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ABC des Anarchismus/Konsum und Warenaustausch

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Kategorie:ABC des Anarchismus


Lassen Sie uns zuerst die Organisation des Konsums behandeln, denn die Menschen müssen essen, bevor sie arbeiten und produzieren können. »Was meinen Sie mit Organisation des Konsums?« fragt Ihr Freund. »Er meint sicherlich Rationierung,« bemerken Sie.

Ja, das tue ich. Wenn die soziale Revolution erst einmal sorgfältig organisiert ist und die Produktion normal verläuft, wird es natürlich genug für jeden geben, aber in den ersten Phasen der Revolution, während des Neuaufbaus, müssen wir â€“ so gut wir können â€“ dafür sorgen, daß die Menschen alle in gleichem Maße versorgt werden, was rationieren bedeutet.

»Die Bolschewisten hatten keine gleichmäßige Rationierung«, unterbricht Ihr Freund, »sie hatten unterschiedliche Zuteilungen für verschiedene Leute.« Das stimmt, und das war einer ihrer größten Fehler, die sie gemacht haben. Er wurde von den Menschen als Unrecht abgelehnt und provozierte Verwirrung und Unzufriedenheit. Die Bolschewisten hatten eine Ration für die Seeleute und eine von geringerer Qualität und Quantität für die Soldaten, eine dritte für die Facharbeiter, eine vierte für den ungelernten Arbeiter, eine andere Ration wiederum für den Bourgeois eingeführt. Die besten Rationen bekamen die Bolschewisten, die Mitglieder der Partei, Spezialrationen wurden für die kommunistischen Funktionäre und Kommissare ausgegeben. Es gab eine Zeit, da hatten sie vierzehn verschiedene Nahrungsmittelrationen. Der gesunde Menschenverstand wird Ihnen sagen, daß das alles falsch gemacht worden ist. War es gerecht, Menschen danach zu unterscheiden, ob sie zufällig Arbeiter, Mechaniker oder eher Intellektuelle und nicht Soldaten oder Seeleute waren? Solche Methoden waren ungerecht und verwerflich: Sie führten sofort zu materieller Ungleichheit und öffneten dem Mißbrauch von Positionen und der Gelegenheit zur Spekulation, Korruption und Betrug Tür und Tor. Sie unterstützten auch die Konterrevolution, da jene, die der Revolution gegenüber gleichgültig oder ihr unfreundlich gesinnt waren, durch die Diskriminierung verbittert und daher leichte Opfer konterrevolutionärer Einflüsse wurden.

Diese am Anfang stehende Diskriminierung und die vielen folgenden wurden nicht durch die Notwendigkeit der Situation sondern allein durch politische Erwägungen der Partei diktiert. Nachdem sie die Regierungsgewalt an sich gerissen hatten und die Opposition der Menschen fürchteten, versuchten die Bolschewisten, ihre Regierung zu festigen, indem sie sich in die Gunst der Seeleute, Soldaten und Arbeiter einschmeichelten. Dadurch erzeugten sie bei den Massen aber nur Entrüstung und Widerspruch, denn die Ungerechtigkeit des Systems war himmelschreiend und zu offensichtlich.

Darüber hinaus fühlte sich sogar die »bevorzugte Klasse«, das Proletariat, diskriminiert weil den Soldaten bessere Rationen gewährt wurden. War der Arbeiter nicht genauso gut wie der Soldat? Könnte der Soldat für die Revolution kämpfen â€“ argumentierten die Fabrikarbeiter â€“, wenn der Arbeiter ihm nicht die Munition lieferte? Der Soldat protestierte indessen dagegen, daß der Seemann mehr bekam. War er nicht so wertvoll wie der Seemann? Und alle verurteilten die Spezialrationen und Privilegien, die den bolschewistischen Parteimitgliedern gewährt wurden und insbesondere den Komfort und sogar den Luxus, den die höheren Funktionäre und Kommissare genossen, während die Massen unter Entbehrungen litten. Die allgemeine Empörung über solche Praktiken wurde eindrucksvoll durch die Seeleute von Kronstadt zum Ausdruck gebracht. Auf dem Höhepunkt eines strengen Hungerwinters beschloß im März 1921 eine öffentliche Massenversammlung der Seeleute einstimmig, ihre Extrarationen zugunsten der weniger bevorzugten Bewohner von Kronstadt freiwillig aufzugeben und die Rationen in der ganzen Stadt zu vereinheitlichen. Diese wahrhaft ethische revolutionäre Tat gab dem allgemeinen Widerwillen gegen Diskriminierung und Bevorzugung Ausdruck und bewies in überzeugender Weise das tief verwurzelte Gerechtigkeitsgefühl der Massen.

