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Max Stirner/Der Einzige und sein Eigentum/Zweite Abteilung:Ich

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Max Stirner
"Der Einzige und sein Eigentum"
  1. Erste Abteilung:Der Mensch
  2. Zweite Abteilung:Ich
  3. Anmerkungen

ZWEITE ABTEILUNG

Ich

An dem Eingange der neuen Zeit steht der »Gottmensch«. Wird sich an ihrem Ausgange nur der Gott am Gottmenschen verflüchtigen, und kann der Gottmensch wirklich sterben, wenn nur der Gott an ihm stirbt? Man hat an diese Frage nicht gedacht und fertig zu sein gemeint, als man das Werk der Aufklärung, die Ãœberwindung des Gottes, in unsern Tagen zu einem siegreichen Ende führte; man hat nicht gemerkt, dass der Mensch den Gott getötet hat, um nun - »alleiniger Gott in der Höhe« zu werden. Das Jenseits ausser Uns ist allerdings weggefegt, und das grosse Unternehmen der Aufklärer vollbracht; allein das Jenseits in Uns ist ein neuer Himmel geworden und ruft Uns zu erneutem Himmelsstürmen auf: der Gott hat Platz machen müssen, aber nicht Uns, sondern - dem Menschen. Wie mögt Ihr glauben, dass der Gottmensch gestorben sei, ehe an ihm ausser dem Gott auch der Mensch gestorben ist?

I. Die Eigenheit

»Lechzt der Geist nicht nach Freiheit?« - Ach, mein Geist nicht allein, auch mein Leib lechzt stündlich danach! Wenn meine Nase vor der duftenden Schlossküche meinem Gaumen von den schmackhaften Gerichten erzählt, die darin zubereitet werden, da fühlt er bei seinem trockenem Brote ein fürchterliches Schmachten; wenn meine Augen dem schwieligen Rücken von weichen Dunen sagen, auf denen sich's lieblicher liegt, als auf seinem zusammengedrückten Stroh, da fasst ihn ein verbissener Grimm; wenn - doch verfolgen wir die Schmerzen nicht weiter. - Und das nennst Du eine Freiheitssehnsucht Wovon willst Du denn frei werden? Von deinem Kommissbrot und deinem Strohlager? So wirf es weg! - Damit aber scheint Dir nicht gedient zu sein; Du willst vielmehr die Freiheit haben, köstliche Speisen und schwellende Betten zu geniessen. Sollen die Menschen Dir diese »Freiheit« geben », sollen sie Dir's erlauben? Du hoffst das nicht von ihrer Menschenliebe, weil Du weisst, sie denken alle wie - Du: Jeder ist sich selbst der Nächste! Wie willst Du also zum Genuss jener Speisen und Betten kommen? Doch wohl nicht anders, als wenn Du sie zu deinem Eigentum machst!
Du willst, wenn Du es recht bedenkst, nicht die Freiheit, alle diese schönen Sachen zu haben, denn mit der Freiheit dazu hast Du sie noch nicht; Du willst sie wirklich haben, willst sie dein nennen und als dein Eigentum besitzen. Was nützt Dir auch eine Freiheit, wenn sie nichts einbringt? Und würdest Du von allem frei, so hättest Du eben nichts mehr; denn die Freiheit ist inhaltsleer. Wer sie nicht zu benutzen weiss, für den hat sie keinen Wert, diese unnütze Erlaubnis; wie Ich sie aber benutze, das hängt von meiner Eigenheit ab.
Ich habe gegen die Freiheit nichts einzuwenden, aber Ich wünsche Dir mehr als Freiheit; Du müsstest nicht bloss los sein, was Du nicht willst, Du müsstest auch haben, was Du willst, Du müsstest nicht nur ein »Freier«, Du müsstest auch ein »Eigner« sein.
Frei - wovon:. O was lässt sich nicht alles abschütteln! Das Joch der Leibeigenschaft, der Oberherrlichkeit, der Aristokratie und Fürsten, die Herrschaft der Begierden und Leidenschaften; ja selbst die Herrschaft des eigenen Willens, des Eigenwillens, die vollkommenste Selbstverleugnung ist ja nichts als Freiheit, Freiheit nämlich von der Selbstbestimmung, vom eigenen Selbst, und der Drang nach Freiheit als nach etwas Absolutem, jedes Preises Würdigem, brachte uns um die Eigenheit: er schuf die Selbstverleugnung. Je freier Ich indes werde, desto mehr Zwang türmt sich vor meinen Augen auf, desto ohnmächtiger fühle Ich Mich. Der unfreie Sohn der Wildnis empfindet noch nichts von all' den Schranken, die einen gebildeten Menschen bedrängen: er dünkt sich freier als dieser. In dem Masse als Ich Mir Freiheit erringe, schaffe Ich Mir neue Grenzen und neue Aufgaben; habe Ich die Eisenbahnen erfunden, so fühle Ich Mich wieder schwach, weil Ich noch nicht, dem Vogel gleich, die Lüfte durchsegeln kann, und habe Ich ein Problem, dessen Dunkelheit meinen Geist beängstigte, gelöst, so erwarten Mich schon unzählige andere, deren Rätselhaftigkeit meinen Fortschritt hemmt, meinen freien Blick verdüstert, die Schranken meiner Freiheit Mir schmerzlich fühlbar macht. »Nun ihr frei worden seid von der Sünde, seid ihr Knechte worden der Gerechtigkeit.« (48) Die Republikaner in ihrer weiten Freiheit, werden sie nicht Knechte des Gesetzes? Wie sehnten sich allezeit die wahren Christenherzen, »frei zu werden«, wie schmachteten sie, von den »Banden dieses Erdenlebens« sich erlöst zu sehen; sie schauten nach dem Lande der Freiheit aus. (»Das Jerusalem, das droben ist, das ist die Freie, die ist unser aller Mutter.« Gal. 4, 26.)

Frei sein von etwas - heisst nur: ledig oder los sein. »Er ist frei von Kopfweh« ist gleich mit: er ist es los. »Er ist frei von diesem Vorurteil« ist gleich mit: er hat es nie gefasst oder er ist es los geworden. Im »los« vollenden Wir die vom Christentum empfohlene Freiheit, im sündlos, gottlos, sittenlos usw.
Freiheit ist die Lehre des Christentums. »Ihr, lieben Brüder, seid zur Freiheit berufen.« (49) »Also redet und also tut, als die da sollen durchs Gesetz der Freiheit gerichtet werden.« (50) Müssen Wir etwa, weil die Freiheit als ein christliches Ideal sich verrät, sie aufgeben? Nein, nichts soll verloren gehen, auch die Freiheit nicht; aber sie soll unser eigen werden, und das kann sie in der Form der Freiheit nicht.
Welch ein Unterschied zwischen Freiheit und Eigenheit! Gar vieles kann man loswerden, Alles wird man doch nicht los; von Vielem wird man frei, von Allem nicht. Innerlich kann man trotz des Zustandes der Sklaverei frei sein, obwohl auch wieder nur von Allerlei, nicht von Allem; aber von der Peitsche, der gebieterischen Laune usw. des Herrn wird man als Sklave nicht frei. »Freiheit lebt nur in dem Reich der Träume!« Dagegen Eigenheit, das ist mein ganzes Wesen und Dasein, das bin Ich selbst. Frei bin Ich von Dem, was Ich los bin, Eigner von dem, was Ich in meiner Macht habe, oder dessen Ich mächtig bin. Mein eigen bin Ich jederzeit und unter allen Umständen, wenn Ich Mich zu haben verstehe und nicht an Andere wegwerfe. Das Freisein kann Ich nicht wahrhaft wollen, weil Ich's nicht machen, nicht erschaffen kann: Ich kann es nur wünschen und darnach - trachten, denn es bleibt ein Ideal, ein Spuk. Die Fesseln der Wirklichkeit schneiden jeden Augenblick in mein Fleisch die schärfsten Striemen. Mein eigen aber bleibe Ich. Einem Gebieter leibeigen hingegeben, denke Ich nur an Mich und meinen Vorteil; seine Schläge treffen Mich zwar: Ich bin nicht davon frei; aber Ich erdulde sie nur zu meinem Nutzen, etwa um ihn durch den Schein der Geduld zu täuschen und sicher zu machen, oder auch um nicht durch Widersetzlichkeit Ärgeres Mir zuzuziehen. Da Ich aber Mich und meinen Eigennutz im Auge behalte, so fasse Ich die nächste, gute Gelegenheit beim Schopfe, den Sklavenbesitzer zu zertreten. Dass Ich dann von ihm und seiner Peitsche frei werde, das ist nur die Folge meines vorangegangenen Egoismus. Man sagt hier vielleicht, Ich sei auch im Stande der Sklaverei »frei« gewesen, nämlich »an sich« oder »innerlich«. Allein »an sich frei« ist nicht »wirklich frei« und »innerlich« nicht Ȋusserlich«. Eigen hingegen, mein eigen war Ich ganz und gar, innerlich und äusserlich. Von den Folterqualen und Geisselhieben ist mein Leib nicht »frei« unter der Herrschaft eines grausamen Gebieters; aber meine Knochen sind es, welche unter der Tortur ächzen, meine Fiebern zucken unter den Schlägen, und Ich ächze, weil mein Leib ächzt. Dass Ich seufze und erzittere, beweist, dass Ich noch bei Mir, dass Ich noch mein eigen bin. Mein Bein ist nicht »frei« von dem Prügel des Herrn, aber es ist mein Bein und ist unentreissbar. Er reisse Mir's aus und sehe zu, ob er noch mein Bein hat! Nichts behält er in der Hand als den - Leichnam meines Beines, der so wenig mein Bein ist, als ein toter Hund noch ein Hund ist: ein Hund hat ein pulsierendes Herz, ein sogenannter toter Hund hat keines und ist darum kein Hund mehr.

Meint man, dass ein Sklave doch innerlich frei sein könne, so sagt man in der Tat nur das Unbestreitbarste und Trivialste. Denn wer wird wohl behaupten, dass irgend ein Mensch ohne alle Freiheit sei? Wenn Ich ein Augendiener bin, kann Ich darum nicht von unzähligen Dingen frei sein, z.B. vom Glauben an Zeus, von Ruhmbegierde u. dergl.? Warum also sollte ein gepeitschter Sklave nicht auch innerlich frei sein können von unchristlicher Gesinnung, von Feindeshass usw.? Er ist dann eben »christlich frei«, ist das Unchristliche los; aber ist er absolut frei, von Allem frei, z.B. vom christlichen Wahne oder vom körperlichen Schmerze usw.?
Inzwischen scheint dies Alles mehr gegen Namen als gegen die Sache gesagt zu sein. Ist aber der Name gleichgültig, und hat nicht stets ein Wort, ein Schibboleth, die Menschen begeistert und - betört? Doch zwischen der Freiheit und der Eigenheit liegt auch noch eine tiefere Kluft, als die blosse Wortdifferenz.
Alle Welt verlangt nach Freiheit, Alle sehnen ihr Reich herbei. O bezaubernd schöner Traum von einem blühenden »Reiche der Freiheit«, einem »freien Menschengeschlechte«! - wer hätte ihn nicht geträumt? So sollen die Menschen frei werden, ganz frei, von allem Zwange frei! Von allem Zwange, wirklich von allem? Sollen sie sich selbst niemals mehr Zwang antun? »Ach ja, das wohl, das ist ja gar kein Zwang!« Nun, so sollen sie doch frei werden vom religiösen Glauben, von den strengen Pflichten der Sittlichkeit, von der Unerbittlichkeit des Gesetzes, von - »Welch fürchterliches Missverständnis!« Nun, wovon sollen sie denn frei werden, und wovon nicht?

Der liebliche Traum ist zerronnen, erwacht reibt man die halbgeöffneten Augen und starrt den prosaischen Frager an. »Wovon die Menschen frei werden sollen?« - Von der Blindgläubigkeit, ruft der Eine. Ei was, schreit ein Anderer, aller Glaube ist Blindgläubigkeit; sie müssen von allem Glauben frei werden. Nein, nein, um Gotteswillen, - fährt der Erste wieder los, - werft nicht allen Glauben von Euch, sonst bricht die Macht der Brutalität herein. Wir müssen, lässt sich ein Dritter vernehmen, die Republik haben und von allen gebietenden Herren - frei werden. Damit ist nichts geholfen, sagt ein Vierter; Wir kriegen dann nur einen neuen Herrn, eine »herrschende Majorität«; vielmehr lasst Uns von der schrecklichen Ungleichheit Uns befreien. - O unselige Gleichheit, höre Ich dein pöbelhaftes Gebrüll schon wiederl Wie hatte Ich so schön noch eben von einem Paradiese der Freiheit geträumt, und welche - Frechheit und Zügellosigkeit erhebt jetzt ihr wildes Geschrei! So klagt der erste und rafft sich auf, um das Schwert zu ergreifen gegen die »masslose Freiheit«. Bald hören Wir nichts mehr als das Schwertergeklirr der uneinigen Freiheitsträumer.

Der Freiheitsdrang lief zu jeder Zeit auf das Verlangen nach einer bestimmten Freiheit hinaus, z.B. Glaubensfreiheit, d.h. der gläubige Mensch wollte frei und unabhängig werden; wovon? etwa vom Glauben? nein! sondern von den Glaubensinquisitoren. So jetzt »politische oder bürgerliche« Freiheit. Der Bürger will frei werden, nicht vom Bürgertum, sondern von Beamtenherrschaft, Fürstenwillkür u. dergl. Fürst Metternich sagte einmal, er habe »einen Weg gefunden, der für alle Zukunft auf den Pfad der echten Freiheit zu leiten geeignet sei.« Der Graf von Provence lief gerade zu der Zeit aus Frankreich fort, als es sich dazu anliess, das »Reich der Freiheit« zu stiften, und sagte: »Meine Gefangenschaft war Mir unerträglich geworden, Ich hatte nur eine Leidenschaft: das Verlangen nach - Freiheit, Ich dachte nur an sie.«
Der Drang nach einer bestimmten Freiheit schliesst stets die Absicht auf eine neue Herrschaft ein, wie denn die Revolution zwar »ihren Verteidigern das erhebende Gefühl geben konnte, dass sie für die Freiheit kämpften«, in Wahrheit aber nur, weil man auf eine bestimmte Freiheit, darum auf eine neue Herrschaft, die »Herrschaft des Gesetzes« ausging. Freiheit wollt Ihr Alle, Ihr wollt die Freiheit. Warum schachert Ihr denn um ein Mehr oder Weniger? Die Freiheit kann nur die ganze Freiheit sein; ein Stück Freiheit ist nicht die Freiheit. Ihr verzweifelt daran, dass die ganze Freiheit, die Freiheit von Allem, zu gewinnen sei, ja Ihr haltet's für Wahnsinn, sie auch nur zu wünschen? - Nun, so lasst ab, dem Phantome nachzujagen, und verwendet Eure Mühe auf etwas Besseres, als auf das - Unerreichbare.

»Ja es gibt aber nichts Besseres als die Freiheit!«
Was habt Ihr denn, wenn Ihr die Freiheit habt, nämlich - denn von Euren brockenweisen Freiheitsstückchen will Ich hier nicht reden - die vollkommene Freiheit? Dann seid Ihr Alles, Alles los, was Euch geniert, und es gäbe wohl nichts, was Euch nicht einmal im Leben genierte und unbequem fiele. Und um weswillen wolltet Ihr's denn los sein? Doch wohl um Euretwillen, darum, weil es Euch im Wege ist! Wäre Euch aber etwas nicht unbequem, sondern im Gegenteil ganz recht, z.B. der, wenn auch sanft, doch unwiderstehlich gebietende Blick eurer Geliebten - da würdet Ihr nicht ihn los und davon frei sein wollen. Warum nicht? Wieder um Euretwillen! Also Euch nehmt Ihr zum Masse und Richter über Alles. Ihr lasst die Freiheit gerne laufen, wenn Euch die Unfreiheit, der »süsse Liebesdienst«, behagt; und Ihr holt Euch eure Freiheit gelegentlich wieder, wenn sie Euch besser zu behagen anfängt, vorausgesetzt nämlich, worauf es an dieser Stelle nicht ankommt, dass Ihr Euch nicht vor einer solchen Repeal der Union aus andern (etwa religiösen) Gründen fürchtet.
Warum wollt Ihr nun den Mut nicht fassen, Euch wirklich ganz und gar zum Mittelpunkt und zur Hauptsache zu machen? Warum nach der Freiheit schnappen, eurem Traume? Seid Ihr euer Traum? Fragt nicht erst bei euren Träumen, euren Vorstellungen, euren Gedanken an, denn das ist Alles »hohle Theorie«. Fragt euch und fragt nach Euch - das ist praktisch, und Ihr wollt ja gerne »praktisch« sein. Da lauscht aber der Eine, was wohl sein Gott (natürlich das, was er sich bei dem Namen Gott denkt, ist sein Gott) dazu sagen wird, und ein Anderer, was wohl sein sittliches Gefühl, sein Gewissen, sein Pflichtgefühl, darüber bestimme, und ein Dritter berechnet, was die Leute davon denken werden, und wenn so jeder seinen Herrgott (die Leute sind ein ebenso guter, ja noch kompakterer Herrgott als der jenseitige und eingebildete: vox populi, vox dei) gefragt hat, dann schickt er sich in den Willen seines Herrn und hört gar nicht mehr darauf; was Er selber gerne sagen und beschliessen möchte.

Darum wendet Euch lieber an Euch als an eure Götter oder Götzen. Bringt aus Euch heraus, was in Euch steckt, bringt's zu Tage, bringt Euch zur Offenbarung.
Wie einer nur aus sich handelt und nach nichts weiter fragt, das haben die Christen in »Gott« zur Vorstellung gebracht. Er handelt »wie's ihm gefällt«. Und der törichte Mensch, der's gerade so machen könnte, soll statt dessen handeln, wie's »Gott gefällt«. - Sagt man, auch Gott verfahre nach ewigen Gesetzen, so passt auch das auf Mich, da auch Ich nicht aus meiner Haut fahren kann, sondern an meiner ganzen Natur, d.h. an Mir mein Gesetz habe.
Aber man braucht Euch nur an Euch zu mahnen, um Euch gleich zur Verzweiflung zu bringen. »Was bin Ich?« so fragt sich jeder von Euch. Ein Abgrund von regel- und gesetzlosen Trieben, Begierden, Wünschen, Leidenschaften, ein Chaos ohne Licht und Leitstern! Wie soll Ich, wenn Ich ohne Rücksicht auf Gottes Gebote oder auf die Pflichten, welche die Moral vorschreibt, ohne Rücksicht auf die Stimme der Vernunft, welche im Lauf der Geschichte nach bitteren Erfahrungen das Beste und Vernünftigste zum Gesetze erhoben hat, lediglich Mich frage, eine richtige Antwort erhalten? Meine Leidenschaft würde Mir gerade zum Unsinnigsten raten. - So hält jeder sich selbst für den - Teufel; denn hielte er sich, sofern er um Religion usw. unbekümmert ist, nur für ein Tier, so fände er leicht, dass das Tier, das doch nur seinem Antriebe (gleichsam seinem Rate) folgt, sich nicht zum »Unsinnigsten« rät und treibt, sondern sehr richtige Schritte tut. Allein die Gewohnheit religiöser Denkungsart hat unsern Geist so arg befangen, dass Wir vor Uns in unserer Nacktheit und Natürlichkeit - erschrecken; sie hat Uns so erniedrigt, dass Wir Uns für erbsündlich, für geborene Teufel halten. Natürlich fällt Euch sogleich ein, dass Euer Beruf erheische, das »Gute« zu tun, das Sittliche, das Rechte. Wie kann nun, wenn Ihr Euch fragt, was zu tun sei, die rechte Stimme aus Euch heraufschallen, die Stimme, welche den Weg des Guten, Rechten, Wahren usw. zeigt? Wie stimmt Gott und Belial?

Was würdet Ihr aber denken, wenn Euch einer erwiderte: dass man auf Gott, Gewissen, Pflichten, Gesetze usw. hören solle, das seien Flausen, mit denen man Euch Kopf und Herz vollgepfropft und Euch verrückt gemacht habe? Und wenn er Euch früge, woher Ihr's denn so sicher wisst, dass die Naturstimme eine Verführerin sei? Und wenn er Euch gar zumutete, die Sache umzukehren, und geradezu die Gottes- und Gewissensstimme für Teufelswerk zu halten? Solche heillose Menschen gibt's; wie werdet Ihr mit ihnen fertig werden? Auf eure Pfaffen, Eltern und guten Menschen könnt Ihr Euch nicht berufen, denn die werden eben als eure Verführer von jenen bezeichnet, als die wahren Jugendverführer und Jugendverderber, die das Unkraut der Selbstverachtung und Gottesverehrung emsig aussäen, die jungen Herzen verschlämmen und die jungen Köpfe verdummen.
Jene nun fahren aber fort und fragen: Um weswillen bekümmert Ihr Euch um Gottes und die andern Gebote? Ihr meint doch nicht, dass dies bloss aus Gefälligkeit gegen Gott geschehe? Nein, ihr tut's wieder - um Euretwillen. - Also auch hier seid Ihr die Hauptsache und jeder muss sich sagen: Ich bin Mir Alles und ich tue Alles Meinethalben. Würde Euch's jemals klar, dass Euch der Gott, die Gebote usw. nur schaden, dass sie Euch verkürzen und verderben: gewiss, ihr würfet sie von Euch, gerade wie die Christen einst den Apollo oder die Minerva oder die heidnische Moral verdammten. Sie stellten freilich Christus und hernach die Maria, sowie eine christliche Moral an die Stelle; aber sie taten das auch um ihres Seelenheils willen, also aus Egoismus oder Eigenheit.
Und dieser Egoismus, diese Eigenheit war's, durch die sie die alte Götterwelt los und von ihr frei wurden. Die Eigenheit erschuf eine neue Freiheit; denn die Eigenheit ist die Schöpferin von Allem, wie schon längst die Genialität (eine be stimmte Eigenheit), die stets Originalität ist, als die Schöpferin neuer weltgeschichtlicher Produktionen angesehen wird.

Soll's einmal doch »die Freiheit« gelten mit eurem Streben, nun so erschöpft ihre Forderungen. Wer soll denn frei werden? Du, Ich, Wir. Wovon frei? Von Allem, was nicht Du, nicht Ich, nicht Wir ist. Ich also bin der Kern, der aus allen Verhüllungen erlöst, von allen beengenden Schalen - befreit werden soll. Was bleibt übrig, wenn Ich von Allem, was Ich nicht bin, befreit worden? Nur Ich und nichts als Ich. Diesem Ich selber aber hat die Freiheit nichts zu bieten. Was nun weiter geschehen soll, nachdem Ich frei geworden, darüber schweigt die Freiheit, wie unsere Regierungen den Gefangenen nach abgelaufener Haftzeit nur entlassen und in die Verlassenheit hinausstossen.
Warum nun, wenn die Freiheit doch dem Ich zu Liebe erstrebt wird, warum nun nicht das Ich selber zu Anfang, Mitte und Ende wählen? Bin Ich nicht mehr wert als die Freiheit? Bin Ich es nicht, der Ich Mich frei mache, bin Ich nicht das Erste? Auch unfrei, auch in tausend Fesseln geschlagen, bin Ich doch, und Ich bin nicht etwa erst zukünftig und auf Hoffnung vorhanden, wie die Freiheit, sondern Ich bin auch als Verworfenster der Sklaven - gegenwärtig.
Bedenkt das wohl und entscheidet Euch, ob Ihr auf eure Fahne den Traum der »Freiheit« oder den Entschluss des »Egoismus«, der »Eigenheit« stecken wollt. Die »Freiheit« weckt euren Grimm gegen Alles, was Ihr nicht seid; der »Egoismus« ruft Euch zur Freude über Euch selbst, zum Selbstgenusse; die »Freiheit« ist und bleibt eine Sehnsucht, ein romantischer Klagelaut, eine christliche Hoffnung auf Jenseitigkeit und Zukunft; die »Eigenheit« ist eine Wirklichkeit, die von selbst gerade soviel Unfreiheit beseitigt, als Euch hinderlich den eigenen Weg versperrt. Von dem, was Euch nicht stört, werdet Ihr Euch nicht lossagen wollen, und wenn es Euch zu stören anfängt, nun so wisst Ihr, dass »Ihr Euch mehr gehorchen müsset, denn den Menschen!«

Die Freiheit lehrt nur: Macht Euch los, entledigt Euch alles Lästigen; sie lehrt Euch nicht, wer Ihr selbst seid. Los, los! so tönt ihr Losungswort, und Ihr, begierig ihrem Rufe folgend, werdet Euch selbst sogar los, »verleugnet Euch selbst«. Die Eigenheit aber ruft Euch zu Euch selbst zurück, sie spricht: »Komm zu Dir!« Unter der Ägide der Freiheit werdet Ihr Vielerlei los, aber Neues beklemmt Euch wieder: »den Bösen seid Ihr los, das Böse ist geblieben«. Als Eigene seid Ihr wirklich Alles los, und was Euch anhaftet, das habt Ihr angenommen, das ist eure Wahl und euer Belieben. Der Eigene ist der geborene Freie, der Freie von Haus aus; der Freie dagegen nur der Freiheitssüchtige, der Träumer und Schwärmer.
Jener ist ursprünglich frei, weil er nichts als sich anerkennt; er braucht sich nicht erst zu befreien, weil er von vornherein Alles ausser sich verwirft, weil er nichts mehr schätzt als sich, nichts höher anschlägt, kurz, weil er von sich ausgeht und »zu sich kommt«. Befangen im kindlichen Respekt, arbeitet er gleichwohl schon daran, aus dieser Befangenheit sich »zu befreien«. Die Eigenheit arbeitet in dem kleinen Egoisten und verschafft ihm die begehrte - Freiheit.
Jahrtausende der Kultur haben Euch verdunkelt, was Ihr seid, haben Euch glauben gemacht, Ihr seiet keine Egoisten, sondern zu Idealisten (»guten Menschen«) berufen. Schüttelt das ab! Suchet nicht die Freiheit, die Euch gerade um Euch selbst bringt, in der »Selbstverleugnung«, sondern suchet Euch Selbst, werdet Egoisten, werde jeder von euch ein allmächtiges Ich. Oder deutlicher: Erkennet Euch nur wieder, erkennet nur, was Ihr wirklich seid, und lasst eure heuchlerischen Bestrebungen fahren, eure törichte Sucht, etwas Anderes zu sein, als Ihr seid. Heuchlerisch nenne Ich jene, weil Ihr doch alle diese Jahrtausende Egoisten geblieben seid, aber schlafende, sich selbst betrügende, verrückte Egoisten, Ihr Heautontimorumenen, Ihr Selbstpeiniger. Noch niemals hat eine Religion der Versprechungen und »Verheissungen« entraten können, mögen sie aufs Jenseits oder Diesseits verweisen (»langes Leben« usw.); denn lohnsüchtig ist der Mensch, und »umsonst« tut er nichts. Aber jenes »das Gute um des Guten willen tun« ohne Aussicht auf Belohnung? Als ob nicht auch hier in der Befriedigung, die es gewähren soll, der Lohn enthalten wäre. Also auch die Religion ist auf unseren Egoismus begründet, und sie - beutet ihn aus; berechnet auf unsere Begierden, erstickt sie viele andere um einer willen. Dies gibt denn die Erscheinung des betrogenen Egoismus, wo Ich nicht Mich befriedige, sondern eine meiner Begierden, z.B. den Glückseligkeitstrieb. Die Religion verspricht Mir das - »höchste Gut«; dies zu gewinnen, achte Ich auf keine andere meiner Begierden mehr und sättige sie nicht. - All euer Tun und Treiben ist uneingestandener, heimlicher, verdeckter und versteckter Egoismus. Aber weil Egoismus, den Ihr Euch nicht gestehen wollt, den Ihr Euch selbst verheimlicht, also nicht offenbarer und offenkundiger, mithin unbewusster Egoismus, darum ist er nicht Egoismus, sondern Knechtschaft, Dienst, Selbstverleugnung, Ihr seid Egoisten und Ihr seid es nicht, indem Ihr den Egoismus verleugnet. Wo Ihr's am meisten zu sein scheint, da habt Ihr dem Worte »Egoist« - Abscheu und Verachtung zugezogen.

Meine Freiheit gegen die Welt sichere Ich in dem Grade, als Ich Mir die Welt zu eigen mache, d.h. sie für Mich »gewinne und einnehme«, sei es durch welche Gewalt es wolle, durch die der Ãœberredung, der Bitte, der kategorischen Forderung, ja selbst durch Heuchelei, Betrug usw.; denn die Mittel, welche Ich dazu gebrauche, richten sich nach dem, was Ich bin. Bin Ich schwach, so habe Ich nur schwache Mittel, wie die genannten, die aber dennoch für ein ziemlich Teil Welt gut genug sind. Ohnehin sehen Betrug, Heuchelei, Lüge schlimmer aus als sie sind. Wer hätte nicht die Polizei, das Gesetz betrogen, wer hätte nicht vor dem begegnenden Schergen schnell die Miene ehrsamer Loyalität vorgenommen, um eine etwa begangene Ungesetzlichkeit zu verbergen usw.? Wer es nicht getan hat, der hat sich eben Gewalt antun lassen: er war ein Schwächling aus - Gewissen. Meine Freiheit weiss ich schon dadurch geschmälert, dass Ich an einem Anderen (sei dies Andere ein Willenloses, wie ein Fels, oder ein Wollendes, wie eine Regierung, ein Einzelner usw.) meinen Willen nicht durchsetzen kann; meine Eigenheit verleugne Ich, wenn Ich Mich selbst - Angesichts des anderen - aufgebe, d.h. nachgebe, abstehe, Mich ergebe, also durch Ergebenheit, Ergebung. Denn ein Anderes ist es, wenn Ich mein bisheriges Verfahren aufgebe, weil es nicht zum Ziele führt, also ablenke von einem falschen Wege, ein Anderes, wenn Ich Mich gefangen gebe. Einen Felsen, der Mir im Wege steht, umgehe Ich so lange, bis Ich Pulver genug habe, ihn zu sprengen; die Gesetze eines Volkes umgehe Ich, bis Ich Kraft gesammelt habe, sie zu stürzen. Weil Ich den Mond nicht fassen kann, soll er Mir darum »heilig« sein, eine Astarte? Könnte Ich Dich nur fassen, Ich fasste Dich wahrlich, und finde Ich nur ein Mittel, zu Dir hinauf zu kommen, Du sollst Mich nicht schrecken! Du Unbegreiflicher, Du sollst Mir nur so lange unbegreiflich bleiben, bis Ich Mir die Gewalt des Begreifens erworben habe, Dich mein eigen nenne; Ich gebe Mich nicht auf gegen Dich, sondern warte nur meine Zeit ab. Bescheide Ich Mich auch für jetzt, Dir etwas anhaben zu können, so gedenke Ich Dir's doch!
Kräftige Menschen haben's von jeher so gemacht. Hatten die »Ergebenen« eine unbezwungene Macht zu ihrer Herrin erhoben und angebetet, hatten sie Anbetung von Allen verlangt, so kam ein solcher Natursohn, der sich nicht ergeben wollte, und jagte die angebetete Macht aus ihrem unersteiglichen Olymp. Er rief der laufenden Sonne sein »Stehe« zu, und liess die Erde kreisen: die Ergebenen mussten sich's gefallen lassen; er legte an die heiligen Eichen seine Axt, und die »Ergebenen« staunten, dass kein himmlisches Feuer ihn verzehre; er warf den Papst vom Petersstuhle, und die »Ergebenen« wussten's nicht zu hindern; er reisst die Gottesgnadenwirtschaft nieder, und die »Ergebenen« krächzen, um endlich erfolglos zu verstummen.

Meine Freiheit wird erst vollkommen, wenn sie meine - Gewalt ist; durch diese aber höre Ich auf, ein bloss Freier zu sein, und werde ein Eigener. Warum ist die Freiheit der Völker ein »hohles Wort«? Weil die Völker keine Gewalt haben! Mit einem Hauch des lebendigen Ich's blase Ich Völker um, und wär's der Hauch eines Nero, eines chinesischen Kaisers oder eines armen Schriftstellers. Warum schmachten denn die d . . . . . . . . Kammern vergeblich nach Freiheit, und werden dafür von den Ministern geschulmeistert? Weil sie keine »Gewaltigen« sind! Die Gewalt ist eine schöne Sache, und zu vielen Dingen nütze; denn »man kommt mit einer Handvoll Gewalt weiter, als mit einem Sack voll Recht«. Ihr sehnt Euch nach der Freiheit? Ihr Toren! Nehmet Ihr die Gewalt, so käme die Freiheit von selbst. Seht, wer die Gewalt hat, der »steht über dem Gesetze«. Wie schmeckt Euch diese Aussicht, ihr »gesetzlichen« Leute? Ihr habt aber keinen Geschmack!

Laut erschallt ringsum der Ruf nach »Freiheit«. Fühlt und weiss man aber, was eine geschenkte oder oktroyierte Freiheit zu bedeuten hat? Man erkennt es nicht in der ganzen Fülle des Wortes, das alle Freiheit wesentlich - Selbstbefreiung sei, d.h. dass Ich nur so viel Freiheit haben kann, als Ich durch meine Eigenheit Mir verschaffe. Was nützt den Schafen, dass ihnen Niemand die Redefreiheit verkürzt? Sie bleiben beim Blöken. Gebt einem, der innerlich ein Mohammedaner, ein Jude oder ein Christ ist, die Erlaubnis zu sprechen, was er mag: er wird doch nur borniertes Zeug vorbringen. Rauben Euch dagegen gewisse Andere die Rede- und Hörfreiheit, so verstehen sie sich ganz richtig auf ihren zeitweiligen Vorteil, da Ihr vielleicht etwas zu sagen und zu hören vermöchtet, wodurch jene »Gewissen« um ihren Kredit kämen.

Wenn sie Euch dennoch Freiheit geben, so sind sie eben Schelme, die mehr geben, als sie haben. Sie geben Euch dann nämlich nichts von ihrem Eigenen, sondern gestohlene Ware, geben Euch Eure eigene Freiheit, die Freiheit, welche Ihr Euch selbst nehmen müsstet; und sie geben sie Euch nur, damit Ihr sie nicht nehmet, und die Diebe und Betrüger obenein zur Verantwortung zieht. In ihrer Schlauheit wissen sie es wohl, dass die gegebene (oktroyierte) Freiheit doch keine Freiheit ist, da nur die Freiheit, die man sich nimmt, also die Freiheit des Egoisten, mit vollen Segeln schifft. Geschenkte Freiheit streicht sogleich die Segel, sobald Sturm oder - Windstille eintritt; sie muss immer - gelinde und mittelmässig angeblasen werden.

Hier liegt der Unterschied zwischen Selbstbefreiung und Emanzipation (Freisprechung, Freilassung). Wer heutigen Tages »in der Opposition steht«, der lechzt und schreit nach »Freilassung«. Die Fürsten sollen ihre Völker für »mündig erklären«, d.h. emanzipieren! Betragt Euch als mündig, so seid Ihr's ohne jene Mündigsprechung, und betragt Ihr Euch nicht darnach, so seid Ihr's nicht wert, und wäret auch durch Mündigsprechung nimmermehr mündig. Die mündigen Griechen jagten ihre Tyrannen fort, und der mündige Sohn macht sich vom Vater unabhängig, Hätten jene gewartet, bis ihre Tyrannen ihnen die Mündigkeit gnädigst bewilligten: sie konnten lange warten. Den Sohn, der nicht mündig werden will, wirft ein verständiger Vater aus dem Hause und behält das Haus allein; dem Laffen geschieht Recht. Der Freigegebene ist eben nichts als ein Freigelassener, ein libertinus, ein Hund, der ein Stück Kette mitschleppt: er ist ein Unfreier im Gewande der Freiheit, wie der Esel in der Löwenhaut.

Emanzipierte Juden sind um nichts gebessert in sich, sondern nur erleichtert als Juden, obgleich, wer ihren Zustand erleichtert, allerdings mehr ist als ein kirchlicher Christ, da der letztere dies nicht ohne Inkonsequenz vermag. Aber emanzipierter Jude oder nicht emanzipierter: Jude bleibt Jude; der Nicht-Selbstbefreite ist eben ein - Emanzipierter. Der protestantische Staat vermag allerdings die Katholiken freizugeben (zu emanzipieren); weil sie sich aber nicht selbst frei machen, bleiben sie eben - Katholiken.

Von Eigennutz und Uneigennützigkeit ist oben schon gesprochen worden. Die Freiheitsfreunde erbosen sich gegen den Eigennutz, weil sie in ihrem religiösen Freiheitsstreben von der erhabenen »Selbstverleugnung« sich nicht - befreien können. Dem Egoismus gilt der Zorn des Liberalen, denn der Egoist bemüht sich ja um eine Sache niemals der Sache wegen, sondern seinetwegen: ihm muss die Sache dienen. Egoistisch ist es, keiner Sache einen eigenen oder »absoluten« Wert beizulegen, sondern ihren Wert in Mir zu suchen. Zu den widerlichsten Zügen egoistischen Betragens hört man häufig das so gewöhnliche Brotstudium zählen, weil es die schändlichste Entweihung der Wissenschaft bekunde; allein wozu ist die Wissenschaft als dazu, verbraucht zu werden? Wenn Einer sie zu nichts Besserem zu nutzen weiss, als zum Broterwerb, so ist sein Egoismus zwar ein kleinlicher, weil die Macht dieses Egoisten eine beschränkte ist, aber das Egoistische daran und die Entweihung der Wissenschaft kann nur ein Besessener tadeln.
Weil das Christentum, unfähig den Einzelnen als Einzigen gelten zu lassen, ihn nur als Abhängigen dachte und eigentlich nichts als eine Sozialtheorie war, eine Lehre des Zusammenlebens, und zwar sowohl des Menschen mit Gott als des Menschen mit dem Menschen: so musste bei ihm alles »Eigene« in ärgsten Verruf kommen: Eigennutz, Eigensinn, Eigenwille, Eigenheit, Eigenliebe usw. Die christliche Anschauungsweise hat überhaupt allmählich ehrliche Wörter zu unehrlichen umgestempelt; warum sollte man sie nicht wieder zu Ehren bringen? So heisst »Schimpf« im alten Sinne soviel als Scherz, für den christlichen Ernst ward aber aus der Kurzweil eine Entbehrung, denn er versteht keinen Spass; »Frech« bedeutete früher nur kühn, tapfer; »Frevel« war nur Wagnis. Bekannt ist, wie scheel lange Zeit das Wort »Vernunft« angesehen wurde.
Unsere Sprache hat sich so ziemlich auf den christlichen Standpunkt eingerichtet, und das allgemeine Bewusstsein ist noch zu christlich, um nicht vor allem Nichtchristlichen als vor einem Unvollkommenen oder Bösen zurückzuschrecken. Deshalb steht es auch schlimm um den »Eigennutz«.

Eigennutz im christlichen Sinne heisst etwa dies: Ich sehe nur darauf, ob etwas Mir als sinnlichem Menschen nützt. Ist denn aber die Sinnlichkeit meine ganze Eigenheit? Bin Ich bei Mir selbst, wenn Ich der Sinnlichkeit hingegeben bin? Folge Ich Mir selbst, meiner eigenen Bestimmung, wenn Ich jener folge? Mein eigen bin Ich erst, wenn nicht die Sinnlichkeit, aber ebensowenig ein Anderer (Gott, Menschen, Obrigkeit, Gesetz, Staat, Kirche usw.) Mich in der Gewalt haben, sondern Ich selbst; was Mir, diesem Selbsteigenen oder Selbstangehörigen, nützt, das verfolgt mein Eigennutz.
Übrigens sieht man sich alle Augenblicke genötigt, an den Eigennutz, den allezeit gelästerten, als an eine Alles bewältigende Macht zu glauben. In der Sitzung vom 10. Februar 1844 begründet Welcker eine Motion auf die Abhängigkeit der Richter und tut in einer ausführlichen Rede dar, dass entsetzbare, entlassbare, versetzbare und pensionierbare Richter, kurz solche Mitglieder eines Gerichtshofes, welche auf dem blossen Administrationswege verkürzt und gefährdet werden können, aller Zuverlässigkeit entbehren, ja aller Achtung und alles Vertrauens im Volke verlustig gehen. Der ganze Richterstand, ruft Welcker aus, ist durch diese Abhängigkeit demoralisiert! Mit dürren Worten heisst dies nichts anders, als dass die Richter besser ihre Rechnung dabei finden, wenn sie im ministeriellen Sinne Urtel fällen, als wenn sie dies nach gesetzlichem Sinne tun. Wie soll dem abgeholfen werden? Etwa dadurch, dass man den Richtern die Schmach ihrer Verkäuflichkeit zu Gemüte führt und dann das Vertrauen hegt, sie werden in sich gehen und hinfort die Gerechtigkeit höher schätzen als ihren Eigennutz? Nein, zu diesem romantischen Vertrauen versteigt sich das Volk nicht, denn es fühlt, dass der Eigennutz gewaltiger sei als jedes andere Motiv. Darum mögen dieselben Personen Richter bleiben, die dies seither gewesen sind, so sehr man sich auch davon überzeugt hat, dass sie als Egoisten verfuhren; nur müssen sie ihren Eigennutz nicht länger durch die Verkäuflichkeit des Rechtes gefördert finden, sondern so unabhängig von der Regierung dastehen, dass sie durch ein sachgemässes Urteil ihre eigene Sache, ihr »wohlverstandenes Interesse«, nicht in Schatten stellen, vielmehr ein gutes Gehalt und Achtung bei den Bürgern gemächlich mit einander verbinden.

Also Welcker und die badischen Bürger halten sich erst für gesichert, wenn sie auf den Eigennutz rechnen können. Was soll man sich folglich von den unzähligen Uneigennützigkeitsphrasen denken, von denen ihr Mund sonst überströmt?
Zu einer Sache, die Ich eigennützig betreibe, habe Ich ein anderes Verhältnis, als zu einer, welcher Ich uneigennützig diene. Man könnte folgendes Erkennungszeichen dafür anführen: gegen jene kann Ich Mich versündigen oder eine Sünde begehen, die andere nur verscherzen, von Mir stossen, Mich darum bringen, d.h. eine Unklugheit begehen. Beiderlei Betrachtungsweisen erfährt die Handelsfreiheit, indem sie teils für eine Freiheit angesehen wird, welche unter Umständen gewährt oder entzogen werden könne, teils für eine solche, die unter allen Umständen heilig zu halten sei.
Ist Mir an einer Sache nicht an und für sich gelegen und begehre Ich sie nicht um ihrer selbst willen, so verlange Ich sie lediglich wegen ihrer Zweckdienlichkeit, Nützlichkeit, um eines andern Zweckes willen, z.B. Austern zum Wohlgeschmack. Wird nun nicht dem Egoisten jede Sache als Mittel dienen, dessen letzter Zweck er selber ist, und soll er eine Sache beschützen, die ihm zu nichts dient, z.B. der Proletarier den Staat?
Die Eigenheit schliesst jedes Eigene in sich und bringt wieder zu Ehren, was die christliche Sprache verunehrte. Die Eigenheit hat aber auch keinen fremden Massstab, wie sie denn überhaupt keine Idee ist, gleich der Freiheit, Sittlichkeit, Menschlichkeit u. dergl.: sie ist nur eine Beschreibung des - Eigners.

II. Der Eigner

Ich - komme Ich zu Mir und dem Meinigen durch den Liberalismus?

Wen sieht der Liberale für Seinesgleichen an? Den Menschen! Sei Du nur Mensch - und das bist Du ja - so nennt der Liberale Dich seinen Bruder. Er fragt nach deinen Privatmeinungen und Privatnarrheiten sehr wenig, wenn er nur den »Menschen« in Dir erblicken kann.
Da er aber dessen wenig achtet, was Du privatim bist, ja bei strenger Befolgung seines Prinzips gar keinen Wert darauf legt, so sieht er in Dir nur das, was Du generatim bist. Mit andern Worten; er sieht in Dir nicht Dich, sondern die Gattung, nicht Hans oder Kunz, sondern den Menschen, nicht den Wirklichen oder Einzigen, sondern dein Wesen oder deinen Begriff, nicht den Leibhaftigen, sondern den Geist.

Als Hans wärest Du nicht Seinesgleichen, weil er Kunz, also nicht Hans, ist; als Mensch bist Du dasselbe, was er ist. Und da Du als Hans für ihn, soweit er nämlich ein Liberaler und nicht unbewussterweise Egoist ist, so gut als gar nicht existierst, so hat er sich die »Bruderliebe« wahrlich sehr leicht gemacht: er liebt in Dir nicht den Hans, von welchem er nichts weiss und wissen will, sondern den Menschen.
In Dir und Mir nichts weiter zu sehen, als »Menschen«, das heisst die christliche Anschauungsweise, wonach einer für den andern nichts als ein Begriff (z.B. ein zur Seligkeit Berufener usw.) ist, auf die Spitze treiben.

Das eigentliche Christentum sammelt Uns noch unter einem minder allgemeinen Begriffe: Wir sind da »Kinder Gottes« und »der Geist Gottes treibet Uns« (51). Nicht Alle jedoch können sich rühmen Gottes Kinder zu sein, sondern »derselbige Geist, welcher Zeugnis gibt unserem Geiste, dass Wir Gottes Kinder sind, der offenbart auch, welche die Kinder des Teufels sind«. (52) Mithin musste ein Mensch, um Gottes Kind zu sein, nicht ein Kind des Teufels sein; die Kindschaft Gottes exkludierte gewisse Menschen. Dagegen brauchen Wir, um Menschenkinder, d.h. Menschen zu sein, nichts als zu der Menschengattung zu gehören, brauchen nur Exemplare derselben Gattung zu sein. Was Ich als dieses Ich bin, das geht Dich als guten Liberalen nichts an, sondern ist allein meine Privatsache; genug, dass Wir beide Kinder ein und derselben Mutter, nämlich der Menschengattung, sind: als »Menschenkind« bin Ich Deinesgleichen.
Was bin Ich Dir nun? Etwa dieses leibhaftige Ich, wie Ich gehe und stehe? Nichts weniger als das. Dieses leibhaftige Ich mit seinen Gedanken, Entschlüssen und Leidenschaften ist in deinen Augen eine »Privatsache«, welche Dich nichts angeht, ist eine »Sache für sich«. Als eine »Sache für Dich« existiert nur mein Begriff, mein Gattungsbegriff, nur der Mensch, der, wie er Hans heisst, eben so gut Peter oder Michel sein könnte. Du siehst in Mir nicht Mich, den Leibhaftigen, sondern ein Unwirkliches, den Spuk, d.h. einen Menschen.
Zu »Unsersgleichen« erklärten Wir im Laufe der christlichen Jahrhunderte die Verschiedensten, aber jedesmal nach Mass desjenigen Geistes, den Wir von ihnen erwarteten, z.B. jeden, bei dem der Geist der Erlösungsbedürftigkeit sich voraussetzen lässt, dann später jeden, der den Geist der Rechtschaffenheit hat, endlich jeden, der menschlichen Geist und ein menschlich Antlitz zeigt. So variierte der Grundsatz der »Gleichheit«.
Indem man nun die Gleichheit als Gleichheit des menschlichen Geistes auffasst, hat man allerdings eine alle Menschen einschliessende Gleichheit entdeckt; denn wer könnte leugnen, dass Wir Menschen einen menschlichen, d.h. keinen andern Geist als einen menschlichen haben! Aber sind Wir darum nun weiter als im Anfange des Christentums? Damals sollten Wir einen göttlichen Geist haben, jetzt einen menschlichen; erschöpfte Uns aber der göttliche nicht, wie sollte der menschliche ganz das ausdrücken, was Wir sind? Feuerbach z.B. meint, wenn er das Göttliche vermenschliche, so habe er die Wahrheit gefunden. Nein, hat Uns der Gott gequält, so ist »der Mensch« im Stande, Uns noch marternder zu pressen. Dass Wir's kurz sagen: dass Wir Menschen sind, das ist das Geringste an Uns und hat nur Bedeutung, in so fern es eine unserer Eigenschaften, d.h. unser Eigentum ist. Ich bin zwar unter anderm auch ein Mensch, wie Ich z.B. ein lebendiges Wesen, also animal oder Tier, oder ein Europäer, ein Berliner u. dergl. bin; aber wer Mich nur als Menschen oder als Berliner achten wollte, der zollte Mir eine Mir sehr gleichgültige Achtung. Und weshalb? Weil er nur eine meiner Eigenschaften achtet, nicht Mich.

Gerade so verhält sich's mit dem Geiste auch. Ein christlicher, ein rechtschaffener und ähnlicher Geist kann wohl meine erworbene Eigenschaft, d.h. mein Eigentum, sein, Ich aber bin nicht dieser Geist: er ist mein, Ich nicht sein.
Wir haben daher im Liberalismus nur die Fortsetzung der alten christlichen Geringachtung des Ich's, des leibhaftigen Hansen. Statt Mich zu nehmen, wie Ich bin, sieht man lediglich auf mein Eigentum, meine Eigenschaften und schliesst mit Mir einen ehrlichen Bund, nur um meines - Besitztums willen; man heiratet gleichsam, was Ich habe, nicht was Ich bin. Der Christ hält sich an meinen Geist, der Liberale an meine Menschlichkeit.
Aber ist der Geist, den man nicht als das Eigentum des leibhaftigen Ich's, sondern als das eigentliche Ich selbst betrachtet, ein Gespenst, so ist auch der Mensch, der nicht als meine Eigenschaft, sondern als das eigentliche Ich anerkannt wird, nichts als ein Spuk, ein Gedanke, ein Begriff.

