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ABC des Anarchismus/Bedeutet Anarchismus Gewaltanwendung?

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Kategorie:ABC des Anarchismus


Sie haben sicherlich gehört, daß Anarchisten Bomben werfen, daß sie an Gewalt glauben und daß die Anarchie Aufruhr und Chaos bedeutet. Es ist nicht überraschend, wenn Sie so denken sollten. Die Presse, die Kirche und jede andere Autorität hämmern es Ihnen ständig ein. Aber die meisten dieser Institutionen wissen es besser, und sie haben Grund Ihnen nicht die Wahrheit zu sagen. Es wird Zeit, daß Sie diese hören. Ich habe die Absicht, mit Ihnen offen und ehrlich zu sprechen, und Sie können mich beim Wort nehmen, denn ich bin zufällig einer jener Anarchisten, die als gewalttätig und zerstörerisch gelten. Ich müßte darüber Bescheid wissen und habe auch keinen Grund etwas zu verbergen.


»Bedeutet Anarchismus nun wirklich Aufruhr und Gewalt?« fragen Sie. »Nein, mein Freund. Es ist der Kapitalismus und die Regierung, die Unruhe und Gewalt erzeugen: Anarchismus ist das genaue Gegenteil er ist für Ordnung ohne Regierung und für Frieden ohne Gewalt. »Aber ist so etwas möglich?« wenden Sie ein. Genau darüber wollen wir sprechen. Aber zuerst wird Ihr Freund wissen wollen, ob Anarchisten nie Bomben geworfen oder Gewalt angewandt haben. Ja, Anarchisten haben Bomben geworfen und manchmal Gewalt angewendet »Na, siehst!« wird Ihr Freund ausrufen. »Das dachte ich mir.« Aber lassen Sie uns nicht voreilig sein. Wenn die Anarchisten manchmal Gewalt angewendet haben, heißt das dann unbedingt, daß Anarchismus Gewalt bedeuten muß? Stellen Sie sich selbst diese Frage und versuchen Sie, sie ehrlich zu beantworten.


Wenn ein Bürger eine Soldatenuniform anzieht, dann muß er vielleicht Bomben werfen und Gewalt anwenden. Würden Sie dann sagen, daß Bürgertum für Bomben und Gewalt steht? Diese Unterstellung würden Sie entrüstet von sich weisen. Das heißt werden Sie antworten, daß ein Mensch unter bestimmten Bedingungen eventuell Gewalt anwenden muß. Dieser Mensch könnte ein Demokrat, ein Monarchist, ein Sozialist, Bolschewist oder Anarchist sein. Sie würden der Meinung sein, daß dieses für alle Menschen und alle Zeiten zutrifft. Brutus tötete Cäsar, weil er befürchtete, sein Freund hätte die Absicht, die Republik zu verraten und König zu werden; nicht darum, weil Brutus »Cäsar nicht liebte, sondern er Rom mehr liebte«. Brutus war kein Anarchist. Er war ein loyaler Republikaner.


Wilhelm Tell, berichtet die Volkskunde, erschoß den Tyrannen, um sein Land von der Unterdrückung zu befreien. Tell hatte nie etwas über Anarchismus gehört. Ich erwähne diese Ereignisse, um auf die Tatsache hinzuweisen, daß seit Urzeiten das Schicksal Despoten in Form einer Gewalttat freiheitsliebender Menschen ereilte, die gegen die Tyrannei rebellierten. Im allgemeinen waren die Attentäter Patrioten, Demokraten oder Republikaner, manchmal Sozialisten oder Anarchisten. Ihre Taten waren eine individuelle Rebellion gegen Unrecht und Ungerechtigkeit. Anarchismus hat damit nichts zu tun.


Es gab Zeiten im alten Griechenland in denen das Töten eines Despoten als höchste Tugend galt. Das moderne Recht verurteilt solche Taten, aber das menschliche Gefühl scheint sich in dieser Beziehung von früher nicht zu unterscheiden. Das Gewissen der Welt empört sich nicht über Tyrannenmorde. Auch wenn sie öffentlich nicht gebilligt werden, so verzeiht doch die Menschheit im Herzen solche Taten und ist oft insgeheim darüber erfreut. Gab es nicht tausende patriotischer Jugendliche in Amerika, die bereit waren, den deutschen Kaiser zu ermorden, den sie für den Beginn des Ersten Weltkrieges verantwortlich machten? Hat das französische Gericht nicht erst vor kurzem den Mann freigelassen, der Petljura tötete, um Tausende von Männern, Frauen und Kindern zu rächen, die bei Petljuras Judenverfolgungen in Südrußland ermordet wurden?