Alle Erfahrungen lehren, daß die einfache und klare Sache gleichzeitig die vernünftigste und auf lange Sicht die brauchbarste ist. Das gilt für das individuelle und das kollektive Leben in gleichem Maße. Diskriminierung und Ungerechtigkeit wirken sich besonders destruktiv auf eine Revolution aus, weil gerade der revolutionäre Geist aus dem Hunger nach Gerechtigkeit und Gleichheit geboren wird.

Ich habe schon erwähnt, daß dann, wenn die soziale Revolution die Stufe erreicht hat, wo sie genug für alle produzieren kann, das anarchistische Prinzip »jedem nach seinen Bedürfnissen« angewandt wird. In industriell höher entwickelten und leistungsfähigeren Ländern würde diese Stufe natürlich früher erreicht sein als in unterentwickelten Ländern. Aber bis dahin bleibt das System des gleichen Anteils und der gleichen Zuteilung pro Kopf der Bevölkerung die einzig gerechte Methode. Natürlich braucht nicht erwähnt zu werden, daß Kranke, Alte und Kinder sowie Frauen während und nach der Schwangerschaft besonders berücksichtigt werden müssen, was auch in der russischen Revolution geschehen ist.

Sie bemerken: »Wenn ich Sie also recht verstehe, sagen Sie, daß alles gerecht geteilt wird. Niemand kann also etwas kaufen?«

Nein, es wird nicht mehr gekauft oder verkauft. Die Revolution beseitigt das Privateigentum an Produktions- und Vertriebsmitteln, damit verschwindet dann auch das kapitalistische Geschäft. Nur die Dinge, die Sie gebrauchen, bleiben in persönlichem Besitz. Somit ist Ihre Armbanduhr Ihr eigen, die Uhrenfabrik aber gehört dem Volk. Land, Maschinen und alle öffentlichen Einrichtungen werden kollektives Eigentum sein, das weder gekauft noch verkauft werden kann. Die tatsächliche Benutzung wird als einziger Anspruch angesehen werden â€“ nicht als Eigentum sondern als Besitz. Die Organisation der Kohlenbergarbeiter zum Beispiel wird für die Kohleminen verantwortlich sein, nicht als Eigentümer sondern als Betriebsverwaltung. Genauso werden die Eisenbahngewerkschaften die Eisenbahnen leiten und so weiter. Kollektiver, im Interesse der Gemeinschaft kooperativ verwalteter Besitz wird den Platz des persönlichen, privat im Hinblick auf Profit geführten Eigentums, einnehmen. »Aber wenn man nichts kaufen kann, was nützt einem dann das Geld?« fragen Sie. Gar nichts; Geld wird überflüssig. Sie bekommen dafür nichts. Wenn Lieferquellen, Land, Fabriken und Produkte öffentliches Eigentum, d. h. sozialisiert sind, dann brauchen Sie weder zu kaufen noch zu verkaufen. Da Geld nur ein Mittel für solche Transaktionen ist, verliert es seine Nützlichkeit. »Aber wie wollen Sie die Dinge austauschen?« Der Warenaustausch wird frei sein. Die Bergarbeiter werden zum Beispiel die geförderte Kohle an öffentliche Lagerplätze zum Gebrauch der Gemeinschaft liefern. Die Bergarbeiter ihrerseits erhalten aus den Lagern der Gemeinschaft Maschinen, Werkzeuge und andere Waren, die sie brauchen. Das bedeutet freien Warenaustausch auf der Basis der Nachfrage und des zur Verfügung stehenden Vorrats. »Aber wenn man den Bergarbeitern keine Maschinen und keine Lebensmittel liefern kann?«