Darum dreht sich auch der Liberale in demselben Kreise wie der Christ herum. Weil der Geist des Menschentums, d.h. der Mensch, in Dir wohnt, bist Du ein Mensch, wie Du, wenn der Geist Christi in Dir wohnt, ein Christ bist; aber weil er nur als ein zweites, wenngleich als dein eigentliches oder »besseres« Ich, in Dir wohnt, so bleibt er Dir jenseitig, und Du musst streben, ganz der Mensch zu werden. Ein eben so fruchtloses Streben, als das des Christen, ganz seliger Geist zu werden! Jetzt, nachdem der Liberalismus den Menschen proklamiert hat, kann man es aussprechen, dass damit nur die letzte Konsequenz des Christentums vollzogen wurde, und dass das Christentum in Wahrheit sich von Haus aus keine andere Aufgabe stellte, als »den Menschen«, den »wahren Menschen« zu realisieren. Daher denn die Täuschung, es lege das Christentum dem Ich einen unendlichen Wert bei, wie z.B. in der Unsterblichkeitslehre, in der Seelsorge usw. an den Tag kommt. Nein, diesen Wert erteilt es allein dem Menschen. Nur der Mensch ist unsterblich, und nur, weil Ich Mensch bin, bin auch Ich's. In der Tat musste das Christentum lehren, dass keiner verloren gehe, wie eben auch der Liberalismus Alle als Menschen gleichgestellt; aber jene Ewigkeit, wie diese Gleichheit, betraf nur den Menschen in Mir, nicht Mich. Nur als der Träger und Beherberger des Menschen sterbe Ich nicht, wie bekanntlich »der König nicht stirbt«. Ludwig stirbt, aber der König bleibt; Ich sterbe, aber mein Geist, der Mensch, bleibt. Um nun Mich ganz mit dem Menschen zu identifizieren, hat man die Forderung erfunden und gestellt: Ich müsse ein »wirkliches Gattungswesen« werden. (53) Die menschliche Religion ist nur die letzte Metamorphose der christlichen Religion. Denn Religion ist der Liberalismus darum, weil er mein Wesen von Mir trennt und über Mich stellt, weil er »den Menschen« in demselben Masse erhöht, wie irgend eine andere Religion ihren Gott oder Götzen, weil er das Meinige zu einem Jenseitigen, weil er überhaupt aus dem Meinigen, aus meinen Eigenschaften und meinem Eigentum, ein Fremdes, nämlich ein »Wesen« macht, kurz, weil er Mich unter den Menschen stellt und Mir dadurch einen »Beruf« schafft; aber auch der Form nach erklärt sich der Liberalismus als Religion, wenn er für dies höchste Wesen, den Menschen, einen Glaubenseifer fordert, »einen Glauben, der endlich auch einmal seinen Feuereifer beweisen wird, einen Eifer, der unüberwindlich sein wird.« (54) Da der Liberalismus aber menschliche Religion ist, so verhält sich der Bekenner derselben gegen den Bekenner jeder anderen (katholischen, jüdischen usw.) tolerant, wie Friedrich der Grosse gegen jeden sich verhielt, der seine Untertanenpflichten verrichtet, welcher Fasson des Seligwerdens er auch zugetan sein mochte. Diese Religion soll jetzt zur allgemein üblichen erhoben und von den andern als blossen »Privatnarrheiten«, gegen die man übrigens sich wegen ihrer Unwesentlichkeit höchst liberal verhält, abgesondert werden. Man kann sie die Staatsreligion, die Religion des »freien Staates« nennen, nicht in dem bisherigen Sinne, dass sie die vom Staate bevorzugte oder privilegierte sei, sondern als diejenige Religion, welche der »freie Staat« von jedem der Seinigen, er sei privatim Jude, Christ oder was sonst, zu fordern nicht nur berechtigt, sondern genötigt ist. Sie tut nämlich dem Staate dieselben Dienste, wie die Pietät der Familie. Soll die Familie von jedem der Ihrigen in ihrem Bestande anerkannt und erhalten werden, so muss ihm das Band des Blutes heilig, und sein Gefühl dafür das der Pietät, des Respektes gegen die Blutsbande, sein, wodurch ihm jeder Blutsverwandte zu einem Geheiligten wird. So auch muss jedem Gliede der Staatsgemeinde diese Gemeinde heilig, und der Begriff, welcher dem Staate der höchste ist, gleichfalls der höchste sein.

Welcher Begriff ist aber dem Staate der höchste? Doch wohl der, eine wirklich menschliche Gesellschaft zu sein, eine Gesellschaft, in welcher jeder als Glied Aufnahme erhalten kann, der wirklich Mensch, d.h. nicht Unmensch, ist. Gehe die Toleranz eines Staates noch so weit, gegen einen Unmenschen und gegen das Unmenschliche hört sie auf. Und doch ist dieser »Unmensch« ein Mensch, doch ist das »Unmenschliche« selbst etwas Menschliches, ja nur einem Menschen, keinem Tiere, möglich, ist eben etwas »Menschenmögliches«. Obgleich aber jeder Unmensch ein Mensch ist, so schliesst ihn doch der Staat aus, d.h. er sperrt ihn ein, oder verwandelt ihn aus einem Staatsgenossen in einen Gefängnisgenossen (Irrenhaus- oder Krankenhausgenossen nach dem Kommunismus) .

Mit dürren Worten zu sagen, was ein Unmensch sei, hält nicht eben schwer: es ist ein Mensch, welcher dem Begriffe Mensch nicht entspricht, wie das Unmenschliche ein Menschliches ist, welches dem Begriffe des Menschlichen nicht angemessen ist. Die Logik nennt dies ein »widersinniges Urteil«. Dürfte man wohl dies Urteil, dass einer Mensch sein könne, ohne Mensch zu sein, aussprechen, wenn man nicht die Hypothese gelten liesse, dass der Begriff des Menschen von der Existenz, das Wesen von der Erscheinung getrennt sein könne? Man sagt: der erscheint zwar als Mensch, ist aber kein Mensch. Dies »widersinnige Urteil« haben die Menschen eine lange Reihe von Jahrhunderten hindurch gefällt! Ja, was noch mehr ist, in dieser langen Zeit gab es nur - Unmenschen. Welcher Einzelne hätte seinem Begriffe entsprochen? Das Christentum kennt nur einen Menschen, und dieser Eine - Christus - ist sogleich wieder im umgekehrten Sinne ein Unmensch, nämlich ein übermenschlicher Mensch, ein »Gott«. Wirklicher Mensch ist nur der - Unmensch.
Menschen, die keine Menschen sind, was wären sie anders als Gespenster? Jeder wirkliche Mensch ist, weil er dem Begriffe »Mensch« nicht entspricht, oder weil er nicht »Gattungsmensch« ist, ein Spuk. Aber bleibe Ich auch dann noch ein Unmensch, wenn Ich den Menschen, der nur als mein Ideal, meine Aufgabe, mein Wesen oder Begriff über Mich hinausragte und Mir jenseitig blieb, zu meiner Mir eigenen und inhärenten Eigenschaft herabsetze, so dass der Mensch nichts anderes ist, als meine Menschlichkeit, mein Menschsein, und alles, was Ich tue, gerade darum menschlich ist, weil Ich's tue, nicht aber darum, weil es dem Begriffe »Mensch« entspricht? Ich bin wirklich der Mensch und Unmensch in einem; denn Ich bin Mensch und bin zugleich mehr als Mensch, d.h. Ich bin das Ich dieser meiner blossen Eigenschaft.

Es musste endlich dahin kommen, dass man Uns nicht mehr bloss zumutete, Christen zu sein, sondern Menschen zu werden; denn obwohl Wir auch Christen niemals wirklich werden konnten, sondern immer »arme Sünder« blieben (der Christ war ja eben auch ein unerreichbares Ideal), so kam dabei doch die Widersinnigkeit nicht so zum Bewusstsein und die Täuschung war leichter, als jetzt, wo an Uns, die Wir Menschen sind und menschlich handeln, ja gar nicht anders können, als dies zu sein und so zu handeln, die Forderung gestellt wird: Wir sollen Menschen sein, »wirkliche Menschen«.

Unsere heutigen Staaten bürden zwar, weil ihnen von ihrer kirchlichen Mutter noch allerhand anklebt, den Ihrigen noch mancherlei Verpflichtungen auf (z.B. kirchliche Religiosität), die sie, die Staaten, eigentlich nichts angehen; aber sie verleugnen doch im Ganzen ihre Bedeutung nicht, indem sie für menschliche Gesellschaften angesehen werden wollen, in welchen der Mensch als Mensch ein Glied sein kann, wenn er auch minder privilegiert ist als andere Mitglieder; die meisten lassen Anhänger jeder religiösen Sekte zu, und rezipieren die Leute ohne Rassen- oder Nationalunterschied: Juden, Türken, Mohren usw. können französische Bürger werden. Der Staat sieht also bei der Aufnahme nur darauf, ob einer ein Mensch sei. Die Kirche, also eine Gesellschaft von Gläubigen, konnte nicht jeden Menschen in ihren Schoss aufnehmen; der Staat, als eine Gesellschaft von Menschen, kann es. Aber wenn der Staat sein Prinzip, bei den Seinigen nichts vorauszusetzen, als dass sie Menschen seien, rein vollzogen hat (bis jetzt setzen selbst die Nordamerikaner bei den Ihrigen noch voraus, dass sie Religion, wenigstens die Religion der Rechtschaffenheit, der Honettität, haben), dann hat er sich sein Grab gegraben. Während er wähnen wird, an den Seinigen lauter Menschen zu besitzen, sind diese mittlerweile zu lauter Egoisten geworden, deren jeder ihn nach seinen egoistischen Kräften und Zwecken benutzt. An den Egoisten geht die »menschliche Gesellschaft« zu Grunde; denn sie beziehen sich nicht mehr als Menschen aufeinander, sondern treten egoistisch als ein Ich gegen ein von Mir durchaus verschiedenes und gegnerisches Du und Ihr auf.

Wenn der Staat auf unsere Menschlichkeit rechnen muss, so ist's dasselbe, wenn man sagt: er müsse auf unsere Sittlichkeit rechnen. Ineinander den Menschen sehen und gegeneinander als Menschen handeln, das nennt man ein sittliches Verhalten. Es ist das ganz und gar die »geistige Liebe« des Christentums. Sehe Ich nämlich in Dir den Menschen, wie Ich in Mir den Menschen, und nichts als den Menschen sehe, so sorge Ich für Dich, wie Ich für Mich sorgen würde, denn Wir stellen ja beide nichts als den mathematischen Satz vor: A = C und B = C, folglich A = B, d.h. Ich nichts als Mensch und Du nichts als Mensch, folglich Ich und Du dasselbe. Die Sittlichkeit verträgt sich nicht mit dem Egoismus, weil sie nicht Mich, sondern nur den Menschen an Mir gelten lässt. Ist aber der Staat eine Gesellschaft der Menschen, nicht ein Verein von Ichen, deren jedes nur sich im Auge hat, so kann er ohne Sittlichkeit nicht bestehen und muss auf Sittlichkeit halten.

Darum sind Wir beide, der Staat und Ich, Feinde. Mir, dem Egoisten, liegt das Wohl dieser »menschlichen Gesellschaft« nicht am Herzen, Ich opfere ihr nichts, Ich benutze sie nur; um sie aber vollständig benutzen zu können, verwandle Ich sie vielmehr in mein Eigentum und mein Geschöpf, d.h. Ich vernichte sie und bilde an ihrer Stelle den Verein von Egoisten.

Also es verrät der Staat seine Feindschaft gegen Mich dadurch, dass er fordert, Ich soll Mensch sein, was voraussetzt, dass Ich es auch nicht sein und ihm für einen »Unmenschen« gelten könne: er legt Mir das Menschsein als eine Pflicht auf. Ferner verlangt er, dass Ich nichts tue, wobei er nicht bestehen könne; sein Bestand also soll Mir heilig sein. Dann soll Ich kein Egoist, sondern ein »honetter, rechtschaffener«, d.h. sittlicher Mensch sein. Genug, Ich soll gegen ihn und seinen Bestand ohnmächtig und respektvoll sein usw.
Dieser Staat, allerdings nicht ein gegenwärtiger, sondern des Erschaffens erst noch bedürftig, ist das Ideal des fortschreitenden Liberalismus. Es soll eine wahrhafte »Menschengesellschaft« entstehen, worin jeder »Mensch« Platz findet. Der Liberalismus will »den Menschen« realisieren, d.h. ihm eine Welt schaffen, und dies wäre die menschliche Welt oder die allgemeine (kommunistische) Menschengesellschaft. Man sagte: »Die Kirche konnte nur den Geist, der Staat soll den ganzen Menschen berücksichtigen«. (55) Aber ist »der Mensch« nicht »Geist«? Der Kern des Staates ist eben »der Mensch«, diese Unwirklichkeit, und er selber ist nur »Menschengesellschaft«. Die Welt, welche der Gläubige (gläubige Geist) schafft, heisst Kirche, die Welt, welche der Mensch (menschliche oder humane Geist) schafft, heisst Staat. Das ist aber nicht meine Welt. Ich verrichte nie in abstracto Menschliches, sondern immer Eigenes, d.h. meine menschliche Tat ist von jeder andern menschlichen verschieden und ist nur durch diese Verschiedenheit eine wirkliche, Mir zugehörige Tat. Das Menschliche an ihr ist eine Abstraktion und als solches Geist, d.h. abstrahiertes Wesen. Br. Bauer spricht es z.B. Judenfrage S. 84 aus, dass die Wahrheit der Kritik die letzte, und zwar die vom Christentum selber gesuchte Wahrheit sei, nämlich »der Mensch«. Er sagt: »die Geschichte der christlichen Welt ist die Geschichte des höchsten Wahrheitskampfes, denn in ihr - und nur in ihr! - handelt es sich um die Entdeckung der letzten oder der ersten Wahrheit - des Menschen und der Freiheit.« (56)

Wohlan, lassen Wir Uns diesen Gewinn gefallen, und nehmen Wir den Menschen für das endlich gefundene Resultat der christlichen Geschichte und überhaupt des religiösen oder idealen Strebens der Menschen. Wer ist nun der Mensch? Ich bin es! Der Mensch, das Ende und Ergebnis des Christentums, ist als Ich der Anfang und das auszunutzende Material der neuen Geschichte, einer Geschichte des Genusses nach der Geschichte der Aufopferungen, einer Geschichte nicht des Menschen oder der Menschheit, sondern - Meiner. Der Mensch gilt als das Allgemeine. Nun denn, Ich und das Egoistische ist das wirklich Allgemeine, da jeder ein Egoist ist und sich über alles geht. Das Jüdische ist nicht das rein Egoistische, weil der Jude sich noch an Jehova hingibt, das Christliche ist es nicht, weil der Christ von der Gnade Gottes lebt und sich ihm unterwirft. Es befriedigt als Jude wie als Christ ein Mensch nur gewisse seiner Bedürfnisse, nur eine gewisse Notdurft, nicht sich: ein halber Egoismus, weil der Egoismus eines halben Menschen, der halb er, halb Jude, oder halb sein Eigentümer, halb ein Sklave ist. Darum schliessen Jude und Christ sich auch zur Hälfte immer aus, d.h. als Menschen erkennen sie sich an, als Sklaven schliessen sie sich aus, weil sie zweier verschiedener Herren Diener sind. Könnten sie vollkommene Egoisten sein, so schlössen sie sich ganz aus und hielten umso fester zusammen. Nicht dass sie sich ausschliessen, ist ihre Schmach, sondern dass dies nur halb geschieht. Dagegen meint Br. Bauer, als »Menschen« können sich Juden und Christen erst betrachten und gegenseitig behandeln, wenn sie das besondere Wesen, welches sie trennt und zu ewiger Absonderung verpflichtet, aufgeben, das allgemeine Wesen »des Menschen« anerkennen und als ihr »wahres Wesen« betrachten.

Nach seiner Darstellung liegt der Fehler der Juden wie der Christen darin, dass sie etwas »Apartes« sein und haben wollen, statt nur Menschen zu sein und Menschliches zu erstreben, nämlich die »allgemeinen Menschenrechte«. Er meint, ihr Grundirrtum bestehe in dem Glauben, sie seien »privilegiert«, besässen »Vorrechte«, überhaupt in dem Glauben an das Vorrecht. Dagegen hält er ihnen das allgemeine Menschenrecht vor. Das Menschenrecht! -

Der Mensch ist der Mensch überhaupt und insofern jeder, der Mensch ist. Nun soll jeder die ewigen Menschenrechte haben, und in der vollkommenen »Demokratie« oder, wie es richtiger heissen müsste - Anthropokratie, nach der Meinung der Kommunisten sie geniessen. Aber nur Ich habe Alles, was Ich Mir - verschaffe; als Mensch habe Ich nichts. Man möchte jedem Menschen alles Gute zufliessen lassen, bloss weil er den Titel »Mensch« hat. Ich aber lege den Akzent auf Mich, nicht darauf, dass Ich Mensch bin.
Der Mensch ist nur etwas als meine Eigenschaft (Eigentum), wie die Männlichkeit oder Weiblichkeit. Die Alten fanden das Ideal darin, dass man im vollen Sinne Mann sei; ihre Tugend ist virtus und arete, d.h. Männlichkeit. Was soll man von einem Weibe denken, die nur vollkommen »Weib« sein wollte? Das ist nicht jeder gegeben und Manche würde sich damit ein unerreichbares Ziel setzen. Weiblich dagegen ist sie ohnehin, von Natur, die Weiblichkeit ist ihre Eigenschaft, und sie braucht der »echten Weiblichkeit« nicht. Ich bin Mensch, gerade so, wie die Erde Stern ist. So lächerlich es wäre der Erde die Aufgabe zu stellen, ein »rechter Stern« zu sein, so lächerlich ist's, Mir als Beruf aufzubürden, ein »rechter Mensch« zu sein.

Wenn Fichte sagt: »Das Ich ist Alles«, so scheint dies mit meinen Aufstellungen vollkommen zu harmonieren. Allein nicht das Ich ist Alles, sondern das Ich zerstört Alles, und nur das sich selbst auflösende Ich, das nie seiende Ich, das - endliche Ich ist wirklich Ich. Fichte spricht vom »absoluten« Ich, Ich aber spreche von Mir, dem vergänglichen Ich. Wie nahe liegt die Meinung, dass Mensch und Ich dasselbe sagen, und doch sieht man z.B. an Feuerbach, dass der Ausdruck »Mensch« das absolute Ich, die Gattung bezeichnen soll, nicht das vergängliche, einzelne Ich. Egoismus und Menschlichkeit (Humanität) müssten das Gleiche bedeuten, aber nach Feuerbach kann der Einzelne (das »Individuum«) »sich nur über die Schranken seiner Individualität erheben, aber nicht über die Gesetze, die positiven Wesensbestimmungen seiner Gattung«. (57) Allein die Gattung ist nichts, und wenn der Einzelne sich über die Schranken seiner Individualität erhebt, so ist dies vielmehr gerade Er selbst als Einzelner, er ist nur, indem er sich erhebt, er ist nur, indem er nicht bleibt, was er ist; sonst wäre er fertig, tot. Der Mensch ist nur ein Ideal, die Gattung nur ein Gedachtes. Ein Mensch sein, heisst nicht das Ideal des Menschen erfüllen, sondern sich, den Einzelnen, darstellen. Nicht, wie Ich das allgemein Menschliche realisiere, braucht meine Aufgabe zu sein, sondern wie Ich Mir selbst genüge. Ich bin meine Gattung, bin ohne Norm, ohne Gesetz, ohne Muster u. dergl. Möglich, dass Ich aus Mir sehr wenig machen kann; dies Wenige ist aber Alles und ist besser, als was Ich aus Mir machen lasse durch die Gewalt Anderer, durch die Dressur der Sitte, der Religion, der Gesetze, des Staates usw. Besser - wenn einmal von Besser die Rede sein soll - besser ein ungezogenes, als ein altkluges Kind, besser ein widerwilliger als ein zu Allem williger Mensch. Der Ungezogene und Widerwillige befindet sich noch auf dem Wege, nach seinem eigenen Willen sich zu bilden; der Altkluge und Willige wird durch die »Gattung«, die allgemeinen Anforderungen usw. bestimmt, sie ist ihm Gesetz. Er wird dadurch bestimmt: denn, was ist ihm die Gattung anders, als seine »Bestimmung«, sein »Beruf«? Ob Ich auf die »Menschheit«, die Gattung, blicke, um diesem Ideal nachzustreben, oder auf Gott und Christus mit gleichem Streben: wie wäre darin eine wesentliche Verschiedenheit? Höchstens ist jenes verwaschener, als dieses. Wie der Einzelne die ganze Natur, so ist er auch die ganze Gattung.

Durch das, was Ich bin, ist allerdings Alles bedingt, was Ich tue, denke usw., kurz meine Äusserung oder Offenbarung. Der Jude z.B. kann nur so oder so wollen, kann nur so »sich geben«; der Christ kann sich nur christlich geben und offenbaren usw. Wäre es möglich, dass Du Jude oder Christ sein könntest, so brächtest Du freilich nur Jüdisches oder Christliches zu Tage; allein es ist nicht möglich, Du bleibst beim strengsten Wandel doch ein Egoist, ein Sünder gegen jenen Begriff, d.h. Du bist nicht = Jude. Weil nun immer das Egoistische wieder durchblickt, so hat man nach einem vollkommneren Begriffe gefragt, der wirklich ganz ausdrückte, was Du bist, und der, weil er deine wahre Natur ist, alle Gesetze deiner Betätigung enthielte. Das vollkommenste der Art hat man im »Menschen« erreicht. Als Jude bist Du zu wenig und das Jüdische ist nicht deine Aufgabe; ein Grieche, ein Deutscher zu sein, reicht nicht aus. Aber sei ein - Mensch, dann hast Du Alles; das Menschliche sieh' als deinen Beruf an.

Nun weiss Ich, was Ich soll, und der neue Katechismus kann abgefasst werden. Wieder ist das Subjekt dem Prädikate unterworfen, der Einzelne einem Allgemeinen; wieder ist einer Idee die Herrschaft gesichert und zu einer neuen Religion der Grund gelegt. Es ist dies ein Fortschritt im religiösen, und speziell im christlichen Gebiete, kein Schritt über dasselbe hinaus. Der Schritt darüber hinaus führt ins Unsagbare. Für Mich hat die armselige Sprache kein Wort, und »das Wort«, der Logos, ist Mir ein »blosses Wort«.
Man sucht mein Wesen. Ist's nicht der Jude, der Deutsche usw., so doch - der Mensch. »Der Mensch ist mein Wesen.«

Ich bin Mir zuwider oder widerwärtig; Mir graut und ekelt vor Mir, Ich bin Mir ein Greuel, oder Ich bin Mir nie genug und tue Mir nie genug. Aus solchen Gefühlen entspringt die Selbstauflösung oder Selbstkritik. Mit der Selbstverleugnung beginnt, mit der vollendeten Kritik schliesst die Religiosität.

Ich bin besessen und will den »bösen Geist« loswerden. Wie fange Ich's an? Ich begehe getrost die Sünde, welche dem Christen die ärgste scheint, die Sünde und Lästerung wider den heiligen Geist. »Wer den heiligen Geist lästert, der hat keine Vergebung ewiglich, sondern ist schuldig des ewigen Gerichts!« (58) Ich will keine Vergebung und fürchte Mich nicht vor dem Gerichte. Der Mensch ist der letzte böse Geist oder Spuk, der täuschendste oder vertrauteste, der schlaueste Lügner mit ehrlicher Miene, der Vater der Lügen.
Indem der Egoist sich gegen die Anmutungen und Begriffe der Gegenwart wendet, vollzieht er unbarmherzig die Massloseste - Entheiligung. Nichts ist ihm heilig!
Es wäre töricht zu behaupten, es gäbe keine Macht über der meinigen. Nur die Stellung, welche Ich Mir zu derselben gebe, wird eine durchaus andere sein, als sie im religiösen Zeitalter war: Ich werde der Feind jeder höheren Macht sein, während die Religion lehrt, sie Uns zur Freundin zu machen und demütig gegen sie zu sein.

Der Entheiliger spannt seine Kraft gegen jede Gottesfurcht, denn Gottesfurcht würde ihn in allem bestimmen, was er als heilig bestehen liesse. Ob am Gottmenschen der Gott oder der Mensch die heiligende Macht übe, ob also etwas um Gottes oder um des Menschen (der Humanität) willen heilig gehalten werde, das ändert die Gottesfurcht nicht, da der Mensch so gut als »höchstes Wesen« verehrt wird, als auf dem speziell religiösen Standpunkte der Gott als - höchstes Wesen« unsere Furcht und Ehrfurcht verlangt, und beide Uns imponieren.
Die eigentliche Gottesfurcht hat längst eine Erschütterung erlitten, und ein mehr oder weniger bewusster »Atheismus«, äusserlich an einer weitverbreiteten »Unkirchlichkeit« erkennbar, ist unwillkürlich Ton geworden. Allein, was dem Gott genommen wurde, ist dem Menschen zugesetzt worden, und die Macht der Humanität vergrösserte sich in eben dem Grade, als die der Frömmigkeit an Gewicht verlor: »Der Mensch« ist der heutige Gott, und Menschenfurcht an die Stelle der alten Gottesfurcht getreten.

Weil aber der Mensch nur ein anderes höchstes Wesen vorstellt, so ist in der Tat am höchsten Wesen nichts als eine Metamorphose vor sich gegangen und die Menschenfurcht bloss eine veränderte Gestalt der Gottesfurcht.

Unsere Atheisten sind fromme Leute.
Trugen Wir in der sogenannten Feudalzeit Alles von Gott zu Lehen, so findet in der liberalen Periode dasselbe Lehnsverhältnis mit dem Menschen statt. Gott war der Herr, jetzt ist der Mensch der Herr; Gott war der Mittler, jetzt ist's der Mensch; Gott war der Geist, jetzt ist's der Mensch. In dieser dreifachen Beziehung hat das Lehnsverhältnis eine Umgestaltung erfahren. Wir tragen jetzt nämlich erstens von dem allmächtigen Menschen zu Lehen unsere Macht, die, weil sie von einem Höheren kommt, nicht Macht oder Gewalt, sondern »Recht« heisst: das »Menschenrecht«; Wir tragen ferner von ihm unsere Weltstellung zu Lehen, denn er, der Mittler, vermittelt unsern Verkehr, der darum nicht anders als »menschlich« sein darf; endlich tragen Wir von ihm Uns selbst zu Lehen, nämlich unseren eigenen Wert oder alles, was Wir wert sind, da Wir eben nichts wert sind, wenn er nicht in Uns wohnt, und wenn oder wo Wir nicht »menschlich« sind. - Die Macht ist des Menschen, die Welt ist des Menschen, Ich bin des Menschen.

Wie aber, bleibt Mir's nicht unbenommen, Mich zum Berechtiger, zum Mittler und zum eigenen Selbst zu erklären? Dann lautet es also:
Meine Macht ist mein Eigentum.
Meine Macht gibt Mir Eigentum.
Meine Macht bin Ich selbst und bin durch sie mein Eigentum.


1. Meine Macht

Das Recht ist der Geist der Gesellschaft. Hat die Gesellschaft einen Willen, so ist dieser Wille eben das Recht: sie besteht nur durch das Recht. Da sie aber nur dadurch besteht, dass sie über die Einzelnen eine Herrschaft übt, so ist das Recht ihr Herrscherwille. Aristoteles sagt, Gerechtigkeit sei der Nutzen der Gesellschaft.
Alles bestehende Recht ist - fremdes Recht, ist Recht, welches man Mir »gibt«, Mir »widerfahren lässt«. Hätte Ich aber darum Recht, wenn alle Welt Mir Recht gäbe? Und doch, was ist das Recht, das Ich im Staate, in der Gesellschaft, erlange, anders, als ein Recht von Fremden? Wenn ein Dummkopf Mir Recht gibt, so werde Ich misstrauisch gegen mein Recht; Ich mag sein Rechtgeben nicht. Aber auch wenn ein Weiser Mir recht gibt, habe Ich's darum doch noch nicht. Ob Ich Recht habe, ist völlig unabhängig von dem Rechtgeben des Toren und des Weisen.

Gleichwohl haben Wir bis jetzt nach diesem Rechte getrachtet. Wir suchen Recht und wenden Uns zu dem Zwecke ans Gericht. An welches? An ein königliches, ein päpstliches, ein Volksgericht usw. Kann ein sultanisches Gericht ein anderes Recht sprechen, als dasjenige, welches der Sultan zu Recht verordnet hat? Kann es Mir Recht geben, wenn Ich ein Recht suche, das nicht mit dem Sultansrechte stimmt? Kann es Mir z.B. den Hochverrat als ein Recht einräumen, da er doch nach des Sultans Sinne kein Recht ist? Kann es als Zensurgericht Mir die freie Meinungsäusserung als Recht gewähren, da der Sultan von diesem meinem Rechte nichts wissen will? Was suche Ich also bei diesem Gerichte? Ich suche sultanisches Recht, nicht mein Recht; ich suche - fremdes Recht. Solange dies fremde Recht mit dem meinigen übereinstimmt, werde Ich freilich auch das letztere bei ihm finden.
Der Staat lässt nicht zu, dass man Mann an Mann aneinander gerate; er widersetzt sich dem Zweikampf. Selbst jede Prügelei, zu der doch keiner der Kämpfenden die Polizei ruft, wird gestraft, es sei denn, dass nicht ein Ich auf ein Du losprügele, sondern etwa ein Familienhaupt auf das Kind: die Familie ist berechtigt, und in ihrem Namen der Vater, Ich als Einziger bin es nicht.

Die Vossische Zeitung präsentiert Uns den »Rechtsstaat«. Da soll Alles durch den Richter und ein Gericht entschieden werden. Das Ober-Zensur-Gericht gilt ihr für ein »Gericht«, wo »Recht gesprochen wird«. Was für ein Recht? Das Recht der Zensur. Um die Rechtssprüche jenes Gerichts für Recht anzuerkennen, muss man die Zensur für Recht halten. Man meint aber gleichwohl, dies Gericht biete einen Schutz. Ja Schutz gegen den Irrtum eines einzelnen Zensors: es schützt nur den Zensurgesetzgeber vor falscher Auslegung seines Willens, macht aber gegen die Schreibenden sein Gesetz umso fester durch die »heilige Macht des Rechts«.

Ob Ich Recht habe oder nicht, darüber gibt es keinen andern Richter, als Mich selbst. Darüber nur können Andere urteilen und richten, ob sie meinem Rechte beistimmen, und ob es auch für sie als Recht bestehe.

Fassen Wir inzwischen die Sache noch anders. Ich soll das sultanische Recht verehren im Sultanat, das Volksrecht in Republiken, das kanonische Recht in katholischer Gemeinde usw. Diesen Rechten soll Ich Mich unterordnen, soll sie für heilig halten. Ein »Rechtssinn« und »rechtlicher Sinn« solcher Art steckt den Leuten so fest im Kopfe, dass die Revolutionärsten unserer Tage Uns einem neuen »heiligen Rechte« unterwerfen wollen, dem »Rechte der Gesellschaft«, der Sozietät, dem Rechte der Menschheit, dem »Rechte Aller« u. dergl. Das Recht »Aller« soll meinem Rechte vorgehen. Als ein Recht Aller wäre es allerdings auch mein Recht, da Ich zu Allen mitgehöre; allein, dass es zugleich ein Recht Anderer oder gar aller anderen ist, das bewegt Mich nicht zur Aufrechterhaltung desselben. Nicht als ein Recht Aller werde Ich es verteidigen, sondern als mein Recht, und jeder Andere mag dann zusehen, wie er sich's gleichfalls bewahre.

Das Recht Aller (z.B. zu essen) ist ein Recht jedes Einzelnen. Halte sich jeder dies Recht unverkümmert, so üben es von selbst Alle; aber sorge er doch nicht für Alle, ereifere er sich dafür nicht als für ein Recht Aller.
Aber die Sozialreformer predigen Uns ein »Gesellschaftsrecht«. Da wird der Einzelne der Sklave der Gesellschaft, und hat nur Recht, wenn ihm die Gesellschaft Recht gibt, d.h. wenn er nach den Gesetzen der Gesellschaft lebt, also - loyal ist. Ob Ich loyal bin in einer Despotie oder in einer Weitlingschen »Gesellschaft«, das ist dieselbe Rechtlosigkeit, insofern Ich in beiden Fällen nicht mein, sondern fremdes Recht habe.
Beim Rechte fragt man immer: »Was oder Wer gibt Mir das Recht dazu?« Antwort: Gott, die Liebe, die Vernunft, die Natur, die Humanität usw. Nein, nur deine Gewalt, deine Macht gibt Dir das Recht (deine Vernunft z.B. kann Dir's geben).
Der Kommunismus, welcher annimmt, dass die Menschen »von Natur gleiche Rechte haben«, widerlegt seinen eigenen Satz dahin, dass die Menschen von Natur gar kein Recht haben. Denn er will z.B. nicht anerkennen, dass die Eltern »von Natur« Rechte gegen die Kinder haben oder diese gegen jene: er hebt die Familie auf. Die Natur gibt den Eltern, Geschwistern usw. gar kein Recht. Ãœberhaupt beruht dieser ganze revolutionäre oder Babeufsche Grundsatz (59) auf einer religiösen, d.h. falschen Anschauung. Wer kann, wenn er sich nicht auch auf dem religiösen Standpunkte befindet, nach dem »Rechte« fragen? Ist »das Recht« nicht ein religiöser Begriff, d.h. etwas Heiliges? »Rechtsgleichheit«, wie sie die Revolution aufstellte, ist ja nur eine andere Form für die »christliche Gleichheit«, die »Gleichheit der Brüder, der Kinder Gottes, der Christen usw.«, kurz fraternité. Alle und jede Frage nach dem Rechte verdient mit Schillers Worten gegeisselt zu werden:

Jahre lang schon bedien' ich mich meiner Nase zum Riechen;
Hab' ich denn wirklich an sie auch ein erweisliches Recht?

Als die Revolution die Gleichheit zu einem »Rechte« stempelte, flüchtete sie ins religiöse Gebiet, in die Region des Heiligen, des Ideals. Daher seitdem der Kampf um die »heiligen, unveräusserlichen Menschenrechte«. Gegen das »ewige Menschenrecht« wird ganz natürlich und gleichberechtigt das »wohlerworbene Recht des Bestehenden« geltend gemacht: Recht gegen Recht, wo natürlich eines vom andern als »Unrecht« verschrien wird. Das ist der Rechtsstreit seit der Revolution.
Ihr wollt gegen die anderen »im Rechte sein«. Das könnt Ihr nicht, gegen sie bleibt Ihr ewig »im Unrecht«; denn sie wären ja eure Gegner nicht, wenn sie nicht auch in »ihrem Rechte« wären: sie werden Euch stets »Unrecht geben«. Aber euer Recht ist gegen das der Anderen ein höheres, grösseres, mächtigeres, nicht so? Mitnichten! Euer Recht ist nicht mächtiger, wenn Ihr nicht mächtiger seid. Haben chinesische Untertanen ein Recht auf Freiheit? Schenkt sie ihnen doch, und seht dann zu, wie sehr Ihr Euch darin vergriffen habt: weil sie die Freiheit nicht zu nutzen wissen, darum haben sie kein Recht darauf, oder deutlicher, weil sie die Freiheit nicht haben, haben sie eben das Recht dazu nicht. Kinder haben kein Recht auf die Mündigkeit, weil sie nicht mündig sind, d.h. weil sie Kinder sind. Völker, die sich in Unmündigkeit halten lassen, haben kein Recht auf Mündigkeit; sie hörten auf, unmündig zu sein, dann erst hätten sie das Recht, mündig zu sein. Dies heisst nichts anderes, als: was Du zu sein die Macht hast, dazu hast Du das Recht. Ich leite alles Recht und alle Berechtigung aus Mir her; Ich bin zu Allem berechtigt, dessen Ich mächtig bin. Ich bin berechtigt, Zeus, Jehova, Gott usw. zu stürzen, wenn Ich's kann; kann Ich's nicht, so werden diese Götter stets gegen Mich im Rechte und in der Macht bleiben, Ich aber werde Mich vor ihrem Rechte und ihrer Macht fürchten in ohnmächtiger »Gottesfurcht«, werde ihre Gebote halten und in Allem, was Ich nach ihrem Rechte tue, Recht zu tun glauben, wie etwa die russischen Grenzwächter sich für berechtigt halten, die entrinnenden Verdächtigen totzuschiessen, indem sie »auf höhere Autorität«, d.h. »mit Recht« morden. Ich aber bin durch Mich berechtigt zu morden, wenn Ich Mir's selbst nicht verbiete, wenn Ich selbst Mich nicht vorm Morde als vor einem »Unrecht« fürchte. Diese Anschauung liegt Chamissos Gedicht »das Mordtal« zu Grunde, wo der ergraute indianische Mörder dem Weissen, dessen Mitbrüder er gemordet, Ehrfurcht abzwingt. Ich bin nur zu Dem nicht berechtigt, was Ich nicht mit freiem Mute tue, d.h. wozu Ich Mich nicht berechtige.

Ich entscheide, ob es in Mir das Rechte ist; ausser Mir gibt es kein Recht. Ist es Mir recht, so ist es recht. Möglich, dass es darum den anderen noch nicht recht ist; das ist ihre Sorge, nicht meine: sie mögen sich wehren. Und wäre etwas der ganzen Welt nicht recht, Mir aber wäre es recht, d.h. Ich wollte es, so früge Ich nach der ganzen Welt nichts. So macht es jeder, der sich zu schätzen weiss, jeder in dem Grade, als er als Egoist ist, denn Gewalt geht vor Recht, und zwar - mit vollem Recht. Weil Ich »von Natur« ein Mensch bin, habe Ich ein gleiches Recht auf den Genuss aller Güter, sagt Babeuf. Müsste er nicht auch sagen: Weil Ich »von Natur« ein erstgeborener Prinz bin, habe Ich ein Recht auf den Thron? Die Menschenrechte und die »wohlerworbenen Rechte« kommen auf dasselbe hinaus, nämlich auf die Natur, welche Mir ein Recht gibt, d.h. auf die Geburt (und weiter die Erbschaft usw.). Ich bin als Mensch geboren ist gleich: Ich bin als Königssohn geboren. Der natürliche Mensch hat nur ein natürliches Recht, weil Macht, und natürliche Ansprüche: er hat Geburtsrecht und Geburtsansprüche. Die Natur aber kann Mich zu dem nicht berechtigen, d.h. befähigen oder gewaltig machen, wozu Mich nur meine Tat berechtigt. Dass das Königskind sich über andere Kinder stellt, das ist schon seine Tat, die ihm den Vorzug sichert, und dass die anderen Kinder diese Tat billigen und anerkennen, das ist ihre Tat, die sie würdig macht - Untertanen zu sein.
Ob Mir die Natur ein Recht gibt, oder Gott, die Volkswahl usw., das ist Alles dasselbe fremde Recht, ist ein Recht, das Ich Mir nicht gebe oder nehme.

So sagen die Kommunisten: die gleiche Arbeit berechtige die Menschen zu gleichem Genusse. Früher warf man die Frage auf, ob nicht der »Tugendhafte« auf Erden »glücklich« sein müsse. Die Juden folgerten auch wirklich so: »Auf dass Dir's wohlgehe auf Erden.« Nein, die gleiche Arbeit berechtigt Dich nicht dazu, sondern der gleiche Genuss allein berechtigt Dich zum gleichen Genuss. Geniesse, so bist Du zum Genuss berechtigt. Hast Du aber gearbeitet und lässest Dir den Genuss entziehen, so - »geschieht Dir Recht«.
Wenn Ihr den Genuss nehmt, so ist er euer Recht; schmachtet Ihr hingegen nur darnach, ohne zuzugreifen, so bleibt er nach wie vor ein »wohlerworbenes Recht« derer, welche für den Genuss privilegiert sind. Er ist ihr Recht, wie er durch Zugreifen euer Recht würde.
In heftiger Bewegung schwankt der Streit um das »Recht des Eigentums«. Die Kommunisten behaupten: »die Erde gehört rechtlich demjenigen, der sie bebaut, und die Produkte derselben denjenigen, die sie hervorbringen.« (60) Ich meine, sie gehört dem, der sie zu nehmen weiss, oder, der sie sich nicht nehmen, sich nicht darum bringen lässt. Eignet er sie sich an, so gehört ihm nicht bloss die Erde, sondern auch das Recht dazu. Dies ist das egoistische Recht, d.h. Mir ist's so recht, darum ist es Recht.
Sonst hat eben das Recht »eine wächserne Nase«. Der Tiger, der Mich anfällt, hat Recht, und Ich, der ihn niederstösst, habe auch Recht. Nicht mein Recht wahre Ich gegen ihn, sondern Mich.

Da das menschliche Recht immer ein Gegebenes ist, so läuft es in Wirklichkeit immer auf das Recht hinaus, welches die Menschen einander geben, d.h. »einräumen«. Räumt man den neugeborenen Kindern das Recht der Existenz ein, so haben sie das Recht; räumt man's ihnen nicht ein, wie dies bei den Spartanern und alten Römern der Fall war, so haben sie's nicht. Denn geben oder »einräumen« kann es ihnen nur die Gesellschaft, nicht sie selbst können es nehmen oder sich geben. Man wird einwenden: die Kinder hatten dennoch »von Natur« das Recht zu existieren; nur versagten die Spartaner diesem Rechte die Anerkennung. Aber so hatten sie eben kein Recht auf diese Anerkennung, so wenig als sie ein Recht darauf hatten, dass die wilden Tiere, denen sie vorgeworfen wurden, ihr Leben anerkennen sollten.
Man spricht so viel vom angebornen Rechte und klagt:

Vom Rechte, das mit uns geboren ist,
Von dem ist leider nicht die Frage.

Was für ein Recht wäre denn mit Mir geboren? Das Recht, Majoratsherr zu werden, einen Thron zu erben, eine prinzliche oder adlige Erziehung zu geniessen, oder auch, weil Mich arme Eltern zeugten, - Freischule zu bekommen, aus Almosenbeiträgen gekleidet zu werden, und endlich in den Kohlenbergwerken oder am Weberstuhle Mir mein Brot und meinen Hering zu verdienen? Sind das nicht angeborene Rechte, Rechte, die von meinen Eltern her durch die Geburt auf Mich gekommen sind? Ihr meint: nein; Ihr meint, dies seien nur missbräuchlich sogenannte Rechte, es seien eben jene Rechte, welche Ihr durch das wirklich angeborene Recht abzuschaffen trachtet. Dies zu begründen, geht Ihr auf das Einfachste zurück und behauptet, jeder sei durch die Geburt dem anderen gleich, nämlich ein Mensch. Ich will Euch zugeben, dass jeder als Mensch geboren werde, mithin die Neugeborenen einander darin gleich seien. Warum sind sie's? Nur deshalb, weil sie sich noch als nichts Anderes zeigen und betätigen, als eben als blosse - Menschenkinder, nackte Menschlein. Dadurch sind sie aber sogleich verschieden von denen, welche bereits etwas aus sich gemacht haben und nicht mehr blosse »Menschenkinder« sind, sondern - Kinder ihrer eigenen Schöpfung. Die letzteren besitzen mehr als bloss angeborene Rechte: sie haben Rechte erworben. Welch' ein Gegensatz, welch' ein Kampffeld! Der alte Kampf der angeborenen Menschenrechte und der wohlerworbenen Rechte. Beruft Euch immerhin auf eure angeborenen Rechte; man wird nicht ermangeln, die wohlerworbenen Euch entgegenzustellen. Beide stehen auf dem »Rechtsboden«; denn jeder von beiden hat ein »Recht« gegen den anderen, der Eine das angeborene oder natürliche, der Andere das erworbene oder »wohlerworbene«.

Bleibt Ihr auf dem Rechtsboden, so bleibt Ihr bei der - Rechthaberei. (61) Der Andere kann Euch euer Recht nicht geben, er kann Euch nicht »Recht widerfahren lassen«. Wer die Gewalt hat, der hat - Recht; habt Ihr jene nicht, so habt Ihr auch dieses nicht. Ist diese Weisheit so schwer zu erlangen? Seht doch die Gewaltigen und ihr Tun an! Wir reden hier natürlich nur von China und Japan. Versucht's einmal, Ihr Chinesen und Japanesen, ihnen Unrecht zu geben, und erfahrt's, wie sie Euch in den Kerker werfen. (Verwechselt damit nur nicht die »wohlmeinenden Ratschläge«, die - in China und Japan - erlaubt sind, weil sie den Gewaltigen nicht hemmen, sondern, möglicherweise, fördern.) Wer ihnen Unrecht geben wollte, dem stünde dazu nur Ein Weg offen, der der Gewalt. Bringt er sie um ihre Gewalt, dann hat er ihnen wirklich Unrecht gegeben, hat sie um ihr Recht gebracht; im andern Falle kann er nichts, als ein Fäustchen in der Tasche machen, oder als ein vorlauter Narr zum Opfer fallen. Kurz, fragtet Ihr Chinesen und Japanesen nicht nach dem Rechte, fragtet namentlich nicht nach dem Rechte, »das mit Euch geboren ist«, dann brauchtet Ihr auch nichts nach den wohlerworbenen Rechten zu fragen.
Ihr schreckt vor den anderen zurück, weil Ihr neben ihnen das Gespenst des Rechtes zu sehen glaubt, das, wie in den homerischen Kämpfen, als Göttin an ihrer Seite helfend mitzufechten scheint. Was tut Ihr? Werft Ihr den Speer? Nein, Ihr schleicht umher, um den Spuk für Euch zu gewinnen, damit er auf eurer Seite mitfechte: Ihr buhlt um die Gunst des Gespenstes. Ein Anderer früge einfach so: Will Ich, was der Gegner will? »Nein!« Nun, so mögen tausend Teufel oder Götter für ihn kämpfen, Ich schlage doch drauf los!

Der »Rechtsstaat«, wie ihn u.a. die Vossische Zeitung vertritt, verlangt, dass die Beamten nur durch den Richter ihres Amtes sollen entsetzt werden können, nicht durch die Administration. Eitle Illusion. Wenn gesetzlich bestimmt würde, ein Beamter, der einmal trunken gesehen wird, soll sein Amt verlieren, so müsste der Richter auf Aussage der Zeugen ihn verurteilen usw. Kurz, der Gesetzgeber dürfte nur alle möglichen Gründe genau angeben, welche den Verlust des Amtes nach sich ziehen, möchten sie auch noch so lächerlich sein (z.B. wer seinen Vorgesetzten ins Gesicht lacht, wer nicht sonntäglich in die Kirche geht, wer nicht alle vier Wochen zum Abendmahl geht, wer Schulden macht, wer unanständigen Umgang hat, wer keine Entschlossenheit zeigt usw., soll entsetzt werden. Diese Dinge könnte der Gesetzgeber z.B. bei einem Ehrengerichte aufzustellen sich einfallen lassen), so hätte der Richter lediglich zu untersuchen, ob Beklagter sich jene »Vergehen« habe »zu Schulden kommen lassen«, und müsste nach erfolgtem Beweis gegen ihn »von Rechts wegen« die Absetzung aussprechen.

Der Richter ist verloren, wenn er aufhört, mechanisch zu sein, wenn er »von den Beweisregeln verlassen wird«. Dann hat er nur noch eine Meinung, wie jeder Andere, und entscheidet er nach dieser Meinung, so ist das keine Amtshandlung mehr; er darf als Richter nur nach dem Gesetze entscheiden. Da lobe Ich Mir noch die alten französischen Parlamente, die, was Rechtens sein sollte, selbst prüfen und nach eigener Zustimmung erst registrieren wollten. Die richteten wenigstens nach eigenem Rechte und mochten sich nicht zu Maschinen des Gesetzgebers hergeben, wenngleich sie als Richter freilich ihre eigenen Maschinen werden mussten.
Man sagt, die Strafe sei das Recht des Verbrechers. Allein die Straflosigkeit ist ebenso sein Recht. Gelingt ihm sein Unternehmen, so geschieht ihm Recht, und gelingt's nicht, so geschieht ihm gleichfalls Recht. Wie Du Dich bettest, so schläfst Du. Begibt sich Jemand tollkühn in Gefahren und kommt darin um, so sagen Wir wohl: es geschieht ihm Recht, er hat's nicht besser gewollt. Besiegte er aber die Gefahren, d.h. siegte seine Macht, so hätte er auch Recht. Spielt ein Kind mit dem Messer und schneidet sich, so geschieht ihm Recht; aber schneidet sich's nicht, so geschieht ihm auch Recht. Dem Verbrecher widerfährt daher wohl Recht, wenn erleidet, was er riskierte; warum riskierte er's auch, da er die möglichen Folgen kannte! Aber die Strafe, welche Wir über ihn verhängen, ist nur unser Recht, nicht das seine. Unser Recht reagiert gegen das seinige, und er »behält Unrecht«, weil - Wir die Oberhand gewinnen.

Was aber Recht, was in einer Gesellschaft Rechtens ist, das kommt auch zu Worte - im Gesetze. Wie auch das Gesetz sei, es muss respektiert werden vom - loyalen Bürger. So wird der gesetzliche Sinn Old Englands gerühmt. Dem entspricht ganz jenes euripideische Wort (Orestes, 412): »Den Göttern dienen Wir, was immer auch die Götter sind.« Gesetz überhaupt, Gott überhaupt, so weit sind Wir heute.
Man bemüht sich, Gesetz von willkürlichem Befehl, von einer Ordonnanz zu unterscheiden: jenes gehe von einer berechtigten Autorität aus. Allein ein Gesetz über menschliches Handeln (ethisches Gesetz, Staatsgesetz usw.) ist immer eine Willenserklärung, mithin Befehl. Ja, wenn Ich das Gesetz Mir auch selbst gäbe, es wäre doch nur mein Befehl, dem Ich im nächsten Augenblick den Gehorsam verweigern kann. Es mag Jemand wohl erklären, was er sich gefallen lassen wolle, mithin durch ein Gesetz das Gegenteil sich verbitten, widrigenfalls er den Übertreter als seinen Feind behandeln werde; aber über meine Handlungen hat Niemand zu gebieten, keiner Mir mein Handeln vorzuschreiben und Mir darin Gesetze zu geben. Ich muss Mir's gefallen lassen, dass er Mich als seinen Feind behandelt; allein niemals, dass er mit Mir als seiner Kreatur umspringt, und dass er seine Vernunft oder auch Unvernunft zu meiner Richtschnur macht.
Es dauern die Staaten nur so lange, als es einen herrschenden Willen gibt, und dieser herrschende Wille für gleichbedeutend mit dem eigenen Willen angesehen wird. Des Herrn Wille ist - Gesetz. Was helfen Dir deine Gesetze, wenn sie keiner befolgt, was deine Befehle, wenn sich Niemand befehlen lässt? Es kann der Staat des Anspruches sich nicht entschlagen, den Willen des Einzelnen zu bestimmen, darauf zu spekulieren und zu rechnen. Für ihn ist's unumgänglich nötig, dass Niemand einen eigenen Willen habe; hätte ihn einer, so müsste der Staat diesen ausschliessen (einsperren, verbannen usw.); hätten ihn Alle, so schafften sie den Staat ab. Der Staat ist nicht denkbar ohne Herrschaft und Knechtschaft (Untertanenschaft); denn der Staat muss der Herr sein wollen Aller, die er umfasst, und man nennt diesen Willen den »Staatswillen« .
Wer, um zu bestehen, auf die Willenlosigkeit Anderer rechnen muss, der ist ein Machwerk dieser Anderen, wie der Herr ein Machwerk des Dieners ist. Hörte die Unterwürfigkeit auf, so wär's um die Herrschaft geschehen.
Der eigene Wille Meiner ist der Verderber des Staats; er wird deshalb von letzterem als »Eigenwille« gebrandmarkt. Der eigene Wille und der Staat sind todfeindliche Mächte, zwischen welchen kein »ewiger Friede« möglich ist. Solange der Staat sich behauptet, stellt er den eigenen Willen, seinen stets anfeindenden Gegner, als unvernünftig, böse usw. dar, und jener lässt sich das einreden, ja er ist es wirklich schon deshalb, weil er sich's noch einreden lässt: er ist noch nicht zu sich selbst und zum Bewusstsein seiner Würde gekommen, mithin noch unvollkommen, noch beschwatzbar usw.

