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Wolfi Landstreicher/Das Netzwerk der Herrschaft/Eine Familienangelegenheit
Eine Familienangelegenheit
Im Kampf um die Rückeroberung unseres Lebens ist es notwendig, jede Institution zu hinterfragen, selbst diejenigen, die in die intimsten Teile unseres Lebens reichen. Tatsächlich ist es besonders wichtig, diese Einrichtungen herauszufordern, weil ihre Nähe zu uns, ihre Intimität, sie uns so erscheinen lässt, als sei sie gar keine Institution, sondern vielmehr die natürlichste Art der Beziehung. Und dann können ihre inneren Täuschungen und Listen die Arbeit verrichten und Herrschaft somit als natürlich erscheinen lassen.
Familiäre Beziehungen werden als gegeben akzeptiert, sogar bei den meisten AnarchistInnen. Es ist genau die Intimität dieser Beziehungen, die sie so natürlich erscheinen lassen. Und die Familie wie wir sie kennen – die Kernfamilie, die ideale Einheit für den Warenaustausch - ist bloss ein wenig mehr als ein halbes Jahrhundert alt und bereits in einem Zustand der Zersetzung. Frühere Formen von familiären Beziehungen scheinen die Bedürfnisse der ökonomischen Notwendigkeit oder sozialer Geschlossenheit vielmehr wiederzuspiegeln als jegliche natürliche Neigung.
Die Einrichtung der Familie geht Hand in Hand mit der Einrichtung der Heirat. Wenn die Heirat in nicht-staatlichen Gesellschaften zu einem losen Band tendiert hat, die hauptsächlich im Aufrechterhalten gewisser Beziehungen von nahen Verwandten bestand, veränderte sie sich mit dem Aufkommen des Staates und des Eigentums zu einer viel engeren Beziehung, eigentlich einer besitzdefinierten Beziehung. Genauer wurde die Heirat zur derjenigen Einrichtung, in welcher der Vater - als Besitzer seiner Familie - seine Tochter einem anderen Mann gab, der dann wiederum als ihr Ehemann zu ihrem neuen Besitzer wurde. Die Familie ist also die Saat der Unterdrückung der Frau, die sich von dort auf die ganze Gesellschaft verteilt.
Innerhalb der Familie besteht noch eine weitere Hierarchie. Der Hauptzweck der Familie ist die Vervielfältigung der menschlichen Wesen. Von der Frau wird also das Gebären von Kindern verlangt, und die Kinder, obwohl letztlich noch im Besitze des Mannes, stehen unter der direkten Autorität ihrer Mutter. Dies ist der Grund, warum so viele von uns, die in s.g. „traditionelle“ Geschlechterrollen akzeptierenden Familien aufwuchsen, die Mutter als erste uns beherrschende Autorität erfuhren. Der Vater war eine ferne Gestalt, die in der Woche seine 60 bis 70 Stunden arbeitete (abgesehen vom mutmasslichen Sieg der 40-Stunden-Woche), um seine Familie mit all den Dingen, die von dieser Gesellschaft als für ein gutes Leben notwendig behauptet wird, zu versorgen. Die Mutter hat uns gescholten, uns den Hintern versohlt, uns unsere Grenzen gesetzt, sich bemüht, unser Leben zu definieren – wie der Manager auf dem Arbeitsplatz, der das tägliche Gesicht des Chefs darstellt, während die Besitzerin beinahe unsichtbar bleibt.
Der wirkliche soziale Zweck der Familie liegt also in der Vervielfältigung der menschlichen Wesen. Dies bedeutet nicht bloss das Gebären von Kindern, sondern auch dieses rohe menschliche Material in ein für die Gesellschaft nützliches Wesen zu verwandeln – ein loyales Subjekt, eineN guteN StaatsbürgerIn, eineN fleissigeN ArbeiterIn, eineN leidenschaftlicheN KonsumentIn. Somit wird es notwendig, dass Mutter und Vater ihr Kind vom Moment der Geburt an zu trainieren beginnen. Es ist auf diesem Level, wo wir den plötzlichen Ausruf „Es ist ein Junge!“ oder „Es ist ein Mädchen!“ hören. Das Geschlecht ist diejenige soziale Rolle, die nach der Geburt biologisch eingeschätzt werden kann, und deshalb ist sie die erste, die durch eine Vielzahl von Symbolen aufgezwungen wird – die Farben der Kinderzimmer-Wände und der Decken, der Kleiderstil, die zum Spielen angebotenen Spielsachen, die Art Spiel, wozu sie ermuntert werden u.s.w.
Aber dies geschieht auch in Verbindung mit der Kindlichkeit. Statt Unabhängigkeit, Selbstvertrauen und der Möglichkeit, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und danach zu handeln, zu fördern, werden die Kinder dazu ermuntert, naiv und albern zu sein, ohne Vernunft und die Fähigkeit, sensibel zu handeln. All das wird als „niedlich“ erachtet, und „Niedlichkeit“ gilt als erste Eigenschaft von Kindern. Obwohl die meisten Kinder ihre „Niedlichkeit“ eigentlich ziemlich geschickt einsetzen, um die Anforderungen der Erwachsenen zu umgehen, unterstützt die soziale Stärkung dieser Eigenschaft nicht zuletzt Hilflosigkeit und Abhängigkeit, die lange genug andauert, um die soziale Konditionierung zu bewerkstelligen, damit Unterwürfigkeit zur Gewohnheit wird. Ab diesem Punkt wird „Niedlichkeit“ entmutigt und als Kindlichkeit verspottet.