Wenn es nichts gibt, dann kann auch Geld nichts ausrichten. Die Bergleute können sich nicht mit Banknoten ernähren. Prüfen Sie, wie heute die Dinge geregelt werden. Sie tauschen Kohle gegen Geld ein und für das Geld erhalten Sie dann Lebensmittel. Die freie Gemeinschaft, von der wir sprechen, wird die Kohle direkt gegen Lebensmittel ohne das Medium Geld eintauschen. »Aber auf welcher Basis? Heute wissen Sie mehr oder weniger, was ein Dollar wert ist, aber wieviel Kohle werden Sie für einen Sack Mehl hergeben?«

Sie meinen, wie der Wert oder Preis festgelegt wird. Aber wir haben doch schon in den vorangegangenen Kapiteln gesehen, daß es kein richtiges Wertmaß gibt und daß der Preis von Angebot und Nachfrage abhängt und dementsprechend variiert. Bei Mangel steigt der Kohlepreis; er sinkt, wenn das Angebot größer ist als die Nachfrage. Um höhere Profite zu erzielen, beschränken die Eigentümer der Kohle künstlich die Förderung, dieselben Methoden gelten im gesamten kapitalistischen System. Nach der Abschaffung des Kapitalismus wird niemand Interesse daran haben, die Kohlepreise zu erhöhen oder die Förderung einzuschränken. Es wird so viel Kohle gefördert werden wie benötigt wird, um den Bedarf zu decken. In ähnlicher Weise werden so viel Lebensmittel produziert, wie das Land braucht. Der Bedarf und das erreichbare Angebot bestimmen die Mengen, die die Gemeinschaft erhält. Dies gilt für Kohle und Lebensmittel genauso wie für alle anderen Bedürfnisse der Menschen.

»Aber angenommen, es gibt von einem bestimmten Produkt nicht genug für alle. Was tun Sie dann?« Dann tun wir das, was in der kapitalistischen Gesellschaft zu Kriegszeiten und bei Mangel praktiziert wird: Die Menschen erhalten Zuteilungen, allerdings mit dem Unterschied, daß in einer freien Gemeinschaft die Rationierung auf dem Prinzip der Gleichheit ausgeführt wird.

»Aber angenommen, der Bauer weigert sich, die Stadt mit seinen Produkten zu beliefern, wenn er kein Geld erhält.« Der Bauer will wie jeder andere nur dann Geld haben, wenn er damit die benötigten Dinge kaufen kann. Er wird schnell einsehen, daß Geld für ihn nutzlos ist. In Rußland konnten Sie während der Revolution keinen Bauern dazu bringen, Ihnen für einen Sack voll Geld ein Pfund Mehl zu verkaufen. Aber er wollte Ihnen gerne eine Tonne mit dem besten Getreide für ein Paar alte Stiefel geben. Der Bauer braucht Pflüge, Spaten, Harken, Maschinen für die Landwirtschaft und Kleidung, nicht aber Geld. Dafür wird er Ihnen seinen Weizen, seine Gerste und seinen Mais überlassen. Mit anderen Worten, die Stadt wird mit dem Bauernhof die Produkte, die jeder braucht, auf der Grundlage des Bedarfs austauschen.

Einige haben vorgeschlagen, daß der Warenaustausch in der Zeit des revolutionären Neuaufbaus nach festgelegten Maßstäben ausgeführt werden soll. Es wird beispielsweise vorgeschlagen, daß jede Gemeinschaft ihr eigenes Geld druckt, wie es oft zu Revolutionszeiten geschah; oder daß die Tagesarbeit als Werteinheit betrachtet werden soll und sogenannte Arbeitsscheine als Tauschmittel dienen sollen. Aber keiner dieser Vorschlage stellt eine praktische Hilfe dar. Das von den Gemeinschaften bei einer Revolution ausgegebene Geld würde schnell bis zur völligen Wertlosigkeit abgewertet sein, da dieses Geld keine sicheren Garantien bieten würde und ohne sie ist Geld nichts wert. Genauso wenig würden Arbeitsscheine einen festgelegten und meßbaren Wert als Tauschmittel darstellen. Was wäre beispielsweise eine Stunde Arbeit des Bergarbeiters wert? Oder fünfzehn Minuten Behandlung beim Arzt? Selbst wenn jede Arbeit wertmäßig gleichgestellt und jede Stunde Arbeit eine Einheit bilden würde, könnte dann die Stunde Arbeit des Hausanstreichers oder die Operationsstunde des Chirurgen gerecht an dem Wert von Weizen gemessen werden?

