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Lassen Sie uns zu Ihrer Frage zurückkehren: »Wie wird die Anarchie realisiert? Können wir dazu beitragen?« Das ist ein sehr wichtiger Punkt, denn bei jedem Problem gibt es zwei entscheidende Dinge zu beachten: Erstens, genau zu wissen, was man will und zweitens, wie man es erreicht. | Lassen Sie uns zu Ihrer Frage zurückkehren: »Wie wird die Anarchie realisiert? Können wir dazu beitragen?« Das ist ein sehr wichtiger Punkt, denn bei jedem Problem gibt es zwei entscheidende Dinge zu beachten: Erstens, genau zu wissen, was man will und zweitens, wie man es erreicht. |
Latest revision as of 13:55, 17 May 2007
Lassen Sie uns zu Ihrer Frage zurückkehren: »Wie wird die Anarchie realisiert? Können wir dazu beitragen?« Das ist ein sehr wichtiger Punkt, denn bei jedem Problem gibt es zwei entscheidende Dinge zu beachten: Erstens, genau zu wissen, was man will und zweitens, wie man es erreicht.
Wir wissen genau, was wir wollen. Wir wollen eine Gesellschaft, in der alle frei sind und in der jeder alle Möglichkeiten hat, seine Bedürfnisse auf der Basis der gleichen Freiheit für alle zu befriedigen und seine Vorstellungen zu verwirklichen. In anderen Worten: Wir erstreben das freie, kooperative Gemeinwesen des kommunistischen Anarchismus.
Wie es erreicht wird?
Wir sind keine Propheten und keiner kann genau sagen, wie so etwas ablaufen wird. Aber die Welt besteht nicht erst seit gestern und der Mensch als ein vernünftiges Wesen muß sich die Erfahrung der Vergangenheit zunutze machen. Nun, worin besteht diese Erfahrung? Wenn Sie die Geschichte auch nur flüchtig betrachten, werden Sie sehen, daß sie für den Menschen ein Kampf ums Dasein gewesen ist. In der Steinzeit kämpfte er auf sich gestellt gegen die wilden Tiere der Wälder und hilflos stand der Hunger, Kälte, Dunkelheit und Sturm gegenüber. Wegen seiner Unwissenheit waren alle Kräfte der Natur für ihn Feinde: Sie brachten ihm Unheil und Tod, er alleine war zu machtlos, sie zu bekämpfen. Aber mit der Zeit lernte der Mensch, sich mit seinen Artgenossen zusammenzutun; gemeinsam suchten sie Sicherheit und Geborgenheit. In Gemeinschaft versuchten sie alsbald, die Energien der Natur in ihren Dienst zu stellen. Gegenseitige Hilfe und Zusammenarbeit vermehrten Kraft und Geschicklichkeit des Menschen stetig, bis es ihm gelang, sich die Natur gefügig zu machen, indem er ihre Kräfte in seine Dienste zwang, den Blitz in Ketten legte, Ozeane überbrückte und sogar die Luft beherrschte.
In ähnlicher Weise machten Unwissen und Angst das Leben zu einem ständigen Kampf Mensch gegen Mensch, Familie gegen Familie, Stamm gegen Stamm, bis die Menschen erkannten, daß, wenn sie sich zusammentun, gemeinsam anstrengen und helfen, sie mehr erreichen könnten als durch Streit und Feindschaft. Die moderne Wissenschaft zeigt, daß sogar Tiere so viel in ihrem Existenzkampf gelernt hatten. Einige Arten überlebten, weil sie aufhörten, einander zu bekämpfen, in Herden lebten und sich auf diese Weise besser gegen andere wilde Tiere schützen konnten. Je mehr die Menschen den Kampf gegeneinander durch gemeinsamen Einsatz und Kooperation ersetzten, desto besser kamen sie voran, entwuchsen der Barbarei und wurden zivilisiert. Familien, die sich einst bis auf den Tod bekämpft hatten, schlossen sich zusammen und bildeten eine Gruppe; Gruppen vereinigten sich und wurden Stämme, und die Stämme verbündeten sich zu Nationen. Stumpfsinnig bekämpfen die Nationen noch immer einander, aber auch sie fangen an, dieselbe Lektion zu lernen und suchen jetzt nach neuen Wegen, um das internationale Gemetzel zu stoppen, das als Krieg bekannt ist.
Unglücklicherweise befinden wir uns in sozialer Hinsicht noch auf der Stufe der Barbarei: Gruppen bekämpfen noch Gruppen, und Klassen kämpfen gegen Klassen. Aber auch hier sehen die Menschen allmählich ein, daß es ein sinnloser und ruinierender Krieg ist, daß die Welt groß und reich genug ist, um alle ähnlich wie die Sonne zu erfreuen und daß eine vereinte Menschheit mehr erreichen würde als eine, die zersplittert gegeneinander kämpft.
