wenn wir unser Leben als unser eigenes zurück nehmen, es nach unserem Willen gestalten wollen - dann müssen wir das Heilige in all seinen Formen angreifen. Wir müssen die Heiligkeit von Eigentum und Autorität, von Ideologien und Institutionen, von allen Göttern, Tempeln und Fetischen, gleichgültig worauf sie gründen, entweihen. Nur auf diesem Wege können wir all die inneren und äusseren Welten als unsere eigenen erfahren, auf der Basis der einzigen Gleichheit, die uns interessieren kann: der gleichen Erkennung dessen, was an unser aller Einzigartigkeit so wundervoll ist. Nur auf diesem Weg können wir das Wunderbare mit all seiner Schönheit und seinen Wundern erfahren und gestalten.
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