Gesunder Menschenverstand wird dieses Problem auf der Basis der Gleichheit der Menschen und dem Recht eines jeden auf Leben lösen. »Solch ein System mag unter anständigen Menschen funktionieren«, wirft Ihr Freund ein, »aber wie ist es unter Drückebergern? Hatten die Bolschewisten nicht recht, als sie das Prinzip aufstellten, »wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen?« Nein, mein Freund, da haben Sie nicht recht. Auf den ersten Blick mag das als eine gerechte und vernünftige Idee erscheinen. Aber in der Wirklichkeit erwies sie sich als unbrauchbar, ganz zu schweigen von der Ungerechtigkeit und dem Schaden, die sie überall anrichtete. »Wieso?« Sie taugte nichts, weil eine Armee von Funktionären erforderlich war, um die Leute daraufhin zu kontrollieren, ob sie arbeiteten oder nicht arbeiteten. Das führte zu Beschuldigungen und Gegenbeschuldigungen sowie endlosen Streitigkeiten über die Entscheidungen der Funktionäre. Bei dem Versuch, die Menschen zur Arbeit zu zwingen und zu kontrollieren, ob sie sich nicht drückten oder schlechte Arbeit leisteten, verdoppelte, ja verdreifachte sich sogar die Anzahl der Leute, die nicht arbeiteten. Das System der Zwangsarbeit erwies sich bald als so schlecht, daß es von den Bolschewisten aufgegeben werden mußte.

Darüber hinaus richtete dieses System noch viel größeren Schaden in anderer Hinsicht an. Die Ungerechtigkeit liegt darin, daß Sie nicht in das Herz oder den Kopf eines Menschen hinein sehen und entscheiden können, welcher besondere physische oder geistige Zustand es ihm zeitweilig unmöglich macht zu arbeiten. Berücksichtigen Sie weiterhin den Präzedenzfall, der geschaffen wird, wenn Sie ein falsches Prinzip einführen und dadurch den Widerstand jener hervorrufen, die es als falsch und unterdrückend empfinden und daher die Zusammenarbeit verweigern. Eine rational denkende Gemeinschaft wird es als praktischer und nützlicher ansehen, lieber alle Mitglieder gleich zu behandeln â€“ ob sie nun zur Zeit gerade arbeiten oder nicht â€“ als noch mehr Nichtarbeitende zu schaffen, die auf die schon vorhandenen aufpassen, oder Gefängnisse für deren Bestrafung und Unterhalt zu bauen. Denn wenn Sie â€“ aus welchem Grund auch immer â€“ sich weigern, einen Menschen zu ernähren, dann treiben Sie ihn zu Diebstahl und anderen Verbrechen und schaffen somit selbst die Notwendigkeit für Gerichte, Rechtsanwälte, Richter, Gefängnisse und Wärter, deren Unterhalt eine viel größere Last darstellt als die Ernährung der Missetäter. Diese müssen Sie sowieso verpflegen, selbst wenn Sie sie ins Gefängnis schicken.

Die revolutionäre Gemeinschaft wird vielmehr ihre Aufgabe darin sehen, das soziale Bewußtsein und das Solidaritätsgefühl ihrer Missetäter zu wecken als sie zu bestrafen. Sie wird auf das durch ihre arbeitenden Mitglieder gesetzte Beispiel vertrauen und sie wird damit richtig handeln. Denn das natürliche Verhalten des arbeitsamen Menschen gegenüber dem Drückeberger wird sich so auswirken, daß der letztere das Klima des Zusammenlebens als derartig unangenehm empfinden wird, daß er lieber arbeiten wird, um den Respekt und das Wohlwollen seiner Mitmenschen zu genießen, als wegen seiner Faulheit verachtet zu werden.

