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Inge Viett/Unsere Geschichte als Klassenkampf von unten verteidigen
Unsere Geschichte als Klassenkampf von unten verteidigen
Was müssen wir uns eigentlich noch von dem medialen Mob der Springer-, Bertelsmann-, Spiegel- und TV-Mogule gefallen lassen? Daß von BZ und anderen aufgewiegelte Durchgeknallte (wie damals Josef Bachmann, der Attentäter von Rudi Dutschke) einer Aufforderung zu Lynchmord mit präziser Ort- und Zeitangabe nachkommen? Diese schreibenden Hofschranzen des Kapitalismus; mit der Macht der Konzerne im Rücken betreiben sie vereint die Diabolisierung von Widerstand, von Verhetzung durch primitivste Diffamierung der letzten Gefangenen aus der RAF. Das ist nicht nur feige und bösartig, es ist die erprobte Jauche, mit der die Köpfe der Massen im Faschismus, davor und danach gedüngt wurden. Die Saat ist bekannt. Auch die gegenwärtige: Rassismus, Kriegseinsätze, Folter, Lager, Geheimgefängnisse usw.
Auch wenn wir uns hüten müssen, die veröffentlichte Meinung für die Meinung der Menschen zu halten, stoßen wir doch selbst im linken Milieu immer stärker auf die Wirkungen ihrer Denunziationskampagnen. Die herrschende Kultur- und Medienmaschinerie baut auf das Unwissen und Halbwissen der Jungen.
Mit der Komplizenschaft der alten Intellektuellengarde, die zu ihr übergelaufen ist, zermahlt sie die kurze, aber heftige 68er Geschichte und die Akteure des revolutionären Aufbruchs und Ausbruchs aus der deutschen nachfaschistischen und kapitalistischen Kontinuität. Ein schmutziger Brei aus plumper Verteufelung (Bild-Zeitung), herrschaftsdummer Psychologisierung (Kraushaar/Reemtsma) [1], unsäglicher Verlogenheit, Heuchelei und triefender Dummheit rinnt durch die bürgerlichen Medien.
Die deutsche Elite und all ihre medialen Wasserträger haben kein Problem mit ihrer faschistischen Geschichte, deren Akteuren, deren Ungeheuerlichkeiten, deren Millionen Toten. Sie haben kein Problem mit den heutigen Kriegen, die für ihren Reichtum und für ihre Macht die Welt und die Menschen verwüsten. Sie haben kein Problem damit, daß weiterhin Millionen leiden, hungern und sterben, damit ihre Macht, ihr Reichtum erhalten bleibt. Sie kennen keine Reue, sondern nur Wiederholungen, sie kennen keine Entschuldigungen, nur Rechtfertigungen für ihre ehemaligen und jetzigen Verbrechen oder deren Verheimlichung; sie verunglimpfen die Opfer und ehren die Täter, benennen öffentliche und nichtöffentliche Orte nach ihnen. Alles kein Problem.
Aber sie haben ein ungeheuerliches Problem damit, daß es vor vierzig Jahren eine kleine Schar von Menschen gab, die entschlossen den Kampf gegen sie und ihr kapitalistisches Machtsystem aufgenommen hatten. Die letzten politischen Gefangenen aus diesem Kampf haben ihre juristische Strafe abgesessen, und die Medien feuern den deutschen »Kopfab«-Mob an, die Gefangenen mit »ihrem gesunden deutschen Volksempfinden« draußen zu empfangen. – No pasaran!
Symbole zurückgewinnen Es wird immer schwieriger, die Geschichte des antifaschistischen Widerstands und unsere nachfolgende Widerstandsgeschichte der herrschenden Denunzierung und dem Verrat zu entreißen. Und es wird auch immer schwieriger, die grundsätzlich moralische Notwendigkeit von Rebellion zu behaupten – als kollektiver Akt der Menschenwürde gegen die Unterwerfung unter eine unwürdige kapitalistische Gesellschafts- und Menschheitsentwicklung. Schwierig nicht deshalb, weil uns die Erinnerung abhanden kommt, sondern weil die Unterwerfung bereits so komplex, so daseinsförmig ist, so innerlich und selbstverständlich, daß eine unbändige Rebellion Befremden, Nichtbegreifen oder bestenfalls nüchternes Interesse hervorruft, wie ein Gegenstand, der untersucht und verwertet gehört, wie jedes andere Ding auch.