Jeder Staat ist eine Despotie, sei nun Einer oder Viele der Despot, oder seien, wie man sich's wohl von einer Republik vorstellt, Alle die Herren, d.h. despotisiere einer den anderen. Es ist dies nämlich dann der Fall, wenn das jedesmal gegebene Gesetz, die ausgesprochene Willensmeinung etwa einer Volksversammlung fortan für den Einzelnen Gesetz sein soll dem er Gehorsam schuldig ist, oder gegen welches er die Pflicht des Gehorsams hat. Dächte man sich auch selbst den Fall, dass jeder Einzelne im Volke den gleichen Willen ausgesprochen hätte und hiedurch ein vollkommener »Gesamtwille« zu Stande gekommen wäre: die Sache bliebe dennoch dieselbe. Wäre Ich nicht an meinen gestrigen Willen heute und ferner gebunden? Mein Wille in diesem Falle wäre erstarrt. Die leidige Stabilität! Mein Geschöpf, nämlich ein bestimmter Willensausdruck, wäre mein Gebieter geworden. Ich aber in meinem Willen, Ich, der Schöpfer, wäre in meinem Flusse und meiner Auflösung gehemmt. Weil Ich gestern ein Narr war, müsste Ich's zeitlebens bleiben. So bin Ich im Staatsleben besten Falls - Ich könnte eben so gut sagen: schlimmsten Falls - ein Knecht Meiner selbst. Weil Ich gestern ein Wollender war, bin Ich heute ein Willenloser, gestern freiwillig, heute unfreiwillig.

Wie zu ändern? Nur dadurch, dass Ich keine Pflicht anerkenne, d.h. Mich nicht binde oder binden lasse. Habe Ich keine Pflicht, so kenne Ich auch kein Gesetz.
»Allein man wird Mich binden!« Meinen Willen kann Niemand binden, und mein Widerwille bleibt frei. »Es müsste ja Alles drunter und drüber gehen, wenn jeder tun könnte, was er wollte!« Wer sagt denn, dass jeder Alles tun kann? Wozu bist Du denn da, der Du nicht Alles Dir gefallen zu lassen brauchst? Wahre Dich, so wird Dir keiner was tun! Wer deinen Willen brechen will, der hat's mit Dir zu tun und ist dein Feind. Verfahre gegen ihn als solchen. Stehen hinter Dir zum Schutze noch einige Millionen, so seid Ihr eine imposante Macht und werdet einen leichten Sieg haben. Aber wenn Ihr dem Gegner auch als Macht imponiert, eine geheiligte Autorität seid Ihr darum doch nicht, er müsste denn ein Schächer sein. Respekt und Achtung ist er Euch nicht schuldig, wenn er sich auch vor eurer Gewalt in Acht nehmen wird.

Wir pflegen die Staaten nach der verschiedenen Art, wie »die höchste Gewalt« verteilt ist, zu klassifizieren. Hat sie ein Einzelner - Monarchie, Alle - Demokratie usw. Also die höchste Gewalt! Gewalt gegen wen? Gegen den Einzelnen und seinen »Eigenwillen«. Der Staat übt »Gewalt«, der Einzelne darf dies nicht. Des Staates Betragen ist Gewalttätigkeit, und seine Gewalt nennt er »Recht«, die des Einzelnen »Verbrechen«. Verbrechen also, so heisst die Gewalt des Einzelnen, und nur durch Verbrechen bricht er die Gewalt des Staates, wenn er der Meinung ist, dass der Staat nicht über ihm, sondern er über dem Staate sei.
Nun könnte Ich, wollte Ich lächerlich handeln, als ein Wohlmeinender Euch ermahnen, keine Gesetze zu geben, welche meine Selbstentwicklung, Selbsttätigkeit, Selbstschöpfung beeinträchtigen. Ich gebe diesen Rat nicht. Denn würdet Ihr ihn befolgen, so wäret Ihr unklug, und Ich wäre um meinen ganzen Gewinn betrogen. Von Euch verlange Ich gar nichts, denn, was Ich auch forderte, Ihr würdet doch gebieterische Gesetzgeber sein und müsst es sein, weil ein Rabe nicht singen, ein Räuber ohne Raub nicht leben kann. Vielmehr frage Ich diejenigen, welche Egoisten sein wollen, was sie für egoistischer halten, sich von Euch Gesetze geben zu lassen, und die gegebenen zu respektieren, oder Widerspenstigkeit, ja völligen Ungehorsam zu üben. Gutmütige Leute meinen, die Gesetze müssten nur das vorschreiben, was im Gefühl des Volkes als recht und billig gelte. Was aber geht Mich's an, was im Volke und dem Volke gilt? Das Volk wird vielleicht gegen den Gotteslästerer sein; also ein Gesetz gegen Gotteslästerung. Soll Ich darum nicht lästern? Soll Mir dies Gesetz mehr sein, als ein »Befehl«? Ich frage!

Lediglich aus dem Grundsatze, dass alles Recht und alle Gewalt der Gesamtheit des Volkes angehöre, gehen sämtliche Regierungsweisen hervor. Denn keine derselben ermangelt dieser Berufung auf die Gesamtheit, und der Despot so gut als der Präsident oder irgend eine Aristokratie usw. handeln und befehlen »im Namen des Staates«. Sie sind im Besitze der »Staatsgewalt«, und es ist völlig gleichgültig, ob, wäre dies möglich, das Volk als Gesamtheit alle Einzelnen, oder ob nur die Repräsentanten dieser Gesamtheit, seien deren Viele, wie in Aristokratien, oder einer, wie in Monarchien, diese Staats-Gewalt ausüben. Immer ist die Gesamtheit über dem Einzelnen, und hat eine Gewalt, welche berechtigt genannt, d.h. welche Recht ist.
Der Heiligkeit des Staates gegenüber ist der Einzelne nur ein Gefäss der Unehre, in welchem Ȇbermut, Böswilligkeit, Spott- und Schmähsucht, Frivolität usw.« Ã¼brigbleiben, sobald er jenes Heiligtum, den Staat, nicht anerkennenswert findet. Der geistliche Hochmut der Staats-Diener und Staats-Untertanen hat köstliche Strafen gegen den ungeistlichen Ȇbermut«.
Wenn die Regierung alles Spiel des Geistes gegen den Staat als strafbar bezeichnet, so kommen die gemässigten Liberalen und meinen: Laune, Satire, Witz, Humor usw. müssten doch sprudeln dürfen, und das Genie müsse Freiheit geniessen. Also zwar nicht der einzelne Mensch, aber doch das Genie soll frei sein. Ganz in seinem Rechte sagt da der Staat, oder im Namen desselben die Regierung: Wer nicht für mich ist, ist wider mich. Die Laune, der Witz usw., kurz die Komödierung des Staatswesens hat die Staaten von jeher untergraben: sie ist nicht »unschuldig«. Und ferner, welche Grenzen sollen zwischen schuldigem und unschuldigem Witze usw. gezogen werden? Die Gemässigten kommen bei dieser Frage in grosse Verlegenheit und es reduziert sich Alles auf die Bitte, der Staat (Regierung) möge doch nicht so empfindlich, so kitzlig sein; er möge in »harmlosen« Dingen nicht gleich Böswilligkeit wittern und überhaupt ein wenig »toleranter« sein. Ãœbertriebene Empfindlichkeit ist allerdings eine Schwäche, ihre Vermeidung mag eine lobenswerte Tugend sein; allein in Kriegszeiten kann man nicht schonend sein, und was unter ruhigen Verhältnissen verstattet sein mag, hört auf erlaubt zu sein, sobald der Belagerungszustand erklärt ist. Weil dies die wohlmeinenden Liberalen wohl fühlen, so beeilen sie sich zu erklären, dass ja bei der »Ergebenheit des Volkes« keine Gefahr zu fürchten sei. Die Regierung wird aber klüger sein und sich so etwas nicht einreden lassen. Sie weiss zu gut, wie man einen mit schönen Worten abspeist, und wird sich an diesem Schaugerichte nicht genügen lassen. Man will aber seinen Spielplatz haben, denn man ist ja ein Kind und kann nicht so gesetzt sein, wie ein Alter: Jugend hat keine Tugend. Nur um diesen Spielplatz, nur um ein paar Stunden lustigen Umherspringens feilscht man. Man verlangt nur, der Staat solle nicht, wie ein griesgrämlicher Papa, allzu mürrisch sein. Er solle einige Esels-Prozessionen und Narrenspiele erlauben, wie im Mittelalter die Kirche sie gestattete. Die Zeiten aber, wo er dies ohne Gefahr gewähren konnte, sind vorüber. Kinder, die jetzt einmal ins Freie kommen, und eine Stunde ohne Zuchtrute verleben, wollen nicht mehr in die Klause. Denn das Freie ist jetzt nicht mehr eine Ergänzung zur Klause, nicht eine erfrischende Erholung, sondern sein Gegensatz, ein aut - aut. Kurz der Staat darf sich entweder nichts mehr oder er muss sich Alles gefallen lassen und zu Grunde gehen; er muss entweder durchaus empfindlich, oder, wie ein gestorbener, unempfindlich sein. Mit der Toleranz ist's aus. Reicht er erst den Finger, so nimmt man gleich die ganze Hand. Da ist nicht mehr zu »spassen«, und aller Spass, wie Laune, Witz, Humor usw. wird zum bittern Ernst.

Das Geschrei der »Freisinnigen« um Pressfreiheit läuft gegen ihr eigenes Prinzip, ihren eigentlichen Willen. Sie wollen, was sie nicht wollen, d.h. sie wünschen, sie möchten gern. Daher fallen sie auch so leicht ab, wenn einmal sogenannte Pressfreiheit erscheint, dann möchten sie Zensur. Ganz natürlich. Der Staat ist auch ihnen heilig, ebenso die Sitte usw. Sie betragen sich nur als ungezogene Bälge gegen ihn, als pfiffige Kinder, welche die Schwäche der Eltern zu benutzen suchen. Der Papa Staat soll ihnen erlauben, Manches zu sagen, was ihm nicht gefällt, aber der Papa hat Recht, ihnen durch einen strengen Blick einen Zensurstrich in ihr vorlautes Gewäsch zu ziehen. Erkennen sie in ihm ihren Papa, so müssen sie sich in seiner Gegenwart die Zensur der Rede gefallen lassen, wie jedes Kind.

Lässt Du Dir von einem anderen Recht geben, so musst Du nicht minder Dir von ihm Unrecht geben lassen; kommt Dir von ihm die Rechtfertigung und Belohnung, so erwarte auch seine Anklage und Strafe. Dem Rechte geht das Unrecht, der Gesetzlichkeit das Verbrechen zur Seite. Was bist Du? - Du bist ein - Verbrecher!
»Der Verbrecher ist des Staates eigenstes Verbrechen!« sagt Bettina. (62) Man kann dieses Wort gelten lassen, wenn auch Bettina selbst es nicht gerade so versteht. Im Staate vermag nämlich das zügellose Ich, Ich, wie Ich Mir allein angehöre, nicht zu meiner Erfüllung und Verwirklichung zu kommen. Jedes Ich ist von Geburt schon ein Verbrecher gegen das Volk, den Staat. Daher überwacht er auch wirklich Alle, er sieht in jedem einen - Egoisten, und vor dem Egoisten fürchtet er sich. Er setzt von jedem das Schlimmste voraus, und hat Acht, polizeilich Acht, dass »dem Staat kein Schaden geschieht«, ne quid respublica detrimenti capiat. Das zügellose Ich - und das sind Wir ursprünglich, und in unserem geheimen Inneren bleiben Wir's stets - ist der nie aufhörende Verbrecher im Staate. Der Mensch, den seine Kühnheit, sein Wille, seine Rücksichtslosigkeit und Furchtlosigkeit leitet, der wird vom Staate, vom Volke mit Spionen umstellt. Ich sage, vom Volke! Das Volk - Ihr gutherzigen Leute, denkt Wunder, was Ihr an ihm habt - das Volk steckt durch und durch voll Polizeigesinnung. - Nur wer sein Ich verleugnet, wer »Selbstverleugnung« Ã¼bt, ist dem Volke angenehm.
Bettina ist im angeführten Buche durchweg gutmütig genug, den Staat nur für krank zu halten und auf seine Genesung zu hoffen, eine Genesung, welche sie durch die »Demagogen« (63) bewirken will; allein er ist nicht krank, sondern in voller Kraft, wenn er die Demagogen, die für die Einzelnen, für »Alle« etwas erwerben wollen, von sich weist. Er ist in seinen Gläubigen mit den besten Demagogen, Volksführern, versehen. Nach Bettina soll (64) »der Staat den Freiheitskeim der Menschheit entwickeln, sonst ist er Rabenmutter und sorgt auch für Rabenfutter!« Er kann nicht anders, denn eben indem er für die »Menschheit« sorgt (was übrigens schon der »humane« oder »freie« Staat sein müsste), ist der »Einzelne« für ihn Rabenfutter. Wie richtig spricht dagegen der Bürgermeister: (65) »Wie? der Staat habe keine andere Verpflichtung, als bloss der Verpfleger rettungsloser Kranker zu sein? - Das klappt nicht. Von jeher hat der gesunde Staat des kranken Stoffes sich entledigt, aber nicht sich damit gemischt. So ökonomisch braucht er nicht mit seinen Säften zu sein. Die Räuberäste ohne Zagen abgeschnitten, damit die andern blühen. - Man erbebe nicht über des Staates Härte, seine Moral, seine Politik und Religion weisen ihn darauf an; man beschuldige ihn keiner Gefühllosigkeit, sein Mitgefühl sträubt sich dagegen, aber seine Erfahrung findet nur in dieser Strenge Heil! - Es gibt Krankheiten, in welchen nur drastische Mittel helfen. Der Arzt, welcher die Krankheit als solche erkennt, aber zaghaft zu Palliativen greift, wird nie die Krankheit heben, wohl aber den Patienten nach kürzerem oder längerem Siechtum unterliegen machen!« Die Frage der Frau Rat: »Wenn Sie den Tod als drastisches Mittel anwenden, wie ist da zu heilen?« klappt nicht. Der Staat wendet den Tod ja nicht gegen sich an, sondern gegen ein ärgerliches Glied; er reisst ein Auge aus, das ihn ärgert usw.

»Für den maladen Staat ist's der einzige Weg der Rettung, den Menschen in ihm gedeihen zu lassen.« (66) Versteht man hier, wie Bettina, unter dem Menschen den Begriff »Mensch«, so hat sie Recht: der »malade« Staat wird durch das Gedeihen »des Menschen« genesen, denn je vernarrter die Einzelnen in »den Menschen« sind, desto besser steht sich der Staat dabei. Bezöge man's aber auf den Einzelnen, auf »Alle« (und halb und halb tut dies die Verfasserin gleichfalls, weil sie über »den Menschen« im Unklaren stecken bleibt), so klänge es etwa, wie Folgendes: Für eine malade Räuberbande ist's der einzige Weg der Rettung, den loyalen Bürger in ihr gedeihen zu lassen! Darüber ginge ja eben die Räuberbande als Räuberbande zu Grunde, und weil sie das spürt, darum erschiesst sie lieber jeden, der einen Zug hat, ein »ordentlicher Kerl« zu werden.
Bettina ist in diesem Buche eine Patriotin oder, was wenig mehr, eine Philanthropin, eine Menschenbeglückerin. Sie ist ganz in derselben Weise mit dem Bestehenden unzufrieden, wie es das Titelgespenst ihres Buches nebst Allen ist, die den guten, alten Glauben, und was daran hängt, zurückführen möchten. Nur denkt sie umgekehrt, die Politiker, Staatsdiener und Diplomaten verdürben den Staat, während jene dasselbe den Böswilligen, den »Volksverführern« in die Schuhe schieben. Was ist der gewöhnliche Verbrecher anders, als einer, der das verhängnisvolle Versehen begangen hat, nach dem zu streben, was des Volkes ist, statt nach dem Seinen zu suchen. Er hat das verächtliche, fremde Gut gesucht, hat getan, was die Gläubigen tun: die nach dem trachten, was Gottes ist. Was tut der Priester, der den Verbrecher vermahnt? Er stellt ihm das grosse Unrecht vor, das vom Staate Geheiligte, das Eigentum desselben (wozu ja auch das Leben der Staatsangehörigen gerechnet werden muss) durch seine Tat entweiht zu haben; dafür könnte er ihm lieber vorhalten, dass er sich besudelt habe, indem er das Fremde nicht verachtete, sondern des Raubes wert hielt: er könnte es, wenn er nicht ein Pfaffe wäre. Redet mit dem sogenannten Verbrecher als mit einem Egoisten, und er wird sich schämen, nicht, dass er gegen eure Gesetze und Güter sich verging, sondern dass er eure Gesetze des Umgehens, eure Güter des Verlangens wert hielt; wird sich schämen, dass er Euch mitsamt dem Eurigen nicht - verachtete, dass er zu wenig Egoist war. Aber Ihr könnt nicht egoistisch mit ihm reden, denn Ihr seid nicht so gross wie ein Verbrecher, Ihr - verbrecht nichts! Ihr wisst nicht, dass ein eigenes Ich nicht ablassen kann, ein Verbrecher zu sein, dass das Verbrechen sein Leben ist. Und doch solltet Ihr's wissen, da Ihr glaubt, dass »wir allzumal Sünder sind«; aber Ihr denkt Euch über die Sünde wegzuschwindeln, Ihr begreift's nicht - denn Ihr seid teufelsfürchtig - dass die Schuld der Wert eines Menschen ist. O wäret Ihr schuldig! So aber seid Ihr »Gerechte«. Nun - macht eurem Herrn nur alles hübsch gerecht!

Wenn das christliche Bewusstsein oder der Christenmensch ein Kriminalgesetzbuch verfasst, was kann da anders der Begriff des Verbrechens sein, als eben die - Herzlosigkeit. Jede Trennung und Kränkung eines herzlichen Verhältnisses, jedes herzlose Verhalten gegen ein heiliges Wesen ist Verbrechen. Je herzlicher das Verhältnis sein soll, desto schreiender ist seine Verhöhnung, desto strafwürdiger das Verbrechen. Den Herrn soll jeder, der ihm untertan ist, lieben: diese Liebe zu verleugnen, ist ein todeswürdiger Hochverrat. Der Ehebruch ist eine strafwürdige Herzlosigkeit, man hat kein Herz, keine Begeisterung, kein Pathos für die Heiligkeit der Ehe. Solange das Herz oder Gemüt Gesetze diktiert, geniesst nur der herzliche oder gemütliche Mensch den Schutz der Gesetze. Dass der Gemütsmensch die Gesetze gebe, heisst eigentlich nur, der sittliche Mensch gebe sie: was dem »sittlichen Gefühl« dieser Menschen widerspricht, das verpönen sie. Wie sollte z.B. Untreue, Abfall, Eidbrüchigkeit, kurz alles radikale Abbrechen, alles Zerreissen altehrwürdiger Bande in den Augen derselben nicht heillos und verbrecherisch sein? Wer mit diesen Forderungen des Gemütes bricht, der hat alle Sinnlichen, alle Gemütsmenschen zu Feinden. Nur die Krummacher und Konsorten sind die rechten Leute, um einen Strafkodex des Herzens konsequent aufzustellen, wie ein gewisser Gesetzentwurf zur Genüge beweist. Die konsequente Gesetzgebung des christlichen Staates muss ganz in die Hände der - Pfaffen gelegt werden, und wird nicht rein und folgerichtig werden, solange sie nur von - Pfaffendienern, die immer nur halbe Pfaffen sind, ausgearbeitet wird. Dann erst wird jede Ungemütlichkeit, jede Herzlosigkeit als ein unverzeihliches Verbrechen konstatiert werden, dann erst jede Aufregung des Gemüts verdammlich, jede Einrede der Kritik und des Zweifels anathematisiert werden; dann erst ist der eigene Mensch vor dem christlichen Bewusstsein von Haus aus ein überführter - Verbrecher. Die Revolutionsmänner sprachen oft von der »gerechten Rache« des Volkes als seinem »Rechte«. Rache und Recht fallen hier zusammen. Ist dies ein Verhalten eines Ich's zum Ich? Das Volk schreit, die Gegenpartei habe gegen dasselbe »Verbrechen« begangen. Kann Ich annehmen, dass einer gegen Mich ein Verbrechen begehe, ohne anzunehmen, dass er handeln müsse, wie Ich's für gut finde? Und dieses Handeln nenne Ich das rechte, gute usw.; das abweichende ein Verbrechen. Mithin denke Ich, die andern müssten auf dasselbe Ziel mit Mir losgehen, d.h. Ich behandele sie nicht als Einzige, die ihr Gesetz in sich selbst tragen und darnach leben, sondern als Wesen, die irgend einem »vernünftigen« Gesetze gehorchen sollen. Ich stelle auf, was »der Mensch« sei, und was »wahrhaft menschlich« handeln heisse, und fordere von jedem, dass ihm dies Gesetz Norm und Ideal werde, widrigenfalls er sich als »Sünder und Verbrecher« ausweise. Den »Schuldigen« aber trifft die »Strafe des Gesetzes«! Man sieht hier, wie es wieder »der Mensch« ist, der auch den Begriff des Verbrechens, der Sünde, und damit den des Rechts zu Wege bringt. Ein Mensch, in welchem Ich nicht »den Menschen« erkenne, ist »ein Sünder, ein Schuldiger«.

Nur gegen ein Heiliges gibt es Verbrecher; Du gegen Mich kannst nie ein Verbrecher sein, sondern nur ein Gegner. Aber den, der ein Heiliges verletzt, nicht hassen, ist schon ein Verbrechen, wie St. Just gegen Danton ausruft: »Bist Du nicht ein Verbrecher und verantwortlich, dass Du nicht die Feinde des Vaterlandes gehasst hast?« (67)
Wird, wie in der Revolution, das, was »der Mensch« sei, als »guter Bürger« gefasst, so gibt es von diesem Begriffe »des Menschen« die bekannten »politischen Vergehen und Verbrechen«. In alledem wird der Einzelne, der einzelne Mensch, als Auswurf betrachtet, und dagegen der allgemeine Mensch, »der Mensch« honoriert. Je nachdem nun dies Gespenst benannt wird, wie Christ, Jude, Muselmann, guter Bürger, loyaler Untertan, Freier, Patriot usw., je nachdem fallen sowohl die, welche einen abweichenden Begriff vom Menschen durchführen möchten, als diejenigen, welche sich durchsetzen wollen, vor dem siegreichen »Menschen«.
Und mit welcher Salbung wird hier im Namen des Gesetzes, des souveränen Volkes, Gottes usw. geschlachtet.
Wenn nun die Verfolgten sich vor den strengen, pfäffischen Richtern listig verbergen und wahren, so schilt man sie »Heuchler«, wie St. Just z.B. diejenigen, welche er in der Rede gegen Danton anklagt. (68) Man soll ein Narr sein und sich ihrem Moloch überliefern.

Aus fixen Ideen entstehen die Verbrechen. Die Heiligkeit der Ehe ist eine fixe Idee. Aus der Heiligkeit folgt, dass die Untreue ein Verbrechen ist, und es setzt daher ein gewisses Ehegesetz eine kürzere oder längere Strafe darauf. Aber diese Strafe muss von denen, welche die »Freiheit als heilig« ausrufen, als ein Verbrechen wider die Freiheit angesehen werden, und nur in diesem Sinne hat auch die öffentliche Meinung das Ehegesetz gebrandmarkt.
Die Gesellschaft will zwar haben, dass jeder zu seinem Rechte komme, aber doch nur zu dem von der Gesellschaft sanktionierten, dem Gesellschaftsrechte, nicht wirklich zu seinem Rechte. Ich aber gebe oder nehme Mir das Recht aus eigener Machtvollkommenheit, und gegen jede Übermacht bin Ich der unbussfertigste Verbrecher. Eigener und Schöpfer meines Rechts - erkenne Ich keine andere Rechtsquelle als - Mich, weder Gott, noch den Staat, noch die Natur, noch auch den Menschen selbst mit seinen »ewigen Menschenrechten«, weder göttliches noch menschliches Recht.
Recht »an und für sich«. Also ohne Beziehung auf Mich! »Absolutes Recht«. Also getrennt von Mir! Ein an und für sich Seiendes! Ein Absolutes! Ein ewiges Recht, wie eine ewige Wahrheit!
Das Recht soll nach liberaler Vorstellungsweise für Mich verbindlich sein, weil es durch die menschliche Vernunft so eingesetzt ist, gegen welche meine Vernunft die »Unvernunft« ist. Früher eiferte man im Namen der göttlichen Vernunft gegen die schwache menschliche, jetzt im Namen der starken menschlichen gegen die egoistische, die als »Unvernunft« verworfen wird. Und doch ist keine andere wirklich als gerade diese »Unvernunft«. Weder die göttliche noch die menschliche Vernunft, sondern allein deine und meine jedesmalige Vernunft ist wirklich, wie und weil Du und Ich es sind. Der Gedanke des Rechts ist ursprünglich mein Gedanke oder er hat seinen Ursprung in Mir. Ist er aber aus Mir entsprungen, ist das »Wort« heraus, so ist es »Fleisch geworden«, eine fixe Idee. Ich komme nun von dem Gedanken nicht mehr los; wie Ich Mich drehe, er steht vor Mir. So sind die Menschen des Gedankens »Recht«, den sie selber erschufen, nicht wieder Meister geworden: die Kreatur geht mit ihnen durch. Das ist das absolute Recht, das von Mir absolvierte oder abgelöste. Wir können es, indem Wir's als absolutes verehren, nicht wieder aufzehren, und es benimmt Uns die Schöpferkraft; das Geschöpf ist mehr als der Schöpfer, ist »an und für sich«.
Lass das Recht einmal nicht mehr frei umherlaufen, zieh' es in seinen Ursprung, in Dich, zurück, so ist es dein Recht, und recht ist, was Dir recht ist.

Einen Angriff hat das Recht innerhalb seiner, d.h. vom Standpunkte des Rechtes aus erleben müssen, indem von Seiten des Liberalismus dem »Vorrecht« der Krieg erklärt wurde.
Bevorrechtet und Gleichberechtigt - um diese beiden Begriffe dreht sich ein hartnäckiger Kampf. Ausgeschlossen oder zugelassen - würde dasselbe sagen. Wo gäbe es aber eine Macht, sei es eine imaginäre, wie Gott, Gesetz, oder eine wirkliche, wie Ich, Du, - vor der nicht alle »gleichberechtigt« wären, d.h. kein Ansehen der Person gölte? Gott ist jeder gleich lieb, wenn er ihn anbetet, dem Gesetze gleich genehm, wenn er nur ein Gesetzlicher ist; ob der Liebhaber Gottes oder des Gesetzes bucklig und lahm, ob arm oder reich u. dergl., das macht Gott und dem Gesetze nichts aus; ebenso wenn Du ertrinken willst, ist Dir als Retter ein Neger so lieb als der trefflichste Kaukasier, ja ein Hund gilt Dir in dieser Lage nicht weniger als ein Mensch. Aber wem wäre auch umgekehrt nicht jeder ein Bevorzugter oder Zurückgesetzter? Gott straft die Bösen mit seinem Grimm, das Gesetz züchtigt die Ungesetzlichen, Du lässest Dich vom einen jeden Augenblick sprechen und weisest dem anderen die Tür.

Die »Gleichheit des Rechts« ist eben ein Phantom, weil Recht nichts mehr und nichts minder als Zulassung, d.h. eine Gnadensache ist, die man sich übrigens auch durch sein Verdienst erwerben kann; denn Verdienst und Gnade widersprechen einander nicht, da auch die Gnade »verdient« sein will und unser gnädiges Lächeln nur Dem zufällt, der es Uns abzuzwingen weiss.
So träumt man davon, dass »alle Staatsbürger gleichberechtigt nebeneinander stehen sollen«. Als Staatsbürger sind sie dem Staate gewiss alle gleich; schon nach seinen besonderen Zwecken aber wird er sie teilen und bevorzugen oder hintansetzen, mehr jedoch muss er sie noch als gute und schlechte Staatsbürger voneinander unterscheiden.
Br. Bauer erledigt die Judenfrage von dem Gesichtspunkte aus, dass das »Vorrecht« nicht berechtigt sei. Weil Jude und Christ, jeder etwas vor dem andern voraushaben, und in diesem Voraushaben ausschliesslich sind, darum zerfallen sie vor dem Blick des Kritikers in Nichtigkeit. Mit ihnen trifft der gleiche Tadel den Staat, der ihr Voraushaben berechtigt und zu einem »Vorrecht« oder Privilegium ausprägt, dadurch aber sich den Beruf, ein »freier Staat« zu werden, verkümmert. Etwas hat nun aber jeder vor dem anderen voraus, nämlich sich selbst oder seine Einzigkeit: darin bleibt jedermann ausschliesslich oder exklusiv.
Und wieder macht jeder von einem Dritten seine Eigentümlichkeit so gut als möglich geltend und sucht vor ihm, wenn er anders ihn gewinnen will, diese anziehend erscheinen zu lassen. Soll nun der Dritte gegen den Unterschied des einen vom anderen unempfindlich sein? Verlangt man das vom freien Staate oder von der Menschheit? Dann müssten diese schlechterdings ohne eigenes Interesse sein, und unfähig, für irgendwen eine Teilnahme zu fassen. So gleichgültig dachte man sich weder Gott, der die Seinen von den Bösen scheidet, noch den Staat, der die guten Bürger von den schlechten zu trennen weiss.

Aber man sucht eben diesen Dritten, der kein »Vorrecht« mehr erteilt. Der heisst dann etwa der freie Staat oder die Menschheit oder wie sonst.
Da Christ und Jude deshalb von Br. Bauer niedrig gestellt werden, weil sie Vorrechte behaupten, müssten sie durch Selbstverleugnung oder Uneigennützigkeit aus ihrem beschränkten Standpunkte sich befreien können und sollen. Streiften sie ihren »Egoismus« ab, so hörte das gegenseitige Unrecht und mit ihm überhaupt die christliche und jüdische Religiosität auf: es brauchte nur keiner von ihnen etwas Apartes mehr sein zu wollen.
Gäben sie aber diese Ausschliesslichkeit auf, so wäre damit wahrlich der Boden, auf dem ihre Feindschaft geführt wurde, noch nicht verlassen. Sie fänden allenfalls ein Drittes, worin sie sich vereinigen könnten, eine »allgemeine Religion«, eine »Religion der Menschlichkeit« u. dergl., kurz eine Ausgleichung, die nicht besser zu sein brauchte als jene, wenn alle Juden Christen würden, wodurch gleichfalls das »Vorrecht« des einen vor dem anderen ein Ende nähme. Es wäre zwar die Spannung beseitigt, allein in dieser bestand nicht das Wesen der beiden, sondern nur ihre Nachbarschaft. Als Unterschiedene mussten sie notwendig gespannt sein, und die Ungleichheit wird immer bleiben. Das ist wahrhaftig nicht dein Fehler, dass Du gegen Mich Dich spannst und deine Absonderlichkeit oder Eigentümlichkeit behauptest: Du brauchst nicht nachzugeben oder Dich selbst zu verleugnen.

Man fasst die Bedeutung des Gegensatzes zu formell und schwächlich auf, wenn man ihn nur »auflösen« will, um für ein Drittes »Vereinigendes« Raum zu machen. Der Gegensatz verdient vielmehr verschärft zu werden. Als Jude und Christ seid Ihr in einem zu geringen Gegensatz und streitet Euch bloss um die Religion, gleichsam um Kaisers Bart, um eine Lappalie. In der Religion zwar Feinde, bleibt Ihr im Ãœbrigen doch gute Freunde und z.B. als Menschen einander gleich. Gleichwohl ist auch das Ãœbrige in jedem ungleich, und Ihr werdet euren Gegensatz erst dann nicht länger bloss verhehlen, wenn Ihr ihn ganz anerkennt, und jedermann vom Wirbel bis zur Zehe sich als einzig behauptet. Dann wird der frühere Gegensatz allerdings aufgelöst sein, aber nur deshalb, weil ein stärkerer ihn in sich aufgenommen hat.
Nicht darin besteht unsere Schwäche, dass Wir gegen Andere im Gegensatze sind, sondern darin, dass Wir's nicht vollständig sind, d.h. dass Wir nicht gänzlich von ihnen geschieden sind, oder dass Wir eine »Gemeinschaft«, ein »Band« suchen, dass Wir an der Gemeinschaft ein Ideal haben. Ein Glaube, Ein Gott, eine Idee, Ein Hut für Alle! Würden Alle unter einen Hut gebracht, so brauchte freilich keiner vor dem andern den Hut noch abzunehmen.
Der letzte und entschiedenste Gegensatz, der des Einzigen gegen den Einzigen, ist im Grunde über das, was Gegensatz heisst, hinaus, ohne aber in die »Einheit« und Einigkeit zurückgesunken zu sein. Du hast als Einziger nichts Gemeinsames mehr mit dem anderen und darum auch nichts Trennendes oder Feindliches; Du suchst nicht gegen ihn vor einem Dritten Recht und stehst mit ihm weder auf dem »Rechtsboden«, noch sonst einem gemeinschaftlichen Boden. Der Gegensatz verschwindet in der vollkommenen - Geschiedenheit oder Einzigkeit. Diese könnte zwar für das neue Gemeinsame oder eine neue Gleichheit angesehen werden, allein die Gleichheit besteht hier eben in der Ungleichheit und ist selbst nichts als Ungleichheit: eine gleiche Ungleichheit, und zwar nur für denjenigen, der eine »Vergleichung« anstellt.
Die Polemik wider das Vorrecht bildet einen Charakterzug des Liberalismus, der gegen das »Vorrecht« pocht, weil er sich auf das »Recht« beruft. Weiter als zum Pochen kann er's darin nicht bringen; denn die Vorrechte fallen nicht eher, als das Recht fällt, da sie nur Arten des Rechtes sind. Das Recht aber zerfällt in sein Nichts, wenn es von der Gestalt verschlungen wird, d.h. wenn man begreift, was es heisst: Gewalt geht vor Recht. Alles Recht erklärt sich dann als Vorrecht, und das Vorrecht selber als Macht, als - Ãœbermacht.

Muss aber der mächtige Kampf gegen die Übermacht nicht ein ganz anderes Antlitz zeigen, als der bescheidene Kampf gegen das Vorrecht, der vor einem ersten Richter, dem »Rechte«, nach des Richters Sinn auszufechten ist?

Zum Schlusse muss Ich nun noch die halbe Ausdrucksweise zurücknehmen, von der Ich nur so lange Gebrauch machen, wollte, als Ich noch in den Eingeweiden des Rechtes wühlte, und das Wort wenigstens bestehen liess. Es verliert aber in der Tat mit dem Begriffe auch das Wort seinen Sinn. Was Ich »mein Recht« nannte, das ist gar nicht mehr »Recht«, weil Recht nur von einem Geiste erteilt werden kann, sei es der Geist der Natur oder der der Gattung, der Menschheit, der Geist Gottes oder der Sr. Heiligkeit oder Sr. Durchlaucht usw. Was Ich ohne einen berechtigenden Geist habe, das habe Ich ohne Recht, habe es einzig und allein durch meine Macht.
Ich fordere kein Recht, darum brauche Ich auch keins anzuerkennen. Was Ich Mir zu erzwingen vermag, erzwinge Ich Mir, und was Ich nicht erzwinge, darauf habe Ich kein Recht, noch brüste oder tröste Ich Mich mit meinem unverjährbaren Rechte.
Mit dem absoluten Rechte vergeht das Recht selbst, wird die Herrschaft des »Rechtsbegriffes« zugleich getilgt. Denn es ist nicht zu vergessen, dass seither Begriffe, Ideen oder Prinzipien Uns beherrschten, und dass unter diesen Herrschern der Rechtsbegriff oder der Begriff der Gerechtigkeit eine der bedeutendsten Rollen spielte.
Berechtigt oder Unberechtigt - darauf kommt Mir's nicht an; bin Ich nur mächtig, so bin Ich schon von selbst ermächtigt und bedarf keiner anderen Ermächtigung oder Berechtigung. Recht - ist ein Sparren, erteilt von einem Spuk; Macht - das bin Ich selbst, Ich bin der Mächtige und Eigner der Macht.

Recht ist über Mir, ist absolut, und existiert in einem Höheren, als dessen Gnade Mir's zufliesst: Recht ist eine Gnadengabe des Richters; Macht und Gewalt existiert nur in Mir, dem Mächtigen und Gewaltigen.

2. Mein Verkehr

In der Gesellschaft, der Sozietät, kann höchstens die menschliche Forderung befriedigt werden, indes die egoistische stets zu kurz kommen muss.

Weil es kaum Jemand entgehen kann, dass die Gegenwart für keine Frage einen so lebendigen Anteil zeigt, als für die »soziale«, so hat man auf die Gesellschaft besonders sein Augenmerk zu richten. Ja, wäre das daran gefasste Interesse weniger leidenschaftlich und verblendet, so würde man über die Gesellschaft nicht so sehr die Einzelnen darin aus den Augen verlieren, und erkennen, dass eine Gesellschaft nicht neu werden kann, solange diejenigen, welche sie ausmachen und konstituieren, die alten bleiben. Sollte z.B. im jüdischen Volke eine Gesellschaft entstehen, welche einen neuen Glauben über die Erde verbreitete, so dürften diese Apostel doch keine Pharisäer bleiben.
Wie Du bist, so gibst Du Dich, so benimmst Du Dich gegen die Menschen: ein Heuchler als Heuchler, ein Christ als Christ. Darum bestimmt den Charakter einer Gesellschaft der Charakter ihrer Mitglieder: sie sind die Schöpfer derselben. So viel müsste man wenigstens einsehen, wenn man auch den Begriff »Gesellschaft« selbst nicht prüfen wollte.
Immer fern davon, Sich zur vollen Entwicklung und Geltung kommen zu lassen, haben die Menschen bisher auch ihre Gesellschaften nicht auf Sich gründen, oder vielmehr, sie haben nur »Gesellschaften« gründen und in Gesellschaften leben können. Es waren die Gesellschaften immer Personen, mächtige Personen, sogenannte »moralische Personen«, d.h. Gespenster, vor welchen der Einzelne den angemessenen Sparren, die Gespensterfurcht, hatte. Als solche Gespenster können sie am füglichsten mit dem Namen »Volk« und respektive »Völkchen« bezeichnet werden: das Volk der Erzväter, das Volk der Hellenen usw., endlich das - Menschenvolk, die Menschheit (Anacharsis Cloots schwärmte für die »Nation« der Menschheit), dann jegliche Unterabteilung dieses »Volkes«, das seine besonderen Gesellschaften haben konnte und musste, das spanische, französische Volk usw., innerhalb desselben wieder die Stände, die Städte, kurz allerlei Körperschaften, zuletzt in äusserster Zuspitzung das kleine Völkchen der - Familie. Statt zu sagen, die spukende Person aller bisherigen Gesellschaften sei das Volk gewesen, könnten daher auch die beiden Extreme genannt werden, nämlich entweder die »Menschheit« oder die »Familie«, beide die »naturwüchsigsten Einheiten«. Wir wählen das Wort »Volk«, weil man seine Abstammung mit dem griechischen Polloi, den »Vielen« oder der »Menge« zusammengebracht hat, mehr aber noch deshalb, weil die »nationalen Bestrebungen« heute an der Tagesordnung sind, und weil auch die neuesten Empörer diese trügerische Person noch nicht abgeschüttelt haben, obwohl andererseits die letztere Erwägung dem Ausdruck »Menschheit« den Vorzug geben müsste, da man von allen Seiten drauf und dran ist, für die »Menschheit« zu schwärmen.

Also das Volk, - die Menschheit oder die Familie », haben seither, wie es scheint, Geschichte gespielt: kein egoistisches Interesse sollte in diesen Gesellschaften aufkommen, sondern lediglich allgemeine, nationale oder Volks-interessen, Standesinteressen, Familieninteressen und »allgemein menschliche Interessen«. Wer aber hat die Völker, deren Untergang die Geschichte erzählt, zu Fall gebracht? Wer anders als der Egoist, der seine Befriedigung suchte! Schlich sich einmal ein egoistisches Interesse ein, so war die Gesellschaft »verdorben« und ging ihrer Auflösung entgegen, wie z.B. das Römertum beweist mit seinem ausgebildeten Privatrecht, oder das Christentum mit der unaufhaltsam hereinbrechenden »vernünftigen Selbstbestimmung«, dem »Selbstbewusstsein«, der »Autonomie des Geistes« usw. Das Christenvolk hat zwei Gesellschaften hervorgebracht, deren Dauer mit dem Bestande jenes Volkes ein gleiches Mass behalten wird: es sind dies die Gesellschaften: Staat und Kirche. Können sie ein Verein von Egoisten genannt werden? Verfolgen Wir in ihnen ein egoistisches, persönliches, eigenes, oder verfolgen Wir ein volkstümliches (volkliches, d.h. ein Interesse des Christen-Volkes), nämlich ein staatliches und kirchliches Interesse? Kann und darf Ich in ihnen Ich selbst sein? Darf Ich denken und handeln wie Ich will, darf Ich Mich offenbaren, ausleben, betätigen? Muss Ich nicht die Majestät des Staates, die Heiligkeit der Kirche unangetastet lassen? Wohl, Ich darf nicht, wie Ich will. Aber werde Ich in irgendeiner Gesellschaft eine so ungemessene Freiheit des Dürfens finden? Allerdings nein! Mithin könnten Wir ja wohl zufrieden sein? Mitnichten! Es ist ein Anderes, ob Ich an einem Ich abpralle, oder an einem Volke, einem Allgemeinen. Dort bin Ich der ebenbürtige Gegner meines Gegners, hier ein verachteter, gebundener, bevormundeter; dort steh' Ich Mann gegen Mann, hier bin Ich ein Schulbube, der gegen seinen Kameraden nichts ausrichten kann, weil dieser Vater und Mutter zu Hilfe gerufen und sich unter die Schürze verkrochen hat, während Ich als ungezogener Junge ausgescholten werde und nicht »räsonieren« darf; dort kämpfe Ich gegen einen leibhaftigen Feind, hier gegen die Menschheit, gegen ein Allgemeines, gegen eine »Majestät«, gegen einen Spuk. Mir aber ist keine Majestät, nichts Heiliges eine Schranke, nichts, was Ich zu bewältigen weiss. Nur was Ich nicht bewältigen kann, das beschränkt noch meine Gewalt, und Ich von beschränkter Gewalt bin zeitweilig ein beschränktes Ich, nicht beschränkt durch die Gewalt ausser Mir, sondern beschränkt durch die noch mangelnde eigene Gewalt, durch die eigene Ohnmacht. Allein »die Garde stirbt, doch sie ergibt sich nicht!« Vor Allem nur einen leibhaftigen Gegner!


Mit jedem Gegner wag' ich's,
Den ich kann sehen und in's Auge fassen,
Der, selbst voll Mut, auch mir den Mut entflammt usw.

Viele Privilegien sind freilich mit der Zeit vertilgt worden, allein lediglich um des Gemeinwohls, um des Staates und Staatswohls willen, keineswegs zur Stärkung Meiner. Die Erbuntertänigkeit z.B. wurde nur aufgehoben, damit ein einziger Erbherr, der Herr des Volkes, die monarchische Macht, gestärkt werde: die Erbuntertänigkeit unter dem Einen wurde dadurch noch straffer. Nur zu Gunsten des Monarchen, er heisse: »Fürst« oder »Gesetz«, sind die Privilegien gefallen. In Frankreich sind die Bürger zwar nicht Erbuntertanen des Königs, dafür aber Erbuntertanen des »Gesetzes« (der Charte). Unterordnung wurde beibehalten, nur erkannte der christliche Staat, dass der Mensch nicht zweien Herren dienen könne (dem Gutsherrn und dem Fürsten usw.); darum erhielt einer alle Vorrechte; er kann nun wieder einen über den andern stellen, kann »Hochgestellte« machen.
Was aber kümmert Mich das Gemeinwohl? Das Gemeinwohl als solches ist nicht mein Wohl, sondern nur die äusserste Spitze der Selbstverleugnung. Das Gemeinwohl kann laut jubeln, während Ich »kuschen« muss, der Staat glänzen, indes Ich darbe. Worin anders liegt die Torheit der politischen Liberalen, als darin, dass sie das Volk der Regierung entgegensetzen und von Volksrechten sprechen? Da soll denn das Volk mündig sein usw. Als könnte mündig sein, wer keinen Mund hat! Nur der Einzelne vermag mündig zu sein. So wird die ganze Frage der Pressfreiheit auf den Kopf gestellt, wenn sie als ein »Volksrecht« in Anspruch genommen wird. Sie ist nur ein Recht oder besser die Gewalt des Einzelnen. Hat ein Volk Pressfreiheit, so habe Ich, obwohl mitten in diesem Volke, sie nicht: eine Volksfreiheit ist nicht meine Freiheit, und die Pressfreiheit als Volksfreiheit muss ein gegen Mich gerichtetes Pressgesetz zur Seite haben.

Dies muss überhaupt gegen die heurigen Freiheitsbestrebungen geltend gemacht werden:
Volksfreiheit ist nicht meine Freiheit!
Lassen Wir die Kategorie: Volksfreiheit und Volksrecht gelten, z.B. das Volksrecht, dass jedermann Waffen tragen darf. Verwirkt man denn nicht ein solches Recht? Sein eigenes Recht kann man nicht verwirken, wohl aber ein Recht, das nicht Mir, sondern dem Volke gehört. Ich kann eingesperrt werden um der Volksfreiheit willen, kann als Sträfling des Waffenrechts verlustig gehen.
Der Liberalismus erscheint als der letzte Versuch einer Schöpfung der Volksfreiheit, einer Freiheit der Gemeinde, der »Gesellschaft«, des Allgemeinen, der Menschheit, der Traum einer mündigen Menschheit, eines mündigen Volkes, einer mündigen Gemeinde, einer mündigen »Gesellschaft«. Ein Volk kann nicht anders, als auf Kosten des Einzelnen frei sein; denn nicht der Einzelne ist bei dieser Freiheit die Hauptsache, sondern das Volk. Je freier das Volk, desto gebundener der Einzelne: das athenische Volk schuf gerade zur freiesten Zeit den Ostrazismus, verbannte die Atheisten, vergiftete den redlichsten Denker.
Wie rühmt man nicht Sokrates über seine Gewissenhaftigkeit, die ihn dem Rate, aus dem Kerker zu entweichen, widerstehen lässt. Er ist ein Tor, dass er den Athenern ein Recht einräumt, ihn zu verurteilen. Darum geschieht ihm allerdings Recht; warum bleibt er auch mit den Athenern auf gleichem Boden stehen! Warum bricht er nicht mit ihnen? Hätte er gewusst und wissen können, was er war, er hätte solchen Richtern keinen Anspruch, kein Recht eingeräumt. Dass er nicht entfloh, war eben seine Schwachheit, sein Wahn, mit den Athenern noch Gemeinsames zu haben, oder die Meinung, er sei ein Glied, ein blosses Glied dieses Volkes. Er war aber vielmehr dieses Volk selbst in Person und konnte nur sein eigener Richter sein. Es gab keinen Richter über ihm; wie er selbst denn wirklich einen offenen Richterspruch über sich gefällt und sich des Prytaneums wert erachtet hatte.