In jedem Land und zu allen Zeiten hat es schon Tyrannenmorde gegeben; das heißt Männer und Frauen liebten ihr Land so sehr, daß sie bereit waren, ihr Leben dafür zu opfern. Meistens waren es Menschen, die keiner politischen Partei oder Idee anhingen, sondern nur die Tyrannei haßten Gelegentlich waren es religiöse Fanatiker wie der fromme Katholik Kullmann, der Bismarck zu töten versuchte, oder wie die irregeleitete Schwärmerin Charlotte Corday, die während der französischen Revolution Marat tötete. In den Vereinigten Staaten wurden drei Präsidenten von Einzelgängern ermordet. Lincoln wurde l865 von John Wilkes Booth, einem Demokraten aus den Südstaaten, erschossen; Garfield im Jahre 1888 von dem Republikaner Charles Jules Cuiteau; und McKinley im Jahre 1901 von Leon Czolgosz. Nur einer der drei war Anarchist.


Es ist nur natürlich, daß das Land mit den schlimmsten Tyrannen auch die größte Anzahl von Tyrannenmorden aufweist. Nehmen Sie z. B. Rußland. Wegen der totalen Unterdrückung der Redefreiheit und der Presse unter den Zaren konnte das despotische Regime nicht anders gemildert werden, als daß dem Tyrannen »die Furcht vor Gott« eingejagt wurde. Jene Rächer waren meistens Söhne des Hochadels, idealistische Jugendliche, die die Freiheit und das Volk liebten. Da alle anderen Wege versperrt waren, sahen sie sich gezwungen, zu Pistole und Dynamit Zuflucht zu nehmen, mit der Hoffnung, dadurch die miserablen Zustände in ihrem Land zu mildern. Sie waren bekannt als Nihilisten und Terroristen. Sie waren keine Anarchisten.


In modernen Zeiten sind individuell ausgeführte politische Gewalttaten häufiger als in der Vergangenheit. Die Suffragetten in England haben oft darauf zurückgegriffen, um ihre Forderungen nach Gleichberechtigung zu propagieren und durchzusetzen. Seit Ende des Krieges haben in Deutschland Männer mit sehr konservativen Ansichten mit Hilfe solcher Methoden gehofft, die Monarchie wieder einführen zu können. Ein Monarchist hat Karl Erzberger, den preußischen Finanzminister, ermordet; auch der Außenminister Walter Rathenau wurde von einem Mann derselben politischen Partei umgebracht.


Die Tat eines serbischen Patrioten, der noch nie etwas von Anarchismus gehört hatte, nämlich die Ermordung des österreichischen Thronfolgers war der eigentliche Grund oder zumindest eine Entschuldigung für den Eintritt in den Weltkrieg. In Deutschland, Ungarn, Spanien, Frankreich, Italien, Portugal und in jedem anderen europäischen Land haben Männer unterschiedlichster politischer Richtungen auf Gewalt zurückgegriffen, ganz zu schweigen von dem politischen Massenterror, der von organisierten Gruppen wie den Faschisten in Italien, dem Ku Klux Klan in Amerika oder der katholischen Kirche in Mexiko praktiziert wird.


Sie sehen also, daß das Monopol der politischen Gewaltanwendung nicht bei den Anarchisten liegt. Der Anteil, der von Anarchisten begangenen Gewalttaten ist vergleichsweise winzig gegenüber dem von Leuten anderer politischer Richtungen. Die Wahrheit ist, daß Gewaltanwendungen seit undenkbaren Zeiten in allen Ländern und in jeder sozialen Bewegung ein Teil des Kampfes gewesen ist. Selbst der Nazarener, der gekommen war, um das Evangelium des Friedens zu predigen, vertrieb die Geldwechsler gewaltsam aus dem Tempel. Wie ich schon sagte, besitzen die Anarchisten nicht das Monopol für Gewalt. Der Anarchismus lehrt im Gegenteil Frieden und Harmonie, Nichteinmischung und Unantastbarkeit des Lebens und der Freiheit. Anarchisten sind ebenso menschlich wie der Rest der Menschheit, vielleicht sogar mehr. Sie empfinden Unrecht und Ungerechtigkeit stärker, entrüsten sich schneller über Unterdrückung und daher ist es zuweilen nicht ausgeschlossen, daß sie in Form einer Gewalttat protestieren. Solche Taten sind aber Ausdruck eines individuellen Temperaments und nicht einer bestimmten Theorie.