Unzählige junge Leute haben Examen und Doktorarbeiten über den bewaffneten Widerstand geschrieben, Filme und Kunst darüber gemacht, oft mit Sympathie, aber ohne eine Spur der eigenen Auflehnung, ohne eine Spur von Lust und Ahnung auf Freiheit jenseits des kapitalistischen Seins.
Unsere Begriffe und Symbole, für uns leidenschaftliche Antizipation eines anderen Lebensentwurfs, angefüllt mit geschichtlicher Inspiration, bezogen auf die historische Unbeugsamkeit der Klassenkämpfe auf der ganzen Welt, waren unsere verbalen Waffen, die den Gegner kennzeichneten und den Verbündeten Solidarität und Gemeinsamkeit signalisierten. Sie stehen heute im Dienst der Herrschenden. Ihre Hüllen baumeln am ideologischen Kanthaken der imperialen Räuber und ihrer Medienhorden, ihrer Hofhistoriker und Systemexperten. Unsere Begriffe und Symbole werden mit Assoziationsketten gefüllt, die aus der Waren- und Kriegswelt stammen – aus dem Reich der Zombies.
Geht alles in der Gehirnwäsche verloren? Müssen wir neue Begriffe finden, um Freiheit wieder fühlbar zu machen? Ich weiß noch keinen, der nicht schon eingefangen ist. Aber Revolution heißt für mich noch immer: Umsturz aller Verhältnisse, die aus dem Menschen ein geknechtetes, unterworfenes Wesen machen, was immer die Knechtschaft für ein Gesicht hat: Armut, Ausbeutung, ökonomistische Lebenszurichtung, Terror, Faschismus oder Krieg.
Revolutionäre Politik heißt für mich noch immer: eine Praxis machen, die dieses elendige System grundsätzlich verneint, ihm grundsätzlich jeden moralischen Impetus abspricht, die sich grundsätzlich auf die Seite derer stellt, die von diesem System niedergehalten, gequält, verwertet werden, und die sich dagegen verweigern, auflehnen, es bekämpfen. Revolution ist nicht 1989, ist nicht orange, hat nichts, gar nichts zu tun mit den Gefechten um Anschluß an die imperialistischen Machthaber. Solidarität, Kollektivität, Selbstbestimmung, soziale Gerechtigkeit für alle Menschen sind immer noch Sinn und Ziel revolutionärer Politik. Der Kapitalismus ist die Antithese zu all dem.
Wieso nur wir? < 1970 war für uns der politisch/militärische Angriff der angemessene Ausdruck für unseren Widerstand gegen den Kapitalismus. Das war für uns eine natürliche Sache, denn die weltweite Dynamik der Klassenkämpfe schien einen Sprung an die Kehle des Imperialismus zu machen. Unzweifelhaft hatte die revolutionäre Gewalt der antikolonialen und nationalen Befreiungsbewegungen den Imperialismus erschüttert und teilweise zurückgedrängt. Revolutionäre Gewalt hatte – zu Recht – eine moralische, befreiende Ausstrahlung. Warum sollten wir nicht versuchen, aus der Revolte, die in den sechziger/siebziger Jahren doch eine ganz schöne Masse in den kapitalistischen Staaten ergriffen hatte, einen grundsätzlichen Angriff auf das System werden zu lassen? Warum sollten wir nicht die Chance wahrnehmen? Revolten in Deutschland sind seltene Lichtschächte im autoritären Geschichtstunnel, und sie wurden stets schnell wieder zugeschüttet. Auch wir hatten keine Chance, aber das mußten wir erst rauskriegen.
Die heutigen Fragen: Wieso habt ihr zu den Waffen gegriffen? Was und wer hat euch legitimiert? etc., möchte ich immer häufiger mit der Gegenfrage beantworten: Wieso haben nur wir – ein paar Hände voll – zu den Waffen gegriffen? Wieso sind Zigtausende, die auf dem Weg waren, zurückgefallen,
– obwohl sie begriffen hatten, in welch verbrecherischem Gesellschaftssystem ihr Leben verdingt wird, mit welchen tödlichen Methoden es sich erhält und ausbreitet,
– obwohl auch sie dieses schwache Moment, diese Kriese, in der Geschichte des Kapitalismus erkannt hatten, seine momentane Defensive …
– obwohl – und das ist der entscheidende Unterschied zu heute – die noch existenten Alternativen zum Kapitalismus eine gewisse ideologische und materielle Rückendeckung gaben. Es gab philosophische Horizonte und Häfen für unsere Anstrengungen.