Dabei musste er bleiben, und wie er kein Todesurteil gegen sich ausgesprochen hatte, so auch das der Athener verachten und entfliehen. Aber er ordnete sich unter und erkannte in dem Volke seinen Richter, dünkte sich klein vor der Majestät des Volkes. Dass er sich der Gewalt, welcher er allein unterliegen konnte, als einem »Rechte« unterwarf, war Verrat an ihm selbst: es war Tugend. Christus, welcher sich angeblich der Macht über seine himmlischen Legionen enthielt, wird dadurch von den Erzählern die gleiche Bedenklichkeit zugeschrieben. Luther Tat sehr wohl und klug, sich die Sicherheit seines Wormser Zuges verbriefen zu lassen, und Sokrates hätte wissen sollen, dass die Athener seine Feinde seien, er allein sein Richter. Die Selbsttäuschung von einem »Rechtszustande, Gesetze« usw. musste der Einsicht weichen, dass das Verhältnis ein Verhältnis der Gewalt sei. Mit Rabulisterei und Intrigen endigte die griechische Freiheit. Warum? Weil die gewöhnlichen Griechen noch viel weniger jene Konsequenz erreichen konnten, die nicht einmal ihr Gedankenheld Sokrates zu ziehen vermochte. Was ist denn Rabulisterei anders, als eine Art, ein Bestehendes auszunutzen, ohne es abzuschaffen? Ich könnte hinzusetzen, »zu eigenem Nutzen«, aber es liegt ja in »Ausnutzung«. Solche Rabulisten sind die Theologen, die Gottes Wort »drehen und deuteln«; was hätten sie zu drehen, wenn das »bestehende« Gotteswort nicht wäre? So diejenigen Liberalen, die an dem »Bestehenden« nur rütteln und drehen. Alle sind sie Verdreher gleich jenen Rechtsverdrehern. Sokrates erkannte das Recht, das Gesetz an; die Griechen behielten fortwährend die Autorität des Gesetzes und Rechtes bei. Wollten sie bei dieser Anerkenntnis gleichwohl ihren Nutzen, wollte jeder den seinigen behaupten, so mussten sie ihn eben in der Rechtsverdrehung oder Intrige suchen. Alcibiades, ein genialer Intrigant, leitet die Periode des atheniensischen »Verfalls« ein; der Spartaner Lysander und Andere zeigen, dass die Intrige allgemein griechisch geworden. Das griechische Recht, worauf die griechischen Staaten ruhten, musste von den Egoisten innerhalb dieser Staaten verdreht und untergraben werden, und es gingen die Staaten zu Grunde, damit die Einzelnen frei wurden, das griechische Volk fiel, weil die Einzelnen aus diesem Volke sich weniger machten, als aus sich. Es sind überhaupt alle Staaten, Verfassungen, Kirchen usw. an dem Austritt der Einzelnen untergegangen; denn der Einzelne ist der unversöhnliche Feind jeder Allgemeinheit, jedes Bandes, d.h. jeder Fessel. Dennoch wähnt man bis auf den heutigen Tag, »heilige Bande« brauche der Mensch, er, der Todfeind jedes »Bandes«. Die Weltgeschichte zeigt, dass noch kein Band unzerrissen blieb, zeigt, dass der Mensch sich unermüdet gegen Bande jeder Art wehrt, und dennoch sinnt man verblendet wieder und wieder auf neue Bande, und meint z.B. bei dem rechten angekommen zu sein, wenn man ihm das Band einer sogenannten freien Verfassung, ein schönes, konstitutionelles Band anlegt: die Ordensbänder, die Bande des Vertrauens zwischen - - - - « scheinen nachgerade zwar etwas mürbe geworden zu sein, aber weiter als vom Gängelbande zum Hosen- und Halsbande hat man's nicht gebracht.

Alles Heilige ist ein Band, eine Fessel. Alles Heilige wird und muss verdreht werden von Rechtsverdrehern; darum hat unsere Gegenwart in allen Sphären solche Verdreher in Menge. Sie bereiten den Rechtsbruch, die Rechtlosigkeit vor.
Arme Athener, die man der Rabulisterei und Sophistik, armer Alcibiades, den man der Intrige anklagt. Das war ja eben euer Bestes, euer erster Freiheitsschritt. Eure Aeschylus, Herodot usw. wollten nur ein freies griechisches Volk haben; Ihr erst ahndetet etwas von eurer Freiheit. Ein Volk unterdrückt diejenigen, welche über seine Majestät hinausragen, durch den Ostrazismus gegen die übermächtigen Bürger, durch die Inquisition gegen die Ketzer der Kirche, durch die - Inquisition gegen die Hochverräter im Staate usw.
Denn dem Volke kommt es nur auf seine Selbstbehauptung an; es fordert »patriotische Aufopferung« von jedem. Mithin ist ihm jeder für sich gleichgültig, ein Nichts, und es kann nicht machen, nicht einmal leiden, was der Einzelne und nur dieser machen muss, nämlich seine Verwertung. Ungerecht ist jedes Volk, jeder Staat gegen den Egoisten.
Solange auch nur eine Institution noch besteht, welche der Einzelne nicht auflösen darf, ist die Eigenheit und Selbstangehörigkeit Meiner noch sehr fern. Wie kann Ich z.B. frei sein, wenn Ich eidlich an eine Konstitution, eine Charte, ein Gesetz Mich binden, meinem Volke »Leib und Seele verschwören« muss? Wie kann Ich eigen sein, wenn meine Fähigkeiten sich nur so weit entwickeln dürfen, als sie die »Harmonie der Gesellschaft nicht stören« (Weitling). (69) Der Untergang der Völker und der Menschheit wird Mich zum Aufgange einladen.
Horch, eben da Ich dies schreibe, fangen die Glocken an zu läuten, um für den morgenden Tag die Feier des tausendjährigen Bestandes unseres lieben Deutschlands einzuklingeln. Läutet, läutet seinen Grabgesang! Ihr klingt ja feierlich genug, als bewegte eure Zunge die Ahnung, dass sie einem Toten das Geleit gebe. Deutsches Volk und deutsche Völker haben eine Geschichte von tausend Jahren hinter sich: welch langes Leben! Geht denn ein zur Ruhe, zum Nimmerauferstehen, auf dass Alle frei werden, die Ihr so lange in Fesseln hieltet. - Tot ist das Volk. - Wohlauf Ich!
O Du mein vielgequältes, deutsches Volk - was war deine Qual? Es war die Qual eines Gedankens, der keinen Leib sich erschaffen kann, die Qual eines spukenden Geistes, der vor jedem Hahnenschrei in nichts zerrinnt und doch nach Erlösung und Erfüllung schmachtet. Auch in Mir hast Du lange gelebt, Du lieber - Gedanke, Du lieber - Spuk. Fast wähnte Ich schon das Wort deiner Erlösung gefunden, für den irrenden Geist Fleisch und Bein entdeckt zu haben: da höre Ich sie läuten, die Glocken, die Dich zur ewigen Ruhe bringen, da verhallt die letzte Hoffnung, da summt die letzte Liebe aus, da scheide Ich aus dem öden Hause der Verstorbenen und kehre ein zu den - Lebendigen:

Denn allein der Lebende hat Recht.

Fahre wohl, Du Traum so vieler Millionen, fahre wohl, Du tausendjährige Tyrannin deiner Kinder! Morgen trägt man Dich zu Grabe; bald werden deine Schwestern, die Völker, Dir folgen. Sind sie aber alle gefolgt, so ist - - die Menschheit begraben, und Ich bin mein eigen, Ich bin der lachende Erbe!

Das Wort »Gesellschaft« hat seinen Ursprung in dem Worte »Sal«. Schliesst Ein Saal viele Menschen ein, so macht's der Saal, dass diese Menschen in Gesellschaft sind. Sie sind in Gesellschaft und machen höchstens eine Salon-Gesellschaft aus, indem sie in den herkömmlichen Salon-Redensarten sprechen. Wenn es zu wirklichem Verkehr kommt, so ist dieser als von der Gesellschaft unabhängig zu betrachten, der eintreten oder fehlen kann, ohne die Natur dessen, was Gesellschaft heisst, zu alterieren. Eine Gesellschaft sind die im Saale Befindlichen auch als stumme Personen, oder wenn sie sich lediglich in leeren Höflichkeitsphrasen abspeisen. Verkehr ist Gegenseitigkeit, ist die Handlung, das commercium der Einzelnen; Gesellschaft ist nur Gemeinschaftlichkeit des Saales, und in Gesellschaft befinden sich schon die Statuen eines Museum-Saales, sie sind »gruppiert«. Man pflegt wohl zu sagen: »man habe diesen Saal gemeinschaftlich inne«, es ist aber vielmehr so, dass der Saal Uns inne oder in sich hat. So weit die natürliche Bedeutung des Wortes Gesellschaft. Es stellt sich dabei heraus, dass die Gesellschaft nicht durch Mich und Dich erzeugt wird, sondern durch ein Drittes, welches aus Uns beiden Gesellschafter macht, und dass eben dieses Dritte das Erschaffende, das Gesellschaft Schaffende ist.

Ebenso eine Gefängnis-Gesellschaft oder Gefängnis-Genossenschaft (die dasselbe Gefängnis geniessen). Hier geraten Wir schon in ein inhaltreicheres Drittes, als jenes bloss örtliche, der Saal, war. Gefängnis bedeutet nicht mehr nur ein Raum, sondern ein Raum mit ausdrücklicher Beziehung auf seine Bewohner: es ist ja nur dadurch Gefängnis, dass es für Gefangene bestimmt ist, ohne die es eben ein blosses Gebäude wäre. Wer gibt den in ihm Versammelten ein gemeinsames Gepräge? Offenbar das Gefängnis, da sie nur mittelst des Gefängnisses Gefangene sind. Wer bestimmt also die Lebensweise der Gefängnis-Gesellschaft? Das Gefängnis! Wer bestimmt ihren Verkehr? Etwa auch das Gefängnis? Allerdings können sie nur als Gefangene in Verkehr treten, d.h. nur so weit, als die Gefängnis-Gesetze ihn zulassen; aber dass sie selbst, Ich mit Dir, verkehren, das kann das Gefängnis nicht bewirken, im Gegenteil, es muss darauf bedacht sein, solchen egoistischen, rein persönlichen Verkehr (und nur als solcher ist er wirklich Verkehr zwischen Mir und Dir) zu verhüten. Dass Wir gemeinschaftlich eine Arbeit verrichten, eine Maschine ziehen, überhaupt etwas ins Werk setzen, dafür sorgt ein Gefängnis wohl; aber dass Ich vergesse, Ich sei ein Gefangener, und mit Dir, der gleichfalls davon absieht, einen Verkehr eingehe, das bringt dem Gefängnis Gefahr, und kann von ihm nicht nur nicht gemacht, es darf nicht einmal zugelassen werden. Aus diesem Grunde beschliesst die heilige und sittlich gesinnte französische Kammer, die »einsame Zellenhaft« einzuführen, und andere Heilige werden ein Gleiches tun, um den »demoralisierenden Verkehr« abzuschneiden. Die Gefangenschaft ist das Bestehende und - Heilige, das zu verletzen kein Versuch gemacht werden darf. Die leiseste Anfechtung der Art ist strafbar, wie jede Auflehnung gegen ein Heiliges, von dem der Mensch befangen und gefangen sein soll.

Wie der Saal, so bildet das Gefängnis wohl eine Gesellschaft, eine Genossenschaft, eine Gemeinschaft (z.B. Gemeinschaft der Arbeit), aber keinen Verkehr, keine Gegenseitigkeit, keinen Verein. Im Gegenteil, jeder Verein im Gefängnisse trägt den gefährlichen Samen eines »Komplotts« in sich, der unter begünstigenden Umständen aufgehen und Frucht treiben könnte.
Doch das Gefängnis betritt man gewöhnlich nicht freiwillig und bleibt auch selten freiwillig darin, sondern hegt das egoistische Verlangen nach Freiheit. Darum leuchtet es hier eher ein, dass der persönliche Verkehr sich gegen die Gefängnisgesellschaft feindselig verhält und auf die Auflösung eben dieser Gesellschaft, der gemeinschaftlichen Haft, ausgeht.
Sehen Wir Uns deshalb nach solchen Gemeinschaften um, in denen Wir, wie es scheint, gerne und freiwillig bleiben, ohne sie durch Unsere egoistischen Triebe gefährden zu wollen.
Als eine Gemeinschaft der geforderten Art bietet sich zunächst die Familie dar. Eltern, Gatten, Kinder, Geschwister stellen ein Ganzes vor oder machen eine Familie aus, zu deren Erweiterung auch noch die herbeigezogenen Seitenverwandten dienen mögen. Die Familie ist nur dann eine wirkliche Gemeinschaft, wenn das Gesetz der Familie, die Pietät oder Familienliebe, von den Gliedern derselben beobachtet wird. Ein Sohn, welchem Eltern und Geschwister gleichgültig geworden sind, ist Sohn gewesen; denn da die Sohnschaft sich nicht mehr wirksam beweist, so hat sie keine grössere Bedeutung, als der längst vergangene Zusammenhang von Mutter und Kind durch den Nabelstrang. Dass man einst in dieser leiblichen Verbindung gelebt, das lässt sich als eine geschehene Sache nicht ungeschehen machen, und insoweit bleibt man unwiderruflich der Sohn dieser Mutter und der Bruder ihrer übrigen Kinder; aber zu einem fortdauernden Zusammenhange käme es nur durch fortdauernde Pietät, diesen Familiengeist. Die Einzelnen sind nur dann im vollen Sinne Glieder einer Familie, wenn sie das Bestehen der Familie zu ihrer Aufgabe machen; nur als konservativ halten sie sich fern davon, an ihrer Basis, der Familie, zu zweifeln. Eines muss jedem Familiengliede fest und heilig sein, nämlich die Familie selbst, oder sprechender: die Pietät. Dass die Familie bestehen soll, das bleibt dem Gliede derselben, solange es sich vom familienfeindlichen Egoismus frei erhält, eine unantastbare Wahrheit. Mit einem Worte »: Ist die Familie heilig, so darf sich keiner, der zu ihr gehört, lossagen, widrigenfalls er an der Familie zum »Verbrecher« wird; er darf niemals ein familienfeindliches Interesse verfolgen, z.B. keine Missheirat schliessen. Wer das tut, der hat »die Familie entehrt«, hat ihr »Schande gemacht« usw.

Hat nun in einem Einzelnen der egoistische Trieb nicht Kraft genug, so fügt er sich und schliesst eine Heirat, welche den Ansprüchen der Familie konveniert, ergreift einen Stand, der mit ihrer Stellung harmoniert u. dergl., kurz er »macht der Familie Ehre.«
Wallt hingegen in seinen Adern das egoistische Blut feurig genug, so zieht er es vor, an der Familie zum »Verbrecher« zu werden und ihren Gesetzen sich zu entziehen.
Was von beiden liegt Mir näher am Herzen, das Familienwohl oder mein Wohl? In unzähligen Fällen werden beide friedlich miteinander gehen und der Nutzen, welcher der Familie zu Teil wird, zugleich der meinige sein und umgekehrt. Da lässt sich's schwer entscheiden, ob Ich eigennützig oder gemeinnützig denke, und Ich schmeichle Mir vielleicht wohlgefällig mit meiner Uneigennützigkeit. Aber es kommt der Tag, wo ein Entweder - Oder Mich zittern macht, wo Ich meinen Stammbaum zu entehren, Eltern, Geschwister, Verwandte vor den Kopf zu stossen im Begriff stehe. Wie dann? Nun wird sich's zeigen, wie Ich im Grunde meines Herzens gesonnen bin; nun wird's offenbar werden, ob Mir die Pietät jemals höher gestanden als der Egoismus, nun wird der Eigennützige sich nicht länger hinter den Schein der Uneigennützigkeit verkriechen können. Ein Wunsch steigt in meiner Seele auf, und wachsend von Stunde zu Stunde wird er zur Leidenschaft. Wer denkt auch gleich daran, dass schon der leiseste Gedanke, welcher gegen den Familiengeist, die Pietät, auslaufen kann, ein Vergehen gegen denselben in sich trägt, ja wer ist sich denn im ersten Augenblick sogleich der Sache vollkommen bewusst! Julie in »Romeo und Julie« ergeht es so. Die unbändige Leidenschaft lässt sich endlich nicht mehr zähmen und untergräbt das Gebäude der Pietät. Freilich werdet Ihr sagen, die Familie werfe aus Eigensinn jene Eigenwilligen, welche ihrer Leidenschaft mehr Gehör schenken als der Pietät, aus ihrem Schosse; die guten Protestanten haben dieselbe Ausrede gegen die Katholiken mit vielem Erfolg gebraucht und selbst daran geglaubt. Allein es ist eben eine Ausflucht, um die Schuld von sich abzuwälzen, nichts weiter. Die Katholiken hielten auf den gemeinsamen Kirchenverband, und stiessen jene Ketzer nur von sich, weil dieselben auf den Kirchenverband nicht so viel hielten, um ihre Ãœberzeugungen ihm zu opfern; jene also hielten den Verband fest, weil der Verband, die katholische, d.h. gemeinsame und einige Kirche, ihnen heilig war; diese hingegen setzten den Verband hintan. Ebenso die Pietätslosen. Sie werden nicht ausgestossen, sondern stossen sich aus, indem sie ihre Leidenschaft, ihren Eigenwillen höher achten als den Familienverband.
Nun glimmt aber zuweilen ein Wunsch in einem minder leidenschaftlichen und eigenwilligen Herzen, als das der Julie war. Die Nachgiebige bringt sich dem Familienfrieden zum Opfer. Man könnte sagen, auch hier walte der Eigennutz vor, denn der Entschluss komme aus dem Gefühl, dass die Nachgiebige sich mehr durch die Familieneinigkeit befriedigt fühle als durch die Erfüllung ihres Wunsches. Das möchte sein; aber wie, wenn ein sicheres Zeichen übrig bliebe, dass der Egoismus der Pietät geopfert worden? Wie, wenn der Wunsch, welcher gegen den Familienfrieden gerichtet war, auch nachdem er geopfert worden, wenigstens in der Erinnerung eines einem heiligen Bande gebrachten »Opfers« bliebe? Wie, wenn die Nachgiebige sich bewusst wäre, ihren Eigenwillen unbefriedigt gelassen und einer höhern Macht sich demütig unterworfen zu haben? Unterworfen und geopfert, weil der Aberglaube der Pietät seine Herrschaft an ihr geübt hat!
Dort hat der Egoismus gesiegt, hier siegt die Pietät, und das egoistische Herz blutet; dort war der Egoismus stark, hier war er - schwach. Die Schwachen aber, das wissen Wir längst, das sind die - Uneigennützigen. Für sie, diese ihre schwachen Glieder, sorgt die Familie, weil sie der Familie angehören, Familienangehörige sind, nicht sich angehören und für sich sorgen. Diese Schwachheit lobt z.B. Hegel, wenn er der Wahl der Eltern die Heiratspartie der Kinder anheimgestellt wissen will. Als einer heiligen Gemeinschaft, welcher der Einzelne auch Gehorsam schuldig ist, kommt der Familie auch die richterliche Funktion zu, wie ein solches »Familiengericht« z.B. im Cabanis von Wilibald Alexis beschrieben wird. Da steckt der Vater im Namen des »Familienrates« den unfolgsamen Sohn unter die Soldaten und stösst ihn aus der Familie aus, um mittelst dieses Strafaktes die befleckte Familie wieder zu reinigen. - Die konsequenteste Ausbildung der Familien-Verantwortlichkeit enthält das chinesische Recht, nach welchem für die Schuld des Einzelnen die ganze Familie zu büssen hat. Heutigen Tages indessen reicht der Arm der Familiengewalt selten weit genug, um den Abtrünnigen ernstlich in Strafe zu nehmen (selbst gegen Enterbung schützt der Staat in den meisten Fällen). Der Verbrecher an der Familie (Familien-Verbrecher) flüchtet in das Gebiet des Staates und ist frei, wie der Staatsverbrecher, der nach Amerika entkommt, von den Strafen seines Staates nicht mehr erreicht wird. Er, der seine Familie geschändet hat, der ungeratene Sohn, wird gegen die Strafe der Familie geschützt, weil der Staat, dieser Schutzherr, der Familienstrafe ihre »Heiligkeit« benimmt und sie profaniert, indem er dekretiert, sie sei nur - »Rache«: er verhindert die Strafe, dies heilige Familienrecht, weil vor seiner, des Staates, »Heiligkeit« die untergeordnete Heiligkeit der Familie jedesmal erbleicht und entheiligt wird, sobald sie mit dieser höhern Heiligkeit in Konflikt gerät. Ohne den Konflikt lässt der Staat die kleinere Heiligkeit der Familie gelten; im entgegengesetzten Falle aber gebietet er sogar das Verbrechen gegen die Familie, indem er z.B. dem Sohne aufgibt, seinen Eltern den Gehorsam zu verweigern, sobald sie ihn zu einem Staatsverbrechen verleiten wollen. Nun, der Egoist hat die Bande der Familie zerbrochen und am Staate einen Schirmherrn gefunden gegen den schwer beleidigten Familiengeist. Wohin aber ist er nun geraten? Geradesweges in eine neue Gesellschaft, worin seines Egoismus dieselben Schlingen und Netze warten, denen er soeben entronnen. Denn der Staat ist gleichfalls eine Gesellschaft, nicht ein Verein, er ist die erweiterte Familie. (»Landesvater - Landesmutter - Landeskinder.«)

Was man Staat nennt, ist ein Gewebe und Geflecht von Abhängigkeit und Anhänglichkeit, ist eine Zusammengehörigkeit, ein Zusammenhalten, wobei die Zusammengeordneten sich ineinander schicken, kurz gegenseitig voneinander abhängen: er ist die Ordnung dieser Abhängigkeit. Gesetzt, der König, dessen Autorität Allen bis zum Büttel herunter Autorität verleiht, verschwände, so würden dennoch Alle, in welchen der Ordnungssinn wach wäre, die Ordnung gegen die Unordnung der Bestialität aufrechterhalten. Siegte die Unordnung, so wäre der Staat erloschen.
Ist dieser Liebesgedanke aber, sich ineinander zu schicken, aneinander zu hängen, und voneinander abzuhängen, wirklich fähig, Uns zu gewinnen? Der Staat wäre hiernach die realisierte Liebe, das Füreinandersein und Füreinanderleben Aller. Geht über den Ordnungssinn nicht der Eigensinn verloren? Wird man sich nicht begnügen, wenn durch Gewalt für Ordnung gesorgt ist, d.h. dafür, dass keiner dem anderen »zu nahe trete«, mithin, wenn die Herde verständig disloziert oder geordnet ist? Es ist ja dann Alles in »bester Ordnung«, und diese beste Ordnung heisst eben - Staat!

Unsere Gesellschaften und Staaten sind, ohne dass Wir sie machen, sind vereinigt ohne unsere Vereinigung, sind prädestiniert und bestehen oder haben einen eigenen, unabhängigen Bestand, sind gegen Uns Egoisten das unauflösliche Bestehende. Der heurige Weltkampf ist, wie man sagt, gegen das »Bestehende« gerichtet. Man pflegt dies jedoch so zu missverstehen, als sollte nur, was jetzt besteht, mit anderem, besserem Bestehenden vertauscht werden. Allein der Krieg dürfte vielmehr dem Bestehen selbst erklärt sein, d.h. dem Staate (status), nicht einem bestimmten Staate, nicht etwa nur dem derzeitigen Zustande des Staates; nicht einen andern Staat (etwa »Volksstaat«) bezweckt man, sondern seinen Verein, die Vereinigung, diese stets flüssige Vereinigung allen Bestandes. - Ein Staat ist vorhanden, auch ohne mein Zutun: Ich werde in ihm geboren, erzogen, auf ihn verpflichtet und muss ihm »huldigen«. Er nimmt Mich auf in seine »Huld«, und Ich lebe von seiner »Gnade«. So begründet das selbständige Bestehen des Staates meine Unselbständigkeit, seine »Naturwüchsigkeit«, sein Organismus, fordert, dass meine Natur nicht frei wachse, sondern für ihn zugeschnitten werde. Damit er natürwüchsig sich entfalten könne, legt er an Mich die Schere der »Kultur«, er gibt Mir eine ihm, nicht Mir, angemessene Erziehung und Bildung, und lehrt Mich z.B. die Gesetze respektieren, der Verletzung des Staatseigentums (d.h. Privateigentums) Mich enthalten, eine Hoheit, göttliche und irdische, verehren usw., kurz er lehrt Mich - unsträflich sein, indem Ich meine Eigenheit der »Heiligkeit« (heilig ist alles Mögliche, z.B. Eigentum, Leben der anderen usw.) »opfere«. Darin besteht die Art der Kultur und Bildung, welche Mir der Staat zu geben vermag: er erzieht Mich zu einem »brauchbaren Werkzeug«, einem »brauchbaren Gliede der Gesellschaft.« Das muss jeder Staat tun, der Volksstaat so gut wie der absolute oder konstitutionelle. Er muss es tun, so lange Wir in dem Irrtum stecken, er sei ein Ich, als welches er sich denn den Namen einer »moralischen, mystischen oder staatlichen Person« beilegt. Diese Löwenhaut des Ichs muss Ich, der Ich wirklich Ich bin, dem stolzierenden Distelfresser abziehen. Welchen mannigfachen Raub habe Ich in der Weltgeschichte Mir nicht gefallen lassen. Da liess Ich Sonne, Mond und Sternen, Katzen und Krokodilen die Ehre widerfahren, als Ich zu gelten; da kam Jehova, Allah und Unser Vater und wurden mit dem Ich beschenkt; da kamen Familien, Stämme, Völker und endlich gar die Menschheit, und wurden als Iche honoriert; da kam der Staat, die Kirche mit der Prätention, Ich zu sein, und Ich sah allem ruhig zu. Was Wunder, wenn dann immer auch ein wirklich Ich dazu trat und Mir ins Gesicht behauptete, es sei nicht mein Du, sondern mein eigenes Ich. Hatte das Gleiche doch der Menschensohn par excellence getan, warum sollte es nicht auch ein Menschensohn tun? So sah Ich denn mein Ich immer über und ausser Mir und konnte niemals wirklich zu Mir kommen.
Ich glaubte nie an Mich, glaubte nie an meine Gegenwart und sah Mich nur in der Zukunft. Der Knabe glaubt, er werde erst ein rechtes Ich, ein rechter Kerl sein, wenn er ein Mann geworden; der Mann denkt, erst jenseits werde er etwas Rechtes sein. Und, dass Wir gleich näher auf die Wirklichkeit eingehen, auch die Besten reden's heute noch einander vor, dass man den Staat, sein Volk, die Menschheit und was weiss Ich Alles in sich aufgenommen haben müsse, um ein wirkliches Ich, ein »freier Bürger«, ein »Staatsbürger«, ein »freier oder wahrer Mensch« zu sein; auch sie sehen die Wahrheit und Wirklichkeit Meiner in der Aufnahme eines fremden Ichs und der Hingebung an dasselbe. Und was für eines Ichs? Eines Ichs, das weder ein Ich noch ein Du ist, eines eingebildeten Ichs, eines Spuks.
Während im Mittelalter die Kirche es wohl vertragen konnte, dass vielerlei Staaten in ihr vereinigt lebten, so lernten die Staaten nach der Reformation, besonders nach dem dreissigjährigen Kriege, es tolerieren, dass vielerlei Kirchen (Konfessionen) sich unter einer Krone sammelten. Alle Staaten sind aber religiöse und respektive »christliche Staaten«, und setzen ihre Aufgabe darin, die Unbändigen, die »Egoisten«, unter das Band der Unnatur zu zwingen, d. i. sie zu christianisieren. Alle Anstalten des christlichen Staates haben den Zweck der Christianisierung des Volkes. So hat das Gericht den Zweck, die Leute zur Gerechtigkeit zu zwingen, die Schule den, zur Geistesbildung zu zwingen, kurz den Zweck, den christlich Handelnden gegen den unchristlich Handelnden zu schützen, das christliche Handeln zur Herrschaft zu bringen, mächtig zu machen. Zu diesen Zwangsmitteln rechnete der Staat auch die Kirche, er verlangte eine - bestimmte Religion von jedem. Dupin sagte jüngst gegen die Geistlichkeit: »Unterricht und Erziehung gehören dem Staate«.

Staatssache ist allerdings alles, was das Prinzip der Sittlichkeit angeht. Daher mischt sich der chinesische Staat so sehr in die Familienangelegenheit, und man ist da nichts, wenn man nicht vor Allem ein gutes Kind seiner Eltern ist. Die Familienangelegenheit ist durchaus auch bei Uns Staatsangelegenheit, nur dass unser Staat in die Familien ohne ängstliche Aufsicht - Vertrauen setzt; durch den Ehebund hält er die Familie gebunden, und ohne ihn kann dieser Bund nicht gelöst werden. Dass der Staat Mich aber für meine Prinzipien verantwortlich macht und gewisse von Mir fordert, das könnte Mich fragen lassen: Was geht ihn mein »Sparren« (Prinzip) an? Sehr viel, denn er ist das - herrschende Prinzip. Man meint, in der Ehescheidungssache, überhaupt im Eherechte, handle sich's um das Mass von Recht zwischen Kirche und Staat. Vielmehr handelt sich's darum, ob ein Heiliges über den Menschen herrschen solle, heisse dies nun Glaube oder Sittengesetz (Sittlichkeit). Der Staat beträgt sich als derselbe Herrscher wie die Kirche es tat. Diese ruht auf Frömmigkeit, jener auf Sittlichkeit.

Man spricht von der Toleranz, dem Freilassen der entgegengesetzten Richtungen u. dgl., wodurch die zivilisierten Staaten sich auszeichnen. Allerdings sind einige stark genug, um selbst den ungebundensten Meetings zuzusehen, indes andere ihren Schergen auftragen, auf Tabakspfeifen Jagd zu machen. Allein für einen Staat wie für den anderen ist das Spiel der Individuen untereinander, ihr Hin- und Hersummen, ihr tägliches Leben, eine Zufälligkeit, die er wohl ihnen selbst überlassen muss, weil er damit nichts anfangen kann. Manche seigen freilich noch Mücken und verschlucken Kamele, während andere gescheiter sind. In den letzteren sind die Individuen »freier«, weil weniger geschuhriegelt. Frei aber bin Ich in keinem Staate. Die gerühmte Toleranz der Staaten ist eben nur ein Tolerieren des »Unschädlichen«, »Ungefährlichen«, ist nur Erhebung über den Kleinlichkeitssinn, nur eine achtungswertere, grossartigere, stolzere - Despotie. Ein gewisser Staat schien eine Zeit lang ziemlich erhaben über die literarischen Kämpfe sein zu wollen, die mit aller Hitze geführt werden durften; England ist erhaben über das Volksgewühl und - Tabakrauchen. Aber wehe der Literatur, die dem Staate selbst an den Leib geht, wehe den Volksrottierungen, die den Staat »gefährden«. In jenem gewissen Staate träumt man von einer »freien Wissenschaft«, in England von einem »freien Volksleben«.
Der Staat lässt die Individuen wohl möglichst frei spielen, nur Ernst dürfen sie nicht machen, dürfen ihn nicht vergessen. Der Mensch darf nicht unbekümmert mit dem Menschen verkehren, nicht ohne »höhere Aufsicht und Vermittlung«. Ich darf nicht Alles leisten, was Ich vermag, sondern nur so viel, als der Staat erlaubt, Ich darf nicht meine Gedanken verwerten, nicht meine Arbeit, überhaupt nichts Meiniges.
Der Staat hat immer nur den Zweck, den Einzelnen zu beschränken, zu bändigen, zu subordinieren, ihn irgend einem Allgemeinen untertan zu machen; er dauert nur so lange, als der Einzelne nicht Alles in Allem ist, und ist nur die deutlich ausgeprägte Beschränktheit Meiner, meine Beschränkung, meine Sklaverei. Niemals zielt ein Staat dahin, die freie Tätigkeit der Einzelnen herbeizuführen, sondern stets die an den Staatszweck gebundene. Durch den Staat kommt auch nichts Gemeinsames zu Stande, so wenig als man ein Gewebe die gemeinsame Arbeit aller einzelnen Teile einer Maschine nennen kann: es ist vielmehr die Arbeit der ganzen Maschine als einer Einheit, ist Maschinenarbeit. In derselben Art geschieht auch Alles durch die Staatsmaschine; denn sie bewegt das Räderwerk der einzelnen Geister, deren keiner seinem eigenen Antriebe folgt. Jede freie Tätigkeit sucht der Staat durch seine Zensur, seine Ãœberwachung, seine Polizei zu hemmen, und hält diese Hemmung für seine Pflicht, weil sie in Wahrheit Pflicht der Selbsterhaltung ist. Der Staat will aus den Menschen etwas machen, darum leben in ihm nur gemachte Menschen; jeder, der Er Selbst sein will, ist sein Gegner und ist nichts. »Er ist nichts« heisst so viel, als: der Staat verwendet ihn nicht, überlässt ihm keine Stellung, kein Amt, kein Gewerbe u. dergl.

E. Bauer (70) träumt in den liberalen Bestrebungen II, 50 noch von einer »Regierung, welche aus dem Volke hervorgehend, nie gegen dasselbe in Opposition stehen könne«. (71) Zwar nimmt er (S. 69) das Wort »Regierung« selbst zurück: »In der Republik gilt gar keine Regierung, sondern nur eine ausführende Gewalt. Eine Gewalt, welche rein und allein aus dem Volke hervorgeht, welche nicht dem Volke gegenüber eine selbständige Macht, selbständige Prinzipien, selbständige Beamten hat, sondern welche in der einzigen, obersten Staatsgewalt, in dem Volke ihre Begründung, die Quelle ihrer Macht und ihrer Prinzipien hat. Der Begriff Regierung passt also gar nicht in den Volksstaat.« Allein die Sache bleibt dieselbe. Das »Hervorgegangene, Begründete, Entquollene« wird ein »Selbständiges« und tritt, wie ein Kind aus dem Mutterleibe entbunden, gleich in Opposition. Die Regierung, wäre sie nichts Selbständiges und Opponierendes, wäre gar nichts.

»Im freien Staate gibt es keine Regierung usw.« (S. 94.) Dies will doch sagen, das Volk, wenn es der Souverän ist, lässt sich nicht leiten von einer oberen Gewalt. Ist's etwa in der absoluten Monarchie anders? Gibt es da etwa für den Souverän eine über ihm stehende Regierung? Ãœber dem Souverän, er heisse Fürst oder Volk, steht nie eine Regierung, das versteht sich von selbst. Aber über Mir wird in jedem »Staate« eine Regierung stehen, sowohl im absoluten als im republikanischen oder »freien«. Ich bin in einem so schlimm daran, wie im anderen.
Die Republik ist gar nichts anderes, als die - absolute Monarchie: denn es verschlägt nichts, ob der Monarch Fürst oder Volk heisse, da beide eine »Majestät« sind. Gerade der Konstitutionalismus beweist, dass Niemand nur Werkzeug sein kann und mag. Die Minister dominieren über ihren Herrn, den Fürsten, die Deputierten über ihren Herrn, das Volk. Es sind also hier wenigstens schon die Parteien frei, nämlich die Beamtenpartei (sogenannte Volkspartei). Der Fürst muss sich in den Willen der Minister fügen, das Volk nach der Pfeife der Kammern tanzen. Der Konstitutionalismus ist weiter als die Republik, weil er der in der Auflösung begriffene Staat ist.
E. Bauer leugnet (S. 56), dass das Volk im konstitutionellen Staate eine »Persönlichkeit« sei; dagegen also in der Republik? Nun, im konstitutionellen Staate ist das Volk - Partei, und eine Partei ist doch wohl eine »Persönlichkeit«, wenn man einmal von einer »staatlichen« (S. 76) moralischen Person überhaupt sprechen will. Die Sache ist die, dass eine moralische Person, heisse sie Volkspartei oder Volk oder auch »der Herr«, in keiner Weise eine Person ist, sondern ein Spuk. Ferner fährt E. Bauer fort (S. 69): »die Bevormundung ist das Charakteristische einer Regierung.« Wahrlich noch mehr das eines Volkes und »Volksstaates«, sie ist das Charakteristische aller Herrschaft. Ein Volksstaat, der »alle Machtvollkommenheit in sich vereinigt«, der »absolute Herr«, kann Mich nicht mächtig werden lassen. Und welche Chimäre, die »Volksbeamten« nicht mehr »Diener, Werkzeuge« nennen zu wollen, weil sie den »freien, vernünftigen Gesetzeswillen des Volkes ausführen« (S. 73). Er meint (S. 74): »Nur dadurch, dass alle Beamtenkreise sich den Ansichten der Regierung unterordnen, kann Einheit in den Staat gebracht werden;« sein Volksstaat soll aber auch »Einheit« haben; wie wird da die Unterordnung fehlen dürfen, die Unterordnung unter den - Volkswillen. »Im konstitutionellen Staate ist es der Regent und seine Gesinnung, worauf am Ende das ganze Regierungsgebäude beruht.« (Ebendaselbst S. 130.) Wie wäre das anders im »Volksstaate«? Werde Ich da nicht auch von der Volks-Gesinnung regiert und macht es für Mich einen Unterschied, ob Ich Mich in Abhängigkeit gehalten sehe von der Fürsten-Gesinnung oder von der Volks-Gesinnung, der sogenannten »öffentlichen Meinung«? Heisst Abhängigkeit so viel als »religiöses Verhältnis«, wie E. Bauer richtig aufstellt, so bleibt im Volksstaate für Mich das Volk die höhere Macht, die »Majestät« (denn in der »Majestät« haben Gott und Fürst ihr eigentliches Wesen), zu der Ich im religiösen Verhältnis stehe. - Wie der souveräne Regent, so würde auch das souveräne Volk von keinem Gesetze erreicht werden. Der ganze E. Bauersche Versuch läuft auf einen Herren-Wechsel hinaus. Statt das Volk frei machen zu wollen, hätte er auf die einzig realisierbare Freiheit, auf die seinige, bedacht sein sollen. Im konstitutionellen Staate ist endlich der Absolutismus selbst in Kampf mit sich gekommen, da er in eine Zweiheit zersprengt wurde: es will die Regierung absolut sein, und das Volk will absolut sein. Diese beiden Absoluten werden sich aneinander aufreiben.

E. Bauer eifert dagegen, dass der Regent durch die Geburt, durch den Zufall gegeben sei. Wenn nun aber »das Volk die einzige Macht im Staate« (S. 132) geworden sein wird, haben Wir dann nicht an ihm einen Herrn aus Zufall? Was ist denn das Volk? Das Volk ist immer nur der Leib der Regierung gewesen: es sind Viele unter einem Hute (Fürstenhut) oder Viele unter einer Verfassung. Und die Verfassung ist der - Fürst. Fürsten und Völker werden so lange bestehen, als nicht beide zusammenfallen. Sind unter einer Verfassung mancherlei »Völker«, z.B. in der altpersischen Monarchie und heute, so gelten diese »Völker« nur als »Provinzen«. Für Mich ist jedenfalls das Volk eine - zufällige Macht, eine Natur-Gewalt, ein Feind, den Ich besiegen muss.
Was hat man unter einem »organisierten« Volke sich vorzustellen (ebendaselbst S. 132)? Ein Volk, »das keine Regierung mehr hat«, das sich selbst regiert. Also worin kein Ich hervorragt, ein durch den Ostrazismus organisiertes Volk. Die Verbannung der Iche, der Ostrazismus, macht das Volk zum Selbstherrscher.
Sprecht Ihr vom Volke, so müsst Ihr vom Fürsten reden; denn das Volk, soll es Subjekt sein und Geschichte machen, muss, wie alles Handelnde, ein Haupt haben, sein »Oberhaupt«. Weitling stellt dies im »Trio« dar, (72) und Proudhon äussert: une société, pour ainsi dire acéphale, ne peut vivre. (73) Die vox populi wird Uns jetzt immer vorgehalten, und die »öffentliche Meinung« soll über die Fürsten herrschen. Gewiss ist die vox populi zugleich vox dei, aber sind sie beide etwas nutz, und ist die vox principis nicht auch vox dei?
Es mag hierbei an die »Nationalen« erinnert werden. Von den achtunddreissig Staaten Deutschlands verlangen, dass sie als eine Nation handeln sollen, kann nur dem unsinnigen Begehren an die Seite gestellt werden, dass achtunddreissig Bienenschwärme, geführt von achtunddreissig Bienenköniginnen, sich zu einem Schwarme vereinigen sollen. Bienen bleiben sie alle; aber nicht die Bienen als Bienen gehören zusammen und können sich zusammentun, sondern nur die untertänigen Bienen sind mit den herrschenden Weiseln verbunden. Bienen und Völker sind willenlos, und es führt sie der Instinkt ihrer Weisel.

Verwiese man die Bienen auf ihr Bienentum, worin sie doch Alle einander gleich seien, so täte man dasselbe, was man jetzt so stürmisch tut, indem man die Deutschen auf ihr Deutschtum verweist. Das Deutschtum gleicht ja eben darin ganz dem Bienentum, dass es die Notwendigkeit der Spaltungen und Separationen in sich trägt, ohne gleichwohl bis zur letzten Separation vorzudringen, wo mit der vollständigen Durchführung des Separierens das Ende desselben erscheint: Ich meine, bis zur Separation des Menschen vom Menschen. Das Deutschtum trennt sich zwar in verschiedene Völker und Stämme, d.h. Bienenkörbe, aber der Einzelne, welcher die Eigenschaft hat, ein Deutscher zu sein, ist noch so machtlos, wie die vereinzelte Biene. Und doch können nur Einzelne miteinander in Verein treten, und alle Völker-Allianzen und Bünde sind und bleiben mechanische Zusammensetzungen, weil die Zusammentretenden, soweit wenigstens die »Völker« als die Zusammengetretenen angesehen werden, willenlos sind. Erst mit der letzten Separation endigt die Separation selbst und schlägt in Vereinigung um.

Nun bemühen sich die Nationalen, die abstrakte, leblose Einheit des Bienentums herzustellen; die Eigenen aber werden um die eigen gewollte Einheit, den Verein, kämpfen. Es ist dies das Wahrzeichen aller reaktionären Wünsche, dass sie etwas Allgemeines, Abstraktes, einen leeren, leblosen Begriff herstellen wollen, wogegen die Eigenen das stämmige, lebenvolle Einzelne vom Wust der Allgemeinheiten zu entlasten trachten. Die Reaktionären möchten gerne ein Volk, eine Nation aus der Erde stampfen; die Eigenen haben nur Sich vor Augen. Im Wesentlichen fallen die beiden Bestrebungen, welche heute an der Tagesordnung sind, nämlich die Wiederherstellung der Provinzialrechte, der alten Stammeseinteilungen (Franken, Bayern usw., Lausitz usw.) und die Wiederherstellung der Gesamt-Nationalität in Eins zusammen. Die Deutschen werden aber nur dann einig werden, d.h. sich vereinigen, wenn sie ihr Bienentum sowohl als alle Bienenkörbe umstossen; mit andern Worten: wenn sie mehr sind als - Deutsche; erst dann können sie einen »Deutschen Verein« bilden. Nicht in ihre Nationalität, nicht in den Mutterleib müssen sie zurückkehren wollen, um wiedergeboren zu werden, sondern in sich kehre jeder ein. Wie lächerlich-sentimental, wenn ein Deutscher dem andern den Handschlag gibt und mit heiligem Schauer die Hand drückt, weil »auch er ein Deutscher ist«! Damit ist er was Rechtes! Aber das wird freilich so lange noch für rührend gelten, als man für »Brüderlichkeit« schwärmt, d.h. als man eine »Familiengesinnung« hat. Vom Aberglauben der »Pietät«, von der »Brüderlichkeit« oder »Kindlichkeit«, oder wie die weichmütigen Pietäts-Phrasen sonst lauten, vom Familiengeiste vermögen die Nationalen, die eine grosse Familie von Deutschen haben wollen, sich nicht zu befreien.

Ãœbrigens müssten sich die sogenannten Nationalen nur selbst recht verstehen, um sich aus der Verbindung mit den gemütlichen Deutschtümlern zu erheben. Denn die Vereinigung zu materiellen Zwecken und Interessen, welche sie von den Deutschen fordern, geht ja auf nichts Anderes, als einen freiwilligen Verein hinaus. Carriere ruft begeistert aus: »Die Eisenbahnen sind dem tieferblickenden Auge der Weg zu einem Volksleben, wie es in solcher Bedeutung noch nirgends erschienen ist.« (74) Ganz recht, es wird ein Volksleben sein, das nirgends erschienen ist, weil es kein - Volksleben ist. - So bestreitet denn Carriere S. 10 sich selbst. »Die reine Menschlichkeit oder Menschheit kann nicht besser, als durch ein seine Mission erfüllendes Volk dargestellt werden«. Dadurch stellt sich ja nur die Volkstümlichkeit dar. »Die verschwommene Allgemeinheit ist niedriger, als die in sich geschlossene Gestalt, die ein Ganzes selber ist, und als lebendiges Glied des wahrhaft Allgemeinen, des Organisierten, lebt«. Es ist ja eben das Volk die »verschwommene Allgemeinheit«, und ein Mensch erst die »in sich geschlossene Gestalt«.
Das Unpersönliche dessen, was man »Volk, Nation« nennt, leuchtet auch daraus ein, dass ein Volk, welches sein Ich nach besten Kräften zur Erscheinung bringen will, den willenlosen Herrscher an seine Spitze stellt. Es befindet sich in der Alternative, entweder einem Fürsten unterworfen zu sein, der nur sich, sein individuelles Belieben verwirklicht - dann erkennt es an dem »absoluten Herrn« nicht den eigenen, den sogenannten Volkswillen », oder einen Fürsten auf den Thron zu setzen, der keinen eigenen Willen geltend macht - dann hat es einen willenlosen Fürsten, dessen Stelle ein wohlberechnetes Uhrwerk vielleicht ebenso gut versähe ». Deshalb darf die Einsicht nur einen Schritt weiter gehen, so ergibt sich von selber, dass das Volks-Ich eine unpersönliche, »geistige« Macht sei, das - Gesetz. Das Ich des Volkes, dies folgt daraus, ist ein - Spuk, nicht ein Ich. Ich bin nur dadurch Ich, dass Ich Mich mache, d.h. dass nicht ein Anderer Mich macht, sondern Ich mein eigen Werk sein muss. Wie aber ist es mit jenem Volks-Ich? Der Zufall spielt es dem Volke in die Hand, der Zufall gibt ihm diesen oder jenen gebornen Herrn, Zufälligkeiten verschaffen ihm den gewählten; er ist nicht sein, des »souveränen« Volkes, Produkt, wie Ich mein Produkt bin. Denke Dir, man wollte Dir einreden, Du wärest nicht dein Ich, sondern Hans oder Kunz wäre dein Ich! So aber geht's dem Volke, und ihm mit Recht. Denn das Volk hat so wenig ein Ich, als die elf Planeten zusammengerechnet ein Ich haben, obwohl sie sich um einen gemeinsamen Mittelpunkt wälzen.
Bezeichnend ist die Äusserung Baillys für die Sklavengesinnung, welche man vor dem souveränen Volke, wie vor dem Fürsten hat. »Ich habe, sagt er, keine Extravernunft mehr, wenn die allgemeine Vernunft sich ausgesprochen. Mein erstes Gesetz war der Wille der Nation: sobald sie sich versammelt hatte, habe ich nichts weiter gekannt, als ihren souveränen Willen.« (75) Er will keine »Extravernunft« haben, und doch leistet allein diese Extravernunft Alles. Ebenso eifert Mirabeau in den Worten: »Keine Macht auf Erden hat das Recht, zu den Repräsentanten der Nation zu sagen: Ich will!« (76) Wie bei den Griechen möchte man den Menschen jetzt zu einem zoon politikon machen, einem Staatsbürger oder politischen Menschen. So galt er lange Zeit als »Himmelsbürger«. Der Grieche wurde aber mit seinem Staate zugleich entwürdigt, der Himmelsbürger wird es mit dem Himmel; Wir hingegen wollen nicht mit dem Volke, der Nation und Nationalität zugleich untergehen, wollen nicht bloss politische Menschen oder Politiker sein. »Volksbeglückung« strebt man seit der Revolution an, und indem man das Volk glücklich, gross u. dergl. macht, macht man Uns unglücklich: Volksglück ist - mein Unglück. Welch' leeres Gerede die politischen Liberalen mit emphatischem Anstande machen, das sieht man wieder recht in Nauwerk's Ȇber die Teilnahme am Staate«. Da wird über die Gleichgültigen und Teilnahmlosen geklagt, die nicht im vollen Sinne Staatsbürger seien, und der Verfasser spricht so, als könne man gar nicht Mensch sein, wenn man sich nicht lebendig am Staatswesen beteilige, d.h. wenn man nicht Politiker sei. Darin hat er Recht; denn wenn der Staat für den Hüter alles »Menschlichen« gilt, so können Wir nichts Menschliches haben, ohne an ihm Teil zu nehmen. Was ist aber damit gegen den Egoisten gesagt? Gar nichts, weil der Egoist sich selbst der Hüter des Menschlichen ist und mit dem Staate nur die Worte spricht: Geh' Mir aus der Sonne.

Nur wenn der Staat mit seiner Eigenheit in Berührung kommt, nimmt der Egoist ein tätiges Interesse an ihm. Wenn den Stubengelehrten der Zustand des Staates nicht drückt, soll er sich mit ihm befassen, weil es seine »heiligste Pflicht« ist? Solange der Staat es ihm nach Wunsche macht, was braucht er da von seinen Studien aufzusehen? Mögen doch diejenigen, welche die Zustände aus eigenem Interesse anders haben wollen, sich damit beschäftigen. Die »heilige Pflicht« wird nun und nimmermehr die Leute dazu bringen, über den Staat nachzudenken, so wenig als sie aus »heiliger Pflicht« Jünger der Wissenschaft, Künstler usw. werden. Der Egoismus allein kann sie dazu antreiben, und er wird es, sobald es viel schlechter geworden ist. Zeigtet Ihr den Leuten, dass ihr Egoismus die Beschäftigung mit dem Staatswesen fordere, so würdet Ihr sie nicht lange aufzurufen haben; appelliert Ihr hingegen an ihre Vaterlandsliebe u. dergl., so werdet Ihr lange zu diesem »Liebesdienste« tauben Herzen predigen. Freilich, in eurem Sinne werden sich die Egoisten überhaupt nicht am Staatswesen beteiligen.
Eine echt liberale Phrase bringt Nauwerk S. 16: »Der Mensch erfüllt erst damit vollständig seinen Beruf, dass er sich als Mitglied der Menschheit fühlt und weiss, und als solches wirksam ist. Der Einzelne kann die Idee des Menschentums nicht verwirklichen, wenn er sich nicht auf die ganze Menschheit stützt, nicht aus ihr wie Antäos seine Kräfte schöpft. Ebendaselbst heisst es: »Die Beziehung des Menschen zur res publica wird von der theologischen Ansicht zur reinen Privatsache herabgewürdigt, wird somit hinweg geleugnet.« (77) Als ob die politische Ansicht es mit der Religion anders machte! Da ist die Religion eine »Privatsache«.
Wenn statt der »heiligen Pflicht«, der »Bestimmung des Menschen«, des »Berufes zum vollen Menschentum« und ähnlicher Gebote den Leuten vorgehalten würde, dass ihr Eigennutz verkümmert werde, wenn sie im Staate Alles gehen lassen, wie's geht, so würden sie ohne Tiraden so angeredet, wie man sie im entscheidenden Augenblicke wird anreden müssen, wenn man seinen Zweck erreichen will. Stattdessen sagt der theologenfeindliche Verfasser: »Wenn irgendeine Zeit, so ist es auch die unsrige, in welcher der Staat auf alle die Seinigen Ansprüche macht. - Der denkende Mensch erblickt in der Beteiligung an der Theorie und Praxis des Staates eine Pflicht, eine der heiligsten Pflichten, welche ihm obliegen« - und zieht dann die »unbedingte Notwendigkeit, dass jedermann sich am Staate beteilige«, (78) näher in Betrachtung.