Denken Sie daran, daß es wichtiger und letzten Endes praktischer und nützlicher ist, das Richtige zu tun, als einen kurzfristigen Vorteil zu erzielen. Das heißt, Gerechtigkeit ist wichtiger als Bestrafung; denn Bestrafung ist nie gerecht und immer schädlich für beide Teile, sowohl für den Bestraften als auch für den Bestrafer; in geistiger Hinsicht noch schädlicher als in physischer und kein Schaden ist größer als der, der Sie gefühllos und korrupt macht. Das ist uneingeschränkt wahr und gilt für Ihr individuelles Leben und in gleichem Maße auch für die gemeinsame soziale Existenz.

Jede Phase des Lebens in der sozialen Revolution muß sowohl auf der Grundlage von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit als auch auf Verständnis und Sympathie aufgebaut sein. Nur so kann sie von Dauer sein. Dies gilt genauso für Wohn- und Nahrungsprobleme, für die Sicherheit Ihres Bezirks oder Ihrer Stadt wie für die Verteidigung der Revolution.

Was Unterbringung und lokale Sicherheit betrifft, hat Rußland in den ersten Monaten der Oktober-Revolution den Weg gewiesen. Von den Mietern gewählte Hauskomitees und Stadtverbände solcher Komitees nehmen das Problem in die Hand. Sie stellen Statistiken über die Wohnmöglichkeiten eines gegebenen Gebietes und die Zahl der Bewerber auf, die eine Unterkunft beantragen. Die Wohnungen werden dann entsprechend der persönlichen und familiären Bedürfnisse auf der Grundlage gleichen Rechts zugewiesen. Genauso sind Haus- und Bezirkskomitees verantwortlich für die Versorgung der Stadt. Individuelle Gesuche um Zuteilungen bei den Verteilungszentren sind eine gewaltige Zeit- und Energieverschwendung. Ebenso falsch ist das in Rußland in den ersten Jahren der Revolution praktizierte System, nämlich die Ausgabe der Rationen am Arbeitsplatz. Das bessere und effektivere Verfahren, weil dabei gleichzeitig eine gerechtere Verteilung gesichert ist und Bevorzugung und Mißbrauch erschwert werden, ist die Rationierung pro Haus oder Straße. Das autorisierte Haus- oder Straßenkomitee besorgt bei der örtlichen Verteilungsstelle die Lebensmittel, Kleidung etc., die entsprechend der Anzahl der durch das Komitee vertretenen Mieter zugeteilt werden. Gleiche Rationen haben den zusätzlichen Vorteil, daß Spekulationen mit Lebensmitteln aufhören; eine üble Praxis, die in Rußland wegen des Systems der Ungleichheit und Privilegien zu ungeheuren Dimensionen anwuchs. Parteimitglieder oder Personen mit politischem Einfluß konnten ohne weiteres Wagenladungen mit Mehl in die Stadt bringen, während irgendeine alte Bauersfrau für den Verkauf eines Brotlaibes streng bestraft wurde.

So ist es nicht erstaunlich, daß die Spekulation blühte und zwar in einem solchen Ausmaße, daß die Bolschewisten Spezialeinheiten aufstellen mußten, um mit dem Übel fertig zu werden. Die Gefängnisse waren gefüllt mit Missetätern; man nahm Zuflucht zur Todesstrafe, aber auch die drakonischsten Maßnahmen der Regierung konnten der Spekulation nicht Einhalt gebieten, denn sie war die direkte Konsequenz des Systems der Diskriminierung und Bevorzugung. Nur Gleichheit und Freiheit im Warenaustausch können solche Übel abwenden oder zumindest auf ein Minimum reduzieren.

Wenn sich freiwillige Haus- oder Ortskomitees um die hygienischen Bedürfnisse und ähnliche Dinge einer Straße oder eines Bezirks kümmern, werden die besten Ergebnisse erzielt, da die Mitglieder solcher Organe, selbst Einwohner des betrachteten Bezirks, persönlich an der Gesundheit und Sicherheit ihrer Familien und Freunde interessiert sind. Dieses System arbeitete in Rußland viel besser als die später aufgestellte Polizei, die sich größtenteils aus den schlechtesten Elementen der Stadt zusammensetzte und sich als korrupt, brutal und unterdrückerisch erwies.