Seit die normale Beziehung zwischen den Eltern und ihren Kindern eine besitzdefinierte und folglich eine von Herrschaft und Unterwerfung auf intimsten Level geprägten Beziehung ist, enden die Listen, die den Kindern überleben helfen, damit, dass sie zu gewohnten Methoden für die Wechselwirkung mit der Welt werden, zu einem Netzwerk von Verteidigungs-Mechanismen, das Willhelm Reich als Charakter-Bewehrung bezeichnet hat. Dies könnte in der Tat der grauenvollste Aspekt der Familie sein – ihre Konditionierung und unsere Versuche, uns dagegen zu wehren, kann uns das ganze Leben lang beängstigen.
Eigentlich tendieren die Ängste, Phobien und Verteidigungen, die durch die Autorität der Familie in uns eingeträufelt wurden, dazu, uns zur Vervielfältigung der Familienstruktur zu bestärken. Die Wege, in denen die Eltern die Unfähigkeit der Kinder verstärken und vergrössern, garantiert die Positionierung ihrer Interessen ausserhalb ihrer eigenen Reichweite, aber unter der Kontrolle der Eltern – d.h. der Autorität. Das trifft sogar für Eltern zu, die ihre Kinder „verwöhnen“, denn solches Verwöhnen führt zur Kanalisierung der Wünsche des Kindes in Richtung des Warenkonsums. Unfähig, die eigenen Wünsche zu erkennen, lernen die Kinder schnell, einen Mangel zu erwarten und Ärsche zu küssen in der Hoffnung, zumindest ein wenig dessen, was sie wollen, abzukriegen. Die wirtschaftliche Ideologie von Arbeit und Warenkonsum ist also durch die uns in unserer Kindheit aufgezwungenen Beziehungen tief in uns eingebettet. Wenn wir die Pubertät erreichen und unser Sexualtrieb stärker wird, führt der Mangel, der uns zu erwarten beigebracht wurde, zu ökonomisierten Auffassungen von Liebe und Sex. Wenn wir in eine Beziehung treten, tendieren wir dazu, sie als eine Eigentums-Beziehung zu sehen, oftmals mit symbolischen Zeichen bewehrt. Diejenigen, die ihr sexuelles Verlangen nicht angemessen ausleben, sind gebrandmarkt, vor allem wenn es Mädchen sind. Wir klammern uns an Beziehungen mit einer Verzweiflung, die die reale Seltenheit der Liebe und des Vergnügens in dieser Welt reflektiert. Und diejenigen, die so gut gelernt haben, dass sie der wahrhaften Realisierung ihrer eigenen Wünsche unfähig sind, akzeptieren schlussendlich, dass, wenn sie diese Wünsche schon nicht besitzen oder gar wirklich erkennen können, sie immerhin die Grenzen der Wünsche der/des anderen definieren können, der/die dann im Gegenzug die Grenzen der/des anderen definiert. Es ist sicher. Und es ist elend. Es ist das Paar, die Vorstufe der Familie.
Die verzweifelte Angst vor der Armut der Liebe vervielfältigt also die Bedingungen, die diese Armut aufrechterhalten. Der Versuch, mit anderen Möglichkeiten der Liebe, die der Institutionalisierung der Liebe und der Wünsche im Paar, in der Familie, in der Heirat entfliehen, zu experimentieren und diese zu erkunden, gehen dauernd gegen die ökonomisierte Liebe an. Dies sollte keine Überraschung sein, weil es in einer durch die Wirtschaft dominierten Gesellschaft sicherlich die geeignete Form der Liebe ist.
Der wirtschaftliche Nutzen der Familie deckt auch ihre Armut auf. In vor-industriellen Gesellschaften (und in gewissem Masse auch in industriellen Gesellschaften vor dem Aufkommen der Verbrauchsgesellschaft), bestand die wirtschaftliche Realität der Familie hauptsächlich im Nutzen eines jeden Familienmitglieds im Bewerkstelligen essentieller Aufgaben für das Überleben der Familie. Die Einheit der Familie diente also einem Zweck, der zu den Grundbedürfnissen in Beziehung stand und dazu tendierte, über die Einheit der nuklearen Familie hinaus zu gehen. Aber nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich im Westen die wirtschaftliche Rolle der Familie aufgrund des ansteigenden Konsums. Ihr Zweck verschob sich nun auf die Vervielfältigung von KonsumentInnen, die die verschiedenen Zielmärkte repräsentierten. Die Familie wurden also zur Fabrik, um Hausfrauen, Teenager, und Schulkinder zu produzieren, also all jene Wesen, denen die Möglichkeit, ihre Wünsche zu realisieren, zerstört wurde, so dass sie zum Warenkonsum kanalisiert werden konnten. Die Familie selbst bleibt als Mittel zur Vervielfältigung dieser Rollen innerhalb der individuellen menschlichen Wesen, aber seit die Familie selbst nicht mehr länger die Grenzen der verarmten Wünsche festsetzt – die Rolle, die jetzt von Gebrauchsartikeln ausgeübt wird -, gibt es für den Zusammenhalt der Familie keine wirkliche Basis mehr. Folglich sehen wir den gegenwärtigen Horror des Zusammenbruchs der Familie ohne deren Zerstörung. Und nur wenige Menschen sind fähig, sich ohne sie ein vollkommenes Leben mit Intimität und Liebe vorzustellen.
Wenn wir wirklich unser Leben in all seiner Vollkommenheit zurückholen wollen, wenn wir wirklich unsere Wünsche von den Ketten der Angst und den Gebrauchsgütern befreien wollen, dann müssen wir nach dem Verständnis von allem, was uns ankettet, streben und wir müssen beginnen, all dies anzugreifen und zu zerstören. Beim Angriff auf die Einrichtungen, die uns versklaven, dürfen wir also nicht die vertrauteste und intimste Quelle unserer Sklaverei, die Familie, vergessen.
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