Politiker ist und bleibt in alle Ewigkeit der, welchem der Staat im Kopfe oder im Herzen oder in beiden sitzt, der vom Staate Besessene oder der Staatsgläubige.
»Der Staat ist das notwendigste Mittel für die vollständige Entwicklung der Menschheit.« (79)Er ist's allerdings gewesen, solange Wir die Menschheit entwickeln wollten; wenn Wir aber Uns werden entwickeln wollen, kann er Uns nur ein Hemmungsmittel sein.
Kann man jetzt noch Staat und Volk reformieren und bessern? So wenig als den Adel, die Geistlichkeit, die Kirche usw.: man kann sie aufheben, vernichten, abschaffen, nicht reformieren. Kann Ich denn einen Unsinn durch Reformieren in Sinn verwandeln, oder muss [Ich] ihn geradezu fallen lassen? Es ist fortan nicht mehr um den Staat (die Staatsverfassung usw.) zu tun, sondern um Mich. Damit versinken alle Fragen über Fürstenmacht, Konstitution usw. in ihren wahren Abgrund und ihr wahres Nichts. Ich, dieses Nichts, werde meine Schöpfungen aus Mir hervortreiben.

Zu dem Kapitel der Gesellschaft gehört auch »die Partei«, deren Lob man jüngst gesungen hat. Im Staate gilt die Partei. »Partei, Partei, wer sollte sie nicht nehmen!« Der Einzelne aber ist einzig, kein Glied der Partei. Er vereinigt sich frei und trennt sich wieder frei. Die Partei ist nichts als ein Staat im Staate, und in diesem kleineren Bienenstaate soll dann ebenso wieder »Friede« herrschen, wie im grösseren. Gerade diejenigen, welche am lautesten rufen, dass im Staate eine Opposition sein müsse, eifern gegen jede Uneinigkeit der Partei. Ein Beweis, wie auch sie nur einen - Staat wollen. Nicht am Staate, sondern am Einzigen zerscheitern alle Parteien.
Nichts hört man jetzt häufiger als die Ermahnung, seiner Partei treu zu bleiben, nichts verachten Parteimenschen so sehr als einen Parteigänger. Man muss mit seiner Partei durch dick und dünn laufen und ihre Hauptgrundsätze unbedingt gutheissen und vertreten. Ganz so schlimm wie mit geschlossenen Gesellschaften steht es zwar hier nicht, weil jene ihre Mitglieder an feste Gesetze oder Statuten binden (z.B. die Orden, die Gesellschaft Jesu usw.). Aber die Partei hört doch in demselben Augenblicke auf, Verein zu sein, wo sie gewisse Prinzipien bindend macht und sie vor Angriffen gesichert wissen will; dieser Augenblick ist aber gerade der Geburtsakt der Partei. Sie ist als Partei schon eine geborne Gesellschaft, ein toter Verein, eine fix gewordene Idee. Als Partei des Absolutismus kann sie nicht wollen, dass ihre Mitglieder an der unumstösslichen Wahrheit dieses Prinzipes zweifeln; sie könnten diesen Zweifel nur hegen, wenn sie egoistisch genug wären, noch etwas ausser ihrer Partei sein zu wollen, d.h. unparteiische. Unparteiisch vermögen sie nicht als Parteimenschen zu sein, sondern nur als Egoisten. Bist Du Protestant und gehörst zu dieser Partei, so darfst Du den Protestantismus nur rechtfertigen, allenfalls »reinigen«, nicht verwerfen; bist Du Christ und gehörst unter den Menschen zur christlichen Partei, so kannst Du nicht als Mitglied dieser Partei, sondern nur dann, wenn Dich dein Egoismus, d.h. Unparteilichkeit, dazu treibt, darüber hinausgehen. Welche Anstrengungen haben die Christen bis auf Hegel und die Kommunisten herab gemacht, um ihre Partei stark zu machen; sie blieben dabei, dass das Christentum die ewige Wahrheit enthalten müsse, und man sie nur herauszufinden, festzustellen und zu rechtfertigen brauche. Kurz die Partei verträgt nicht die Unparteilichkeit, und in dieser eben erscheint der Egoismus. Was schiert Mich die Partei. Ich werde doch genug finden, die sich mit Mir vereinigen, ohne zu meiner Fahne zu schwören.

Wer von einer Partei zur andern übertritt, den schimpft man sofort einen Ȇberläufer«. Freilich fordert die Sittlichkeit, dass man zu seiner Partei halte, und ihr abtrünnig werden, heisst sich mit dem Makel der »Untreue« beflecken; allein die Eigenheit kennt kein Gebot der »Treue, Anhänglichkeit usw.«, die Eigenheit erlaubt Alles, auch die Abtrünnigkeit, den Ãœbertritt. Unbewusst lassen sich auch selbst die Sittlichen von diesem Grundsatze leiten, wenn es gilt, einen zu ihrer Partei Ãœbertretenden zu beurteilen, ja sie machen wohl Proselyten; sie sollten nur zugleich sich darüber ein Bewusstsein verschaffen, dass man unsittlich handeln müsse, um eigen zu handeln, d.h. hier, dass man die Treue brechen müsse, ja selbst seinen Eid, um sich selbst zu bestimmen, statt von sittlichen Rücksichten bestimmt zu werden. In den Augen der Leute von streng sittlichem Urteil schillert ein Apostat stets in zweideutigen Farben, und wird nicht leicht ihr Vertrauen erwerben: ihm klebt ja der Flecken der »Untreue« an, d.h. einer Unsittlichkeit. Bei dem niederen Manne findet man diese Ansicht fast allgemein; die Aufgeklärten geraten, wie immer, auch hier in eine Unsicherheit und Verwirrung, und der in dem Prinzipe der Sittlichkeit notwendig begründete Widerspruch kommt ihnen wegen der Konfusion ihrer Begriffe nicht zum deutlichen Bewusstsein. Den Apostaten geradehin unsittlich zu nennen, getrauen sie sich nicht, weil sie selbst zur Apostasie, zum Ãœbertritt von einer Religion zur andern usw. verleiten, und den Standpunkt der Sittlichkeit vermögen sie doch auch nicht aufzugeben. Und doch wäre hier die Gelegenheit zu ergreifen, um aus der Sittlichkeit hinauszuschreiten.

Sind etwa die Eignen oder Einzigen eine Partei? Wie könnten sie Eigne sein, wenn sie die Angehörigen einer Partei wären!
Oder soll man es mit keiner Partei halten? Eben indem man sich ihnen anschliesst und in ihren Kreis eintritt, knüpft man einen Verein mit ihnen, der so weit dauert, als Partei und Ich ein und dasselbe Ziel verfolgen. Aber heute teile Ich noch die Tendenz der Partei und morgen schon kann Ich es nicht mehr und werde ihr »untreu«. Die Partei hat nichts Bindendes (Verpflichtendes) für Mich und Ich respektiere sie nicht; gefällt sie Mir nicht mehr, so feinde Ich sie an.
In jeder Partei, welche auf sich und ihr Bestehen hält, sind die Mitglieder in dem Grade unfrei oder besser uneigen, sie ermangeln in dem Grade des Egoismus, als sie jenem Begehren der Partei dienen. Die Selbständigkeit der Partei bedingt die Unselbständigkeit der Parteiglieder.
Eine Partei kann, welcher Art sie auch sei, niemals ein Glaubensbekenntnis entbehren. Denn an das Prinzip der Partei müssen ihre Angehörigen glauben, es muss von ihnen nicht in Zweifel gezogen oder in Frage gestellt werden, es muss das Gewisse, Unzweifelhafte für das Parteiglied sein. Das heisst: Man muss einer Partei mit Leib und Seele gehören, sonst ist man nicht wahrhaft Parteimann, sondern mehr oder minder - Egoist. Hege einen Zweifel am Christentum und Du bist schon kein wahrer Christ mehr, hast Dich zu der »Frechheit« erhoben, darüber hinaus eine Frage zu stellen und das Christentum vor deinen egoistischen Richterstuhl zu ziehen. Du hast Dich am Christentum, dieser Parteisache (denn z.B. Sache der Juden, einer andern Partei, ist sie doch nicht) - versündigt. Aber wohl Dir, wenn Du Dich nicht schrecken lässest: deine Frechheit verhilft Dir zur Eigenheit.
So könnte ein Egoist also niemals Partei ergreifen oder Partei nehmen? Doch, nur kann er sich nicht von der Partei ergreifen und einnehmen lassen. Die Partei bleibt für ihn allezeit nichts als eine Partie: er ist von der Partie, er nimmt teil.

Der beste Staat wird offenbar derjenige sein, welcher die loyalsten Bürger hat, und je mehr der ergebene Sinn für Gesetzlichkeit sich verliert, umso mehr wird der Staat[,] dieses System der Sittlichkeit, dieses sittliche Leben selbst, an Kraft und Güte geschmälert werden. Mit den »guten Bürgern« verkommt auch der gute Staat und löst sich in Anarchie und Gesetzlosigkeit auf. »Achtung vor dem Gesetze!« Durch diesen Kitt wird das Staatsganze zusammengehalten. »Das Gesetz ist heilig, und wer daran frevelt, ein Verbrecher.« Ohne Verbrechen kein Staat: die sittliche Welt - und das ist der Staat - steckt voll Schelme, Betrüger, Lügner, Diebe usw. Da der Staat die »Herrschaft des Gesetzes«, die Hierarchie desselben ist, so kann der Egoist in allen Fällen, wo sein Nutzen gegen den des Staates läuft, nur im Wege des Verbrechens sich befriedigen.
Der Staat kann den Anspruch nicht aufgeben, dass seine Gesetze und Anordnungen heilig seien. Dabei gilt dann der Einzelne gerade so für den Unheiligen (Barbaren, natürlichen Menschen, »Egoisten«) gegenüber dem Staate, wie er von der Kirche einst betrachtet wurde; vor dem Einzelnen nimmt der Staat den Nimbus eines Heiligen an. So erlässt er ein Duellgesetz. Zwei Menschen, die beide darüber einig sind, dass sie ihr Leben für eine Sache (gleichviel welche) einsetzen wollen, sollen dies nicht dürfen, weil's der Staat nicht haben will: er setzt eine Strafe darauf. Wo bleibt da die Freiheit der Selbstbestimmung? Ganz anders verhält es sich schon, wann, wie z.B. in Nordamerika, sich die Gesellschaft dazu bestimmt, die Duellanten gewisse üble Folgen ihrer Tat tragen zu lassen, z.B. Entziehung des bisher genossenen Kredits. Den Kredit zu verweigern, das ist jedermanns Sache, und wenn eine Sozietät ihn aus diesem oder jenem Grunde entziehen will, so kann sich der Betroffene deshalb nicht über Beeinträchtigung seiner Freiheit beklagen: die Sozietät macht eben nur ihre eigene Freiheit geltend. Das ist keine Sündenstrafe, keine Strafe für ein Verbrechen. Das Duell ist da kein Verbrechen, sondern nur eine Tat, wider welche die Sozietät Gegenmassregeln ergreift, eine Abwehr statuiert. Der Staat hingegen stempelt das Duell zu einem Verbrechen, d.h. zu einer Verletzung seines heiligen Gesetzes: er macht es zu einem Kriminalfall. Ãœberlässt jene Sozietät es dem Beschlusse des Einzelnen, ob er sich üble Folgen und Ungelegenheiten durch seine Handlungsweise zuziehen wolle, und erkennt sie hierdurch seinen freien Entschluss an, so verfährt der Staat gerade umgekehrt, indem er dem Entschlusse des Einzelnen alles Recht abspricht, und dafür dem eigenen Beschlusse, dem Staatsgesetze, das alleinige Recht zuerkennt, so dass, wer gegen das Gebot des Staates sich vergeht, so angesehen wird, als handle er wider Gottes Gebot; eine Ansicht, welche gleichfalls von der Kirche eingehalten wurde. Gott ist da der Heilige an und für sich, und die Gebote der Kirche wie des Staates sind die Gebote dieses Heiligen, die er der Welt durch seine Gesalbten und Gottesgnaden-Herrn zustellt. Hatte die Kirche Todsünden, so hat der Staat todeswürdige Verbrechen, hatte sie Ketzer, so hat er Hochverräter, jene Kirchenstrafen, er Kriminalstrafen, jene inquisitorische Prozesse, er fiskalische, kurz dort Sünden, hier Verbrechen, dort Sünder, hier Verbrecher, dort Inquisition und hier - Inquisition. Wird die Heiligkeit des Staats nicht gleich der kirchlichen fallen? Der Schauer seiner Gesetze, die Ehrfurcht vor seiner Hoheit, die Demut seiner »Untertanen«, wird dies bleiben? Wird das »Heiligengesicht« nicht verunziert werden?

Welch' eine Torheit, von der Staatsgewalt zu verlangen, dass sie mit dem Einzelnen einen ehrlichen Kampf eingehen und, wie man bei der Pressfreiheit sich ausdrückt, Sonne und Wind gleich teilen solle. Wenn der Staat, dieser Gedanke, eine geltende Macht sein soll, so muss er eben eine höhere Macht gegen den Einzelnen sein. Der Staat ist »heilig« und darf sich den »frechen Angriffen« der Einzelnen nicht aussetzen. Ist der Staat heilig, so muss Zensur sein. Die politischen Liberalen geben das erstere zu und bestreiten die Konsequenz. Jedenfalls aber räumen sie ihm die Repressivmassregeln ein, denn - sie bleiben dabei, dass Staat mehr sei als der Einzelne und eine berechtigte Rache ausübe, Strafe genannt.
Strafe hat nur dann einen Sinn, wenn sie die Sühne für die Verletzung eines Heiligen gewähren soll. Ist einem etwas heilig, so verdient er allerdings, wo er es anfeindet, Strafe. Ein Mensch, der ein Menschenleben bestehen lässt, weil es ihm heilig ist, und er eine Scheu vor seiner Antastung trägt, ist eben ein - religiöser Mensch.
Weitling legt die Verbrechen der »gesellschaftlichen Unordnung« zur Last und lebt der Erwartung, dass unter kommunistischen Einrichtungen die Verbrechen unmöglich werden, weil die Versuchungen zu denselben, z.B. das Geld, wegfallen. Da indes seine organisierte Gesellschaft auch zur heiligen und unverletzlichen erhoben wird, so verrechnet er sich bei jener gutherzigen Meinung. Solche, die sich mit dem Munde zur kommunistischen Gesellschaft bekenneten, unter der Hand hingegen an ihrem Ruin arbeiteten, würden nicht fehlen. Bei »Heilmitteln gegen den natürlichen Rest menschlicher Krankheiten und Schwächen« muss Weitling ohnehin verbleiben, (80) und »Heilmittel« kündigen immer schon an, dass man die Einzelnen als zu einem bestimmten »Heil berufen« ansehen, mithin sie nach Massgabe dieses »menschlichen Berufes« behandeln werde. Das Heilmittel oder die Heilung ist nur die Kehrseite der Strafe, die Heiltheorie läuft parallel mit der Straftheorie; sieht diese in einer Handlung eine Versündigung gegen das Recht, so nimmt jene sie für eine Versündigung des Menschen gegen sich, als einen Abfall von seiner Gesundheit. Das Richtige aber ist, dass Ich sie entweder als eine ansehe, die Mir recht oder Mir nicht recht ist, als Mir feindlich oder freundlich, d.h. dass Ich sie als Mein Eigentum behandle, welches Ich pflege oder zertrümmere. »Verbrechen« oder »Krankheit« ist beides keine egoistische Ansicht der Sache, d.h. keine Beurteilung von Mir aus, sondern von einem anderen aus, ob sie nämlich entweder das Recht, das allgemeine, oder die Gesundheit teils des Einzelnen (des Kranken), teils des Allgemeinen (der Gesellschaft) verletzt. Das »Verbrechen« wird mit Unerbittlichkeit behandelt, die »Krankheit« mit »liebreicher Milde, Mitleid« u. dergl.

Dem Verbrechen folgt die Strafe. Fällt das Verbrechen, weil das Heilige verschwindet, so muss nicht minder die Strafe in dessen Fall hineingezogen werden; denn auch sie hat nur einem Heiligen gegenüber Bedeutung. Man hat die Kirchenstrafen abgeschafft. Warum? Weil, wie Jemand sich gegen den »heiligen Gott« benehme, jedermanns eigene Sache sei. Wie aber diese eine Strafe, die Kirchenstrafe, gefallen ist, so müssen alle Strafen fallen. Wie die Sünde gegen den sogenannten Gott des Menschen eigene Sache ist, so die gegen jede Art des sogenannten Heiligen. Nach unsern Strafrechtstheorien, mit deren »zeitgemässer Verbesserung« man sich vergeblich abquält, will man die Menschen für diese oder jene »Unmenschlichkeit« strafen und macht dabei das Alberne dieser Theorien durch ihre Konsequenz besonders deutlich, indem man die kleinen Diebe hängt und die grossen laufen lässt. Für Eigentumsverletzung hat man das Zuchthaus, und für »Gedankenzwang«, Unterdrückung »natürlicher Menschenrechte«, nur - Vorstellungen und Bitten.
Der Kriminalkodex hat nur durch das Heilige Bestand und verkommt von selbst, wenn man die Strafe aufgibt. Allerwärts will man gegenwärtig ein neues Strafgesetz schaffen, ohne sich über die Strafe selbst ein Bedenken zu machen. Gerade die Strafe aber muss der Genugtuung den Platz räumen, die wiederum nicht darauf abzielen kann, dem Rechte oder der Gerechtigkeit genug zu tun, sondern Uns ein Genüge zu verschaffen. Tut Uns einer, was Wir Uns nicht gefallen lassen wollen, so brechen Wir seine Gewalt und bringen die Unsere zur Geltung: Wir befriedigen Uns an ihm und verfallen nicht in die Torheit, das Recht (den Spuk) befriedigen zu wollen. Nicht das Heilige soll sich gegen den Menschen wehren, sondern der Mensch gegen den Menschen, so wie ja auch nicht mehr Gott sich gegen den Menschen wehrt, dem sonst und zum Teil freilich noch jetzt alle »Diener Gottes« die Hand boten, um den Lästerer zu strafen, wie sie eben heute noch dem Heiligen ihre Hand leihen. Jene Hingebung an das Heilige bewirkt denn auch, dass man, ohne lebendigen, eigenen Anteil, die Ãœbeltäter nur in die Hände der Polizei und Gerichte liefert: ein teilnahmsloses Ãœberantworten an die Obrigkeit, »die ja das Heilige aufs Beste verwalten wird«. Das Volk ist ganz toll darauf, gegen Alles die Polizei zu hetzen, was ihm unsittlich, oft nur unanständig zu sein scheint, und diese Volkswut für das Sittliche beschützt mehr das Polizeiinstitut, als die Regierung es nur irgend schützen könnte. Im Verbrechen hat sich seither der Egoist behauptet und das Heilige verspottet: der Bruch mit dem Heiligen, oder vielmehr des Heiligen kann allgemein werden. Eine Revolution kehrt nicht wieder, aber ein gewaltiges, rücksichtsloses, schamloses, gewissenloses, stolzes - Verbrechen, grollt es nicht in fernen Donnern, und siehst Du nicht, wie der Himmel ahnungsvoll schweigt und sich trübt?

Wer sich weigert, seine Kräfte für so beengte Gesellschaften, wie Familie, Partei, Nation zu verwenden, der sehnt sich immer noch nach einer würdigeren Gesellschaft und meint etwa in der »menschlichen Gesellschaft« oder der »Menschheit« das wahre Liebesobjekt gefunden zu haben, dem sich zu opfern seine Ehre ausmache: von nun an »lebt und dient er der Menschheit«.
Volk heisst der Körper, Staat der Geist jener herrschenden Person, die seither Mich unterdrückt hat. Man hat Völker und Staaten dadurch verklären wollen, dass man sie zur »Menschheit« und »allgemeinen Vernunft« erweiterte; allein die Knechtschaft würde bei dieser Ausweitung nur noch intensiver werden, und die Philanthropen und Humanen sind so absolute Herrn als die Politiker und Diplomaten.

Neuere Kritiker eifern gegen die Religion, weil sie Gott, das Göttliche, Sittliche usw. ausser dem Menschen setze oder zu etwas Objektivem mache, wogegen sie eben diese Subjekte vielmehr in den Menschen verlegen. Allein in den eigentlichen Fehler der Religion, dem Menschen eine »Bestimmung« zu geben, verfallen jene Kritiker nicht minder, indem auch sie ihn göttlich, menschlich u. dgl. wissen wollen: Sittlichkeit, Freiheit und Humanität usw. sei sein Wesen. Und wie die Religion, so wollte auch die Politik den Menschen »erziehen«, ihn zur Verwirklichung seines »Wesens«, seiner »Bestimmung« bringen, etwas aus ihm machen, nämlich einen »wahren Menschen«, die eine in der Form des »wahren Gläubigen«, die andere in der des »wahren Bürgers oder Untertanen«. In der Tat kommt es auf Eins hinaus, ob man die Bestimmung das Göttliche oder Menschliche nennt.
Unter Religion und Politik befindet sich der Mensch auf dem Standpunkte des Sollens: er soll dies und das werden, soll so und so sein. Mit diesem Postulat, diesem Gebote tritt nicht nur jeder vor den anderen hin, sondern auch vor sich selbst. Jene Kritiker sagen: Du sollst ein ganzer, ein freier Mensch sein. So stehen auch sie in der Versuchung, eine neue Religion zu proklamieren, ein neues Absolutes, ein Ideal aufzustellen, nämlich die Freiheit. Die Menschen sollen frei werden. Da könnten selbst Missionäre der Freiheit erstehen, wie das Christentum in der Ãœberzeugung, dass Alle eigentlich dazu bestimmt seien, Christen zu werden, Missionäre des Glaubens aussandte. Die Freiheit würde dann, wie bisher der Glaube als Kirche, die Sinnlichkeit als Staat, so als eine neue Gemeinde sich konstituieren und von ihr aus eine gleiche »Propaganda« betreiben. Allerdings lässt sich gegen ein Zusammentreten kein Einwand aufbringen; um so mehr aber muss man jeder Erneuerung der alten Fürsorge, der Heranbildung, kurz dem Prinzipe, aus Uns etwas zu machen, gleichviel ob Christen, Untertanen oder Freie und Menschen, entgegentreten.

Wohl kann man mit Feuerbach und anderen sagen, dass die Religion das Menschliche aus dem Menschen hinausgerückt und in ein Jenseits so verlegt habe, dass es dort unerreichbar als ein für sich Persönliches, als ein »Gott« sein eigenes Dasein führte; allein der Irrtum der Religion ist damit keineswegs erschöpft. Man könnte sehr wohl die Persönlichkeit des entrückten Menschlichen fallen lassen, könnte den Gott ins Göttliche verwandeln, und man bliebe dennoch religiös. Denn das Religiöse besteht in der Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen Menschen, d.h. in der Aufstellung einer zu erstrebenden »Vollkommenheit«, in dem »nach seiner Vollendung ringenden Menschen«. (81) (»Darum sollt Ihr vollkommen sein, wie Euer Vater im Himmel vollkommen ist«. Matt. V, 48.): es besteht in der Fixierung eines Ideals, eines Absoluten. Die Vollkommenheit ist das »höchste Gut«, der finis bonorum; das Ideal eines jeden ist der vollkommene Mensch, der wahre, der freie Mensch usw.
Die Bestrebungen der Neuzeit zielen dahin, das Ideal des »freien Menschen« aufzustellen. Könnte man's finden, gäb's eine neue - Religion, weil ein neues Ideal, gäbe ein neues Sehnen, ein neues Abquälen, eine neue Andacht, eine neue Gottheit, eine neue Zerknirschung.
Mit dem Ideal der »absoluten Freiheit« wird dasselbe Unwesen getrieben, wie mit allem Absoluten, und nach Hess z.B. soll sie »in der absoluten menschlichen Gesellschaft realisierbar sein«. (82) Ja diese Verwirklichung wird gleich nachher ein »Beruf« genannt; ebenso bestimmt er dann die Freiheit als »Sittlichkeit«: es soll das Reich der »Gerechtigkeit« (d. i. Gleichheit) und »Sittlichkeit« (d. i. Freiheit) beginnen usw.
Lächerlich ist, wer, während Genossen seines Stammes, Familie, Nation usw. viel gelten, - nichts ist als »aufgebläht« Ã¼ber der Genossen Verdienst; verblendet aber auch derjenige, der nur »Mensch« sein will. Keiner von ihnen setzt seinen Wert in die Ausschliesslichkeit, sondern in die Verbundenheit oder in das »Band«, welches ihn mit anderen zusammenschliesst, in die Blutsbande, Nationalbande, Menschheitsbande.

Durch die heurigen »Nationalen« ist der Streit wieder rege geworden zwischen denen, welche bloss menschliches Blut und menschliche Blutsbande zu haben meinen, und den andern, welche auf ihr spezielles Blut und die speziellen Blutsbande pochen.
Sehen Wir davon ab, dass Stolz eine Überschätzung ausdrücken könnte, und nehmen Wir's allein für Bewusstsein, so findet sich ein ungeheurer Abstand zwischen dem Stolze darauf, einer Nation »anzugehören«, also ihr Eigentum zu sein, und dem, eine Nationalität sein Eigentum zu nennen. Die Nationalität ist meine Eigenschaft, die Nation aber meine Eignerin und Herrin. Hast Du Körperstärke, so kannst Du sie geeigneten Ortes anwenden und auf sie ein Selbstgefühl oder Stolz haben; hat hingegen dein starker Körper Dich, so juckt er Dich überall und am ungeeignetsten Orte, seine Stärke zu zeigen: Du kannst keinem die Hand geben, ohne sie ihm zu drücken.
Die Einsicht, dass man mehr als Familienglied, mehr als Stammesgenosse, mehr als Volksindividuum usw. sei, hat endlich dahin geführt zu sagen: man ist mehr als alles dies, weil man Mensch ist, oder: der Mensch ist mehr als der Jude, Deutsche usw. »Darum sei jeder ganz und allein - Mensch!« Konnte man nicht lieber sagen: Weil Wir mehr als das Angegebene sind, darum wollen Wir sowohl dies als auch jenes »mehr« sein? Also Mensch und Deutscher, Mensch und ein Welfe usw.? Die Nationalen haben Recht; man kann seine Nationalität nicht verleugnen, und die Humanen haben Recht: man muss nicht in der Borniertheit des Nationalen bleiben. In der Einzigkeit löst sich der Widerspruch: das Nationale ist meine Eigenschaft. Ich aber gehe nicht in meiner Eigenschaft auf, wie auch das Menschliche meine Eigenschaft ist, Ich aber dem Menschen erst durch meine Einzigkeit Existenz gebe.

Die Geschichte sucht den Menschen: er ist aber Ich, Du, Wir. Gesucht als ein mysteriöses Wesen, als das Göttliche, erst als der Gott, dann als der Mensch (die Menschlichkeit, Humanität und Menschheit), wird er gefunden als der Einzelne, der Endliche, der Einzige.
Ich bin Eigner der Menschheit, bin die Menschheit und tue nichts für das Wohl einer andern Menschheit. Tor, der Du eine einzige Menschheit bist, dass Du Dich aufspreizest, für eine andere, als Du selbst bist, leben zu wollen.
Das bisher betrachtete Verhältnis Meiner zur Menschenwelt bietet einen solchen Reichtum an Erscheinungen dar, dass es bei anderen Gelegenheiten wieder und wieder aufgenommen, hier aber, wo es nur im Grossen anschaulich gemacht werden sollte, abgebrochen werden muss, um einer Auffassung zweier andern Seiten, nach denen hin es ausstrahlt, Platz zu machen. Da Ich Mich nämlich nicht bloss zu den Menschen, soweit sie den Begriff »Mensch« in sich darstellen oder Menschenkinder sind (Kinder des Menschen, wie von Kindern Gottes geredet wird), in Beziehung finde, sondern auch zu dem, was sie von dem Menschen haben und ihr Eigenes nennen, also Mich nicht allein auf das, was sie durch den Menschen sind, sondern auch auf ihre menschliche Habe beziehe: so wird ausser der Menschenwelt auch die Sinnen- und Ideenwelt in den Kreis der Besprechung zu ziehen und sowohl von dem, was die Menschen an sinnlichen, als dem, was sie an geistigen Gütern ihr eigen nennen, einiges zu sagen sein. Je nachdem man den Begriff des Menschen entwickelt und sich vorstellig gemacht hatte, gab man Uns denselben als diese oder jene Respektsperson zu achten, und aus dem weitesten Verständnis dieses Begriffes ging endlich das Gebot hervor: »in jedem den Menschen zu respektieren«. Respektiere Ich aber den Menschen, so muss mein Respekt sichgleichfalls auf das Menschliche oder das, was des Menschen ist, erstrecken.

Es haben die Menschen Eigenes, und Ich soll dies Eigene anerkennen und heilig halten. Ihr Eigenes besteht teils in äusserlicher, teils in innerlicher Habe. Jenes sind Dinge, dieses Geistigkeiten, Gedanken, Überzeugungen, edle Gefühle usw. Aber immer nur die rechtliche oder menschliche Habe soll Ich respektieren; die unrechtliche und unmenschliche brauche Ich nicht zu schonen, denn der Menschen wirklich Eigenes ist nur das Eigene des Menschen. Innerliche Habe dieser Art ist z.B. die Religion; weil die Religion frei, d.h. des Menschen ist, darum darf Ich sie nicht antasten. Ebenso ist eine innerliche Habe die Ehre; sie ist frei und darf von Mir nicht angetastet werden. (Injurienklage, Karikaturen usw.) Religion und Ehre sind »geistiges Eigentum«. Im dinglichen Eigentum steht obenan die Person: meine Person ist mein erstes Eigentum. Daher Freiheit der Person; aber nur die rechtliche oder menschliche Person ist frei, die andere wird eingesperrt. Dein Leben ist Dein Eigentum; es ist aber den Menschen nur heilig, wenn es nicht das eines Unmenschen.
Was der Mensch als solcher an körperlichen Gütern nicht behaupten kann, dürfen Wir ihm nehmen: dies der Sinn der Konkurrenz, der Gewerbefreiheit. Was er an geistigen Gütern nicht behaupten kann, verfällt Uns gleichfalls: so weit geht die Freiheit der Diskussion, der Wissenschaft, der Kritik. Aber unantastbar sind die geheiligten Güter. Geheiligt und garantiert durch wen? Zunächst durch den Staat, die Gesellschaft, eigentlich aber durch den Menschen oder den »Begriff«, den »Begriff der Sache«: denn der Begriff der geheiligten Güter ist der, dass sie wahrhaft menschliche seien, oder vielmehr, dass sie der Inhaber als Mensch und nicht als Unmensch besitze.
Geistigerseits ist ein solches Gut der Glaube des Menschen, seine Ehre, sein sittliches, ja sein Anstands-, Schamgefühl usw. Ehrenrührige Handlungen (Reden, Schriften) sind strafbar; Angriffe auf »den Grund aller Religion«; Angriffe auf den politischen Glauben, kurz Angriffe auf alles, was ein Mensch »mit Recht« hat.

Wie weit der kritische Liberalismus die Heiligkeit der Güter ausdehnen würde, darüber hat er noch keinen Ausspruch getan und wähnt auch wohl, aller Heiligkeit abhold zu sein; allein da er gegen den Egoismus ankämpft, so muss er diesem Schranken setzen und darf den Unmenschen nicht über das Menschliche herfallen lassen. Seiner theoretischen Verachtung der »Masse« müsste, wenn er die Gewalt gewönne, eine praktische Zurückweisung entsprechen.
Welche Ausdehnung der Begriff »Mensch« erhalte, und was durch ihn dem einzelnen Menschen zukomme, was also der Mensch und das Menschliche sei, darüber liegen die verschiedenen Stufen des Liberalismus auseinander, und der politische, der soziale, der humane Mensch nehmen, der eine immer mehr als der andere, für »den Menschen« in Anspruch. Wer diesen Begriff am besten gefasst hat, der weiss am besten, was »des Menschen« ist. Der Staat fasst diesen Begriff noch in politischer, die Gesellschaft in sozialer Beschränktheit, die Menschheit erst, so heisst es, erfasst ihn ganz oder »die Geschichte der Menschheit entwickelt ihn«. Ist aber »der Mensch gefunden«, dann kennen Wir auch das dem Menschen Eigene, das Eigentum des Menschen, das Menschliche.
Mag aber der einzelne Mensch darum, weil ihn der Mensch oder der Begriff Mensch, d.h. weil ihn sein Menschsein dazu »berechtigt«, auf noch so viel Rechte Anspruch machen: was kümmert Mich sein Recht und sein Anspruch? Hat er sein Recht nur von dem Menschen und hat er's nicht von Mir, so hat er für Mich kein Recht. Sein Leben z.B. gilt Mir nur, was Mir's wert ist. Ich respektiere weder sein sogenanntes Eigentumsrecht oder sein Recht auf dingliche Güter, noch auch sein Recht auf das »Heiligtum seines Innern«, oder sein Recht darauf, dass die geistigen Güter und Göttlichkeiten, seine Götter, ungekränkt bleiben. Seine Güter, die sinnlichen wie die geistigen, sind mein und Ich schalte damit als Eigentümer nach dem Masse meiner - Gewalt.

Die Eigentumsfrage birgt einen weiteren Sinn in sich, als die beschränkte Fragstellung herauszubringen erlaubt. Auf das, was man unsere Habe nennt, allein bezogen, ist sie keiner Lösung fähig; die Entscheidung findet sich erst bei dem, »von welchem Wir alles haben«. Vom Eigner hängt das Eigentum ab.
Die Revolution richtete ihre Waffen gegen alles, was »von Gottes Gnaden« kam, z.B. gegen das göttliche Recht, an dessen Statt das menschliche befestigt wurde. Dem von Gottes Gnaden Verliehenen wird das »aus dem Wesen des Menschen« Hergeleitete entgegengestellt.
Wie nun das Verhältnis der Menschen zueinander im Gegensatz zum religiösen Dogma, welches ein »Liebet Euch untereinander um Gottes willen« gebietet, seine menschliche Stellung durch ein »Liebet einander um des Menschen willen« erhalten musste, so konnte die revolutionäre Lehre nicht anders, als, was zunächst die Beziehung der Menschen auf die Dinge dieser Welt betrifft, feststellen, dass die Welt, die bisher nach Gottes Ordnung eingerichtet war, hinfort »dem Menschen« gehöre. Die Welt gehört »dem Menschen«, und soll von Mir als sein Eigentum respektiert werden. Eigentum ist das Meinige! Eigentum im bürgerlichen Sinne bedeutet heiliges Eigentum, der Art, dass Ich dein Eigentum respektieren muss. »Respekt vor dem Eigentum!« Daher möchten die Politiker, dass jeder sein Stückchen Eigentum besässe, und haben durch dies Bestreben zum Teil eine unglaubliche Parzellierung herbeigeführt. Jeder muss seinen Knochen haben, daran er was zu beissen finde.
Anders verhält sich die Sache im egoistischen Sinne. Von deinem und eurem Eigentum trete Ich nicht scheu zurück, sondern sehe es stets als mein Eigentum an, woran Ich nichts zu »respektieren« brauche. Tuet doch desgleichen mit dem, was Ihr mein Eigentum nennt!

Bei dieser Ansicht werden Wir Uns am leichtesten miteinander verständigen.
Die politischen Liberalen tragen Sorge, dass womöglich alle Servituten abgelöst werden, und jeder freier Herr auf seinem Grunde sei, wenn dieser Grund auch nur so viel Bodengehalt hat, als von dem Dünger eines Menschen sich hinlänglich sättigen lässt. (Jener Bauer heiratete noch im Alter, »damit er vom Kote seiner Frau profitiere.«) Sei es auch noch so klein, wenn man nur Eigenes, nämlich ein respektiertes Eigentum hat! Je mehr solcher Eigener, solcher Kotsassen, desto mehr »freie Leute und gute Patrioten« hat der Staat.
Es rechnet der politische Liberalismus, wie alles Religiöse, auf den Respekt, die Humanität, die Liebestugenden. Darum lebt er auch in unaufhörlichem Ärger. Denn in der Praxis respektieren eben die Leute nichts, und alle Tage werden die kleinen Besitzungen wieder von grösseren Eigentümern aufgekauft, und aus den »freien Leuten« werden Tagelöhner.
Hätten dagegen die »kleinen Eigentümer« bedacht, dass auch das grosse Eigentum das ihrige sei, so hätten sie sich nicht selber respektvoll davon ausgeschlossen, und würden nicht ausgeschlossen worden sein.
Das Eigentum, wie die bürgerlichen Liberalen es verstehen, verdient die Angriffe der Kommunisten und Proudhons: es ist unhaltbar, weil der bürgerliche Eigentümer wahrhaft nichts als ein Eigentumsloser, ein überall Ausgeschlossener ist. Statt dass ihm die Welt gehören könnte, gehört ihm nicht einmal der armselige Punkt, auf welchem er sich herumdreht.

Proudhon will nicht den propriétaire, sondern den possesseur oder usufruitier. (83) Was heisst das?
Er will, dass der Boden nicht einem gehöre; aber der Nutzen desselben - und gestände man ihm auch nur den hundertsten Teil dieses Nutzens, dieser Frucht, zu - der ist ja doch sein Eigentum, mit welchem er nach Belieben schalten kann. Wer nur den Nutzen eines Ackers hat, ist allerdings nicht der Eigentümer desselben; noch weniger, wer, wie Proudhon will, von diesem Nutzen so viel abgeben muss, als zu seinem Bedarf nicht notwendig erfordert wird; allein er ist der Eigentümer des; ihm verbleibenden Anteils. Also negiert Proudhon nur dies und jenes Eigentum, nicht das Eigentum. Wenn Wir den Grundeigentümern den Grund nicht länger lassen, sondern Uns zueignen wollen, so vereinigen Wir Uns zu diesem Zwecke, bilden einen Verein, eine société, die sich zur Eigentümerin macht; glückt es Uns, so hören jene auf, Grundeigentümer zu sein. Und wie von Grund und Boden, so können Wir sie noch aus manchem andern Eigentum hinausjagen, um es zu unserm Eigentum zu machen, zum Eigentum der - Erobernden. Die Erobernden bilden eine Sozietät, die man sich so gross denken kann, dass sie nach und nach die ganze Menschheit umfasst; aber auch die sogenannte Menschheit ist als solche nur ein Gedanke (Spuk); ihre Wirklichkeit sind die Einzelnen. Und diese Einzelnen werden als eine Gesamtmasse nicht weniger willkürlich mit Grund und Boden umgehen, als ein vereinzelter Einzelner, oder sogenannter propriétaire. Auch so bleibt also das Eigentum bestehen, und zwar auch als »ausschliesslich«, indem die Menschheit, diese grosse Sozietät, den Einzelnen von ihrem Eigentum ausschliesst (ihm vielleicht nur ein Stück davon verpachtet, zu Lehn gibt), wie sie ohnehin alles, was nicht Menschheit ist, ausschliesst, z.B. die Tierwelt nicht zum Eigentum kommen lässt. - So wird's auch bleiben und werden. Dasjenige, woran alle Anteil haben wollen, wird demjenigen Einzelnen entzogen werden, der es für sich allein haben will, es wird zu einem Gemeingut gemacht. Als an einem Gemeingut hat jeder daran seinen Anteil, und dieser Anteil ist sein Eigentum. So ist ja auch in unseren alten Verhältnissen ein Haus, welches fünf Erben gehört, ihr Gemeingut; der fünfte Teil des Ertrages aber ist eines jeden Eigentum. Proudhon konnte sein weitläufiges Pathos sparen, wenn er sagte: Es gibt einige Dinge, die nur Wenigen gehören, und auf die Wir übrigen von nun an Anspruch oder - Jagd machen wollen. Lasst sie Uns nehmen, weil man durch's Nehmen zum Eigentum kommt, und das für jetzt noch uns entzogene Eigentum auch nur durch's Nehmen an die Eigentümer gekommen ist. Es wird sich besser nutzen lassen, wenn es in Unser aller Händen ist, als wenn die Wenigen darüber verfügen. Assoziieren wir Uns daher zu dem Zwecke dieses Raubes (vol). - Dafür schwindelt er Uns vor, die Sozietät sei die ursprüngliche Besitzerin und die einzige Eigentümerin von unverjährbarem Rechte; an ihr sei der sogenannte Eigentümer zum Diebe geworden. (La propriété c'est le vol); wenn sie nun dem dermaligen Eigentümer sein Eigentum entziehe, so raube sie ihm nichts, da sie nur ihr unverjährbares Recht geltend mache. - So weit kommt man mit dem Spuk der Sozietät als einer moralischen Person. Im Gegenteil gehört dem Menschen, was er erlangen kann: Mir gehört die Welt. Sagt Ihr etwas anderes mit dem entgegengesetzten Satze: »Allen gehört die Welt«? Alle sind Ich und wieder Ich usw. Aber Ihr macht aus den »Allen« einen Spuk, und macht ihn heilig, so dass dann die »Alle« zum fürchterlichen Herrn des Einzelnen werden. Auf ihre Seite stellt sich dann das Gespenst des »Rechtes«.

Proudhon, wie die Kommunisten, kämpfen gegen den Egoismus. Darum sind sie Fortsetzungen und Konsequenzen des christlichen Prinzips, des Prinzips der Liebe, der Aufopferung für ein Allgemeines, ein Fremdes. Sie vollenden z.B. im Eigentum nur, was längst der Sache nach vorhanden ist, nämlich die Eigentumslosigkeit des Einzelnen. Wenn es im Gesetze heisst: Ad reges potestas omnium pertinet, ad singulos proprietas; omnia rex imperio possidet, singuli dominio, so heisst dies: Der König ist Eigentümer, denn Er allein kann über »Alles« verfügen, schalten, er hat potestas und imperium darüber. Die Kommunisten machen dies klarer, indem sie jenes imperium der »Gesellschaft aller« Ã¼bertragen. Also: Weil Feinde des Egoismus, darum sind sie - Christen, oder allgemeiner: religiöse Menschen, Gespenstergläubige, Abhängige, Diener irgend eines Allgemeinen (Gottes, der Gesellschaft usw.). Auch darin gleicht Proudhon den Christen, dass er dasjenige, was er den Menschen abspricht, Gott beilegt. Ihn nennt er (z.B. Seite 90) den Propriétaire der Erde. (84) Hiermit beweist er, dass er den Eigentümer als solchen nicht wegdenken kann; er kommt zuletzt auf einen Eigentümer, verlegt ihn aber ins Jenseits.

Eigentümer ist weder Gott noch der Mensch (die »menschliche Gesellschaft«), sondern der Einzelne.

Proudhon (auch Weitling) glaubt das Schlimmste vom Eigentum auszusagen, wenn er es einen Diebstahl (vol) nennt. Ganz abgesehen von der verfänglichen Frage, was gegen den Diebstahl Gegründetes einzuwenden wäre, fragen Wir nur: Ist der Begriff »Diebstahl« Ã¼berhaupt anders möglich, als wenn man den Begriff »Eigentum« gelten lässt. Wie kann man stehlen, wenn nicht schon Eigentum vorhanden ist? Was keinem gehört, kann nicht gestohlen werden: das Wasser, welches einer aus dem Meere schöpft, stiehlt er nicht. Mithin ist nicht das Eigentum Diebstahl, sondern durch das Eigentum erst wird ein Diebstahl möglich. Auch muss Weitling darauf hinauskommen, da er ja alles als Eigentum aller betrachtet: ist Etwas »Eigentum aller«, so stiehlt freilich der Einzelne, der sich's zueignet. Das Privateigentum lebt von der Gnade des Rechts. Nur im Rechte hat es seine Gewähr - Besitz ist ja noch nicht Eigentum, er wird erst »das Meinige« durch Zustimmung des Rechts »; es ist keine Tatsache, nicht un fait, wie Proudhon meint, sondern eine Fiktion, ein Gedanke. Das ist das Rechtseigentum, rechtliches Eigentum, garantiertes Eigentum. Nicht durch Mich ist es mein, sondern durch's - Recht.

Dennoch ist Eigentum der Ausdruck für die unumschränkte Herrschaft über Etwas (Ding, Tier, Mensch), womit »Ich schalten und walten kann nach Gutdünken«. Nach römischem Rechte freilich ius utendi et abutendi re sua, quatenus iuris ratio patitur, ein ausschliessliches und unumschränktes Recht; aber Eigentum wird durch Gewalt bedingt. Was Ich in der Gewalt habe, das ist mein eigen. Solange Ich Mich als Inhaber behaupte, bin Ich der Eigentümer der Sache; entgeht Mir's wieder, gleichviel durch welche Macht, z.B. durch mein Anerkenntnis eines Anrechts Anderer an die Sache, so ist das Eigentum erloschen. So fällt Eigentum und Besitz in Eins zusammen. Nicht ein ausserhalb meiner Gewalt liegendes Recht legitimiert Mich, sondern lediglich meine Gewalt; habe Ich die nicht mehr, so entschwindet mir die Sache. Als die Römer keine Gewalt mehr gegen die Germanen hatten, gehörte diesen das Weltreich Rom, und es klänge lächerlich, wollte man darauf bestehen, die Römer seien dennoch die eigentlichen Eigentümer geblieben. Wer die Sache zu nehmen und zu behaupten weiss, dem gehört sie, bis sie ihm wieder genommen wird, wie die Freiheit Dem gehört, der sie sich nimmt. -
Über das Eigentum entscheidet nur die Gewalt, und da der Staat, gleichviel ob Staat der Bürger oder der Lumpe oder der Menschen schlechthin, der allein Gewaltige ist, so ist er allein Eigentümer; Ich, der Einzige, habe nichts, und werde nur belehnt, bin Lehnsmann und als solcher Dienstmann. Unter der Herrschaft des Staates gibt es kein Eigentum Meiner.
Ich will den Wert Meiner heben, den Wert der Eigenheit, und sollte das Eigentum herabsetzen? Nein, wie Ich seither nicht geachtet wurde, weil man Volk, Menschheit und tausend andere Allgemeinheiten darüber setzte, so ist auch bis auf diesen Tag das Eigentum noch nicht in seinem vollen Werte anerkannt worden. Auch das Eigentum war nur Eigentum eines Gespenstes, z.B. Volkseigentum; meine ganze Existenz »gehörte dem Vaterlande«: Ich gehörte dem Vaterlande, dem Volke, dem Staate an, darum auch alles, was Ich mein eigen nannte. Man fordert von den Staaten, sie sollen den Pauperismus beseitigen. Mir scheint, das heisst verlangen, der Staat solle sich selbst den Kopf abschneiden und vor die Füsse legen; denn solange der Staat das Ich ist, muss das einzelne Ich ein armer Teufel, ein Nicht-Ich sein. Der Staat hat nur ein Interesse daran, selbst reich zu sein; ob Michel reich und Peter arm ist, gilt ihm gleich; es könnte auch Peter reich und Michel arm sein. Er sieht gleichgültig zu, wie der eine verarmt, der Andere reich wird, unbekümmert um dies Wechselspiel. Als Einzelne sind sie vor seinem Angesichte wirklich gleich, darin ist er gerecht: sie sind beide vor ihm - Nichts, wie Wir »vor Gott allzumal Sünder sind«, dagegen hat er ein sehr grosses Interesse daran, dass diejenigen Einzelnen, welche Ihn zu ihrem Ich machen, an seinem Reichtum Teil haben: er macht sie zu Teilnehmern an seinem Eigentum. Durch Eigentum, womit er die Einzelnen belohnt, kirrt er sie; es bleibt aber sein Eigentum, und jeder hat nur so lange den Niessbrauch davon, als er das Ich des Staates in sich trägt, oder ein »loyales Glied der Gesellschaft« ist; im Gegenfalle wird das Eigentum konfisziert oder durch peinliche Prozesse zu Wasser gemacht. Das Eigentum ist und bleibt sonach Staatseigentum, nicht Eigentum des Ichs. Dass der Staat nicht willkürlich dem Einzelnen entzieht, was er vom Staate hat, ist nur dasselbe, wie dies, dass der Staat sich selbst nicht beraubt. Wer ein Staats-Ich, d.h. ein guter Bürger oder Untertan ist, der trägt als solches Ich, nicht als eigenes, das Lehen ungestört. Dies nennt der Kodex dann so: Eigentum ist, was ich »von Gottes und Rechts wegen« mein nenne. Von Gottes und Rechts wegen ist es aber nur mein, solange - der Staat nichts dagegen hat.

In den Expropriationen, Waffenablieferungen und Ähnlichem (wie denn z.B. der Fiskus Erbschaften einzieht, wenn die Erben sich nicht zeitig genug melden) springt ja das sonst verdeckte Prinzip, dass nur das Volk, »der Staat«, Eigentümer sei, der Einzelne hingegen Lehnsträger, deutlich in die Augen. Der Staat, dies wollte Ich sagen, kann nicht beabsichtigen, dass Jemand um sein[er] selbst willen Eigentum habe, oder gar reich, ja nur wohlhabend sei, er kann Mir als Mir nichts zuerkennen, zukommen lassen, nichts gewähren. Der Staat kann dem Pauperismus nicht steuern, weil die Pauvretät des Besitzes eine Pauvretät Meiner ist. Wer nichts ist, als was der Zufall oder ein Anderer, nämlich der Staat, aus ihm macht, der hat ganz mit Recht auch nichts, als was ein Anderer ihm gibt. Und dieser Andere wird ihm nur geben, was jener verdient, d.h. was er durch Dienen wert ist. Nicht Er verwertet sich, sondern der Staat verwertet ihn.
Die Nationalökonomie beschäftigt sich viel mit diesem Gegenstande. Er liegt indes weit über das »Nationale« hinaus und geht über die Begriffe und den Horizont des Staats, der nur Staatseigentum kennt und nur dieses verteilen kann. Deshalb knüpft er den Besitz des Eigentums an Bedingungen, wie er alles daran knüpft, z.B. die Ehe, indem er nur die von ihm sanktionierte Ehe gelten lässt, und sie meiner Gewalt entreisst. Eigentum ist aber nur mein Eigentum, wenn Ich dasselbe unbedingt inne habe: nur Ich, als unbedingtes Ich, habe Eigentum, schliesse ein Liebesverhältnis, treibe freien Handel. Der Staat bekümmert sich nicht um Mich und das Meine, sondern um Sich und das Seine: Ich gelte ihm nur als sein Kind etwas, als »Landeskind«, als Ich bin Ich gar nichts für ihn. Was Mir als Ich begegnet, ist für den Verstand des Staates etwas Zufälliges: mein Reichtum wie meine Verarmung. Bin Ich aber mit allem Meinigen für ihn ein Zufall, so beweist dies, dass er Mich nicht begreifen kann: Ich gehe über seine Begriffe, oder sein Verstand ist zu kurz, um Mich zu begreifen. Darum kann er auch nichts für Mich tun.
Der Pauperismus ist die Wertlosigkeit Meiner, die Erscheinung, dass Ich Mich nicht verwerten kann. Deshalb ist Staat und Pauperismus Ein und dasselbe. Der Staat lässt Mich nicht zu meinem Werte kommen und besteht nur durch meine Wertlosigkeit: er geht allezeit darauf aus, von Mir Nutzen zu ziehen, d.h. Mich zu exploitieren, auszubeuten, zu verbrauchen, bestände dieser Verbrauch auch nur darin, dass Ich für eine proles sorge (Proletariat); er will, Ich soll »seine Kreatur« sein. Nur dann kann der Pauperismus gehoben werden, wenn Ich als Ich Mich verwerte, wenn Ich Mir selber Wert gebe, und meinen Preis selber mache. Ich muss Mich empören, um emporzukommen.