Gewiß, auch mit den Zigtausenden hätten wir die Schlacht nicht gewinnen können, aber den »Geistesheroen der Konterrevolution«, wie Lutz Schulenburg so schön sagt, wäre es bedeutend schwerer geworden, den bewaffneten Widerstand als politische Verirrung und persönliche Verwirrung einiger »Terroristen« aus seinem politischen, sozialen und geschichtlichen Bezug zu lösen.
Wem fühlten wir uns verbunden?
Im Großen allen, die sich auf jede Weise gegen die Herrschaft der Sklavenhalter, der Reichen und ihrer politischen Klasse, ihrer Bürokraten, ihrer Bullen, ihrer imperialistischen Gelüste zur Wehr setzten.
Klassenmäßig, ideologisch eher dem Subproletariat und der Subkultur. Die aus dem Verwertungskreislauf geschleuderten oder Ausgestiegenen, die in Heimen und Knästen Kasernierten, die Überflüssigen, die Prekarisierten – wie sie heute bezeichnet werden. Einige von uns hatten sich in sozialen Projekten auf diesem Gebiet politisiert; Heimarbeit, Gefangenenarbeit etc. Aber wir bezogen uns durchaus auch auf das Proletariat, seine klassenkämpferische Geschichte, und wir hielten es für möglich, sie der systemintegrierten Gewerkschaftspolitik zu entreißen. Ja, wir hatten große Träume und leider keine Strategie.
Wir waren »massenfreundlich« trotz des schmählichen Verrats der Arbeiterklasse an der Menschlichkeit während des Faschismus. »Massenfreundlich« hieß für uns »arbeiterfreundlich«, und das Versagen der Arbeiterklasse, das Überlaufen zur Unmenschlichkeit im Faschismus haben wir als Versagen der Politik der KPD identifiziert: ihre hierarchische Führung, also mangelnde emanzipative Strukturen, legalistisches Bewußtsein, Abhängigkeit von stalinistischer Politik, Furcht vor dem bedingungslosen Kampf usw. Wir haben wenig, zu wenig differenziert. Als wären die Arbeiter nicht genauso von faschistischen und kapitalistischen Werten deformiert gewesen wie die Mehrheit der übrigen Bevölkerung. Aber die Arbeiter waren einfach die Guten, aufgrund ihrer potentiellen Gegenmacht. Soweit waren wir Marxisten.
Den Intellektuellen – auch den linken – sind wir mit proletarischem Mißtrauen begegnet. Ihre Anfälligkeit für Verrat in schwierigen Phasen des revolutionären Kampfes ist eine historische Tatsache und exemplarisch auch in unserer Zeit verlaufen. Den wenigen Intellektuellen, die geistige Partisanen geblieben sind, sei Abbitte geleistet.
Aus unserer Bausch-und-Bogen-Verachtung hat sich ein ideologischer Proletarierkult entwickelt, über den wir zwar selbst gelacht haben, der sich aber doch festgesetzt hat. Was nicht heißt, in der Bewegung 2. Juni wären nur Genossinnen und Genossen aus dem proletarischen Milieu organisiert gewesen. In unserer revolutionären Praxis als Stadtguerilla waren die Klassenhierarchie und die Geschlechterhierarchie überwunden. Im übrigen gehörte zu unserem Anspruch an den »neuen Menschen« die Aufhebung der Trennung von Kopf- und Handarbeit, was für uns konkret bedeutete, uns das nötige Maß an Theorie und Abstraktionsvermögen zu erarbeiten.
Unser ganz konkretes politisches Umfeld war die damalige undogmatische Berliner Linke, die nach dem Auseinanderfallen der APO den Weg der Partei- und K-Gruppengründungen nicht mitgehen wollte. Die, basisdemokratisch organisiert, sozial-politische Stadtteilarbeit machte und der Unterstützung des illegalen, bewaffneten Kampfes aufgeschlossen war. Wir verstanden uns als bewaffneter Arm der legal agierenden, sich noch als Bewegung begreifenden undogmatischen Linken.