Was Fortschritt genannt wird, stellt genau dessen Verwirklichung dar und ist ein Schritt in diese Richtung. Der ganze Fortschritt des Menschen beruht auf dem Streben nach mehr Sicherheit und Frieden, nach größerem Schutz und Wohlstand. Sein natürlicher Impuls strebt nach gegenseitiger Hilfe und gemeinsamer Anstrengung, sein stärkster Instinkt verlangt Freiheit und Freude. Diese Neigungen suchen Ausdruck und behaupten sich trotz aller Behinderungen und Schwierigkeiten. Die gesamte Geschichte des Menschen lehrt, daß weder Naturgewalten noch menschlicher Widerstand ihn auf seinem Vormarsch aufhalten können. Wenn ich aufgefordert wäre, Zivilisation in einem einzigen Satz zu definieren, dann würde ich sagen, daß es der Triumph des Menschen über die Macht der natürlichen und menschlichen Finsternis ist. Die feindlichen Kräfte in der Natur haben wir besiegt, aber wir müssen noch die finsteren Mächte der Menschen bekämpfen.
Die Geschichte kann keine einzige wichtige soziale Verbesserung vorweisen, die nicht auf den Widerstand der herrschenden Mächte - der Kirche, Regierung und des Kapitals - stieß. Nicht ein Schritt wurde vorwärts getan, ohne den Widerstand der Herrschenden zu zerstören. Jeder Fortschritt forderte einen bitteren Kampf. Viele und lange Kämpfe waren erforderlich, um die Sklaverei abzuschaffen; Revolten und Aufstände, um die fundamentalsten Rechte der Menschen zu sichern; Rebellionen und Revolutionen, um den Feudalismus und die Leibeigenschaft zu beseitigen.
Bürgerkriege waren notwendig, um die absolute Macht der Könige zu beseitigen und Demokratien zu gründen, um mehr Freiheit und Wohlstand für die Massen zu erobern. Es gibt nicht ein Land auf der Erde, nicht eine geschichtliche Epoche, wo irgendein großes soziales Übel nicht ohne einen bitteren Kampf mit der Macht, welcher Art sie auch gewesen sein mag, beseitigt wurde. Noch vor gar nicht langer Zeit konnten nur Revolutionen das Zarentum in Rußland, den Kaiser in Deutschland, den Sultan in der Türkei, die Monarchie in China und ähnliche Mächte in verschiedenen Ländern stürzen.
Es gibt keinen Bericht über eine Regierung oder Autorität, irgendeine Gruppe oder Klasse, die ihre Macht und Herrschaft freiwillig aufgegeben hat. Immer war Gewaltanwendung oder zumindest ihre Androhung erforderlich. Gibt es einen vernünftigen Grund anzunehmen, daß die Autorität oder das Kapital einen plötzlichen Sinneswandel durchgemacht haben und sich in Zukunft anders verhalten werden, als sie es in der Vergangenheit getan haben? Ihr gesunder Menschenverstand wird Ihnen sagen, daß das eine eitle und törichte Hoffnung wäre. Die Regierung und das Kapital werden kämpfen um die Macht zu behalten. Sie tun das auch heute bei der geringsten Bedrohung ihrer Privilegien. Sie werden mit allen Mitteln um ihre Existenz kämpfen.
Daher ist es keine Prophetie, wenn man behauptet, daß es eines Tages zu einem entscheidenden Kampf zwischen den enteigneten Klassen und ihren Beherrschern kommen muß.
Tatsächlich dauert dieses Ringen schon lange an. Es gibt einen ständigen Kampf zwischen dem Kapital und der Arbeiterschaft. Gewöhnlich wird er innerhalb eines sogenannten gesetzlichen Rahmens ausgetragen. Aber selbst diese Kämpfe werden ab und zu mit Gewalt geführt, wie bei Streiks und Aussperrungen, da der bewaffnete Arm der Regierung immer im Dienst der Herrschenden steht, und dieser Arm tritt in Aktion, sobald das Kapital seinen Profit bedroht sieht: Dann läßt es die Maske der »gemeinsamen Interessen« und »Partnerschaft« mit der Arbeiterschaft fallen und sucht in dem letzten Argument der Herrschenden Zuflucht, dem Zwang und der Gewalt. Es steht daher fest, daß Regierung und Kapital, wenn sie es verhindern können, es nicht zulassen werden, daß sie unauffällig beseitigt werden; genausowenig werden sie auf wundersame Weise von allein »verschwinden«, wie einige Leute meinen. Um sie loszuwerden, wird eine Revolution erforderlich sein.