Was Ich schaffe, Mehl, Leinwand oder Eisen und Kohlen, die Ich der Erde mühsam abgewinne, usw., es ist meine Arbeit, die Ich verwerten will. Da kann Ich aber lange klagen, meine Arbeit werde Mir nicht nach ihrem Werte bezahlt; es wird der Bezahlende Mich nicht hören und der Staat gleichfalls so lange apathisch sich verhalten, bis er glaubt, Mich »beschwichtigen« zu müssen, damit Ich nicht mit meiner gefürchteten Gewalt hervorbreche. Bei dieser »Beschwichtigung« aber wird es sein Bewenden haben, und fällt Mir mehr zu verlangen ein, so wendet sich der Staat wider Mich mit aller Kraft seiner Löwentatzen und Adlerklauen: denn er ist der König der Tiere, ist Löwe und Adler. Lasse Ich Mir nicht genügen an dem Preise, den er für meine Ware und Arbeit festsetzt, trachte Ich vielmehr, den Preis meiner Ware selbst zu bestimmen, d.h. »Mich bezahlt zu machen«, so gerate Ich zunächst mit den Abnehmern der Ware in einen Konflikt. Löste sich dieser durch ein Ãœbereinkommen von beiden Seiten, so würde der Staat nicht leicht Einwendungen machen; denn wie die Einzelnen miteinander fertig werden, kümmert ihn wenig, so fern sie ihm dabei nur nicht in den Weg kommen. Sein Schaden und seine Gefahr beginnt erst da, wo sie nicht miteinander auskommen, sondern, weil keine Ausgleichung stattfindet, sich bei den Köpfen fassen. Der Staat kann es nicht dulden, dass der Mensch zum Menschen in einem direkten Verhältnisse stehe; er muss dazwischentreten als - Mittler, muss - intervenieren. Was Christus war, was die Heiligen, die Kirche, das ist der Staat geworden, nämlich »Mittler«. Er reisst den Menschen vom Menschen, um sich als »Geist« in die Mitte zu stellen. Die Arbeiter, welche höheren Lohn verlangen, werden als Verbrecher behandelt, sobald sie ihn erzwingen wollen. Was sollen sie tun? Ohne Zwang bekommen sie ihn nicht, und im Zwange sieht der Staat eine Selbsthilfe, eine vom Ich gesetzte Preisbestimmung, eine wirkliche, freie Verwertung seines Eigentums, die er nicht zulassen kann. Was sollen also die Arbeiter anfangen? Auf sich halten und nach dem Staate nichts fragen? - - Wie es sich aber mit meiner gegenständlichen Arbeit verhält, so auch mit meiner geistigen. Es erlaubt Mir der Staat alle meine Gedanken zu verwerten und an den Mann zu bringen (Ich verwerte sie ja z.B. schon dadurch, dass sie Mir von den Zuhörern Ehre einbringen u. dergl.); allein nur so lange als meine Gedanken - seine Gedanken sind. Hege Ich dagegen Gedanken, welche er nicht approbieren, d.h. zu den seinigen machen kann, so erlaubt er Mir durchaus nicht, sie zu verwerten, sie in den Austausch, den Verkehr zu bringen. Meine Gedanken sind nur frei, wenn sie Mir durch die Gnade des Staats vergönnt sind, d.h. wenn sie Gedanken des Staats sind. Frei philosophieren lässt er Mich nur, sofern Ich Mich als »Staatsphilosoph« bewähre; gegen den Staat darf Ich nicht philosophieren, so gerne er's auch nachsieht, dass Ich ihm von seinen »Mängeln« helfe, ihn »fördere«. - Also wie Ich Mich nur als ein vom Staate gnädigst verstattetes, als ein mit seinem Legitimitätszeugnis und Polizeipasse versehenes Ich betragen darf, so ist es Mir auch nicht vergönnt, das Meinige zu verwerten, es sei denn, dass es sich als das Seinige ausweise, welches Ich von ihm zu Lehen trage. Meine Wege müssen seine Wege sein, sonst pfändet er Mich; meine Gedanken seine Gedanken, sonst stopft er Mir den Mund. Vor nichts hat der Staat sich mehr zu fürchten, als vor dem Werte Meiner, und nichts muss er sorgfältiger zu verhüten suchen, als jede Mir entgegenkommende Gelegenheit, Mich selbst zu verwerten. Ich bin der Todfeind des Staates, der stets in der Alternative schwebt: Er oder Ich. Darum hält er strenge darauf, nicht nur Mich nicht gelten zu lassen, sondern auch das Meinige zu hintertreiben. Im Staate gibt es kein - Eigentum, d.h. kein Eigentum des Einzelnen, sondern nur Staatseigentum. Nur durch den Staat habe Ich, was Ich habe, wie Ich nur durch ihn bin, was Ich bin. Mein Privateigentum ist nur dasjenige, was der Staat Mir von dem Seinigen überlässt, indem er andere Staatsglieder darum verkürzt (priviert): es ist Staatseigentum.

Im Gegensatze aber zum Staate, fühle Ich immer deutlicher, dass Mir noch eine grosse Gewalt übrigbleibt, die Gewalt über Mich selbst, d.h. über alles, was nur Mir eignet und nur ist, indem es mein eigen ist.

Was fange Ich an, wenn meine Wege nicht mehr seine Wege, meine Gedanken nicht mehr seine Gedanken sind? Ich halte auf Mich, und frage nichts nach ihm! An meinen Gedanken, die Ich durch keine Beistimmung, Gewährung oder Gnade sanktionieren lasse, habe Ich mein wirkliches Eigentum, ein Eigentum, mit dem Ich Handel treiben kann. Denn als das Meine sind sie meine Geschöpfe, und Ich bin im Stande, sie wegzugeben gegen andere Gedanken: Ich gebe sie auf und tausche andere für sie ein, die dann mein neues erkauftes Eigentum sind.
Was ist also mein Eigentum? Nichts als was in meiner Gewalt ist! Zu welchem Eigentum bin Ich berechtigt? Zu jedem, zu welchem Ich Mich - ermächtige. Das Eigentums-Recht gebe Ich Mir, indem Ich Mir Eigentum nehme, oder Mir die Macht des Eigentümers, die Vollmacht, die Ermächtigung gebe. Worüber man Mir die Gewalt nicht zu entreissen vermag, das bleibt mein Eigentum; wohlan so entscheide die Gewalt über das Eigentum, und Ich will alles von meiner Gewalt erwarten! Fremde Gewalt, Gewalt, die Ich einem anderen lasse, macht Mich zum Leibeigenen; so möge eigene Gewaltlangt, das ist mein Eigentum, und nehme Ich alles als Eigentum in Anspruch, was zu erreichen Ich Mich stark genug fühle,und lasse Ich mein wirkliches Eigentum so weit reichen, als Ich zu nehmen Mich berechtige, d.h. - ermächtige.

Hier muss der Egoismus, der Eigennutz entscheiden, nicht das Prinzip der Liebe, nicht die Liebesmotive, wie Barmherzigkeit, Mildtätigkeit, Gutmütigkeit oder selbst Gerechtigkeit und Billigkeit (denn auch die iustitia ist ein Phänomen der - Liebe, ein Liebesprodukt): die Liebe kennt nur Opfer und fordert »Aufopferung«.
Der Egoismus denkt nicht daran etwas aufzuopfern, sich etwas zu vergeben; er entscheidet einfach: Was Ich brauche, muss Ich haben und will Ich Mir verschaffen.
Alle Versuche, über das Eigentum vernünftige Gesetze zu geben, liefen vom Busen der Liebe in ein wüstes Meer von Bestimmungen aus. Auch den Sozialismus und Kommunismus kann man hiervon nicht ausnehmen. Es soll jeder mit hinreichenden Mitteln versorgt werden, wobei wenig darauf ankommt, ob man sozialistisch sie noch in einem persönlichen Eigentum findet, oder kommunistisch aus der Gütergemeinschaft schöpft. Der Sinn der Einzelnen bleibt dabei derselbe, er bleibt Abhängigkeitssinn. Die verteilende Billigkeitsbehörde lässt Mir nur zukommen, was ihr der Billigkeitssinn, ihre liebevolle Sorge für alle, vorschreibt. Für Mich, den Einzelnen, liegt ein nicht minderer Anstoss in dem Gesamtvermögen, als in dem der einzelnen anderen; weder jenes ist das meinige, noch dieses: ob das Vermögen der Gesamtheit gehört, die Mir davon einen Teil zufliessen lässt, oder einzelnen Besitzern, ist für Mich derselbe Zwang, da Ich über keins von beiden bestimmen kann. Im Gegenteil, der Kommunismus drückt Mich durch Aufhebung alles persönlichen Eigentums nur noch mehr in die Abhängigkeit von einem anderen, nämlich von der Allgemeinheit oder Gesamtheit, zurück, und so laut er immer auch den »Staat« angreife, was er beabsichtigt, ist selbst wieder ein Staat, ein status, ein meine freie Bewegung hemmender Zustand, eine Oberherrlichkeit über Mich. Gegen den Druck, welchen Ich von den einzelnen Eigentümern erfahre, lehnt sich der Kommunismus mit Recht auf; aber grauenvoller noch ist die Gewalt, die er der Gesamtheit einhändigt.

Der Egoismus schlägt einen andern Weg ein, um den besitzlosen Pöbel auszurotten. Er sagt nicht: Warte ab, was Dir die Billigkeitsbehörde im Namen der Gesamtheit - schenken wird (denn solche Schenkung geschah von jeher in den »Staaten«, indem »nach Verdienst«, also nach dem Masse, als sich's jeder zu verdienen, zu erdienen wusste, jedem gegeben wurde), sondern: Greife zu und nimm, was Du brauchst! Damit ist der Krieg aller gegen alle erklärt. Ich allein bestimme darüber, was Ich haben will. »Nun, das ist wahrlich keine neue Weisheit, denn so haben's die Selbstsüchtigen zu allen Zeiten gehalten!« Ist auch gar nicht nötig, dass die Sache neu sei, wenn nur das Bewusstsein darüber vorhanden ist. Dieses aber wird eben nicht auf hohes Alter Anspruch machen können, wenn man nicht etwa das ägyptische und spartanische Gesetz hierher rechnet; denn wie wenig geläufig es sei, geht schon aus obigem Vorwurf hervor, der mit Verachtung von dem »Selbstsüchtigen« spricht. Wissen soll man's eben, dass jenes Verfahren des Zugreifens nicht verächtlich sei, sondern die reine Tat des mit sich einigen Egoisten bekunde.

Erst wenn Ich weder von Einzelnen, noch von einer Gesamtheit erwarte, was Ich Mir selbst geben kann, erst dann entschlüpfe Ich den Stricken der - Liebe; erst dann hört der Pöbel auf, Pöbel zu sein, wenn er zugreift. Nur die Scheu des Zugreifens und die entsprechende Bestrafung desselben macht ihn zum Pöbel. Nur dass das Zugreifen Sünde, Verbrechen ist, nur diese Satzung schafft einen Pöbel, und dass dieser bleibt, was er ist, daran ist sowohl er schuld, weil er jene Satzung gelten lässt, als besonders diejenigen, welche »selbstsüchtig« (um ihnen ihr beliebtes Wort zurückzugeben) fordern, dass sie respektiert werde. Kurz der Mangel an Bewusstsein über jene »neue Weisheit«, das alte Sündenbewusstsein trägt allein die Schuld.
Gelangen die Menschen dahin, dass sie den Respekt vor dem Eigentum verlieren, so wird jeder Eigentum haben, wie alle Sklaven freie Menschen werden, sobald sie den Herrn als Herrn nicht mehr achten. Vereine werden dann auch in dieser Sache die Mittel des Einzelnen multiplizieren und sein angefochtenes Eigentum sicher stellen.
Nach der Meinung der Kommunisten soll die Gemeinde Eigentümerin sein. Umgekehrt Ich bin Eigentümer, und verständige Mich nur mit anderen über mein Eigentum. Macht Mir's die Gemeinde nicht recht, so empöre Ich Mich gegen sie und verteidige mein Eigentum. Ich bin Eigentümer, aber das Eigentum ist nicht heilig. Ich wäre bloss Besitzer? Nein, bisher war man nur Besitzer, gesichert im Besitz einer Parzelle, dadurch, dass man Andere auch im Besitz einer Parzelle liess; jetzt aber gehört alles Mir, Ich bin Eigentümer von allem, dessen Ich brauche und habhaft werden kann. Heisst es sozialistisch: die Gesellschaft gibt Mir, was Ich brauche, - so sagt der Egoist: Ich nehme Mir, was ich brauche. Gebärden sich die Kommunisten als Lumpe, so benimmt sich der Egoist als Eigentümer.
Alle Pöbelbeglückungs-Versuche und Schwanenverbrüderungen müssen scheitern, die aus dem Prinzipe der Liebe entspringen. Nur aus dem Egoismus kann dem Pöbel Hilfe werden, und diese Hilfe muss er sich selbst leisten und - wird sie sich leisten. Lässt er sich nicht zur Furcht zwingen, so ist er eine Macht. »Die Leute würden allen Respekt verlieren, wenn man sie nicht so zur Furcht zwänge« sagt der Popanz Gesetz im gestiefelten Kater.

Also das Eigentum soll und kann nicht aufgehoben, es muss vielmehr gespenstischen Händen entrissen und mein Eigentum werden; dann wird das irrige Bewusstsein verschwinden, dass Ich nicht zu so viel, als Ich brauche, Mich berechtigen könne. -
»Was kann aber der Mensch nicht alles brauchen!« Je nun, wer viel braucht und es zu bekommen versteht, hat sich's noch zu jeder Zeit geholt, wie Napoleon den Kontinent und die Franzosen Algier. Es kommt daher eben nur darauf an, dass der respektvolle »Pöbel« endlich lerne, sich zu holen, was er braucht. Langt er Euch zu weit, ei, so wehrt Euch. Ihr habt gar nicht nötig, ihm gutwillig etwas zu - schenken, und wenn er sich kennenlernt, oder vielmehr wer aus dem Pöbel sich kennenlernt, der streift die Pöbelhaftigkeit ab, indem er sich für eure Almosen bedankt. Lächerlich aber bleibt's, dass Ihr ihn für »sündig und verbrecherisch« erklärt, wenn er nicht von euren Guttaten leben mag, weil er sich etwas zu Gute tun kann. Eure Schenkungen betrügen ihn, und halten ihn hin. Verteidigt euer Eigentum, so werdet Ihr stark sein; wollt Ihr hingegen eure Schenkungsfähigkeit erhalten und etwa gar um so mehr politische Rechte haben, je mehr Ihr Almosen (Armensteuer) geben könnt, so geht das ebenso lange, als Euch die Beschenkten so gehen lassen. (85)
Genug, die Eigentumsfrage lässt sich nicht so gütlich lösen, als die Sozialisten, ja selbst die Kommunisten träumen. Sie wird nur gelöst durch den Krieg aller gegen alle. Die Armen werden nur frei und Eigentümer, wenn sie sich - empören, emporbringen, erheben. Schenkt ihnen noch so viel, sie werden doch immer mehr haben wollen; denn sie wollen nichts Geringeres, als dass endlich - nichts mehr geschenkt werde.

Man wird fragen: Wie wird's denn aber werden, wenn die Besitzlosen sich ermannen? Welcher Art soll denn die Ausgleichung werden? Ebensogut könnte man verlangen, dass Ich einem Kinde die Nativität stellen solle. Was ein Sklave tun wird, sobald er die Fesseln zerbrochen, das muss man - erwarten. Kaiser hofft in seiner der Form- wie der Gehaltlosigkeit wegen wertlosen Broschüre (»Die Persönlichkeit des Eigentümers in Bezug auf den Sozialismus und Kommunismus usw.«) vom Staate, dass er eine Vermögensausgleichung bewirken werde. (86) Immer der Staat! der Herr Papa! Wie die Kirche für die »Mutter« der Gläubigen ausgegeben und angesehen wurde, so hat der Staat ganz das Gesicht des vorsorglichen Vaters.

Aufs genaueste mit dem Prinzip der Bürgerlichkeit verbunden zeigt sich die Konkurrenz. Ist sie etwas Anderes als die Gleichheit (égalité)? Und ist die Egalität nicht eben ein Erzeugnis derselben Revolution, welche vom Bürgertum oder den Mittelklassen hervorgebracht wurde? Da es keinem verwehrt ist, mit allen im Staate (den Fürsten, weil er den Staat selbst vorstellt, ausgenommen) zu wetteifern und zu ihrer Höhe sich hinaufzuarbeiten, ja sie zu eigenem Vorteil zu stürzen oder auszubeuten, sie zu überflügeln und durch stärkere Anstrengung um ihren Wohlstand zu bringen, so dient dies zum deutlichen Beweise, dass vor dem Richterstuhl des Staats jeder nur den Wert eines »simplen Individuums« hat und auf keine Begünstigung rechnen darf. Ãœberrennt und überbietet Euch, so viel Ihr mögt und könnt, das soll mich, den Staat, nicht kümmern! Untereinander seid Ihr frei im Konkurrieren, seid Konkurrenten; das ist eure gesellschaftliche Stellung. Vor mir, dem Staate, aber seid Ihr nichts als »simple Individuen«! (87)

Was in Prinzipieller oder theoretischer Form als die Gleichheit aller aufgestellt wurde, das hat eben in der Konkurrenz seine Verwirklichung und praktische Ausführung gefunden; denn die égalité ist die - freie Konkurrenz. Alle sind vor dem Staate - simple Individuen, in der Gesellschaft oder im Verhältnis zu einander - Konkurrenten.
Ich brauche nichts weiter als ein simples Individuum zu sein, um mit jedem anderen, ausser dem Fürsten und seiner Familie, konkurrieren zu können, eine Freiheit, welche früher dadurch unmöglich war, dass man nur mittelst seiner Korporation und innerhalb derselben einer Freiheit des Strebens genoss.
In der Zunft und Feudalität verhält sich der Staat intolerant und wählerisch, indem er privilegiert; in der Konkurrenz und dem Liberalismus verhält er sich tolerant und gewähren lassend, indem er nur patentiert (dem Bewerber verbrieft, dass ihm das Gewerbe offen stehe) oder »konzessioniert«. Da nun so der Staat alles den Bewerbern überlassen hat, muss er in Konflikt mit allen kommen, weil ja alle und jeder zur Bewerbung berechtigt sind. Er wird »bestürmt« werden und in diesem Sturme zu Grunde gehen.
Ist die »freie Konkurrenz« denn wirklich »frei«, ja ist sie wirklich eine »Konkurrenz«, nämlich der Personen, wofür sie sich ausgibt, weil sie auf diesen Titel ihr Recht gründet? Sie ging ja daraus hervor, dass die Personen gegen alle persönliche Herrschaft frei wurden. Ist eine Konkurrenz »frei«, welche der Staat, dieser Herrscher im bürgerlichen Prinzip, in tausend Schranken einengt? Da macht ein reicher Fabrikant glänzende Geschäfte, und Ich möchte mit ihm konkurrieren. »Immerhin, sagt der Staat, ich habe gegen deine Person als Konkurrenten nichts einzuwenden.« Ja, erwidere Ich, dazu brauche Ich aber einen Raum zu Gebäuden, brauche Geld! »Das ist schlimm, aber wenn Du kein Geld hast, kannst Du nicht konkurrieren. Nehmen darfst Du keinem etwas, denn ich schütze und privilegiere das Eigentum.« Die freie Konkurrenz ist nicht »frei«, weil Mir die Sache zur Konkurrenz fehlt. Gegen meine Person lässt sich nichts einwenden, aber weil Ich die Sache nicht habe, so muss auch meine Person zurücktreten. Und wer hat die nötige Sache? Etwa jener Fabrikant? Dem könnte Ich sie ja abnehmen! Nein, der Staat hat sie als Eigentum, der Fabrikant nur als Lehen, als Besitztum. Weil es aber mit dem Fabrikanten nicht geht, so will Ich mit jenem Professor der Rechte konkurrieren; der Mann ist ein Gimpel, und Ich, der Ich hundertmal mehr weiss, als er, werde sein Auditorium leer machen. »Hast Du studiert und promoviert, Freund?« Nein, aber was tut das? Ich verstehe, was zu dem Lehrfache nötig ist, reichlich. »Tut mir leid, aber die Konkurrenz ist hier nicht »frei«. Gegen deine Person ist nichts zu sagen, aber die Sache fehlt, das Doktordiplom. Und dies Diplom verlange ich, der Staat. Bitte mich erst schönstens darum, dann wollen wir zusehen, was zu tun ist.«

Dies also ist die »Freiheit« der Konkurrenz. Der Staat, mein Herr, befähigt Mich erst zum Konkurrieren.
Konkurrieren aber wirklich die Personen? Nein, wiederum nur die Sachen! Die Gelder in erster Reihe usw.
In dem Wettstreit wird immer einer hinter dem anderen zurückbleiben (z.B. ein Dichterling hinter einem Dichter). Allein es macht einen Unterschied, ob die fehlenden Mittel des unglücklichen Konkurrierenden persönliche oder sächliche sind, und ebenso, ob die sächlichen Mittel durch persönliche Kraft gewonnen werden können oder nur durch Gnade zu erhalten sind, nur als Geschenk, und zwar, indem z.B. der Ärmere dem Reichen seinen Reichtum lassen, d.h. schenken muss. Muss Ich aber überhaupt auf die Genehmigung des Staates warten, um die Mittel zu erhalten oder zu gebrauchen (z.B. bei der Promotion), so habe Ich die Mittel durch die Gnade des Staates. (88) Freie Konkurrenz hat also nur folgenden Sinn: Alle gelten dem Staate als seine gleichen Kinder, und jeder kann laufen und rennen, um sich die Güter und Gnadenspenden des Staates zu verdienen. Darum jagen auch alle nach der Habe, dem Haben, dem Besitz (sei es von Geld oder Ämtern, Ehrentiteln usw.), nach der Sache. Nach dem Sinne des Bürgertums ist jeder Inhaber oder »Eigentümer«. Woher kommt es nun, dass doch die Meisten soviel wie nichts haben? Es kommt daher, weil die Meisten sich schon darüber freuen, nur überhaupt Inhaber, sei's auch von einigen Lappen, zu sein, wie Kinder sich ihrer ersten Höschen oder gar des ersten geschenkten Pfennigs freuen. Genauer indes ist die Sache folgendermassen zu fassen. Der Liberalismus trat sogleich mit der Erklärung auf, dass es zum Wesen des Menschen gehöre, nicht Eigentum, sondern Eigentümer zu sein. Da es hierbei um »den Menschen, nicht um den Einzelnen zu tun war, so blieb das Wieviel, welches gerade das spezielle Interesse des Einzelnen ausmachte, diesem überlassen. Daher behielt der Egoismus des Einzelnen in diesem Wieviel den freiesten Spielraum, und trieb eine unermüdliche Konkurrenz.
Indes musste der glückliche Egoismus dem minder beglückten zum Anstoss werden, und dieser, immer noch auf dem Prinzipe des Menschentums fussend, stellte die Frage nach dem Wieviel des Innehabens auf und beantwortete sie dahin, dass »der Mensch so viel haben müsse als er brauche«.

Wird sich mein Egoismus damit genügen lassen können? Was »der Mensch« braucht, das gibt keineswegs für Mich und mein Bedürfnis einen Massstab her; denn Ich kann weniger oder mehr gebrauchen. Ich muss vielmehr so viel haben, als ich Mir anzueignen vermögend bin.
Die Konkurrenz leidet an dem Übelstande, dass nicht jedem die Mittel zum Konkurrieren zu Gebote stehen, weil sie nicht aus der Persönlichkeit entnommen sind, sondern aus der Zufälligkeit. Die meisten sind unbemittelt und deshalb unbegütert.
Die Sozialen fordern daher für alle die Mittel und erzielen eine Mittel bietende Gesellschaft. Deinen Geldwert, sagen sie, erkennen Wir nicht ferner als dein Vermöge an, Du musst ein anderes Vermögen aufzeigen, nämlich deine Arbeitskräfte. Im Besitze einer Habe oder als »Inhaber« zeigt sich der Mensch allerdings als Mensch, darum liessen Wir auch den Inhaber, den Wir »Eigentümer« nannten, so lange gelten. Allein Du hast doch die Dinge nur so lange inne, als Du nicht »aus diesem Eigentum hinausgesetzt wirst«.
Der Inhaber ist vermögend, aber nur so weit, als die anderen unvermögend sind. Da deine Ware nur so lange dein Vermögen bildet, als Du sie zu behaupten vermagst, d.h. als Wir nichts über sie vermögen, so sieh' Dich nach einem anderen Vermögen um, denn Wir überbieten jetzt durch unsere Gewalt dein angebliches Vermögen.
Es war ausserordentlich viel gewonnen, als man es durchsetzte, als Inhaber betrachtet zu werden. Die Leibeigenschaft wurde damit aufgehoben und jeder, der bis dahin dem Herrn gefrondet hatte, und mehr oder weniger dessen Eigentum gewesen war, ward nun ein »Herr«. Allein forthin reicht dein Haben und deine Habe nicht mehr aus und wird nicht mehr anerkannt; dagegen steigt dein Arbeiten und deine Arbeit im Werte. Wir achten nun deine Bewältigung der Dinge, wie vorher dein Innehaben derselben. Deine Arbeit ist dein Vermögen! Du bist nur Herr oder Inhaber des Erarbeiteten, nicht des Ererbten.

Da aber derzeit alles ein Ererbtes ist und jeder Groschen, den Du besitzest, nicht ein Arbeits-, sondern ein Erbgepräge trägt, so muss alles umgeschmolzen werden.
Ist denn aber wirklich, wie die Kommunisten meinen, meine Arbeit mein einziges Vermögen, oder besteht dies nicht vielmehr in allem, was Ich vermag? Und muss nicht die Arbeitergesellschaft selbst dies einräumen, indem sie z. B. auch die Kranken, Kinder, Greise, kurz die Arbeitsunfähigen unterhält? Diese vermögen noch immer gar manches z.B. ihr Leben zu erhalten, statt es sich zu nehmen. Vermögen sie es über Euch, dass Ihr ihren Fortbestand begehrt, so haben sie eine Gewalt über Euch. Wer platterdings keine Macht über Euch übte, dem würdet Ihr nichts gewähren; er könnte verkommen. Also was Du vermagst, ist dein Vermögen! Vermagst Du Tausenden Lust zu bereiten, so werden Tausende Dich dafür honorieren, es stände ja in deiner Gewalt, es zu unterlassen, daher müssen sie deine Tat erkaufen. Vermagst Du keinen für Dich einzunehmen, so magst Du eben verhungern.
Soll Ich nun etwa, der Vielvermögende, vor den Unvermögenderen nichts voraus haben? Wir sitzen alle im Vollen; soll Ich nun nicht zulangen, so gut Ich kann, und nur abwarten, wieviel Mir bei einer gleichen Teilung bleibt?
Gegen die Konkurrenz erhebt sich das Prinzip der Lumpengesellschaft, die - Verteilung. Für einen blossen Teil, Teil der Gesellschaft, angesehen zu werden, erträgt der Einzelne nicht, weil er mehr ist; seine Einzigkeit wehrt diese beschränkte Auffassung ab.
Daher erwartet er sein Vermögen nicht von der Zuteilung Anderer, und schon in der Arbeitergesellschaft entsteht das Bedenken, dass bei einer gleichen Verteilung der Starke durch den Schwachen ausgebeutet werde; er erwartet sein Vermögen vielmehr von sich und sagt nun: was Ich zu haben vermag, das ist mein Vermögen. Welch' Vermögen besitzt nicht das Kind in seinem Lächeln, seinem Spielen, seinem Geschrei, kurz in seinem blossen Dasein. Bist Du im Stande, seinem Verlangen zu widerstehen oder reichst Du ihm als Mutter nicht die Brust, als Vater so viel von deiner Habe, als es bedarf? Es zwingt Euch, darum besitzt es das, was Ihr das Eure nennt.
Ist Mir an deiner Person gelegen, so zahlst Du Mir schon mit deiner Existenz; ist's Mir nur um eine deiner Eigenschaften zu tun, so hat etwa deine Willfährigkeit oder dein Beistand einen Wert (Geldwert) für Mich und Ich erkaufe ihn.
Weisst Du Dir keinen andern, als einen Geldwert in meiner Schätzung zu geben, so kann der Fall eintreten, von dem Uns die Geschichte erzählt, dass nämlich deutsche Landeskinder nach Amerika verkauft wurden. Sollten sie, die sich verhandeln liessen, dem Verkäufer mehr wert sein? Ihm war das bare Geld lieber, als diese lebendige Ware, die sich ihm nicht kostbar zu machen verstand. Dass er in ihr nichts Wertvolleres entdeckte, war allerdings ein Mangel seines Vermögens; aber ein Schelm gibt mehr als er hat. Wie sollte er Achtung zeigen, da er sie nicht hatte, ja kaum für solches Pack haben konnte!

Egoistisch verfahrt Ihr, wenn Ihr einander weder als Inhaber noch als Lumpe oder Arbeiter achtet, sondern als einen Teil eures Vermögens, als »brauchbare Subjekte«. Dann werdet Ihr weder dem Inhaber (»Eigentümer«) für seine Habe etwas geben, noch dem, der arbeitet, sondern allein dem, den Ihr braucht. Brauchen Wir einen König? fragen sich die Nordamerikaner, und antworten: Nicht einen Heller ist er und seine Arbeit Uns wert.
Sagt man, die Konkurrenz stelle alles allen offen, so ist der Ausdruck nicht genau, und man fasst es besser so: sie macht alles käuflich. Indem sie es ihnen preisgibt, überlässt sie es ihrem Preise oder ihrer Schätzung und fordert einen Preis dafür.
Allein die Kauflustigen ermangeln meistens der Mittel, sich zu Käufern zu machen: sie haben kein Geld. Für Geld sind also zwar die käuflichen Sachen zu haben (»Für Geld ist alles zu haben!«), aber gerade am Geld fehlt's. Wo Geld, dies gangbare oder kursierende Eigentum, hernehmen? Wisse denn, Du hast so viel Geld als Du - Gewalt hast; denn Du giltst so viel, als Du Dir Geltung verschaffst. Man bezahlt nicht mit Geld, woran Mangel eintreten kann, sondern mit seinem Vermögen, durch welches allein Wir »vermögend« sind; denn man ist nur so weit Eigentümer, als der Arm unserer Macht reicht. Weitling hat ein neues Zahlmittel erdacht, die Arbeit. Das wahre Zahlmittel bleibt aber, wie immer, das Vermögen. Mit dem, was Du »im Vermögen« hast, bezahlst Du. Darum denke auf die Vergrösserung deines Vermögens.

Indem man dies zugibt, ist man jedoch gleich wieder mit dem Wahlspruch bei der Hand: »Einem jeden nach seinem Vermögen!« Wer soll Mir nach meinem Vermögen geben? Die Gesellschaft? Da müsste Ich Mir die Schätzung gefallen lassen. Vielmehr werde Ich Mir nach meinem Vermögen nehmen. »Allen gehört alles!« Dieser Satz stammt aus derselben gehaltlosen Theorie. Jedem gehört nur, was er vermag. Sage Ich: Mir gehört die Welt, so ist das eigentlich auch leeres Gerede, das nur insofern Sinn hat, als Ich kein fremdes Eigentum respektiere. Mir gehört aber nur so viel, als Ich vermag oder im Vermögen habe.
Man ist nicht wert zu haben, was man sich aus Schwachheit nehmen lässt; man ist's nicht wert, weil man's nicht fähig ist.
Gewaltigen Lärm erhebt man über das »tausendjährige Unrecht«, welches von den Reichen gegen die Armen begangen werde. Als hätten die Reichen die Armut verschuldet, und verschuldeten nicht gleicherweise die Armen den Reichtum! Ist zwischen beiden ein anderer Unterschied als der des Vermögens und Unvermögens, der Vermögenden und Unvermögenden? Worin besteht denn das Verbrechen der Reichen? »In ihrer Hartherzigkeit.« Aber wer hat denn die Armen erhalten, wer hat für ihre Ernährung gesorgt, wenn sie nichts mehr arbeiten konnten, wer hat Almosen gespendet, jene Almosen, die sogar ihren Namen von der Barmherzigkeit (Eleemosyne) haben? Sind die Reichen nicht allezeit »barmherzig« gewesen, sind sie nicht bis auf den heutigen Tag »mildtätig«, wie Armentaxen, Spitäler, Stiftungen aller Art usw. beweisen?
Aber das alles genügt Euch nicht! Sie sollen also wohl mit den Armen teilen? Da fordert Ihr, dass sie die Armut aufheben sollen. Abgesehen davon, dass kaum einer unter Euch so handeln möchte, und dass dieser eine eben ein Tor wäre, so fragt Euch doch: warum sollen die Reichen Haar lassen und sich aufgeben, während den Armen dieselbe Handlung viel nützlicher wäre? Du, der Du täglich deinen Taler hast, bist reich vor Tausenden, die von vier Groschen leben. Liegt es in deinem Interesse, mit den Tausenden zu teilen, oder liegt es nicht vielmehr in dem ihrigen? - -

Mit der Konkurrenz ist weniger die Absicht verbunden, die Sache am besten zu machen, als die andere, sie möglichst einträglich, ergiebig zu machen. Man studiert daher auf ein Amt los (Brotstudium), studiert Katzenbuckel und Schmeicheleien, Routine und »Geschäftskenntnis«, man arbeitet »auf den Schein.« Während es daher scheinbar um eine »gute Leistung« zu tun ist, wird in Wahrheit nur auf ein »gutes Geschäft« und Geldverdienst gesehen. Man verrichtet die Sache nur vorgeblich um der Sache willen, in der Tat aber wegen des Gewinnes, den sie abwirft. Man möchte zwar nicht gerne Zensor sein, aber man will - befördert werden; man möchte nach bester Ãœberzeugung richten, administrieren usw., aber man fürchtet Versetzung oder gar Absetzung: man muss ja doch vor allen Dingen - leben. So ist dies Treiben ein Kampf ums liebe Leben, und in stufenweiser Steigerung um mehr oder weniger »Wohlleben«.
Und dabei trägt doch den Meisten all ihr Mühen und Sorgen nichts als das »bittere Leben« und »bittere Armut« ein. Dafür all der bittere Ernst!

Das rastlose Werben lässt Uns nicht zu Atem, zu einem ruhigen Genusse kommen: Wir werden unsers Besitzes nicht froh.
Die Organisation der Arbeit aber betrifft nur solche Arbeiten, welche Andere für Uns machen können, z.B. Schlachten, Ackern usw.; die übrigen bleiben egoistisch, weil z.B. Niemand an deiner Statt deine musikalischen Kompositionen anfertigen, deine Malerentwürfe ausführen usw. kann: Raphaels Arbeiten kann Niemand ersetzen. Die letzteren sind Arbeiten eines Einzigen, die nur dieser Einzige zu vollbringen vermag, während jene »menschliche« genannt zu werden verdienten, da das Eigene daran von geringem Belang ist, und so ziemlich »jeder Mensch« dazu abgerichtet werden kann. Da nun die Gesellschaft nur die gemeinnützigen oder menschlichen Arbeiten berücksichtigen kann, so bleibt, wer Einziges leistet, ohne ihre Fürsorge, ja er kann sich durch ihre Dazwischenkunft gestört finden. Der Einzige wird sich wohl aus der Gesellschaft hervorarbeiten, aber die Gesellschaft bringt keinen Einzigen hervor.
Es ist daher immer fördersam, dass Wir Uns über die menschlichen Arbeiten einigen, damit sie nicht, wie unter der Konkurrenz, alle unsere Zeit und Mühe in Anspruch nehmen. Insoweit wird der Kommunismus seine Früchte tragen. Selbst dasjenige nämlich, wozu alle Menschen befähigt sind oder befähigt werden können, wurde vor der Herrschaft des Bürgertums an Wenige geknüpft und den Ãœbrigen entzogen: es war ein Privilegium. Dem Bürgertum dünkte es gerecht, freizugeben alles, was für jeden »Menschen« dazusein schien. Aber, weil freigegeben, war es doch keinem gegeben, sondern vielmehr jedem überlassen, es durch seine menschlichen Kräfte zu erhaschen. Dadurch ward der Sinn auf den Erwerb des Menschlichen, das fortan jedem winkte, gewendet, und es entstand eine Richtung, welche man unter dem Namen des »Materialismus« so laut beklagen hört.

Ihrem Laufe sucht der Kommunismus Einhalt zu tun, indem er den Glauben verbreitet, dass das Menschliche so vieler Plage nicht wert sei und bei einer gescheiten Einrichtung ohne den grossen Aufwand von Zeit und Kräften, wie es seither erforderlich schien, gewonnen werden könne. Für wen soll aber Zeit gewonnen werden? Wozu braucht der Mensch mehr Zeit, als nötig ist seine abgespannten Arbeitskräfte zu erfrischen? Hier schweigt der Kommunismus.
Wozu? Um seiner als des Einzigen froh zu werden, nachdem er als Mensch das Seinige getan hat! In der ersten Freude darüber, nach allem Menschlichen die Hand ausstrecken zu dürfen, vergass man, noch sonst etwas zu wollen, und konkurrierte frisch drauf los, als wäre der Besitz des Menschlichen das Ziel aller unserer Wünsche.
Man hat sich aber müde gerannt und merkt nachgerade, dass »der Besitz nicht glücklich macht«. Darum denkt man darauf, das Nötige leichteren Kaufes zu erhalten und nur so viel Zeit und Mühe darauf zu verwenden, als seine Unentbehrlichkeit erheischt. Der Reichtum sinkt im Preise und die zufriedene Armut, der sorglose Lump, wird zum verführerischen Ideal. Solche menschliche Tätigkeiten, die sich jeder zutraut, sollten teuer honoriert und mit Mühe und Aufwand aller Lebenskräfte gesucht werden? Schon in der alltäglichen Redensart: »Wenn Ich nur Minister oder gar der . . . wäre, da sollte es ganz anders hergehen« drückt sich jene Zuversicht aus, dass man sich für fähig halte, einen solchen Würdenträger vorzustellen; man spürt wohl, dass zu dergleichen nicht die Einzigkeit, sondern nur eine, wenn auch nicht gerade allen, so doch Vielen erreichbare Bildung gehöre, d.h. dass man zu so etwas nur ein gewöhnlicher Mensch zu sein brauche. Nehmen wir an, dass, wie die Ordnung zum Wesen des Staates gehört, so auch die Unterordnung in seiner Natur gegründet ist, so sehen Wir, dass von den Untergeordneten oder Bevorzugten die Zurückgesetzten unverhältnismässig überteuert und übervorteilt werden. Doch die Letztern ermannen sich, zunächst vom sozialistischen Standpunkte aus, später aber gewiss mit egoistischem Bewusstsein, von dem Wir ihrer Rede darum gleich einige Färbung geben wollen, zu der Frage: wodurch ist denn euer Eigentum sicher, Ihr Bevorzugten? - und geben sich die Antwort: dadurch, dass Wir Uns des Eingriffes enthalten! Mithin durch unsern Schutz! Und was gebt Ihr Uns dafür? Fusstritte und Geringschätzung gebt Ihr dem »gemeinen Volke«; eine polizeiliche Ãœberwachung und einen Katechismus mit dem Hauptsatze: Respektiere, was nicht dein ist, was anderen gehört! respektiere die anderen und besonders die Obern! Wir aber erwidern: Wollt Ihr unsern Respekt, so kauft ihn für den Uns genehmen Preis. Wir wollen euer Eigentum Euch lassen, wenn Ihr dieses Lassen gehörig aufwiegt. Womit wiegt denn der General in Friedenszeiten die vielen Tausende seiner Jahreseinnahme auf, womit ein Anderer gar die jährlichen Hunderttausende und Millionen? Womit wiegt Ihr's auf, dass Wir Kartoffeln kauen und eurem Austernschlürfen ruhig zusehen? Kauft uns die Austern nur so teuer ab, als Wir Euch die Kartoffeln abkaufen müssen, so sollt Ihr sie ferner essen dürfen. Oder meint Ihr, die Austern gehörten Uns nicht so gut als Euch? Ihr werdet über Gewalt schreien, wenn Wir zulangen und sie mit verzehren, und Ihr habt Recht. Ohne Gewalt bekommen Wir sie nicht, wie Ihr nicht minder sie dadurch habt, dass Ihr Uns Gewalt antut.

Doch nehmt einmal die Austern und lasst Uns an unser näheres Eigentum (denn jenes ist nur Besitztum), an die Arbeit kommen. Wir plagen Uns zwölf Stunden im Schweisse unseres Angesichts, und Ihr bietet Uns dafür ein paar Groschen. So nehmt denn auch für eure Arbeit ein Gleiches. Mögt Ihr das nicht? Ihr wähnt, unsere Arbeit sei reichlich mit jenem Lohne bezahlt, die eure dagegen eines Lohnes von vielen Tausenden wert. Schlüget Ihr aber die eurige nicht so hoch an, und liesset Uns die unsere besser verwerten, so würden Wir erforderlichen Falls wohl noch wichtigere Dinge zu Stande bringen, als Ihr für die vielen tausend Taler, und bekämet Ihr nur einen Lohn wie Wir, Ihr würdet bald fleissiger werden, um mehr zu erhalten. Leistet Ihr aber etwas, was Uns zehn und hundert Mal mehr wert scheint, als unsere eigene Arbeit, ei, da sollt Ihr auch hundert Mal mehr dafür bekommen; Wir denken Euch dagegen auch Dinge herzustellen, die Ihr Uns höher als mit dem gewöhnlichen Tagelohn verwerten werdet. Wir wollen schon miteinander fertig werden, wenn Wir nur erst dahin übereingekommen sind, dass keiner mehr dem anderen etwas zu - schenken braucht. Dann gehen Wir wohl gar so weit, dass Wir selbst den Krüppeln und Kranken und Alten einen angemessenen Preis dafür bezahlen, dass sie nicht aus Hunger und Not von Uns scheiden; denn wollen Wir, dass sie leben, so geziemt sich's auch, dass Wir die Erfüllung unseres Willens - erkaufen. Ich sage »erkaufen«, meine also kein elendes »Almosen«. Ihr Leben ist ja das Eigentum auch derer, welche nicht arbeiten können; wollen Wir (gleichviel aus welchem Grunde), dass sie Uns dies Leben nicht entziehen, so können Wir das allein durch Kauf bewirken wollen; ja Wir werden vielleicht, etwa weil Wir gern freundliche Gesichter um Uns haben, sogar ihr Wohlleben wollen. Kurz, Wir wollen von Euch nichts geschenkt, aber Wir wollen Euch auch nichts schenken. Jahrhunderte haben Wir Euch Almosen gereicht aus gutwilliger - Dummheit, haben das Scherflein der Armen gespendet und den Herren gegeben, was der Herren - nicht ist; nun tut einmal euren Säckel auf, denn von jetzt an steigt unsere Ware ganz enorm im Preise. Wir wollen Euch nichts, gar nichts nehmen, nur bezahlen sollt Ihr besser für das, was Ihr haben wollt. Was hast Du denn? »Ich habe ein Gut von tausend Morgen.« Und Ich bin dein Ackerknecht und werde Dir deinen Acker fortan nur für 1 Taler Tagelohn bestellen. »Da nehme Ich einen andern.« Du findest keinen, denn Wir Ackersknechte tun's nicht mehr anders, und wenn einer sich meldet, der weniger nimmt, so hüte er sich vor Uns. Da ist die Hausmagd, die fordert jetzt auch so viel, und Du findest keine mehr unter diesem Preise. »Ei so muss ich zu Grunde gehen.« Nicht so hastig! So viel wie Wir wirst Du wohl einnehmen, und wäre es nicht so, so lassen Wir so viel ab, dass Du wie Wir zu leben hast. »Ich bin aber besser zu leben gewohnt.« Dagegen haben Wir nichts, aber es ist nicht unsere Sorge; kannst Du mehr erübrigen, immerhin. Sollen Wir Uns unterm Preise vermieten, damit Du wohlleben kannst? Der Reiche speist immer den Armen mit den Worten ab: »Was geht Mich deine Not an? Sieh, wie Du Dich durch die Welt schlägst; das ist nicht meine, sondern deine Sache.« Nun, so lassen Wir's denn unsere Sache sein, und lassen Uns von den Reichen nicht die Mittel bemausen, die Wir haben, um Uns zu verwerten. »Aber Ihr ungebildeten Leute braucht doch nicht so viel.« Nun, Wir nehmen etwas mehr, damit Wir dafür die Bildung, die Wir etwa brauchen, Uns verschaffen können. »Aber, wenn Ihr so die Reichen herunterbringt, wer soll dann noch die Künste und Wissenschaften unterstützen?« I nun, die Menge muss es bringen; Wir schiessen zusammen, das gibt ein artiges Sümmchen, Ihr Reichen kauft ohnehin jetzt nur die abgeschmacktesten Bücher und die weinerlichen Muttergottesbilder oder ein Paar flinke Tänzerbeine. »O die unselige Gleichheit!« Nein, mein bester alter Herr, nichts von Gleichheit. Wir wollen nur gelten, was Wir wert sind, und wenn Ihr mehr wert seid, da sollt Ihr immerhin auch mehr gelten. Wir wollen nur Preiswürdigkeit und denken des Preises, den Ihr zahlen werdet, Uns würdig zu zeigen.

Kann einen so sicheren Mut und so kräftiges Selbstgefühl des Hausknechts wohl der Staat erwecken? Kann er machen, dass der Mensch sich selbst fühlt, ja darf er auch nur solch Ziel sich stecken? Kann er wollen, dass der Einzelne seinen Wert erkenne und verwerte? Halten Wir die Doppelfrage auseinander und sehen Wir zuerst, ob der Staat so etwas herbeiführen kann. Da die Einmütigkeit der Ackerknechte erfordert wird, so kann nur diese Einmütigkeit es bewirken, und ein Staatsgesetz würde tausendfach umgangen werden durch die Konkurrenz und insgeheim. Kann er es aber dulden? Unmöglich kann er dulden, dass die Leute von anderen, als von ihm, einen Zwang erleiden; er könnte also die Selbsthilfe der einmütigen Ackerknechte gegen diejenigen, welche sich um geringeren Lohn verdingen wollen, nicht zugeben. Setzen Wir indes, der Staat gäbe das Gesetz, und alle Ackerknechte wären damit einverstanden, könnte er's dann dulden?
Im vereinzelten Falle - ja; allein der vereinzelte Fall ist mehr als das, er ist ein prinzipieller. Es handelt sich dabei um den ganzen Inbegriff der Selbstverwertung des Ichs, also auch seines Selbstgefühls gegen den Staat. So weit gehen die Kommunisten mit; aber die Selbstverwertung richtet sich notwendig, wie gegen den Staat, so auch gegen die Gesellschaft, und greift damit über das Kommune und Kommunistische hinaus - aus Egoismus.

Der Kommunismus macht den Grundsatz des Bürgertums, dass jeder ein Inhaber (»Eigentümer«) sei, zu einer unumstösslichen Wahrheit, zu einer Wirklichkeit, indem nun die Sorge um's Erlangen aufhört und jeder von Haus aus hat, was er braucht. In seiner Arbeitskraft hat er sein Vermögen, und wenn er davon keinen Gebrauch macht, so ist das seine Schuld. Das Haschen und Hetzen hat ein Ende, und keine Konkurrenz bleibt, wie jetzt so oft, ohne Erfolg, weil mit jeder Arbeitsregung ein zureichender Bedarf in's Haus gebracht wird. Jetzt erst ist man wirklicher Inhaber, weil einem, was man in seiner Arbeitskraft hat, nicht mehr so entgehen kann, wie es unter der Konkurrenzwirtschaft jeden Augenblick zu entwischen drohte. Man ist sorgloser und gesicherter Inhaber. Und man ist dies gerade dadurch, dass man sein Vermögen nicht mehr in einer Ware, sondern in der eigenen Arbeit, dem Arbeitsvermögen, sucht, also dadurch, dass man ein Lump, ein Mensch von nur idealem Reichtum ist. Ich indes kann Mir an dem Wenigen nicht genügen lassen, was Ich durch mein Arbeitsvermögen erschwinge, weil mein Vermögen nicht bloss in meiner Arbeit besteht.
Durch Arbeit kann Ich die Amtsfunktionen eines Präsidenten, Ministers usw. versehen; es erfordern diese Ämter nur eine allgemeine Bildung, nämlich eine solche, die allgemein erreichbar ist (denn allgemeine Bildung ist nicht bloss die, welche jeder erreicht hat, sondern überhaupt die, welche jeder erreichen kann, also jede spezielle, z.B. medizinische, militärische, philologische Bildung, von der kein »gebildeter Mensch« glaubt, dass sie seine Kräfte übersteige), oder überhaupt nur eine allen mögliche Geschicklichkeit.
Kann aber auch jeder diese Ämter bekleiden, so gibt doch erst die einzige, ihm allein eigene Kraft des Einzelnen ihnen sozusagen Leben und Bedeutung. Dass er sein Amt nicht wie ein »gewöhnlicher Mensch« führt, sondern das Vermögen seiner Einzigkeit hineinlegt, das bezahlt man ihm noch nicht, wenn man ihn überhaupt nur als Beamten oder Minister bezahlt. Hat er's Euch zu Dank gemacht und wollt Ihr diese dankenswerte Kraft des Einzigen Euch erhalten, so werdet Ihr ihn nicht wie einen blossen Menschen bezahlen dürfen, der nur Menschliches verrichtete, sondern als einen, der Einziges vollbringt. Tut mit eurer Arbeit doch desgleichen!