Sie werden vielleicht fragen, ob das Festhalten an revolutionären Ideen Menschen nicht zwangsläufig zu Gewalttätigkeit führt. Ich glaube das nicht, denn wir haben gesehen, daß Methoden der Gewalt auch von Leuten mit sehr konservativen Ansichten angewandt worden sind. Wenn Menschen mit genau entgegengesetzten politischen Ansichten in gleicher Weise handeln, dann ist es wenig überzeugend, wenn man Ideen für diese Taten verantwortlich macht.


Gleiche Resultate haben die gleiche Ursache aber man darf diese Ursache sicherlich nicht in den politischen Ãœberzeugungen suchen, sondern eher im individuellen Temperament und im allgemeinen Verhältnis zur Gewalt. »Sie mögen recht haben, was das Temperament betrifft«, sagen Sie. »Es leuchtet mir ein, daß revolutionäre Ideen nicht die Ursache für politische Gewalttaten sind, sonst müßte jeder Revolutionär solche Taten begehen. Aber rechtfertigen diese Ansichten teilweise nicht jene, die solche Taten ausführen?« Auf den ersten Blick mag es so aussehen. Aber wenn Sie genau darüber nachdenken, dann werden Sie feststellen, daß dieser Gedanke völlig falsch ist. Der beste Beweis dafür ist, daß Anarchisten, die die gleiche Meinung über Regierung und die Notwendigkeit ihrer Abschaffung haben, in der Frage der Gewaltanwendung oft völlig uneinig sind. So verurteilen die auf Tolstoi zurückgehenden Anarchisten und die meisten individualistisch eingestellten Anarchisten politische Gewaltanwendung, während andere Anarchisten sie billigen oder zumindest rechtfertigen.


Darüber hinaus haben viele Anarchisten, die einst an die Gewalt als Propagandamittel glaubten, ihre Meinung geändert und unterstützen diese Methoden nicht mehr. Es gab beispielsweise eine Zeit, in der die Anarchisten individuelle Gewalttaten, bekannt als »Propaganda der Tat«, befürworteten. Sie erwarteten weder, daß Regierung und Kapitalismus durch solche Taten zum Anarchismus bekehrt würden, noch glaubten sie, daß die Beseitigung eines Despoten den Despotismus abschaffen würde. Nein, der Terrorismus wurde als ein Mittel angesehen, das allgemeines Unrecht rächt, dem Feind Angst einflößt und die Aufmerksamkeit auf das Ãœbel lenkt, gegen das der Terrorakt gerichtet war. Doch die meisten Anarchisten glauben heute nicht an die »Propaganda der Tat« und unterstützen Handlungen dieser Art nicht.


Die Erfahrung hat sie gelehrt, daß mögen diese Methoden in der Vergangenheit vielleicht auch gerechtfertigt und nützlich gewesen sein, sie unter den heutigen Bedingungen unnötig und für die Verbreitung ihrer Ideen sogar schädlich sind. Da aber ihre Ideen dieselben geblieben sind, heißt das, daß nicht der Anarchismus ihre Einstellung zur Gewalt formte. Das beweist, daß nicht bestimmte Ideen oder »Theorien« zur Gewalt führen, sondern daß andere Prozesse sie mit sich bringen.


Wir müssen darum an anderer Stelle suchen, um die richtige Erklärung zu finden. Wie wir gesehen haben, wurden politische Gewaltakte nicht nur von Anarchisten, Sozialisten und Revolutionären jeder Schattierung begangen, sondern auch von Patrioten und Nationalisten, von Demokraten und Republikanern, von Suffragetten, von Konservativen und Reaktionären, von Monarchisten und Royalisten und sogar von religiösen Eiferern und frommen Christen.