Es gibt Leute, die bei der Erwähnung des Wortes Revolution ungläubig lächeln. »Unmöglich!« sagen sie zuversichtlich. Das dachten auch Ludwig XIV. und Marie Antoinette von Frankreich noch ein paar Wochen bevor sie ihren Thron mitsamt dem Kopf verloren. Das glaubten die Adligen am Hof des Zaren Nikolaus II. noch am Vorabend des Aufstandes, der sie wegfegte. »Es sieht nicht nach einer Revolution aus«, argumentiert der oberflächliche Beobachter. Aber Revolutionen haben es so an sich, daß sie genau dann ausbrechen, »wenn es nicht danach aussieht«. Die weitsichtigeren modernen Kapitalisten jedoch scheinen nicht gewillt zu sein, Risiken einzugehen. Sie wissen, daß Aufstände und Revolutionen jederzeit möglich sind. Darum haben die großen Aktiengesellschaften und Großunternehmer - besonders in Amerika - damit begonnen, neue Methoden einzuführen, die als Blitzableiter für allgemeine Unzufriedenheit und Revolten dienen sollen. Sie führen einen Bonus für ihre Angestellten ein, Gewinnbeteiligung und ähnliche Methoden, die nur dem Zweck dienen, den Arbeiter zufriedenzustellen und am Gedeihen der Industrie finanziell zu interessieren. Diese Mittel mögen den Proletarier vorübergehend blind für seine wahren Interessen machen, aber glauben Sie nicht, daß der Arbeiter mit der Lohnsklaverei immer zufrieden sein wird, selbst wenn sein Käfig von Zeit zu Zeit vergoldet wird. Die Verbesserung materieller Bedingungen ist keine Versicherung gegen die Revolution. Die Befriedigung unserer Wünsche schafft im Gegenteil neue Bedürfnisse, bringt neue Wünsche und Bestrebungen hervor. So ist die menschliche Natur und das ist es, was Verbesserungen und Fortschritte ermöglicht. Die Unzufriedenheit der Arbeiter kann nicht mit einem Extrastück Brot hinuntergewürgt werden, selbst wenn es mit Butter bestrichen ist. Darum sind die Revolten in den Industriezentren des bessergestellten Europas bewußter und aktiver als im rückständigen Asien und Afrika. Der menschliche Verstand wird sich immer nach größerem Komfort und größerer Freiheit sehnen, und die wirklichen Überbringer dieses Antriebs zu weiterem Fortschritt sind die Massen. Die Hoffnung der modernen Plutokratie, der Revolution zuvorkommen zu können, wenn sie dem Arbeiter ab und zu einen dickeren Knochen zuwirft, ist illusorisch und ohne jede Grundlage. Die neuen Taktiken des Kapitals beschwichtigen die Arbeiter anscheinend für eine Weile, aber ihr Vormarsch kann durch einen solchen Notbehelf nicht aufgehalten werden. Die Abschaffung des Kapitalismus ist trotz aller Programme und Widerstände unvermeidbar und wird nur durch eine Revolution erreicht werden.
Kann ein einzelner Arbeiter irgendetwas gegen die Großen Gesellschaften ausrichten? Kann eine kleine Arbeitergewerkschaft den Großunternehmer zwingen, ihren Forderungen nachzugeben? Die kapitalistische Klasse ist im Kampf gegen die Arbeiter organisiert. Es versteht sich von selbst, daß die Revolution nur erfolgreich sein kann, wenn die Arbeiter vereint sind, wenn sie im ganzen Land organisiert sind; wenn das Proletariat aller Länder gemeinsam handelt, denn das Kapital ist international und die Herrschenden vereinen sich bei jedem großen Problem gegen die Arbeiterschaft. Darum wandte sich beispielsweise die Plutokratie der ganzen Welt gegen die russische Revolution. Solange die Russen nur den Zar beseitigen wollten, hat sich das internationale Kapital nicht eingemischt; es war ihm gleichgültig, welche politische Form Rußland hatte, solange die Regierung nur bourgeois und kapitalistisch war. Aber sobald die Revolution es darauf anlegte, das System des Kapitalismus abzuschaffen, vereinigten sich die Regierungen und Bourgeoisien aller Länder, um sie niederzuschlagen. Sie sahen darin eine Bedrohung für die Fortsetzung ihrer eigenen Herrschaft.
Merken Sie sich das gut, mein Freund. Denn es gibt Revolutionen und Revolutionen. Die eine verändert nur die Regierungsform, indem sie eine Gruppe neuer Herrscher auf den Platz der alten setzt. Das ist eine politische Revolution und als solche trifft sie oft auf wenig Widerstand. Die andere Revolution aber, die darauf abzielt, das gesamte System der Lohnsklaverei abzuschaffen, muß auch die Macht einer Klasse beseitigen, die andere unterdrücken zu können. Das heißt, daß es sich nicht mehr um einen reinen Austausch der Herrschenden, der Regierung, nicht um eine politische Revolution handelt, sondern um eine, die das ganze Wesen der Gesellschaft zu verändern sucht. Das wäre eine soziale Revolution. Als solche hätte sie nicht nur gegen die Regierung und den Kapitalismus zu kämpfen, sondern sie würde auch auf den Widerstand des weit verbreiteten Unwissens und der Vorurteile jener treffen, die an Regierung und Kapitalismus glauben. Wie soll sie dann also verwirklicht werden?