Über meine Einzigkeit lässt sich keine allgemeine Taxe feststellen, wie für das, was Ich als Mensch tue. Nur über das Letztere kann eine Taxe bestimmt werden.
Setzt also immerhin eine allgemeine Schätzung für menschliche Arbeiten auf, bringt aber eure Einzigkeit nicht um ihren Verdienst.
Menschliche oder allgemeine Bedürfnisse können durch die Gesellschaft befriedigt werden; für einzige Bedürfnisse musst Du Befriedigung erst suchen. Einen Freund und einen Freundschaftsdienst, selbst einen Dienst des Einzelnen kann Dir die Gesellschaft nicht verschaffen. Und doch wirst Du alle Augenblicke eines solchen Dienstes bedürftig sein und bei den geringfügigsten Gelegenheiten Jemand brauchen, der Dir behilflich ist. Darum verlass Dich nicht auf die Gesellschaft, sondern sieh' zu, dass Du habest, um die Erfüllung deiner Wünsche zu - erkaufen.
Ob das Geld unter Egoisten beizubehalten sei? - Am alten Gepräge klebt ein ererbter Besitz. Lasst Ihr Euch nicht mehr damit bezahlen, so ist es ruiniert, tut Ihr nichts für dieses Geld, so kommt es um alle Macht. Streicht das Erbe und Ihr habt das Gerichtssiegel des Exekutors abgebrochen. Jetzt ist ja alles ein Erbe, sei es schon geerbt oder erwarte es seinen Erben. Ist es das Eure, was lasst Ihr's Euch versiegeln, warum achtet Ihr das Siegel?
Warum aber sollt Ihr kein neues Geld kreieren? Vernichtet Ihr denn die Ware, indem Ihr das Erbgepräge von ihr nehmt? Nun, das Geld ist eine Ware, und zwar ein wesentliches Mittel oder Vermögen. Denn es schützt vor der Verknöcherung des Vermögens, hält es im Fluss und bewirkt seinen Umsatz. Wisst Ihr ein besseres Tauschmittel, immerhin; doch wird es wieder ein »Geld« sein. Nicht das Geld tut Euch Schaden, sondern euer Unvermögen, es zu nehmen. Lasst euer Vermögen wirken, nehmt Euch zusammen, und es wird an Geld - an eurem Gelde, dem Gelde eures Gepräges - nicht fehlen. Arbeiten aber, das nenne Ich nicht »euer Vermögen wirken lassen«. Die nur »Arbeit suchen« und »tüchtig arbeiten wollen«, bereiten sich selbst die unausbleibliche - Arbeitslosigkeit.

Vom Gelde hängt Glück und Unglück ab. Es ist darum in der Bürgerperiode eine Macht, weil es nur wie ein Mädchen umworben, von Niemand unauflöslich geehelicht wird. Alle Romantik und Ritterlichkeit des Werbens um einen teuren Gegenstand lebt in der Konkurrenz wieder auf. Das Geld, ein Gegenstand der Sehnsucht, wird von den kühnen »Industrierittern« entführt.
Wer das Glück hat, führt die Braut heim. Der Lump hat das Glück; er führt sie in sein Hauswesen, die »Gesellschaft«, ein und vernichtet die Jungfrau. In seinem Hause ist sie nicht mehr Braut, sondern Frau, und mit der Jungfräulichkeit geht auch der Geschlechtsname verloren. Als Hausfrau heisst die Geldjungfer »Arbeit«, denn »Arbeit« ist der Name des Mannes. Sie ist ein Besitz des Mannes.
Um dies Bild zu Ende zu bringen, so ist das Kind von Arbeit und Geld wieder ein Mädchen, ein unverehelichtes, also Geld, aber mit der gewissen Abstammung von der Arbeit, seinem Vater. Die Gesichtsform, das »Bild«, trägt ein anderes Gepräge.
Was schliesslich noch einmal die Konkurrenz betrifft, so hat sie gerade dadurch Bestand, dass nicht alle sich ihrer Sache annehmen und sich über sie miteinander verständigen. Brot ist z.B. das Bedürfnis aller Einwohner einer Stadt; deshalb könnten sie leicht übereinkommen, eine öffentliche Bäckerei einzurichten. Statt dessen überlassen sie die Lieferung des Bedarfs den konkurrierenden Bäckern. Ebenso Fleisch den Fleischern, Wein den Weinhändlern usw.
Die Konkurrenz aufheben heisst nicht soviel als die Zunft begünstigen. Der Unterschied ist dieser: In der Zunft ist das Backen usw. Sache der Zünftigen; in der Konkurrenz Sache der beliebig Wetteifernden; im Verein Derer, welche Gebackenes brauchen, also meine, deine Sache, weder Sache des zünftigen noch des konzessionierten Bäckers, sondern Sache der Vereinten.
Wenn Ich Mich nicht um meine Sache bekümmere, so muss Ich mit dem vorlieb nehmen, was anderen Mir zu gewähren beliebt. Brot zu haben, ist meine Sache, mein Wunsch und Begehren, und doch überlässt man das den Bäckern, und hofft höchstens durch ihren Hader, ihr Rangablaufen, ihren Wetteifer, kurz ihre Konkurrenz einen Vorteil zu erlangen, auf welchen man bei den Zünftigen, die gänzlich und allein im Eigentum der Backgerechtigkeit sassen, nicht rechnen konnte. - Was jeder braucht, an dessen Herbeischaffung und Hervorbringung sollte sich auch jeder beteiligen; es ist seine Sache, sein Eigentum, nicht Eigentum des zünftigen oder konzessionierten Meisters.

Blicken Wir nochmals zurück. Den Kindern dieser Welt, den Menschenkindern, gehört die Welt; sie ist nicht mehr Gottes, sondern des Menschen Welt. So viel jeder Mensch von ihr sich verschaffen kann, nenne er das Seinige; nur wird der wahre Mensch, der Staat, die menschliche Gesellschaft oder die Menschheit darauf sehen, dass jeder nichts anderes zum Seinigen mache, als was er als Mensch, d.h. auf menschliche Weise sich aneignet. Die unmenschliche Aneignung ist die vom Menschen nicht bewilligte, d.h. sie ist eine »verbrecherische«, wie umgekehrt die menschliche eine »rechtliche«, eine auf dem »Rechtswege« erworbene ist.

So spricht man seit der Revolution.

Mein Eigentum aber ist kein Ding, da dieses eine von Mir unabhängige Existenz hat; mein eigen ist nur meine Gewalt. Nicht dieser Baum, sondern meine Gewalt oder Verfügung über ihn ist die meinige. Wie drückt man diese Gewalt nun verkehrterweise aus? Man sagt, Ich habe ein Recht auf diesen Baum, oder er sei mein rechtliches Eigentum. Erworben also habe Ich ihn durch Gewalt. Dass die Gewalt fortdauern müsse, damit er auch behauptet werde, oder besser: dass die Gewalt nicht ein für sich Existierendes sei, sondern lediglich im gewaltigen Ich, in Mir, dem Gewaltigen, Existenz habe, das wird vergessen. Die Gewalt wird, wie andere meiner Eigenschaften, z.B. die Menschlichkeit, Majestät usw., zu einem Fürsichseienden erhoben, so dass sie noch existiert, wenn sie längst nicht mehr meine Gewalt ist. Derart in ein Gespenst verwandelt, ist die Gewalt das - Recht. Diese verewigte Gewalt erlischt selbst mit meinem Tode nicht, sondern wird übertragen oder »vererbt«.
Die Dinge gehören nun wirklich nicht Mir, sondern dem Rechte.
Andererseits ist dies weiter nichts, als eine Verblendung. Denn die Gewalt des Einzelnen wird allein dadurch permanent und ein Recht, dass Andere ihre Gewalt mit der seinigen verbinden. Der Wahn besteht darin, dass sie ihre Gewalt nicht wieder zurückziehen zu können glauben. Wiederum dieselbe Erscheinung, dass die Gewalt von Mir getrennt wird. Ich kann die Gewalt, welche Ich dem Besitzer gab, nicht wieder nehmen. Man hat »bevollmächtigt«, hat die Macht weggegeben, hat dem entsagt, sich eines Besseren zu besinnen.

Der Eigentümer kann seine Gewalt und sein Recht an eine Sache aufgeben, indem er sie verschenkt, verschleudert u. dergl. Und Wir könnten die Gewalt, welche Wir jenem liehen, nicht gleichfalls fahren lassen?

Der rechtliche Mensch, der Gerechte, begehrt nichts sein eigen zu nennen, was er nicht »mit Recht« oder wozu er nicht das Recht hat, also nur rechtmässiges Eigentum.
Wer soll nun Richter sein und ihm sein Recht zusprechen? Zuletzt doch der Mensch, der ihm die Menschenrechte erteilt: dann kann er in einem unendlich weiteren Sinne als Terenz sagen: humani nihil a me alienum puto, d.h. das Menschliche ist mein Eigentum. Er mag es anstellen, wie er will, von einem Richter kommt er auf diesem Standpunkte nicht los, und in unserer Zeit sind die mancherlei Richter, welche man sich erwählt hatte, in zwei todfeindliche Personen gegeneinander getreten, nämlich in den Gott und den Menschen. Die einen berufen sich auf das göttliche, die anderen auf das menschliche Recht oder die Menschenrechte.
Soviel ist klar, dass in beiden Fällen sich der Einzelne nicht selbst berechtigt.
Sucht Mir heute einmal eine Handlung, die nicht eine Rechtsverletzung wäre! Alle Augenblicke werden von der einen Seite die Menschenrechte mit Füssen getreten, während die Gegner den Mund nicht auftun können, ohne eine Blasphemie gegen das göttliche Recht hervorzubringen. Gebt ein Almosen, so verhöhnt Ihr ein Menschenrecht, weil das Verhältnis von Bettler und Wohltäter ein unmenschliches ist; sprecht einen Zweifel aus, so sündigt Ihr wider ein göttliches Recht. Esset trockenes Brot mit Zufriedenheit, so verletzt Ihr das Menschenrecht durch euren Gleichmut; esset es mit Unzufriedenheit, so schmäht Ihr das göttliche Recht durch euren Widerwillen. Es ist nicht einer unter Euch, der nicht in jedem Augenblicke ein Verbrechen beginge: eure Reden sind Verbrechen, und jede Hemmung eurer Redefreiheit ist nicht minder ein Verbrechen. Ihr seid allzumal Verbrecher!
Doch Ihr seid es nur, indem Ihr alle auf dem Rechtsboden steht, d.h. indem Ihr es nicht einmal wisst und zu schätzen versteht, dass Ihr Verbrecher seid.
Das unverletzliche oder heilige Eigentum ist auf eben diesem Boden gewachsen: es ist ein Rechtsbegriff.
Ein Hund sieht den Knochen in eines andern Gewalt und steht nur ab, wenn er sich zu schwach fühlt. Der Mensch aber respektiert das Recht des anderen an seinem Knochen. Dies also gilt für menschlich, jenes für brutal oder »egoistisch«.

Und wie hier, so heisst überhaupt dies »menschlich«, wenn man in allem etwas Geistiges sieht (hier das Recht), d.h. alles zu einem Gespenste macht, und sich dazu als zu einem Gespenste verhält, welches man zwar in seiner Erscheinung verscheuchen, aber nicht töten kann. Menschlich ist es, das Einzelne nicht als Einzelnes, sondern als ein Allgemeines anzuschauen.
An der Natur als solcher, respektiere Ich nichts mehr, sondern weiss Mich gegen sie zu allem berechtigt; dagegen an dem Baume in jenem Garten muss Ich die Fremdheit respektieren (einseitiger Weise sagt man: »das Eigentum«), muss meine Hand von ihm lassen. Das nimmt ein Ende nur dann, wenn Ich jenen Baum zwar einem anderen überlassen kann, wie Ich meinen Stock usw. einem anderen überlasse, aber nicht von vornherein ihn als Mir fremd, d.h. heilig, betrachte. Vielmehr mache Ich Mir kein Verbrechen daraus, ihn zu fällen, wenn Ich will, und er bleibt mein Eigentum, auf so lange Ich ihn auch anderen abtrete: er ist und bleibt mein. In dem Vermögen des Bankiers sehe Ich so wenig etwas Fremdes, als Napoleon in den Ländern der Könige: Wir tragen keine Scheu, es zu »erobern«, und sehen Uns auch nach den Mitteln dazu um. Wir streifen ihm also den Geist der Fremdheit ab, vor dem Wir Uns gefürchtet hatten.

Darum ist es notwendig, dass Ich nichts mehr als Mensch in Anspruch nehme, sondern alles als Ich, dieser Ich, mithin nichts Menschliches, sondern das Meinige, d.h. nichts, was Mir als Mensch zukommt, sondern - was Ich will und weil Ich's will.
Rechtliches oder rechtmässiges Eigentum eines anderen wird nur dasjenige sein, wovon Dir's recht ist, dass es sein Eigentum sei. Hört es auf, Dir recht zu sein, so hat es für Dich die Rechtmässigkeit eingebüsst und das absolute Recht daran wirst Du verlachen.
Ausser dem bisher besprochenen Eigentum im beschränkten Sinne wird unserem ehrfürchtigen Gemüte ein anderes Eigentum vorgehalten, an welchem Wir Uns noch weit weniger »versündigen sollen«. Dies Eigentum besteht in den geistigen Gütern, in dem »Heiligtume des Innern«. Was ein Mensch heilig hält, damit soll kein anderer sein Gespötte treiben, weil, so unwahr es immer sein und so eifrig man den daran Hängenden und Glaubenden »auf liebevolle und bescheidene Art« von einem wahren Heiligen zu überzeugen suchen mag, doch das Heilige selbst allezeit daran zu ehren ist: der Irrende glaubt doch an das Heilige, wenn auch an ein unrichtiges, und so muss sein Glaube an das Heilige wenigstens geachtet werden.

In roheren Zeiten, als die unseren sind, pflegte man einen bestimmten Glauben und die Hingebung an ein bestimmtes Heiliges zu verlangen und ging mit den Andersgläubigen nicht auf's sanfteste um; seit jedoch die »Glaubensfreiheit« sich mehr und mehr ausbreitete, zerfloss der »eifrige Gott und alleinige Herr« allgemach in ein ziemlich allgemeines »höchstes Wesen«, und es genügte der humanen Toleranz, wenn nur jeder »ein Heiliges« verehrte.
Auf den menschlichsten Ausdruck gebracht, ist dies Heilige »der Mensch selbst« und »das Menschliche«. Bei dem trügerischen Scheine, als wäre das Menschliche ganz und gar unser Eigenes und frei von aller Jenseitigkeit, womit das Göttliche behaftet ist, ja als wäre der Mensch so viel als Ich oder Du, kann sogar der stolze Wahn entstehen, dass von einem »Heiligen« nicht länger die Rede sei, und dass Wir Uns nun überall heimisch und nicht mehr im Unheimlichen, d.h. im Heiligen und in heiligen Schauern fühlten: im Entzücken über den »endlich gefundenen Menschen« wird der egoistische Schmerzensruf überhört und der so traulich gewordene Spuk für unser wahres Ich genommen. Aber »Humanus heisst der Heilige« (s. Goethe), und das Humane ist nur das geläutertste Heilige. Umgekehrt spricht sich der Egoist aus. Darum gerade, weil Du etwas heilig hältst, treibe Ich mit Dir mein Gespötte und, achtete Ich auch alles an Dir, gerade dein Heiligtum achte Ich nicht. Bei diesen entgegengesetzten Ansichten muss auch ein widersprechendes Verhalten zu den geistigen Gütern angenommen werden: der Egoist insultiert sie, der Religiöse (d.h. jeder, der über sich sein »Wesen« setzt) muss sie konsequenterweise - schützen. Welcherlei geistige Güter aber geschützt und welche ungeschützt gelassen werden sollen, das hängt ganz von dem Begriffe ab, den man sich vom »höchsten Wesen« macht, und der Gottesfürchtige z.B. hat mehr zu schirmen, als der Menschenfürchtige (der Liberale).

An den geistigen Gütern werden Wir im Unterschiede von den sinnlichen auf eine geistige Weise verletzt, und die Sünde gegen dieselbe besteht in einer direkten Entheiligung, während gegen die sinnliche eine Entwendung oder Entfremdung stattfindet: die Güter selbst werden entwertet und entweiht, nicht bloss entzogen, das Heilige wird unmittelbar gefährdet. Mit dem Worte »Unehrerbietigkeit« oder »Frechheit« ist alles bezeichnet, was gegen die geistigen Güter, d.h. gegen alles, was Uns heilig ist, verbrochen werden kann, und Spott, Schmähung, Verachtung, Bezweiflung u. dergl. sind nur verschiedene Schattierungen der verbrecherischen Frechheit. Dass die Entheiligung in der mannigfachsten Art verübt werden kann, soll hier übergangen und vorzugsweise nur an jene Entheiligung erinnert werden, welche durch eine unbeschränkte Presse das Heilige mit Gefahr bedroht.
Solange auch nur für Ein geistiges Wesen noch Respekt gefordert wird, muss die Rede und Presse im Namen dieses Wesens geknechtet werden; denn ebenso lange könnte der Egoist durch seine Äusserungen sich gegen dasselbe »vergehen«, woran er eben wenigstens durch die »gebührende Strafe« verhindert werden muss, wenn man nicht lieber das richtigere Mittel dagegen ergreifen will, die vorbeugende Polizeigewalt, z.B. der Zensur. Welch ein Seufzen nach Freiheit der Presse! Wovon soll die Presse denn befreit werden? Doch wohl von einer Abhängigkeit, Angehörigkeit und Dienstbarkeit! Davon aber sich zu befreien, ist eben die Sache eines jeden, und es ist mit Sicherheit anzunehmen, dass wenn Du Dich aus der Dienstbarkeit erlöst hast, auch das, was Du verfassest und schreibst, Dir eigen gehören werde, statt im Dienste irgend einer Macht gedacht und aufgesetzt worden zu sein. Was kann ein Christgläubiger sagen und drucken lassen, das freier wäre von jener Christgläubigkeit, als er selbst es ist? Wenn Ich etwas nicht schreiben kann und darf, so liegt die nächste Schuld vielleicht an Mir. So wenig dies die Sache zu treffen scheint, so nahe findet sich dennoch die Anwendung. Durch ein Pressgesetz ziehe oder lasse Ich meinen Veröffentlichungen eine Grenze ziehen, über welche hinaus das Unrecht und dessen Strafe folgt. Ich selbst beschränke Mich.

Sollte die Presse frei sein, so wäre gerade nichts so wichtig, als ihre Befreiung von jedem Zwange, der ihr im Namen eines Gesetzes angetan werden könnte. Und dass es dazu komme, müsste eben Ich selbst vom Gehorsam gegen das Gesetz Mich entbunden haben.
Freilich, die absolute Freiheit der Presse ist wie jede absolute Freiheit ein Unding. Von gar Vielem kann sie frei werden, aber immer nur von dem, wovon auch Ich frei bin. Machen Wir Uns vom Heiligen frei, sind Wir heillos und gesetzlos geworden, so werden's auch unsere Worte werden.

So wenig Wir in der Welt von jedem Zwange losgesprochen werden können, so wenig lässt sich unsere Schrift demselben entziehen. Aber so frei als Wir sind, so frei können Wir auch jene machen. Sie muss also Unser eigen werden, statt, wie bisher, einem Spuk zu dienen.
Man bleibt sich unklar bei dem Rufe nach Pressfreiheit. Was man angeblich verlangt, ist dies, dass der Staat die Presse freigeben solle; was man aber eigentlich, und ohne es selbst zu wissen, haben will, ist dies, dass die Presse vom Staate frei oder den Staat los werde. Jenes ist eine Petition an den Staat, dieses eine Empörung gegen den Staat. Als eine »Bitte um Recht«, selbst als ein ernstes Fordern des Pressfreiheitsrechtes setzt sie den Staat als den Geber voraus und kann nur auf ein Geschenk, eine Zulassung, ein Oktroyieren hoffen. Wohl möglich, dass ein Staat so unsinnig handelt, das geforderte Geschenk zu gewähren; es ist aber alles zu wetten, dass die Beschenkten das Geschenk nicht zu gebrauchen wissen werden, solange sie den Staat als eine Wahrheit betrachten: sie werden sich an diesem »Heiligen« nicht vergehen und gegen jeden, der dies wagen wollte, ein strafendes Pressgesetz aufrufen.
Mit einem Worte, die Presse wird von dem nicht frei, wovon Ich nicht frei bin.
Weise Ich Mich hierdurch etwa als einen Gegner der Pressfreiheit aus? Im Gegenteil, Ich behaupte nur, dass man sie nie bekommen wird, wenn man nur sie, die Pressfreiheit, will, d.h. wenn man nur auf eine unbeschränkte Erlaubnis ausgeht. Bettelt nur immerfort um diese Erlaubnis: Ihr werdet ewig darauf warten können, denn es ist keiner in der Welt, der sie Euch geben könnte. Solange Ihr für den Gebrauch der Presse Euch durch eine Erlaubnis, d.h. Pressfreiheit, »berechtigen« lassen wollt, lebt Ihr in eitler Hoffnung und Klage.

»Unsinn! Du, der Du solche Gedanken, wie sie in deinem Buche stehen, hegst, kannst sie ja selbst leider nur durch einen glücklichen Zufall oder auf Schleichwegen zur Öffentlichkeit bringen; gleichwohl willst Du dagegen eifern, dass man den eigenen Staat so lange dränge und überlaufe, bis er die verweigerte Druckerlaubnis gibt?« Ein also angeredeter Schriftsteller würde aber vielleicht - denn die Frechheit solcher Leute geht weit - Folgendes erwidern: »Erwägt eure Rede genau! Was tue Ich denn, um Mir für mein Buch Pressfreiheit zu verschaffen? Frage Ich nach der Erlaubnis, oder suche Ich nicht vielmehr ohne alle Frage nach Gesetzlichkeit eine günstige Gelegenheit, und ergreife sie in völliger Rücksichtslosigkeit gegen den Staat und seine Wünsche? Ich - es muss das schreckenerregende Wort ausgesprochen werden - Ich betrüge den Staat. Unbewusst tut Ihr dasselbe. Ihr redet ihm von euren Tribünen aus ein, er müsse seine Heiligkeit und Unverletzlichkeit aufgeben, er müsse den Angriffen der Schreibenden sich preisgeben, ohne dass er deshalb Gefahr zu fürchten brauche. Aber Ihr hintergeht ihn; denn es ist um seine Existenz getan, sobald er seine Unnahbarkeit einbüsst. Euch freilich könnte er die Schreibefreiheit wohl gestatten, so wie England es getan hat; Ihr seid Staatsgläubige und unvermögend, gegen den Staat zu schreiben, so viel Ihr immer auch an ihm zu reformieren und seinen »Mängeln abzuhelfen« haben mögt. Aber wie, wenn Staatsgegner das freie Wort sich zu Nutze machten, und gegen Kirche, Staat, Sitte und alles »Heilige« mit unerbittlichen Gründen losstürmten? Ihr wäret dann die Ersten, welche unter schrecklichen Ängsten die Septembergesetze ins Leben riefen. Zu spät gereute Euch dann die Dummheit, welche Euch früher so bereit machte, den Staat oder die Staatsregierung zu beschwatzen und zu betören. - Ich aber beweise durch meine Tat nur zweierlei. Einmal dies, dass die Pressfreiheit immer an »günstige Gelegenheiten« gebunden, mithin niemals eine absolute Freiheit sein werde; zweitens aber dies, dass, wer sie geniessen will, die günstige Gelegenheit aufsuchen und womöglich erschaffen muss, indem er gegen den Staat seinen eigenen Vorteil geltend macht, und sich und seinen Willen für mehr hält als den Staat und jede »höhere Macht«. Nicht im, sondern allein gegen den Staat kann die Pressfreiheit durchgesetzt werden; sie ist, soll sie hergestellt werden, nicht als Folge einer Bitte, sondern als das Werk einer Empörung zu erlangen. Jede Bitte und jeder Antrag auf Pressfreiheit ist schon eine, sei es bewusste oder unbewusste, Empörung, was nur die philisterhafte Halbheit sich nicht gestehen will und kann, bis sie zusammenschauernd es am Erfolge deutlich und unwiderleglich sehen wird. Denn die erbetene Pressfreiheit hat freilich im Anfange ein freundliches und wohlmeinendes Gesicht, da sie nicht im entferntesten gesonnen ist, jemals die »Pressfrechheit« aufkommen zu lassen; nach und nach wird aber ihr Herz verhärteter, und die Folgerung schmeichelt sich bei ihr ein, dass ja doch eine Freiheit keine Freiheit sei, wenn sie im Dienste des Staates, der Sitte oder des Gesetzes steht. Zwar eine Freiheit vom Zensurzwange, ist sie doch keine Freiheit vom Gesetzeszwange. Es will die Presse, einmal vom Freiheitsgelüste ergriffen, immer freier werden, bis der Schreibende sich endlich sagt: Ich bin doch dann erst gänzlich frei, wenn Ich nach Nichts frage; das Schreiben aber ist nur frei, wenn es mein eigenes ist, das Mir durch keine Macht oder Autorität, durch keinen Glauben, keine Scheu diktiert wird; die Presse muss nicht frei sein - das ist zu wenig », sie muss mein sein: - Presseigenheit oder Presseigentum, das ist's, was Ich Mir nehmen will.« »Pressfreiheit ist ja nur Presserlaubnis, und der Staat wird und kann Mir freiwillig nie erlauben, dass Ich ihn durch die Presse zermalme.«

»Fassen Wir es nun schliesslich, indem Wir die obige, durch das Wort »Pressfreiheit« noch schwankende Rede verbessern, lieber so: Pressfreiheit, die laute Forderung der Liberalen, ist allerdings möglich im Staate, ja sie ist nur im Staate möglich, weil sie eine Erlaubnis ist, der Erlaubende folglich, der Staat, nicht fehlen darf. Als Erlaubnis hat sie aber ihre Grenze an eben diesem Staate, der doch billigerweise nicht mehr wird erlauben sollen, als sich mit ihm und seiner Wohlfahrt verträgt: er schreibt ihr diese Grenze als das Gesetz ihres Daseins und ihrer Ausdehnung vor. Dass ein Staat mehr als ein anderer verträgt, ist nur ein quantitativer Unterschied, der jedoch allein den politischen Liberalen am Herzen liegt: sie wollen in Deutschland z.B. nur eine »ausgedehntere, weitere Gestattung des freien Wortes«. Die Pressfreiheit, welche man nachsucht, ist eine Sache des Volkes, und ehe das Volk (der Staat) sie nicht besitzt, eher darf Ich davon keinen Gebrauch machen. Vom Gesichtspunkte des Presseigentums aus verhält sich's anders. Mag mein Volk der Pressfreiheit entbehren, Ich suche Mir eine List oder Gewalt aus, um zu drucken - die Druckerlaubnis hole Ich Mir nur von - Mir und meiner Kraft.«

»Ist die Presse mein eigen, so bedarf Ich für ihre Anwendung sowenig einer Erlaubnis des Staates, als Ich diese nachsuche, um meine Nase zu schneuzen. Mein Eigentum ist die Presse von dem Augenblicke an, wo Mir nichts mehr über Mich geht: denn von diesem Moment an hört Staat, Kirche, Volk, Gesellschaft u. dergl. auf, weil sie nur der Missachtung, welche Ich vor Mir habe, ihre Existenz verdanken, und mit dem Verschwinden dieser Geringschätzung selbst erlöschen: sie sind nur, wenn sie über Mir sind, sind nur als Mächte und Mächtige. Oder könnt Ihr Euch einen Staat denken, dessen Einwohner allesamt sich nichts aus ihm machen? der wäre so gewiss ein Traum, eine Scheinexistenz, als das »einige Deutschland«.

»Die Presse ist mein eigen, sobald Ich selbst mein eigen, ein Eigener bin: dem Egoisten gehört die Welt, weil er keiner Macht der Welt gehört.«
»Dabei könnte meine Presse immer noch sehr unfrei sein, wie z.B. in diesem Augenblick. Die Welt ist aber gross, und man hilft sich eben, so gut es geht. Wollte Ich vom Eigentum meiner Presse ablassen, so könnte Ich's leicht erreichen, dass Ich überall so viel drucken lassen dürfte, als meine Finger produzierten. Da Ich aber mein Eigentum behaupten will, so muss Ich notwendig meine Feinde übers Ohr hauen.

»»Würdest Du ihre Erlaubnis nicht annehmen, wenn sie Dir gegeben würde?«« Gewiss, mit Freuden; denn ihre Erlaubnis wäre Mir ein Beweis, dass Ich sie betört und auf den Weg des Verderbens gebracht habe. Um ihre Erlaubnis ist Mir's nicht zu tun, desto mehr aber um ihre Torheit und ihre Niederlage. Ich werbe nicht um ihre Erlaubnis, als schmeichelte Ich Mir, gleich den politischen Liberalen, dass Wir beide, sie und Ich, neben- und miteinander friedlich auskommen, ja wohl gar einer den andern heben und unterstützen können, sondern Ich werbe darum, um sie an derselben verbluten zu lassen, damit endlich die Erlaubenden selbst aufhören. Ich handle als bewusster Feind, indem Ich sie übervorteile und ihre Unbedachtsamkeit benutze.«
»Mein ist die Presse, wenn Ich über ihre Benutzung durchaus keinen Richter ausser Mir anerkenne, d.h. wenn Ich nicht mehr durch die Sittlichkeit oder die Religion oder den Respekt vor den Staatsgesetzen u. dergl. bestimmt werde zu schreiben, sondern durch Mich und meinen Egoismus!« -
Was habt Ihr nun ihm, der Euch eine so freche Antwort gibt, zu erwidern? - Wir bringen die Frage am sprechendsten vielleicht in folgende Stellung: Wessen ist die Presse, des Volkes (Staates) oder mein? Die Politischen ihrerseits beabsichtigen nichts weiter, als die Presse von persönlichen und willkürlichen Eingriffen der Machthaber zu befreien, ohne daran zu denken, dass sie, um wirklich für jedermann offen zu sein, auch von den Gesetzen, d.h. vom Volkswillen (Staatswillen) frei sein müsste. Sie wollen aus ihr eine »Volkssache« machen.
Zum Eigentum des Volkes geworden ist sie aber noch weit davon entfernt, das meinige zu sein, vielmehr behält sie für Mich die untergeordnete Bedeutung einer Erlaubnis. Das Volk spielt den Richter über meine Gedanken, für die Ich ihm Rechenschaft schuldig oder verantwortlich bin. Die Geschworenen haben, wenn ihre fixen Ideen angegriffen werden, ebenso harte Köpfe und Herzen, als die stiersten Despoten und deren knechtische Beamten.

In den »Liberalen Bestrebungen« (89) behauptet E. Bauer, dass die Pressfreiheit im absolutistischen und im konstitutionellen Staate unmöglich sei, im »freien Staate« hingegen ihre Stelle finde. »Hier,« heisst es, »ist es anerkannt, dass der Einzelne, weil er nicht mehr einzelner, sondern Mitglied einer wahrhaften und vernünftigen Allgemeinheit ist, das Recht hat, sich auszusprechen.« Also nicht der Einzelne, sondern das »Mitglied« hat Pressfreiheit. Muss aber der Einzelne sich zum Behuf der Pressfreiheit erst über seinen Glauben an das Allgemeine, das Volk, ausweisen, hat er diese Freiheit nicht durch eigene Gewalt, so ist sie eine Volksfreiheit, eine Freiheit, die ihm um seines Glaubens, seiner »Mitgliedschaft« willen verliehen wird. Umgekehrt, gerade als Einzelnem steht jedem die Freiheit offen, sich auszusprechen. Aber er hat nicht das »Recht«, jene Freiheit ist allerdings nicht sein »heiliges Recht«. Er hat nur die Gewalt; aber die Gewalt allein macht ihn zum Eigner. Ich brauche keine Konzession zur Pressfreiheit, brauche nicht die Bewilligung des Volkes dazu, brauche nicht das »Recht« dazu und keine »Berechtigung«. Auch die Pressfreiheit, wie jede Freiheit, muss Ich Mir »nehmen«, das Volk »als eben der einzige Richter« kann sie Mir nicht geben. Es kann sich die Freiheit, welche Ich Mir nehme, gefallen lassen oder sich dagegen wehren: geben, schenken, gewähren kann es sie nicht. Ich übe sie trotz dem Volke, rein als Einzelner, d.h. Ich kämpfe sie dem Volke, meinem - Feinde, ab, und erhalte sie nur, wenn Ich sie ihm wirklich abkämpfe, d. i. Mir nehme. Ich nehme sie aber, weil sie mein Eigentum ist.
Sander, gegen welchen E. Bauer spricht, nimmt (Seite 99) die Pressfreiheit »als das Recht und die Freiheit des Bürgers im Staate« in Anspruch. Was tut E. Bauer anders? Auch ihm ist sie nur ein Recht des freien Bürgers.
Auch unter dem Namen eines »allgemein menschlichen Rechtes« wird die Pressfreiheit gefordert. Dagegen war der Einwand gegründet: Nicht jeder Mensch wisse sie richtig zu gebrauchen; denn nicht jeder Einzelne sei wahrhaft Mensch. Dem Menschen als solchen verweigerte sie niemals eine Regierung: aber der Mensch schreibt eben nichts, weil er ein Gespenst ist. Sie verweigerte sie stets nur Einzelnen, und gab sie anderen, z.B. ihren Organen. Wollte man also sie für alle haben, so musste man gerade behaupten, sie gebühre dem Einzelnen, Mir, nicht dem Menschen oder nicht dem Einzelnen, sofern er Mensch sei. Ein Anderer als ein Mensch (z.B. ein Tier) kann ohnehin von ihr keinen Gebrauch machen. Die französische Regierung z.B. bestreitet die Pressfreiheit nicht als Menschenrecht, sie fordert aber vom Einzelnen eine Kaution dafür, dass er wirklich Mensch sei; denn nicht dem Einzelnen, sondern dem Menschen erteilt sie die Pressfreiheit.

Gerade unter dem Vorgeben, dass es nicht menschlich sei, entzog man Mir das Meinige: das Menschliche liess man Mir ungeschmälert.
Die Pressfreiheit kann nur eine verantwortliche Presse zuwege bringen, die unverantwortliche geht allein aus dem Presseigentum hervor.

Für den Verkehr mit Menschen wird unter allen, welche religiös leben, ein ausdrückliches Gesetz obenangestellt, dessen Befolgung man wohl sündhafter Weise zuweilen zu vergessen, dessen absoluten Wert aber zu leugnen man sich niemals getraut; dies ist das Gesetz der - Liebe, dem auch Diejenigen noch nicht untreu geworden sind, die gegen ihr Prinzip zu kämpfen scheinen und ihren Namen hassen; denn auch sie haben der Liebe noch, ja sie lieben inniger und geläuterter, sie lieben »den Menschen und die Menschheit.« Formulieren Wir den Sinn dieses Gesetzes, so wird er etwa folgender sein: jeder Mensch muss ein Etwas haben, das ihm über sich geht. Du sollst dein »Privatinteresse« hintansetzen, wenn es die Wohlfahrt Anderer, das Wohl des Vaterlandes, der Gesellschaft, das Gemeinwohl, das Wohl der Menschheit, die gute Sache u. dgl. gilt! Vaterland, Gesellschaft, Menschheit usw. muss Dir über Dich gehen, und gegen ihr Interesse muss dein »Privatinteresse« zurückstehen; denn Du darfst kein - Egoist sein.
Die Liebe ist eine weitgehende religiöse Forderung, die nicht etwa auf die Liebe zu Gott und den Menschen sich beschränkt, sondern in jeder Beziehung obenansteht. Was Wir auch tun, denken, wollen, immer soll der Grund davon die Liebe sein. So dürfen Wir zwar urteilen, aber nur »mit Liebe«. Die Bibel darf allerdings kritisiert werden und zwar sehr gründlich, aber der Kritiker muss vor allen Dingen sie lieben und das heilige Buch in ihr sehen. Heisst dies etwas anderes als: er darf sie nicht zu Tode kritisieren, er muss sie bestehen lassen, und zwar als ein Heiliges, Unumstössliches? - Auch in unserer Kritik über Menschen soll die Liebe unveränderter Grundton bleiben. Gewiss sind Urteile, welche der Hass eingibt, gar nicht unsere eigenen Urteile, sondern Urteile des Uns beherrschenden Hasses, »gehässige Urteile«. Aber sind Urteile, welche Uns die Liebe eingibt, mehr unsere eigenen? Sie sind Urteile der Uns beherrschenden Liebe, sind »liebevolle, nachsichtige« Urteile, sind nicht unsere eigenen, mithin gar nicht wirkliche Urteile. Wer vor Liebe zur Gerechtigkeit brennt, der ruft aus: fiat iustitia, pereat mundus. Er kann wohl fragen und forschen, was denn die Gerechtigkeit eigentlich sei oder fordere und worin sie bestehe, aber nicht, ob sie etwas sei.
Es ist sehr wahr »Wer in der Liebe bleibet, der bleibet in Gott und Gott in ihm«. (1. Joh. 4, 16.) Der Gott bleibt in ihm, er wird ihn nicht los, wird nicht gottlos, und er bleibet in Gott, kommt nicht zu sich und in seine eigene Heimat, bleibt in der Liebe zu Gott und wird nicht lieblos. »Gott ist die Liebe! Alle Zeit und alle Geschlechter erkennen in diesem Worte den Mittelpunkt des Christentums.« Gott, der die Liebe ist, ist ein zudringlicher Gott: er kann die Welt nicht in Ruhe lassen, sondern will sie beseligen. »Gott ist Mensch geworden, um die Menschen göttlich zu machen.« (90) Er hat seine Hand überall im Spiele, und nichts geschieht ohne sie; überall hat er seine »besten Absichten«, seine »unbegreiflichen Pläne und Ratschlüsse«. Die Vernunft, welche er selbst ist, soll auch in der ganzen Welt befördert und verwirklicht werden. Seine väterliche Fürsorge bringt Uns um alle Selbständigkeit. Wir können nichts Gescheites tun, ohne dass es hiesse: das hat Gott getan! und können Uns kein Unglück zuziehen, ohne zu hören: das habe Gott verhängt; Wir haben nichts, was Wir nicht von ihm hätten: er hat alles »gegeben«. Wie aber Gott, so macht's der Mensch. Jener will partout die Welt beseligen, und der Mensch will sie beglücken, will alle Menschen glücklich machen. Daher will jeder »Mensch« die Vernunft, welche er selbst zu haben meint, in allen erwecken: Alles soll durchaus vernünftig sein. Gott plagt sich mit dem Teufel und der Philosoph mit der Unvernunft und dem Zufälligen. Gott lässt kein Wesen seinen eigenen Gang gehen, und der Mensch will Uns gleichfalls nur einen menschlichen Wandel führen lassen.

Wer aber voll heiliger (religiöser, sittlicher, humaner) Liebe ist, der liebt nur den Spuk, den »wahren Menschen«, und verfolgt mit dumpfer Unbarmherzigkeit den Einzelnen, den wirklichen Menschen, unter dem phlegmatischen Rechtstitel des Verfahrens gegen den »Unmenschen«. Er findet es lobenswert und unerlässlich, die Erbarmungslosigkeit im herbsten Masse zu üben; denn die Liebe zum Spuk oder Allgemeinen gebietet ihm, den nicht Gespenstischen, d.h. den Egoisten oder Einzelnen, zu hassen; das ist der Sinn der berühmten Liebeserscheinung, die man »Gerechtigkeit« nennt.
Der peinlich Angeklagte hat keine Schonung zu erwarten, und Niemand deckt freundlich eine Hülle über seine unglückliche Blösse. Ohne Rührung reisst der strenge Richter die letzten Fetzen der Entschuldigung dem armen Angeschuldigten vom Leibe, ohne Mitleid schleppt der Kerkermeister ihn in seine dumpfe Wohnung, ohne Versöhnlichkeit stösst er den Gebrandmarkten nach abgelaufener Strafzeit wieder unter die verächtlich anspeienden Menschen, seine guten, christlichen, loyalen Mitbrüder! Ja, ohne Gnade wird ein »todeswürdiger« Verbrecher auf das Blutgerüst geführt, und vor den Augen einer jubelnden Menge feiert das gesühnte Sittengesetz seine erhabene - Rache. Eines kann ja nur leben, das Sittengesetz, oder der Verbrecher. Wo die Verbrecher ungestraft leben, da ist das Sittengesetz untergegangen, und wo dieses waltet, müssen jene fallen. Ihre Feindschaft ist unzerstörbar. Es ist gerade das christliche Zeitalter das der Barmherzigkeit, der Liebe, der Sorge, den Menschen zukommen zu lassen, was ihnen gebührt, ja sie dahin zu bringen, dass sie ihren menschlichen (göttlichen) Beruf erfüllen. Man hat also für den Verkehr obenan gestellt: dies und dies ist das Wesen des Menschen und folglich sein Beruf, wozu ihn entweder Gott berufen hat oder (nach heutigen Begriffen) sein Menschsein (die Gattung) ihn beruft. Daher der Bekehrungseifer. Dass die Kommunisten und Humanen mehr als die Christen vom Menschen erwarten, bringt sie keineswegs von demselben Standpunkte weg. Dem Menschen soll das Menschliche werden! War es den Frommen genug, dass ihm das Göttliche zu Teil wurde, so verlangen die Humanen, dass ihm das Menschliche nicht verkümmert werde. Gegen das Egoistische stemmen sich beide. Natürlich, denn das Egoistische kann ihm nicht bewilligt oder verliehen werden (Lehen), sondern er muss es selbst sich verschaffen. Jenes erteilt die Liebe, dieses kann Mir allein von Mir gegeben werden.

Der bisherige Verkehr beruhte auf der Liebe, dem rücksichtsvollen Benehmen, dem Füreinandertun. Wie man sich's schuldig war, sich selig zu machen oder die Seligkeit, das höchste Wesen in sich aufzunehmen und zu einer vérité (einer Wahrheit und Wirklichkeit) zu bringen, so war man's anderen schuldig, ihr Wesen und ihren Beruf ihnen realisieren zu helfen: man war's eben in beiden Fällen dem Wesen des Menschen schuldig, zu seiner Verwirklichung beizutragen.

Allein man ist weder sich schuldig, etwas aus sich, noch anderen, etwas aus ihnen zu machen: denn man ist seinem und Anderer Wesen nichts schuldig. Der auf das Wesen gestützte Verkehr ist ein Verkehr mit dem Spuk, nicht mit Wirklichem. Verkehre Ich mit dem höchsten Wesen, so verkehre Ich nicht mit Mir, und verkehre Ich mit dem Wesen des Menschen, so verkehre Ich nicht mit den Menschen.
Die Liebe des natürlichen Menschen wird durch die Bildung ein Gebot. Als Gebot aber gehört sie dem Menschen als solchem, nicht Mir; sie ist mein Wesen, von dem man viel Wesens macht, nicht mein Eigentum. Der Mensch, d.h. die Menschlichkeit, stellt jene Forderung an Mich; die Liebe wird gefordert, ist meine Pflicht. Statt also wirklich Mir errungen zu sein, ist sie dem Allgemeinen errungen, dem Menschen, als dessen Eigentum oder Eigenheit: »dem Menschen, d.h. jedem Menschen ziemt es zu lieben: Lieben ist die Pflicht und der Beruf des Menschen usw.«
Folglich muss Ich die Liebe Mir wieder vindizieren und sie aus der Macht des Menschen erlösen. Was ursprünglich mein war, aber zufällig, instinktmässig, das wurde Mir als Eigentum des Menschen verliehen; Ich wurde Lehnsträger, indem Ich liebte, wurde der Lehnsmann der Menschheit, nur ein Exemplar dieser Gattung, und handelte liebend nicht als Ich, sondern als Mensch, als Menschenexemplar, d.h. menschlich. Der ganze Zustand der Kultur ist das Lehnswesen, indem das Eigentum das des Menschen oder der Menschheit ist, nicht das meinige. Ein ungeheurer Lehnsstaat wurde gegründet, dem Einzelnen alles geraubt, »dem Menschen« alles überlassen. Der Einzelne musste endlich als »Sünder durch und durch« erscheinen.
Soll Ich etwa an der Person des anderen keine lebendige Teilnahme haben, soll seine Freude und sein Wohl Mir nicht am Herzen liegen, soll der Genuss, den Ich ihm bereite, Mir nicht über andere eigene Genüsse gehen? Im Gegenteil, unzählige Genüsse kann Ich ihm mit Freuden opfern, Unzähliges kann Ich Mir zur Erhöhung seiner Lust versagen, und was Mir ohne ihn das Teuerste wäre, das kann Ich für ihn in die Schanze schlagen, mein Leben, meine Wohlfahrt, meine Freiheit. Es macht ja meine Lust und mein Glück aus, Mich an seinem Glücke und seiner Lust zu laben. Aber Mich, Mich selbst opfere Ich ihm nicht, sondern bleibe Egoist und - geniesse ihn. Wenn ich ihm alles opfere, was Ich ohne die Liebe zu ihm behalten würde, so ist das sehr einfach und sogar gewöhnlicher im Leben, als es zu sein scheint; aber es beweist nichts weiter, als dass diese eine Leidenschaft in Mir mächtiger ist, als alle übrigen. Dieser Leidenschaft alle andern zu opfern, lehrt auch das Christentum. Opfere Ich aber einer Leidenschaft andere, so opfere Ich darum noch nicht Mich, und opfere nichts von dem, wodurch Ich wahrhaft Ich selber bin, nicht meinen eigentlichen Wert, meine Eigenheit. Wo dieser schlimme Fall eintritt, da sieht's um nichts besser mit der Liebe aus, als mit irgend welcher andern Leidenschaft, der Ich blindlings gehorche. Der Ehrgeizige, der vom Ehrgeiz fortgerissen wird und gegen jede Warnung, welche ein ruhiger Augenblick in ihm erzeugt, taub bleibt, der hat diese Leidenschaft zu einer Zwingherrin anwachsen lassen, wider die er jede Macht der Auflösung verloren gibt: er hat sich selbst aufgegeben, weil er sich nicht auflösen, mithin nicht aus ihr erlösen kann: er ist besessen. Ich liebe die Menschen auch, nicht bloss einzelne, sondern jeden. Aber Ich liebe sie mit dem Bewusstsein des Egoismus; Ich liebe sie, weil die Liebe Mich glücklich macht, Ich liebe, weil Mir das Lieben natürlich ist, weil Mir's gefällt. Ich kenne kein »Gebot der Liebe«. Ich habe Mitgefühl mit jedem fühlenden Wesen, und ihre Qual quält, ihre Erquickung erquickt auch Mich: töten kann Ich sie, martern nicht. Dagegen sinnt der hochherzige, tugendhafte Philisterfürst Rudolf in den Mysterien von Paris, weil ihn die Bösen »entrüsten«, auf ihre Marter. (91) Jenes Mitgefühl beweist nur, dass das Gefühl der Fühlenden auch das meinige, mein Eigentum, ist, wogegen das erbarmungslose Verfahren des »Rechtlichen« (z.B. gegen den Notar Ferrand) der Gefühllosigkeit jenes Räubers gleicht, welcher nach dem Masse seiner Bettstelle den Gefangenen die Beine abschnitt oder ausreckte: Rudolfs Bettstelle, wonach er die Menschen zuschneidet, ist der Begriff des »Guten«. Das Gefühl für Recht, Tugend usw. macht hartherzig und intolerant. Rudolf fühlt nicht wie der Notar, sondern umgekehrt, er fühlt, dass »dem Bösewicht Recht geschieht«; das ist kein Mitgefühl.

Ihr liebt den Menschen, darum peinigt Ihr den einzelnen Menschen, den Egoisten; eure Menschenliebe ist Menschenquälerei.

Sehe Ich den Geliebten leiden, so leide Ich mit, und es lässt Mir keine Ruhe, bis Ich alles versucht habe, um ihn zu trösten und aufzuheitern; sehe Ich ihn froh, so werde auch Ich über seine Freude froh. Daraus folgt nicht, dass Mir dieselbe Sache Leiden oder Freude verursacht, welche in ihm diese Wirkung hervorruft, wie schon jeder körperliche Schmerz beweist, den Ich nicht wie er fühle: ihn schmerzt sein Zahn, Mich aber schmerzt sein Schmerz.
Weil Ich aber die kummervolle Falte auf der geliebten Stirn nicht ertragen kann, darum, also um Meinetwillen, küsse Ich sie weg. Liebte Ich diesen Menschen nicht, so möchte er immerhin Falten ziehen, sie kümmerten Mich nicht; Ich verscheuche nur meinen Kummer.
Wie nun, hat irgendwer oder irgendwas, den und das Ich nicht liebe, ein Recht darauf, von Mir geliebt zu werden? Ist meine Liebe das Erste oder ist sein Recht das Erste? Eltern, Verwandte, Vaterland, Volk, Vaterstadt usw., endlich überhaupt die Mitmenschen (»Brüder, Brüderlichkeit«) behaupten ein Recht auf meine Liebe zu haben und nehmen sie ohne Weiteres in Anspruch. Sie sehen sie als ihr Eigentum an und Mich, wenn Ich dasselbe nicht respektiere, als Räuber, der ihnen entzieht, was ihnen zukommt und das Ihre ist. Ich soll lieben. Ist die Liebe ein Gebot und Gesetz, so muss Ich dazu erzogen, herangebildet und, wenn Ich dagegen Mich vergehe, gestraft werden. Man wird daher einen möglichst starken »moralischen Einfluss« auf Mich ausüben, um Mich zum Lieben zu bringen. Und es ist kein Zweifel, dass man die Menschen zur Liebe aufkitzeln und verführen kann wie zu andern Leidenschaften, z.B. gleich zum Hasse. Der Hass zieht sich durch ganze Geschlechter, bloss weil die Ahnen des einen zu den Guelfen, die des andern zu den Ghibellinen gehörten.