Die Hoffnung auf materielle Verbesserung ist, wie schon erwähnt, ein machtvoller Faktor für den Fortschritt der Menschheit. Aber dieser Anreiz allein reicht nicht aus, um die Massen zu beflügeln, um ihnen die Vision einer neuen und besseren Welt zu geben, um deretwillen sie Gefahren und Entbehrungen auf sich nehmen. Dafür bedarf es eines Ideals, eines Ideals, das nicht nur beim Magen Anklang findet, sondern viel mehr im Herzen und in der Phantasie, das unsere verborgenen Sehnsüchte nach allem, was gut und schön ist, nach den geistigen und kulturellen Werten des Lebens entflammt. Kurz gesagt, ein Ideal, das die angeborenen sozialen Instinkte des Menschen weckt, seine Sympathie und sein Mitgefühl für den Nächsten nährt, seine Liebe für Freiheit und Gerechtigkeit entfacht und den Niedrigsten mit Adel in Gedanken und Taten erfüllt, wie wir es oft bei Katastrophen im Leben beobachten können. Lassen Sie nur irgendwo eine große Tragödie eintreten â€“ ein Erdbeben, eine Ãœberschwemmung oder ein Eisenbahnunglück â€“ und das Mitleid der ganzen Welt schlägt den Leidenden entgegen. Taten heldenhafter Selbstopferung, mutiger Rettung und uneingeschränkter Hilfe zeigen die wahre Natur des Menschen und seiner tiefverwurzelten Brüderlichkeit und Einigkeit.

Dieses gilt für die Menschen zu allen Zeiten, in allen Landstrichen und für alte sozialen Schichten. Das Schicksal Amundsens ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür. Nach Jahrzehnten emsiger und gefährlicher Arbeit entschließt sich der berühmte norwegische Forscher, seine letzten Jahre bei friedlichen literarischen Studien zu genießen. Er macht seine Entscheidung gerade bei einem Bankett bekannt, das zu seinen Ehren gegeben wird, als fast zum gleichen Zeitpunkt die Nachricht eintrifft, daß die Nordpol-Expedition Nobiles in einer Katastrophe geendet ist. Sofort gibt Amundsen alle seine Pläne für ein ruhiges Leben auf und macht sich bereit, um den vermißten Fliegern mit dem Flugzeug Hilfe zu bringen; er ist sich dabei der Gefahr eines solchen Unternehmens voll bewußt. Menschliche Sympathie und der innere Zwang, in Not geratenen Menschen zu helfen, vernachlässigen alle Erwägungen in bezug auf persönliche Sicherheit, und Amundsen verliert sein Leben bei dem Versuch, die Nobile-Gruppe zu retten.

Tief in unserem Inneren lebt der Geist Amundsens. Wieviele Wissenschaftler haben ihr Leben bei der Suche nach Erkenntnis geopfert, die ihren Mitmenschen zugute kommen sollte â€“ wieviele Ärzte und Krankenschwestern sind bei der Pflege von Menschen mit ansteckenden Krankheiten gestorben â€“ wieviele Männer und Frauen haben bei dem Bemühen, eine Epidemie, die in ihrem oder in einem fremden Land wütete, unter Kontrolle zu bringen, freiwillig dem sicheren Tod ins Auge gesehen â€“ wieviele Menschen, einfache Arbeiter, Bergleute, Seeleute, Eisenbahnangestellte â€“ unbekannt und unbesungen â€“ haben sich im Geiste Amundsens geopfert? Ihre Zahl ist Legion.

Diese menschliche Eigenschaft, dieser Idealismus muß durch die soziale Revolution erweckt werden. Die Revolution ist ohne sie nicht denkbar und kann ohne sie nicht leben. Ohne sie ist der Mensch für immer dazu verurteilt, ein Sklave und Schwächling zu bleiben. Es ist die Aufgabe des Anarchisten, des Revolutionärs, des intelligenten, klassenbewußten Proletariers, diesen Geist zu verkörpern, ihn zu pflegen und ihn durch Beispiel anderen beizubringen. Er allein kann die Mächte des Bösen und Dunklen besiegen und eine neue Welt voller Menschlichkeit, Freiheit und Gerechtigkeit aufbauen.