Unser Konzept der fließenden Verbindung legaler und illegaler Zellen hat nur eine kurze Zeit wirklich fruchtbar funktioniert. Das sichtbare Beispiel dafür war die Gefangenenbefreiung durch die Entführung von Peter Lorenz [2].
Wieder beginnen
Die Grenzen einer politischen und logistischen Basis in einer sich mehr und mehr zersplitternden linken Bewegung, in einer eingeschlossenen Stadt, waren schnell erreicht. Wir waren dem perfektionierten Fahndungsdruck nicht mehr gewachsen, machten Fehler. Die gegnerische Durchleuchtung und Durchsetzung der politischen Szene grub uns das Wasser ab. Die Sympathie für uns war zwar immer noch da, aber sie materialisierte sich nicht mehr ausreichend. Wir hatten keine politische Organisation aufgebaut, die in der Legalität eine revolutionäre Strategie propagierte und die illegale Organisation politisch unterstützte. Das war ein fundamentaler Mangel. Wir landeten nahezu alle im Knast. Einige konnten wieder entkommen.
Was dann an bewaffneten Aktionen folgte, war der Versuch, die wenigen Kräfte, derer wir uns sicher waren – und das waren die eigenen –, gegen die imperialistische Machtmaschine in Stellung zu bringen. Das war der Punkt, an dem unser Handeln desperat und hoffnungslos wurde. So hoffnungslos wie die Politik der legalen Linken, deren revolutionäre Träume ebenfalls im tiefen Rückschwung waren. Rückwärtsblickend frage ich mich, ob und wann wir den Rückzug hätten antreten müssen, und ob ein Rückzug strategische Chancen hätte beinhalten können. Für die illegalisierten Kämpferinnen und Kämpfer wäre der Rückzug kaum eine annehmbare Option gewesen, weil sie im legalen Raum der BRD nur die Perspektive von Knast oder Verrat gehabt hätten oder das Exil. Eine Linke, die sie als politische Akteure hätte aufnehmen und absichern können, gab es nicht.
Aber auch, wenn wir sagen, in einer politischen Entscheidung, die aus gesamtprozessualer Verantwortung getroffen werden muß, kann es nicht um die persönlichen Optionen der Akteure gehen, sondern um die Notwendigkeit, neue Ansätze für revolutionäre Politik zu finden, wäre dies realistisch gewesen? Nein.
Ein Vierteljahrhundert erfolgreiche Weiterentwicklung imperialistischer Unterdrückungs- und Herrschaftsformen, Krieg, Eroberung, Terror, Folter, Raub, Überwachung, Zerschlagung sozialer Errungenschaften, die Zerstückelung, Desorientierung und Pazifizierung der Linken durch eine gigantische Manipulationsmaschinerie, die wir einmal angetreten sind zu zerschlagen, die jetzt betrieben wird von den Aufgesogenen, den ehemaligen Aufsässigen, den Überläufern, die unsere Begriffe und Symbole mit hineingenommen haben und sie jetzt für sich arbeiten lassen, all dies läßt den Schluß zu, daß dem Guerillakampf in der BRD und in allen imperialistischen Staaten verdammt mehr Erfahrung, Klugheit, Ausdauer und Unterstützung zu wünschen gewesen wäre.
Jetzt hat sich das irrationale Monster entwickelt, und wir beginnen – vor Schwäche noch taumelnd – wieder von vorn mit dem Suchen nach adäquaten Strategien, ihm beizukommen. Immerhin wir sind schon wieder Millionen.
- ↑ Wolfgang Kraushaar ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Hamburger Institut für Sozialforschung, das von Jan Philipp Reemtsma geleitet wird. Kraushaar ist Herausgeber des zweibändigen Buchs »Die RAF und der linke Terrorismus«, Hamburg 2006.
- ↑ Peter Lorenz war 1969 bis 1981 Landesvorsitzender der Berliner CDU und von 1982 bis 1987 Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundeskanzler und Bevollmächtigter der Bundesregierung in Berlin. 1975 wurde er von der Bewegung 2. Juni entführt.
Der Text erscheint demnächst in der Zeitschrift "Die Aktion– Guerilla-Monolog (III)" im Verlag Edition Nautilus.
Inge Viett ist ehemalige Aktivistin der Bewegung 2. Juni und der RAF. Sie ging 1982 aus dem Untergrund in die DDR ins Exil.
Inge Viett, 25. Februar 2007