Wir wissen jetzt, daß nicht eine bestimmte Idee oder »Ismen« sie zu ihren Handlungen veranlaßt hat, denn die unterschiedlichsten Ideen und »Ismen« haben dieselben Taten hervorgebracht. Als Grund habe ich das individuelle Temperament und das allgemeine Verhältnis zur Gewalt angegeben.

Hier ist der springende Punkt. Wie ist das allgemeine Verhältnis zur Gewalt? Wir werden die Sache nur verstehen, wenn wir diese Frage korrekt beantworten können. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, daß jeder von uns an Gewalt glaubt und sie auch praktiziert, wenngleich er sie bei anderen auch verurteilen mag. In der Tat basieren sämtliche von uns unterstützten Institutionen und das gesamte Leben der gegenwärtigen Gesellschaft auf Gewalt. Was ist das, was wir Regierung nennen? Ist sie etwas anderes als organisierte Gewalt? Das Gesetz schreibt Ihnen vor, was Sie zu tun oder Sie nicht zu tun haben und wenn Sie ihm nicht gehorchen, dann werden Sie mit Gewalt dazu gezwungen. Wir diskutieren jetzt nicht, ob es richtig oder falsch ist, ob es so oder nicht so sein sollte. Im Augenblick interessiert uns nur die Tatsache, daß es so ist, daß letzten Endes jede Regierung, alle Gesetze und jede Autorität auf Zwang und Gewalt, auf Bestrafung oder Angst vor Bestrafung beruhen. Sogar die geistige Autorität wie die Amtsgerichte der Kirche und die Autorität Gottes beruhen auf Zwang und Gewalt, denn es ist die Furcht vor Gottes Zorn und Strafe, die Macht auf Sie ausübt, Sie zu Gehorsam und an Dinge zu glauben zwingt, von denen Sie nicht überzeugt sind.


Wohin Sie auch blicken, Sie werden feststellen, daß unser gesamtes Leben auf Gewalt oder der Angst davor aufgebaut ist. Von frühester Kindheit an sind Sie der Gewalt der Eltern oder der Erwachsenen ausgesetzt. Zu Hause, in der Schule, im Büro, in der Fabrik, auf dem Feld oder in der Werkstatt haben Sie immer jemandem gehorsam zu sein und seine Autorität zwingt Sie, seinen Willen auszuführen. Das Recht, Sie zu zwingen, nennt man Autorität. Angst vor Bestrafung wurde zur Pflicht gemacht und heißt Gehorsam. In dieser Atmosphäre des Zwangs und der Gewalt, der Autorität und des Gehorsams, der Pflicht, Angst und Bestrafung wachsen wir alle auf; wir atmen sie unser ganzes Leben lang ein. Wir sind derart durchtränkt mit dem Geist der Gewalt, daß wir nie innehalten und fragen, ob Gewalt richtig oder falsch ist. Wir fragen nur, ob sie legal ist und ob das Gesetz sie zuläßt.


Sie stellen das Recht der Regierung zu töten, zu beschlagnahmen und einzusperren nicht in Frage. Wenn eine Privatperson und nicht die Regierung sich der Dinge schuldig machen würde, so würden Sie diese als Mörder, Dieb und Schurken anprangern. Aber solange die verübte Gewalt »gesetzlich« ist, billigen Sie sie und unterwerfen sich ihr. Also protestieren Sie in Wirklichkeit nicht gegen die Gewalt, sondern gegen Leute, die Gewalt »ungesetzlich« anwenden.


Diese erlaubte Gewalt und die Angst vor ihr beherrschen unsere gesamte individuelle und kollektive Existenz. Autorität kontrolliert unser Leben von der Wiege bis zum Grab - elterliche, priesterliche und göttliche, politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und moralische Autorität. Welchen Charakter die Autorität auch haben mag, immer derselbe Vollstrecker übt Macht über Sie mittels Angst vor Bestrafung in dieser oder jener Form aus. Sie haben Angst vor Gott und dem Teufel, vor dem Priester und dem Nachbarn, vor Ihrem Arbeitgeber und Vorgesetzten, vor dem Politiker und dem Polizisten, dem Richter und dem Gefängniswärter, vor dem Gesetz und vor der Regierung. Ihr ganzes Leben besteht aus einer langen Kette von Ängsten - Ängsten, die ihren Körper quälen und Ihre Seele zerreißen. Auf diesen Ängsten beruht die Autorität Gottes, der Kirche, der Eltern, der Kapitalisten und der Herrscher. Gehen Sie in sich und prüfen Sie, ob ich die Unwahrheit sage. Wie sollte es sonst möglich sein, daß sogar unter Kindern der zehnjährige Jonny seine jüngeren Geschwister dank seiner größeren physischen Kraft herumkommandiert, genauso, wie Jonny’s Vater ihn wiederum auf Grund seiner größeren Kraft und wegen Jonny’s Abhängigkeit bezüglich des Unterhalts herumkommandiert. Sie bestehen auf der Autorität der Priester und Prediger, da Sie glauben, daß diese »den Zorn Gottes auf Ihr Haupt lenken« können. Sie fügen sich dem Willen des Vorgesetzten, des Richters und der Regierung, da diese die Macht haben, Ihnen Ihre Arbeit zu nehmen, Ihr Geschäft zu ruinieren, Sie ins Gefängnis zu werfen - eine Macht übrigens, die Sie Ihnen selbst gegeben haben.


Auf diese Weise regiert Autorität Ihr gesamtes Leben - die Autorität der Vergangenheit und der Gegenwart, der Toten und der Lebenden - und ihr Leben ist dauernder Angriff und Verletzung Ihrer Persönlichkeit, ständige Unterwerfung der Meinung und dem Verlangen anderer.


Sie rächen sich an anderen, über die Sie Herrschaft oder auf die Sie physischen oder moralischen Zwang ausüben können, indem Sie Ihnen Gewalt antun und sie verletzen genauso wie man mit Ihnen verfährt. Auf diese Weise ist Leben ein scheußliches Flickenmuster aus Autorität, Herrschaft und Ergebenheit, Befehl und Gehorsam, Zwang und Unterwerfung, Herrschen und Beherrschen, Gewalt und Macht in tausend und einer Gestalt geworden. Wundert es Sie da noch, daß sogar Idealisten in dem Netz dieser Gedankenwelt von Autorität und Gewalt gefangen sind und oft durch ihre Gefühle und die Umwelt zu feindlichen Handlungen getrieben werden, die völlig im Widerspruch zu ihren Ideen stehen?


Wir sind immer noch Barbaren, die auf Macht und Gewalt zurückgreifen, um die eigenen Schulden, Schwierigkeiten und Probleme zu bereinigen. Gewalt ist die Methode der Unwissenheit, die Waffe der Schwachen. Diejenigen, die viel menschliche Güte und Verstand besitzen, haben keine Gewalt nötig, da sie unwiderstehlich sind aufgrund ihrer Überzeugung richtig zu handeln. Je weiter wir uns vom Urmenschen und vom Zeitalter des Handbeils entfernen, desto weniger werden wir auf Macht und Gewalt zurückgreifen. Je aufgeklärter der Mensch wird, desto weniger wird er Druck und Zwang ausüben. Er wird sich aus dem Staub erheben und aufrecht stehen: Er wird sich vor keinem Zaren im Himmel oder auf der Erde verbeugen. Er wird erst dann vollkommen menschlich sein wenn er zu herrschen verschmäht und sich weigert beherrscht zu werden. Er wird erst wirklich frei sein, wenn es keine Herren mehr gibt.


Anarchismus ist das Ideal eines solchen Zustands; einer Gesellschaft ohne Gewalt und Zwang, in der alle Menschen gleich sein und in Freiheit, Frieden und Harmonie leben werden. Das Wort Anarchie stammt aus dem Griechischen und bedeutet ohne Macht, ohne Gewalt oder Regierung, weil Regierung der Urquell für Gewalt, Einschränkung und Zwang ist. Anarchie*(=* Anarchie bezieht sich auf den Zustand. Anarchismus ist die Theorie oder Lehre darüber.) bedeutet daher nicht Aufruhr und Chaos, wie Sie anfangs dachten. Sie ist geradezu das Gegenteil davon: Sie bedeutet keine Regierung, also Freiheit und Unabhängigkeit. Aufruhr ist ein Produkt von Autorität und Zwang. Freiheit ist der Quell der Ordnung. »Eine sehr schöne Idee«, werden Sie sagen, »aber nur Engel sind dafür geschaffen«. Dann lassen Sie uns abwarten, ob wir uns die Flügel wachsen lassen können, die wir für diese ideale Gesellschaftsform brauchen.


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