Aber die Liebe ist kein Gebot, sondern, wie jedes meiner Gefühle, mein Eigentum. Erwerbt, d.h. erkauft mein Eigentum, dann lasse Ich's Euch ab. Eine Kirche, ein Volk, ein Vaterland, eine Familie usw., die sich meine Liebe nicht zu erwerben wissen, brauche Ich nicht zu lieben, und Ich stelle den Kaufpreis meiner Liebe ganz nach meinem Gefallen.

Die eigennützige Liebe steht weit von der uneigennützigen, mystischen oder romantischen ab. Lieben kann man alles Mögliche, nicht bloss Menschen, sondern überhaupt einen »Gegenstand« (den Wein, sein Vaterland usw.). Blind und toll wird die Liebe dadurch, dass ein Müssen sie meiner Gewalt entzieht (Vernarrtheit), romantisch dadurch, dass ein Sollen in sie eintritt, d.h. dass der »Gegenstand« Mir heilig wird, oder Ich durch Pflicht, Gewissen, Eid an ihn gebunden werde. Nun ist der Gegenstand nicht mehr für Mich, sondern Ich bin für ihn da.
Nicht als meine Empfindung ist die Liebe eine Besessenheit - als jene behalte Ich sie vielmehr im Besitz als Eigentum », sondern durch die Fremdheit des Gegenstandes. Die religiöse Liebe besteht nämlich in dem Gebote, in dem Geliebten einen »Heiligen« zu lieben oder an einem Heiligen zu hangen; für die uneigennützige Liebe gibt es absolut liebenswürdige Gegenstände, für welche mein Herz schlagen soll, z.B. die Mitmenschen, oder den Ehegatten, die Verwandten usw. Die heilige Liebe liebt das Heilige am Geliebten, und bemüht sich darum auch, aus dem Geliebten immer mehr einen Heiligen (z.B. einen »Menschen«) zu machen.

Der Geliebte ist ein Gegenstand, der von Mir geliebt werden soll. Er ist nicht Gegenstand meiner Liebe darum, weil oder dadurch, dass Ich ihn liebe, sondern ist Gegenstand der Liebe an und für sich. Nicht Ich mache ihn zu einem Gegenstande der Liebe, sondern er ist von Haus aus ein solcher, denn dass er es etwa durch meine Wahl geworden ist, wie Braut, Ehegatte u. dergl., tut hier nichts zur Sache, da er auch so immer als einmal Erwählter ein eigenes »Recht auf meine Liebe« erhalten hat, und Ich, weil Ich ihn geliebt habe, auf ewig ihn zu lieben verpflichtet bin. Er ist also nicht ein Gegenstand meiner Liebe, sondern der Liebe überhaupt: ein Gegenstand, der geliebt werden soll. Die Liebe kommt ihm zu, gebührt ihm, oder ist sein Recht, Ich aber bin verpflichtet, ihn zu lieben. Meine Liebe, d.h. die Liebe, welche Ich ihm zolle, ist in Wahrheit seine Liebe, die er nur als Zoll von Mir eintreibt.
Jede Liebe, an welcher auch nur der kleinste Flecken von Verpflichtung haftet, ist eine uneigennützige und so weit dieser Flecken reicht, ist sie Besessenheit. Wer dem Gegenstande seiner Liebe etwas schuldig zu sein glaubt, der liebt romantisch oder religiös.
Familienliebe z.B., wie sie gewöhnlich als »Pietät« aufgefasst wird, ist eine religiöse Liebe; Vaterlandsliebe, als »Patriotismus« gepredigt, gleichfalls. All unsere romantische Liebe bewegt sich in demselben Zuschnitt: überall die Heuchelei oder vielmehr Selbsttäuschung einer »uneigennützigen Liebe«, ein Interesse am Gegenstande um des Gegenstandes willen, nicht um Meinet- und zwar allein um Meinetwillen.
Die religiöse oder romantische Liebe unterscheidet sich von der sinnlichen Liebe zwar durch die Verschiedenheit des Gegenstandes, aber nicht durch die Abhängigkeit des Verhaltens zu ihm. In letzterer Beziehung sind beide Besessenheit; in der ersteren aber ist der eine Gegenstand profan, der andere heilig. Die Herrschaft des Gegenstandes über Mich ist in beiden Fällen dieselbe, nur dass er einmal ein sinnlicher, das andere Mal ein geistiger (gespenstischer) ist. Mein eigen ist meine Liebe erst, wenn sie durchaus in einem eigennützigen und egoistischen Interesse besteht, mithin der Gegenstand meiner Liebe wirklich mein Gegenstand oder mein Eigentum ist. Meinem Eigentum bin Ich nichts schuldig und habe keine Pflicht gegen dasselbe, so wenig Ich etwa eine Pflicht gegen mein Auge habe; hüte Ich es dennoch mit grösster Sorgsamkeit, so geschieht das Meinetwegen.

An Liebe fehlte es dem Altertum so wenig als der christlichen Zeit; der Liebesgott ist älter, als der Gott der Liebe. Aber die mystische Besessenheit gehört den Neuen an. Die Besessenheit der Liebe liegt in der Entfremdung des Gegenstandes oder in meiner Ohnmacht gegen seine Fremdheit und Übermacht. Dem Egoisten ist nichts hoch genug, dass er sich davor demütigte, nichts so selbständig, dass er ihm zu Liebe lebte, nichts so heilig, dass er sich ihm opferte. Die Liebe des Egoisten quillt aus dem Eigennutz, flutet im Bette des Eigennutzes und mündet wieder in den Eigennutz.
Ob dies noch Liebe heissen kann? Wisst Ihr ein anderes Wort dafür, so wählt es immerhin; dann mag das süsse Wort der Liebe mit der abgestorbenen Welt verwelken; Ich wenigstens finde für jetzt keines in unserer christlichen Sprache, und bleibe daher bei dem alten Klange und »liebe« meinen Gegenstand, mein - Eigentum.

Nur als eines meiner Gefühle hege Ich die Liebe, aber als eine Macht über Mir, als eine göttliche Macht (Feuerbach), als eine Leidenschaft, der Ich Mich nicht entziehen soll, als eine religiöse und sittliche Pflicht - verschmähe Ich sie. Als mein Gefühl ist sie mein; als Grundsatz, dem Ich meine Seele weihe und »verschwöre«, ist sie Gebieterin und göttlich, wie der Hass als Grundsatz teuflisch ist: eins nicht besser als das andere. Kurz die egoistische Liebe, d.h. meine Liebe ist weder heilig noch unheilig, weder göttlich noch teuflisch. »Eine Liebe, die durch den Glauben beschränkt ist, ist eine unwahre Liebe. Die einzige dem Wesen der Liebe nicht widersprechende Beschränkung ist die Selbstbeschränkung der Liebe durch die Vernunft, die Intelligenz. Liebe, die die Strenge, das Gesetz der Intelligenz verschmäht, ist theoretisch eine falsche, praktisch eine verderbliche Liebe.« (92) Also die Liebe ist ihrem Wesen nach vernünftig! So denkt Feuerbach; der Gläubige hingegen denkt: die Liebe ist ihrem Wesen nach gläubig. Jener eifert gegen die unvernünftige, dieser gegen die ungläubige Liebe. Beiden kann sie höchstens für ein splendidum vitium gelten. Lassen nicht beide die Liebe bestehen, auch in der Form der Unvernunft und Ungläubigkeit? Sie wagen nicht zu sagen: unvernünftige oder ungläubige Liebe ist ein Unsinn, ist nicht Liebe, so wenig sie sagen mögen: unvernünftige oder ungläubige Tränen sind keine Tränen. Muss aber auch die unvernünftige usw. Liebe für Liebe gelten, und sollen sie gleichwohl des Menschen unwürdig sein, so folgt einfach nur dies: Liebe ist nicht das Höchste, sondern Vernunft oder Glaube; lieben kann auch der Unvernünftige und der Ungläubige; Wert hat die Liebe aber nur, wenn sie die eines Vernünftigen oder Gläubigen ist. Es ist ein Blendwerk, wenn Feuerbach die Vernünftigkeit der Liebe ihre »Selbstbeschränkung« nennt; der Gläubige könnte mit demselben Rechte die Gläubigkeit ihre »Selbstbeschränkung« nennen. Unvernünftige Liebe ist weder »falsch« noch »verderblich«; sie tut als Liebe ihre Dienste.

Gegen die Welt, besonders gegen die Menschen, soll Ich eine bestimmte Empfindung annehmen, und ihnen von Anfang an mit der Empfindung der Liebe, »mit Liebe entgegenkommen«. Freilich offenbart sich hierin weit mehr Willkür und Selbstbestimmung, als wenn Ich Mich durch die Welt von allen möglichen Empfindungen bestürmen lasse und den krausesten, zufälligsten Eindrücken ausgesetzt bleibe. Ich gehe vielmehr an sie mit einer vorgefassten Empfindung, gleichsam einem Vorurteil und einer vorgefassten Meinung; Ich habe mein Verhalten gegen sie Mir im Voraus vorgezeichnet, und fühle und denke trotz all ihrer Anfechtungen nur so über sie, wie Ich zu fühlen einmal entschlossen bin. Wider die Herrschaft der Welt sichere Ich Mich durch den Grundsatz der Liebe; denn was auch kommen mag, Ich - liebe. Das Hässliche z.B. macht auf Mich einen widerwärtigen Eindruck; allein, entschlossen zu lieben, bewältige Ich diesen Eindruck, wie jede Antipathie.

Aber die Empfindung, zu welcher Ich Mich von Haus aus determiniert und - verurteilt habe, ist eben eine bornierte Empfindung, weil sie eine prädestinierte ist, von welcher Ich selber nicht loskommen oder Mich loszusagen vermag. Weil vorgefasst, ist sie ein Vorurteil. Ich zeige Mich nicht mehr gegenüber der Welt, sondern meine Liebe zeigt sich. Zwar beherrscht die Welt Mich nicht, desto unabwendbarer aber beherrscht Mich der Geist der Liebe. Ich habe die Welt überwunden, um ein Sklave dieses Geistes zu werden.
Sagte Ich erst, Ich liebe die Welt, so setze Ich jetzt ebenso hinzu: Ich liebe sie nicht, denn Ich vernichte sie, wie Ich Mich vernichte: Ich löse sie auf. Ich beschränke Mich nicht auf eine Empfindung für die Menschen, sondern gebe allen, deren Ich fähig bin, freien Spielraum. Wie sollte Ich's nicht in aller Grellheit auszusprechen wagen? Ja, Ich benutze die Welt und die Menschen! Dabei kann Ich Mich jedem Eindruck offen erhalten, ohne von einem derselben Mir selber entrissen zu werden. Ich kann lieben, mit voller Seele lieben und die verzehrendste Glut der Leidenschaft in meinem Herzen brennen lassen, ohne den Geliebten für etwas Anderes zu nehmen, als für die Nahrung meiner Leidenschaft, an der sie immer von Neuem sich erfrischt. All meine Sorge um ihn gilt nur dem Gegenstande meiner Liebe, nur ihm, den meine Liebe braucht, nur ihm, dem »Heissgeliebten«. Wie gleichgültig wäre er Mir ohne diese - meine Liebe. Nur meine Liebe speise Ich mit ihm, dazu nur benutze Ich ihn: Ich geniesse ihn. Wählen Wir ein anderes naheliegendes Beispiel. Ich sehe, wie die Menschen von einem Schwarm Gespenster in finsterem Aberglauben geängstigt werden. Lasse Ich etwa darum nach Kräften ein Tageslicht über den nächtlichen Spuk einfallen, weil Mir's die Liebe zu Euch so eingibt? Schreibe Ich aus Liebe zu den Menschen? Nein, Ich schreibe, weil Ich meinen Gedanken ein Dasein in der Welt verschaffen will, und sähe Ich auch voraus, dass diese Gedanken Euch um eure Ruhe und euren Frieden brächten, sähe Ich auch die blutigsten Kriege und den Untergang vieler Generationen aus dieser Gedankensaat aufkeimen: - Ich streute sie dennoch aus. Macht damit, was Ihr wollt und könnt, das ist eure Sache und kümmert Mich nicht. Ihr werdet vielleicht nur Kummer, Kampf und Tod davon haben, die Wenigsten ziehen daraus Freude. Läge Mir euer Wohl am Herzen, so handelte Ich wie die Kirche, indem sie den Laien die Bibel entzog, oder die christlichen Regierungen, welche sich's zu einer heiligen Pflicht machen, den »gemeinen Mann vor bösen Büchern zu bewahren«.

Aber nicht nur nicht um Euret-, auch nicht einmal um der Wahrheit willen spreche Ich aus, was Ich denke. Nein -

Ich singe, wie der Vogel singt,
Der in den Zweigen wohnet:
Das Lied, das aus der Kehle dringt,
Ist Lohn, der reichlich lohnet.

Ich singe, weil - Ich ein Sänger bin. Euch aber gebrauche Ich dazu, weil Ich - Ohren brauche. Wo Mir die Welt in den Weg kommt - und sie kommt Mir überall in den Weg - da verzehre Ich sie, um den Hunger meines Egoismus zu stillen. Du bist für Mich nichts als - meine Speise, gleichwie auch Ich von Dir verspeiset und verbraucht werde. Wir haben zueinander nur eine Beziehung, die der Brauchbarkeit, der Nutzbarkeit, des Nutzens. Wir sind einander nichts schuldig, denn was Ich Dir schuldig zu sein scheine, das bin Ich höchstens Mir schuldig. Zeige Ich Dir eine heitere Miene, um Dich gleichfalls zu erheitern, so ist Mir an Deiner Heiterkeit gelegen, und meinem Wunsche dient meine Miene; tausend Anderen, die Ich zu erheitern nicht beabsichtige, zeige Ich sie nicht.

Zu derjenigen Liebe, welche sich auf das »Wesen des Menschen« gründet oder in der kirchlichen und sittlichen Periode als ein »Gebot« auf Uns liegt, muss man erzogen werden. In welcherlei Art der moralische Einfluss, das Haupt-ingredienz unserer Erziehung, den Verkehr der Menschen zu regeln sucht, soll hier wenigstens an einem Beispiele mit egoistischen Augen betrachtet werden. Die Uns erziehen, lassen sich's angelegen sein, frühzeitig Uns das Lügen abzugewöhnen und den Grundsatz einzuprägen, dass man stets die Wahrheit sagen müsse. Machte man für diese Regel den Eigennutz zur Basis, so würde jeder leicht begreifen, wie er das Vertrauen zu sich, welches er bei anderen erwecken will, durch Lügen verscherze, und wie richtig sich der Satz erweise: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht. Zu gleicher Zeit würde er jedoch auch fühlen, dass er nur demjenigen mit der Wahrheit entgegenzukommen habe, welchen er befugt, die Wahrheit zu hören. Durchstreicht ein Spion verkleidet das feindliche Lager und wird gefragt, wer er sei, so sind die Fragenden allerdings befugt, nach dem Namen sich zu erkundigen, der Verkleidete gibt aber ihnen das Recht nicht, die Wahrheit von ihm zu erfahren; er sagt ihnen, was er mag, nur nicht das Richtige. Und doch heischt die Moral: »Du sollst nicht lügen!« Durch die Moral sind jene dazu berechtigt, die Wahrheit zu erwarten; aber von Mir sind sie nicht dazu berechtigt, und Ich erkenne nur das Recht an, welches Ich erteile. In eine Versammlung von Revolutionären drängt sich die Polizei ein und fragt den Redner nach seinem Namen; jedermann weiss, dass die Polizei dazu das Recht hat, allein vom Revolutionär hat sie's nicht, da er ihr Feind ist: er sagt ihr einen falschen Namen und - belügt sie. Auch handelt die Polizei nicht so töricht, dass sie auf die Wahrheitsliebe ihrer Feinde rechnete; im Gegenteil glaubt sie nicht ohne Weiteres, sondern »rekognosziert«, wenn sie kann, das quästionierte Individuum. Ja der Staat verfährt überall ungläubig gegen die Individuen, weil er in ihrem Egoismus seinen natürlichen Feind erkennt: er verlangt durchweg einen »Ausweis«, und wer sich nicht ausweisen kann, der verfällt seiner nachspürenden Inquisition. Der Staat glaubt und vertraut dem Einzelnen nicht, und stellt sich so selbst mit ihm auf den Lügen-Komment: er traut Mir nur, wenn er sich von der Wahrheit meiner Aussage überführt hat, wozu ihm oft kein anderes Mittel bleibt als der Eid. Wie deutlich beweist auch dieser, dass der Staat nicht auf unsere Wahrheitsliebe und Glaubwürdigkeit rechnet, sondern auf unser Interesse, unseren Eigennutz: er verlässt sich darauf, dass Wir Uns nicht durch einen Meineid werden mit Gott überwerfen wollen.

Nun denke man sich einen französischen Revolutionär im Jahre 1788, der unter Freunden das bekanntgewordene Wort fallen liesse: die Welt hat nicht eher Ruhe, als bis der letzte König am Darm des letzten Pfaffen hängt. Damals hatte der König noch alle Macht, und als die Äusserung durch einen Zufall verraten wird, ohne dass man jedoch Zeugen aufstellen kann, fordert man vom Angeklagten das Geständnis. Soll er gestehen oder nicht? Leugnet er, so lügt er und - bleibt straflos; gesteht er, so ist er aufrichtig und - wird geköpft. Geht ihm die Wahrheit über alles, wohlan so sterbe er. Nur ein elender Dichter könnte es versuchen, aus seinem Lebensende eine Tragödie herzustellen; denn welches Interesse hat es, zu sehen, wie ein Mensch aus Feigheit erliegt? Hätte er aber den Mut, kein Sklave der Wahrheit und Aufrichtigkeit zu sein, so würde er etwa so fragen: Wozu brauchen die Richter zu wissen, was Ich unter Freunden gesprochen habe? Wenn Ich wollte, dass sie's wüssten, so würde Ich's ihnen gesagt haben, wie Ich's meinen Freunden sagte. Ich will nicht, dass sie's wissen. Sie drängen sich in mein Vertrauen, ohne dass Ich sie dazu berufen und zu meinen Vertrauten gemacht habe; sie wollen erfahren, was Ich verheimlichen will. So kommt denn heran, Ihr, die Ihr meinen Willen durch euren Willen brechen wollt, und versucht eure Künste. Ihr könnt Mich durch die Folter peinigen, könnt Mir mit der Hölle und ewigem Verdammnis drohen, könnt Mich so mürbe machen, dass Ich einen falschen Schwur leiste, aber die Wahrheit sollt Ihr nicht aus Mir herauspressen, denn Ich will Euch belügen, weil Ich Euch keinen Anspruch und kein Recht auf meine Aufrichtigkeit gegeben habe. Mag der Gott, »welcher die Wahrheit ist«, noch so drohend auf Mich herabsehen, mag das Lügen Mir noch so sauer werden, Ich habe dennoch den Mut der Lüge, und selbst wenn ich meines Lebens überdrüssig wäre, selbst wenn Mir nichts willkommener erschiene, als euer Henkerschwert, so sollt Ihr dennoch die Freude nicht haben, an Mir einen Sklaven der Wahrheit zu finden, den Ihr durch eure Pfaffenkünste zum Verräter an seinem Willen macht. Als Ich jene hochverräterischen Worte sprach, da wollte Ich, dass Ihr nichts davon wissen solltet; denselben Willen behalte Ich jetzt bei und lasse Mich durch den Fluch der Lüge nicht schrecken.

Sigismund ist nicht darum ein jämmerlicher Wicht, weil er sein Fürstenwort brach, sondern er brach das Wort, weil er ein Wicht war; er hätte sein Wort halten können, und wäre doch ein Wicht, ein Pfaffenknecht gewesen. Luther wurde, von einer höhern Macht getrieben, seinem Mönchsgelübde untreu: er wurde es um Gottes willen. Beide brachen ihren Eid als Besessene: Sigismund, weil er als ein aufrichtiger Bekenner der göttlichen Wahrheit, d.h. des wahren Glaubens, des echt katholischen erscheinen wollte; Luther, um aufrichtig und mit ganzer Wahrheit, mit Leib und Seele, Zeugnis für das Evangelium abzulegen; beide wurden meineidig, um gegen die »höhere Wahrheit« aufrichtig zu sein. Nur entbanden jenen die Pfaffen, dieser entband sich selbst. Was beachteten beide anders, als was in jenen apostolischen Worten enthalten ist: »Du hast nicht Menschen, sondern Gott belogen?« Sie logen den Menschen, brachen vor den Augen der Welt ihren Eid, um Gott nicht zu lügen, sondern zu dienen. So zeigen sie Uns einen Weg, wie man's mit der Wahrheit vor den Menschen halten soll. Zu Gottes Ehre und um Gottes willen ein - Eidbruch, eine Lüge, ein gebrochenes Fürstenwort! Wie wäre es nun, wenn Wir die Sache ein wenig änderten und schrieben: Ein Meineid und Lüge um - Meinetwillen! Hiesse das nicht jeder Niederträchtigkeit das Wort reden? Es scheint allerdings so, nur gleicht es darin ganz und gar dem »um Gottes willen«. Denn wurde nicht jede Niederträchtigkeit um Gottes willen verübt, alle Blutgerüste um seinetwillen erfüllt, alle Autodafés seinetwegen gehalten, alle Verdummung seinetwegen eingeführt, und bindet man nicht noch heute schon bei den zarten Kindern durch religiöse Erziehung den Geist um Gottes willen? Brach man nicht heilige Gelübde um seinetwillen, und ziehen nicht alle Tage noch Missionäre und Pfaffen umher, um Juden, Heiden, Protestanten oder Katholiken usw. zum Verrat am Glauben ihrer Väter zu bringen - um seinetwillen? Und das sollte bei dem um Meinetwillen schlimmer sein? Was heisst denn Meinetwegen? Da denkt man gleich an »schnöden Gewinn«. Wer aber aus Liebe zu schnödem Gewinne handelt, tut das zwar seinetwegen, wie es überhaupt nichts gibt, was man nicht um sein[er] selbst willen täte, unter andern auch alles, was zu Gottes Ehre geschieht; jedoch ist er, für den er den Gewinn sucht, ein Sklave des Gewinnes, nicht erhaben über Gewinn, ist einer, welcher dem Gewinn, dem Geldsack angehört, nicht sich, ist nicht sein eigen. Muss ein Mensch, den die Leidenschaft der Habgier beherrscht, nicht den Geboten dieser Herrin folgen, und wenn ihn einmal eine schwache Gutmütigkeit beschleicht, erscheint dies nicht eben nur als ein Ausnahmsfall gerade derselben Art, wie fromme Gläubige zuweilen von der Leitung ihres Herrn verlassen und von den Künsten des »Teufels« berückt werden? Also ein Habgieriger ist kein Eigener, sondern ein Knecht, und er kann nichts um seinetwillen tun, ohne es zugleich um seines Herrn willen zu tun, - gerade wie der Gottesfürchtige.

Berühmt ist der Eidbruch, welchen Franz II. gegen Kaiser Karl V. beging. Nicht etwa später, als er sein Versprechen reiflich erwog, sondern sogleich, als er den Schwur leistete, nahm ihn König Franz in Gedanken sowohl, als durch eine heimliche, vor seinen Räten urkundlich unterschriebene Protestation zurück: er sprach einen vorbedachten Meineid aus. Seine Freilassung zu erkaufen zeigte sich Franz nicht abgeneigt, nur schien ihm der Preis, welchen Karl darauf setzte, zu hoch und unbillig. Betrug sich auch Karl knickerig, als er möglichst viel zu erpressen suchte, so war es doch lumpig von Franz, seine Freiheit um ein niedrigeres Lösegeld einhandeln zu wollen, und seine späteren Handlungen, worunter noch ein zweiter Wortbruch vorkommt, beweisen sattsam, wie ihn der Schachergeist geknechtet hielt und zum lumpigen Betrüger machte. Indes was sollen Wir zu dem Vorwurf seines Meineides sagen? Zunächst doch wieder dies, dass nicht der Meineid ihn schändete, sondern seine Filzigkeit, dass er nicht Verachtung verdiente für seinen Meineid, sondern des Meineides sich schuldig machte, weil er ein verächtlicher Mensch war. Franzens Meineid aber für sich betrachtet erheischt eine andere Beurteilung. Man könnte sagen, Franz habe dem Vertrauen, welches Karl bei der Freigebung auf ihn setzte, nicht entsprochen. Allein hätte Karl wirklich ihm Vertrauen geschenkt, so würde er ihm den Preis genannt haben, dessen er die Freilassung wert achte, dann aber hätte er ihn in Freiheit gesetzt und erwartet, dass Franz die Loskaufungssumme bezahle. Karl hegte kein solches Zutrauen, sondern glaubte nur an die Ohnmacht und Leichtgläubigkeit Franzens, die ihm nicht erlauben werde, gegen seinen Eid zu handeln; Franz aber täuschte nur diese - leichtgläubige Berechnung. Als Karl sich durch einen Eid seines Feindes zu versichern glaubte, da gerade befreite er diesen von je er Verbindlichkeit. Karl hatte dem Könige eine Dummheit, ein enges Gewissen zugetraut, und rechnete, ohne Vertrauen zu Franz, nur auf Franzens Dummheit, d.h. Gewissenhaftigkeit: er entliess ihn nur aus dem Madrider Gefängnis, um ihn desto sicherer in dem Gefängnisse der Gewissenhaftigkeit, dem grossen durch die Religion um den Menschengeist gezogenen Kerker, festzuhalten: er schickte ihn, festgeschlossen in unsichtbaren Ketten, nach Frankreich zurück, was Wunder, wenn Franz zu entkommen suchte und die Ketten zersägte. Kein Mensch hätte es ihm verübelt, wenn er aus Madrid heimlich entflohen wäre, denn er war in Feindes Gewalt; jeder gute Christ aber ruft Wehe über ihn, dass er auch aus Gottes Banden sich losmachen wollte. (Der Papst entband ihn erst später seines Eides.) Es ist verächtlich, ein Vertrauen, das Wir freiwillig hervorrufen, zu täuschen; aber jeden, der Uns durch einen Eid in seine Gewalt bekommen will, an der Erfolglosigkeit seiner zutrauenslosen List verbluten zu lassen, macht dem Egoismus keine Schande. Hast Du Mich binden wollen, so erfahre denn, dass Ich deine Bande zu sprengen weiss.

Es kommt darauf an, ob Ich dem Vertrauenden das Recht zum Vertrauen gebe. Wenn der Verfolger meines Freundes Mich fragt, wohin dieser sich geflüchtet habe, so werde Ich ihn sicherlich auf eine falsche Fährte bringen. Warum fragt er gerade Mich, den Freund des Verfolgten? Um nicht ein falscher, verräterischer Freund zu sein, ziehe Ich's vor, gegen den Feind falsch zu sein. Ich könnte freilich aus mutiger Gewissenhaftigkeit antworten: Ich wolle es nicht sagen (so entscheidet Fichte den Fall); dadurch salvierte Ich meine Wahrheitsliebe und täte für den Freund so viel als - nichts, denn leite Ich den Feind nicht irre, so kann er zufällig die rechte Strasse einschlagen, und meine Wahrheitsliebe hätte den Freund preisgegeben, weil sie Mich hinderte an dem - Mute zur Lüge. Wer an der Wahrheit ein Idol, ein Heiliges hat, der muss sich vor ihr demütigen, darf ihren Anforderungen nicht trotzen, nicht mutig widerstehen, kurz er muss dem Heldenmut der Lüge entsagen. Denn zur Lüge gehört nicht weniger Mut als zur Wahrheit, ein Mut, an welchem es am meisten Jünglingen zu gebrechen pflegt, die lieber die Wahrheit gestehen und das Schafott dafür besteigen, als durch die Frechheit einer Lüge die Macht der Feinde zu Schanden machen mögen. Jenen ist die Wahrheit »heilig«, und das Heilige fordert allezeit blinde Verehrung, Unterwerfung und Aufopferung. Seid Ihr nicht frech, nicht Spötter des Heiligen, so seid Ihr zahm und seine Diener. Man streue Euch nur ein Körnchen Wahrheit in die Falle, so pickt Ihr sicherlich darnach, und man hat den Narren gefangen. Ihr wollt nicht lügen? Nun so fallt als Opfer der Wahrheit und werdet - Märtyrer! Märtyrer - wofür? Für Euch, für die Eigenheit? Nein, für eure Göttin, - die Wahrheit. Ihr kennt nur zweierlei Dienst, nur zweierlei Diener: Diener der Wahrheit und Diener der Lüge. Dient denn in Gottes Namen der Wahrheit!

Andere wieder dienen auch der Wahrheit, aber sie dienen ihr »mit Mass« und machen z.B. einen grossen Unterschied zwischen einer einfachen und einer beschworenen Lüge. Und doch fällt das ganze Kapitel vom Eide mit dem von der Lüge zusammen, da ein Eid ja nur eine stark versicherte Aussage ist. Ihr haltet Euch für berechtigt zu lügen, wenn Ihr nur dazu nicht noch schwört? Wer's genau nimmt, der muss eine Lüge so hart beurteilen und verdammen als einen falschen Schwur. Nun hat sich aber ein uralter Streitpunkt in der Moral erhalten, der unter dem Namen der »Notlüge« abgehandelt zu werden pflegt. Niemand, der dieser das Wort zu reden wagt, kann konsequenter Weise einen »Noteid« von der Hand weisen. Rechtfertige Ich meine Lüge als eine Notlüge, so sollte Ich nicht so kleinmütig sein, die gerechtfertigte Lüge der stärksten Bekräftigung zu berauben. Was Ich auch tue, warum sollte Ich's nicht ganz und ohne Vorbehalt (reservatio mentalis) tun? Lüge Ich einmal, warum dann nicht vollständig, mit ganzem Bewusstsein und aller Kraft lügen? Als Spion müsste Ich dem Feinde jede meiner falschen Aussagen auf Verlangen beschwören; entschlossen, ihn zu belügen, sollte Ich plötzlich feige und unentschlossen werden gegenüber dem Eide? Dann wäre Ich von vornherein zum Lügner und Spion verdorben gewesen; denn Ich gäbe ja dem Feinde freiwillig ein Mittel in die Hände, Mich zu fangen. - Auch fürchtet der Staat den Noteid und lässt deshalb den Angeklagten nicht zum Schwure kommen. Ihr aber rechtfertigt die Furcht des Staates nicht; Ihr lügt, aber schwört nicht falsch. Erweiset Ihr z.B. einem eine Wohltat, ohne dass er's wissen soll, er aber vermutet's und sagt's Euch auf den Kopf zu, so leugnet Ihr; beharrt er, so sagt Ihr: »wahrhaftig nicht!« Ging's ans Schwören, da würdet Ihr Euch weigern, denn Ihr bleibt aus Furcht vor dem Heiligen stets auf halbem Wege stehen. Gegen das Heilige habt Ihr keinen eigenen Willen. Ihr lügt mit - Mass, wie Ihr frei seid »mit Mass«, religiös »mit Mass« (die Geistlichkeit soll nicht ȟbergreifen«, wie jetzt hierfür der fadeste Streit von Seiten der Universität gegen die Kirche geführt wird), monarchisch gesinnt »mit Mass« (Ihr wollt einen durch die Verfassung, ein Staatsgrundgesetz, beschränkten Monarchen), alles hübsch temperiert, lau und flau, halb Gottes, halb des Teufels.

Es herrschte auf einer Universität der Komment, dass von den Studenten jedes Ehrenwort, welches dem Universitäts-Richter gegeben werden musste, für null und nichtig angesehen wurde. Die Studenten sahen nämlich in der Abforderung desselben nichts als einen Fallstrick, dem sie nicht anders entgehen könnten, als durch Entziehung aller Bedeutsamkeit desselben. Wer ebendaselbst einem Kommilitonen sein Ehrenwort brach, war infam; wer es dem Universitäts-Richter gab, lachte im Verein mit eben diesen Kommilitonen den Getäuschten aus, der sich einbildete, dass ein Wort unter Freunden und unter Feinden denselben Wert habe. Weniger eine richtige Theorie als die Not der Praxis hatte dort die Studierenden so zu handeln gelehrt, da sie ohne jenes Auskunftsmittel erbarmungslos zum Verrat an ihren Genossen getrieben worden wären. Wie aber das Mittel praktisch sich bewährte, so hat es auch seine theoretische Bewährung. Ein Ehrenwort, ein Eid ist nur für den eines, den Ich berechtige, es zu empfangen; wer Mich dazu zwingt, erhält nur ein erzwungenes, d.h. ein feindliches Wort, das Wort eines Feindes, dem man zu trauen kein Recht hat; denn der Feind gibt Uns das Recht nicht. Übrigens erkennen die Gerichte des Staats nicht einmal die Unverbrüchlichkeit eines Eides an. Denn hätte Ich einem, der in Untersuchung kommt, geschworen, nichts wider ihn auszusagen, so würde das Gericht trotz. dem, dass Eid Mich bindet, meine Aussagen fordern und im Weigerungsfalle Mich so lange einsperren, bis Ich Mich entschlösse, - eidbrüchig zu werden. Das Gericht »entbindet Mich meines Eides«; - wie grossmütig! Kann Mich irgendeine Macht des Eides entbinden, so bin Ich selber doch wohl die allererste Macht, die darauf Anspruch hat.

Als Kuriosität und um an allerlei übliche Eide zu erinnern, möge hier derjenige eine Stelle finden, welchen Kaiser Paul den gefangenen Polen (Kosciuszko, Potocki, Niemcewicz usw. ), als er sie freiliess, zu leisten befahl: »Wir schwören nicht bloss dem Kaiser Treue und Gehorsam, sondern versprechen auch noch, unser Blut für seinen Ruhm zu vergiessen; Wir verpflichten Uns, alles zu entdecken, was Wir jemals für seine Person oder sein Reich Gefahrdrohendes erfahren; wir erklären endlich, dass, in welchem Teile des Erdkreises wir uns auch befinden, ein einziges Wort des Kaisers genügen solle, alles zu verlassen und uns sogleich zu ihm zu begeben.«

In einem Gebiete scheint das Prinzip der Liebe längst vom Egoismus überflügelt worden zu sein und nur noch des sichern Bewusstseins, gleichsam des Sieges mit gutem Gewissen, zu bedürfen. Dies Gebiet ist die Spekulation in ihrer doppelten Erscheinung als Denken und als Handel. Man denkt frisch darauf los, was auch herauskommen möge, und man spekuliert, wie Viele auch unter unseren spekulativen Unternehmungen leiden mögen. Aber wenn es endlich zum Klappen kommt, wenn auch der letzte Rest von Religiosität, Romantik oder »Menschlichkeit« abgetan werden soll, dann schlägt das religiöse Gewissen und man bekennt sich wenigstens zur Menschlichkeit. Der habgierige Spekulant wirft einige Groschen in die Armenbüchse und »tut Gutes«, der kühne Denker tröstet sich damit, dass er zur Förderung des Menschengeschlechts arbeite und dass seine Verwüstung der Menschheit »zu Gute komme«, oder auch, dass er »der Idee diene«; die Menschheit, die Idee ist ihm jenes Etwas, von dem er sagen muss: es geht Mir über Mich.
Es ist bis auf den heutigen Tag gedacht und gehandelt worden um - Gottes willen. Die da sechs Tage durch ihre eigennützigen Zwecke alles niedertraten, opferten am siebenten dem Herrn, und die hundert »gute Sachen« durch ihr rücksichtsloses Denken zerstörten, taten dies doch im Dienste einer andern »guten Sache« und mussten - ausser an sich - noch an einen anderen denken, welchem ihre Selbstbefriedigung zu Gute käme, an das Volk, die Menschheit u. drgl. Dieses Andere aber ist ein Wesen über ihnen, ein höheres oder höchstes Wesen, und darum sage Ich, sie mühen sich um Gottes willen.

Ich kann daher auch sagen, der letzte Grund ihrer Handlungen sei die - Liebe. Aber nicht eine freiwillige, nicht ihre eigene, sondern eine zinspflichtige, oder des höhern Wesens (d.h. Gottes, der die Liebe selbst ist) eigene Liebe, kurz nicht die egoistische, sondern die religiöse, eine Liebe, die aus ihrem Wahne entspringt, dass sie einen Tribut der Liebe entrichten müssen, d.h. dass sie keine »Egoisten« sein dürfen.

Wollen Wir die Welt aus mancherlei Unfreiheit erlösen, so wollen Wir das nicht ihret- sondern Unsertwegen: denn da Wir keine Welterlöser von Profession und aus »Liebe« sind, so wollen Wir sie nur anderen abgewinnen. Wir wollen sie Uns zu eigen machen; nicht Gott (der Kirche), nicht dem Gesetze (Staate) soll sie länger leibeigen sein, sondern unser eigen; darum suchen Wir sie zu »gewinnen«, für Uns »einzunehmen,« und die Gewalt, welche sie gegen Uns wendet, dadurch zu vollenden und überflüssig zu machen, dass Wir ihr entgegenkommen, und Uns ihr, sobald sie Uns gehört, gleich Uns »ergeben«. Ist die Welt unser, so versucht sie keine Gewalt mehr gegen Uns, sondern nur mit Uns. Mein Eigennutz hat ein Interesse an der Befreiung der Welt, damit sie - mein Eigentum werde.

Nicht die Isoliertheit oder das Alleinsein ist der ursprüngliche Zustand des Menschen, sondern die Gesellschaft. Mit der innigsten Verbindung beginnt unsere Existenz, da Wir schon, ehe Wir atmen, mit der Mutter zusammenleben; haben Wir dann das Licht der Welt erblickt, so liegen Wir gleich wieder an der Brust eines Menschen, seine Liebe wiegt Uns im Schosse, leitet Uns am Gängelbande und kettet Uns mit tausend Banden an seine Person. Die Gesellschaft ist unser Natur-Zustand. Darum wird auch, je mehr Wir Uns fühlen lernen, der früher innigste Verband immer lockerer, und die Auflösung der ursprünglichen Gesellschaft unverkennbarer. Die Mutter muss das Kind, welches einst unter ihrem Herzen lag, von der Strasse und aus der Mitte seiner Spielgenossen holen, um es wieder einmal für sich zu haben. Es zieht das Kind den Verkehr, den es mit Seinesgleichen eingeht, der Gesellschaft vor, in welche es nicht eingegangen, in der es vielmehr nur geboren ist.

Die Auflösung der Gesellschaft aber ist der Verkehr oder Verein. Allerdings entsteht auch durch Verein eine Gesellschaft, aber nur wie durch einen Gedanken eine fixe Idee entsteht, dadurch nämlich, dass aus dem Gedanken die Energie des Gedankens, das Denken selbst, diese rastlose Zurücknahme aller sich verfestigenden Gedanken, verschwindet. Hat sich ein Verein zur Gesellschaft kristallisiert, so hat er aufgehört, eine Vereinigung zu sein; denn Vereinigung ist ein unaufhörliches Sich-Vereinigen; er ist zu einem Vereinigtsein geworden, zum Stillstand gekommen, zur Fixheit ausgeartet, er ist - tot als Verein, ist der Leichnam des Vereins oder der Vereinigung, d.h. er ist - Gesellschaft, Gemeinschaft. Ein sprechendes Exempel dieser Art liefert die Partei.
Dass eine Gesellschaft, z.B. die Staatsgesellschaft, Mir die Freiheit schmälere, das empört Mich wenig. Muss Ich Mir doch von allerlei Mächten und von jedem Stärkeren, ja von jedem Nebenmenschen die Freiheit beschränken lassen, und wäre Ich der Selbsterrscher aller R . . . . . ., Ich genösse doch der absoluten Freiheit nicht. Aber die Eigenheit, die will Ich Mir nicht entziehen lassen. Und gerade auf die Eigenheit sieht es jede Gesellschaft ab, gerade sie soll ihrer Macht unterliegen. Zwar nimmt eine Gesellschaft, zu der Ich Mich halte, Mir manche Freiheit, dafür gewährt sie Mir aber andere Freiheiten; auch hat es nichts zu sagen, wenn Ich selbst Mich um diese und jene Freiheit bringe (z.B. durch jeden Kontrakt). Dagegen will Ich eifersüchtig auf meine Eigenheit halten. Jede Gemeinschaft hat, je nach ihrer Machtfülle, den stärkeren oder schwächeren Zug, ihren Gliedern eine Autorität zu werden und Schranken zu setzen: sie verlangt und muss verlangen einen »beschränkten Untertanen-Verstand«, sie verlangt, dass ihre Angehörigen ihr untertan, ihre »Untertanen« seien, sie besteht nur durch Untertänigkeit. Dabei braucht keineswegs eine gewisse Toleranz ausgeschlossen zu sein, im Gegenteil wird die Gesellschaft Verbesserungen, Zurechtweisungen und Tadel, soweit solche auf ihren Gewinn berechnet sind, willkommen heissen; aber der Tadel muss »wohlmeinend«, er darf nicht »frech und unehrerbietig« sein, mit andern Worten, man muss die Substanz der Gesellschaft unverletzt lassen und heilig halten. Die Gesellschaft fordert, dass ihre Angehörigen nicht über sie hinausgehen und sich erheben, sondern »in den Grenzen der Gesetzlichkeit« bleiben, d.h. nur so viel sich erlauben, als ihnen die Gesellschaft und deren Gesetz erlaubt.

Es ist ein Unterschied, ob durch eine Gesellschaft meine Freiheit oder meine Eigenheit beschränkt wird. Ist nur jenes der Fall, so ist sie eine Vereinigung, ein Übereinkommen, ein Verein; droht aber der Eigenheit Untergang, so ist sie eine Macht für sich, eine Macht über Mir, ein von Mir Unerreichbares, das Ich zwar anstaunen, anbeten, verehren, respektieren, aber nicht bewältigen und verzehren kann, und zwar deshalb nicht kann, weil Ich resigniere. Sie besteht durch meine Resignation, meine Selbstverleugnung, meine Mutlosigkeit, genannt - Demut. Meine Demut macht ihr Mut, meine Unterwürfigkeit gibt ihr die Herrschaft.
In Bezug aber auf die Freiheit unterliegen Staat und Verein keiner wesentlichen Verschiedenheit. Der Letztere kann ebenso wenig entstehen oder bestehen, ohne dass die Freiheit auf allerlei Art beschränkt werde, als der Staat mit ungemessener Freiheit sich verträgt. Beschränkung der Freiheit ist überall unabwendbar, denn man kann nicht alles los werden; man kann nicht gleich einem Vogel fliegen, bloss weil man so fliegen möchte, denn man wird von der eigenen Schwere nicht frei; man kann nicht eine beliebige Zeit unter dem Wasser leben, wie ein Fisch, weil man der Luft nicht entraten und von diesem notwendigen Bedürfnis nicht frei werden kann u. dgl. Wie die Religion und am entschiedensten das Christentum den Menschen mit der Forderung quälte, das Unnatürliche und Widersinnige zu realisieren, so ist es nur als die echte Konsequenz jener religiösen Ãœberspanntheit und Ãœberschwenglichkeit anzusehen, dass endlich die Freiheit selbst, die absolute Freiheit zum Ideale erhoben wurde, und so der Unsinn des Unmöglichen grell zu Tage kommen musste. - Allerdings wird der Verein sowohl ein grösseres Mass von Freiheit darbieten, als auch namentlich darum für »eine neue Freiheit« gehalten werden dürfen, weil man durch ihn allem dem Staats- und Gesellschaftsleben eigenen Zwange entgeht; aber der Unfreiheit und Unfreiwilligkeit wird er gleichwohl noch genug enthalten. Denn sein Zweck ist eben nicht - die Freiheit, die er im Gegenteil der Eigenheit opfert, aber auch nur der Eigenheit. Auf diese bezogen ist der Unterschied zwischen Staat und Verein gross genug. Jener ist ein Feind und Mörder der Eigenheit, dieser ein Sohn und Mitarbeiter derselben, jener ein Geist, der im Geist und in der Wahrheit angebetet sein will, dieser mein Werk, mein Erzeugnis; der Staat ist der Herr meines Geistes, der Glauben fordert und Mir Glaubensartikel vorschreibt, die Glaubensartikel der Gesetzlichkeit; er übt moralischen Einfluss, beherrscht meinen Geist, vertreibt mein Ich, um sich als »mein wahres Ich« an dessen Stelle zu setzen, kurz der Staat ist heilig und gegen Mich, den einzelnen Menschen, ist er der wahre Mensch, der Geist, das Gespenst; der Verein aber ist meine eigene Schöpfung, mein Geschöpf, nicht heilig, nicht eine geistige Macht über meinen Geist, so wenig als irgend eine Assoziation, welcher Art sie auch sei. Wie Ich nicht ein Sklave meiner Maximen sein mag, sondern sie ohne alle Garantie meiner steten Kritik blossstelle und gar keine Bürgschaft für ihren Bestand zulasse, so und noch weniger verpflichte Ich Mich für meine Zukunft dem Vereine und verschwöre ihm meine Seele, wie es beim Teufel heisst und beim Staate und aller geistigen Autorität wirklich der Fall ist, sondern Ich bin und bleibe Mir mehr als Staat, Kirche, Gott u. dgl., folglich auch unendlich mehr als der Verein.

Jene Gesellschaft, welche der Kommunismus gründen will, scheint der Vereinigung am nächsten zu stehen. Sie soll nämlich das »Wohl aller« bezwecken, aber aller, ruft Weitling unzählige Male aus, aller! (93) Das sieht doch wirklich so aus, als brauchte dabei keiner zurückzustehen. Welches wird denn aber dieses Wohl sein? Haben alle ein und dasselbe Wohl, ist allen bei Ein und Demselben gleich wohl? Ist dem so, so handelt sich's vom »wahren Wohl«. Kommen Wir damit nicht gerade an dem Punkte an, wo die Religion ihre Gewaltherrschaft beginnt? Das Christentum sagt: Seht nicht auf irdischen Tand, sondern sucht euer wahres Wohl, werdet - fromme Christen: das Christsein ist das wahre Wohl. Es ist das wahre Wohl »Aller«, weil es das Wohl des Menschen als solchen (dieses Spuks) ist. Nun soll das Wohl aller doch auch mein und dein Wohl sein? Wenn Ich und Du aber jenes Wohl nicht für unser Wohl ansehen, wird dann für das, wobei Wir Uns wohlbefinden, gesorgt werden? Im Gegenteil, die Gesellschaft hat ein Wohl als das »wahre Wohl« dekretiert, und hiesse dies Wohl z.B. redlich erarbeiteter Genuss, Du aber zögest die genussreiche Faulheit, den Genuss ohne Arbeit vor, so würde die Gesellschaft, die für das »Wohl aller« sorgt, für das, wobei Dir wohl ist, zu sorgen sich weislich hüten. Indem der Kommunismus das Wohl aller proklamiert, vernichtet er gerade das Wohlsein derer, welche seither von ihren Renten lebten und sich dabei wahrscheinlich wohler befanden, als bei der Aussicht auf die strengen Arbeitsstunden Weitlings. Dieser behauptet daher, bei dem Wohle von Tausenden könne das Wohl von Millionen nicht bestehen, und jene müssten ihr besonderes Wohl aufgeben »um des allgemeinen Wohles willen«. (94) Nein; man fordere die Leute nicht auf, für das allgemeine Wohl ihr besonderes zu opfern, denn man kommt mit diesem christlichen Anspruch nicht durch; die entgegengesetzte Mahnung, ihr eigenes Wohl sich durch Niemand entreissen zu lassen, sondern es dauernd zu gründen, werden sie besser verstehen. Sie werden dann von selbst darauf geführt, dass sie am besten für ihr Wohl sorgen, wenn sie sich mit anderen zu diesem Zwecke verbinden, d.h. »einen Teil ihrer Freiheit opfern«, aber nicht dem Wohle aller, sondern ihrem eigenen. Eine Appellation an die aufopfernde Gesinnung und die selbstverleugnende Liebe der Menschen sollte endlich ihren verführerischen Schein verloren haben, nachdem sie hinter einer Wirksamkeit von Jahrtausenden nichts zurückgelassen als die heutige - Misere. Warum denn immer noch fruchtlos erwarten, dass die Aufopferung Uns bessere Zeiten bringen soll; warum nicht lieber von der Usurpation sie hoffen? Nicht mehr von den Gebenden, Schenkenden, Liebevollen kommt das Heil, sondern von den Nehmenden, den Aneignenden (Usurpatoren), den Eignern. Der Kommunismus und, bewusst oder unbewusst, der den Egoismus lästernde Humanismus zählt immer noch auf die Liebe.

Ist einmal die Gemeinschaft dem Menschen Bedürfnis und findet er sich durch sie in seinen Absichten gefördert, so schreibt sie ihm auch, weil sein Prinzip geworden, sehr bald ihre Gesetze vor, die Gesetze der - Gesellschaft. Das Prinzip der Menschen erhebt sich zur souveränen Macht über sie, wird ihr höchstes Wesen, ihr Gott, und als solcher - Gesetzgeber. Der Kommunismus gibt diesem Prinzip die strengste Folge, und das Christentum ist die Religion der Gesellschaft, denn Liebe ist, wie Feuerbach richtig sagt, obgleich er's nicht richtig meint, das Wesen des Menschen, d.h. das Wesen der Gesellschaft oder des gesellschaftlichen (kommunistischen) Menschen. Alle Religion ist ein Kultus der Gesellschaft, dieses Prinzipes, von welchem der gesellschaftliche (kultivierte) Mensch beherrscht wird; auch ist kein Gott der ausschliessliche Gott eines Ichs, sondern immer der einer Gesellschaft oder Gemeinschaft, sei es der Gesellschaft »Familie« (Lar, Penaten) oder eines »Volkes« (»Nationalgott«) oder »aller Menschen« (»er ist ein Vater aller Menschen«).
Somit hat man allein dann Aussicht, die Religion bis auf den Grund zu tilgen, wenn man die Gesellschaft und alles, was aus diesem Prinzipe fliesst, antiquiert. Gerade aber im Kommunismus sucht dies Prinzip zu kulminieren, da in ihm alles gemeinschaftlich werden soll, zur Herstellung der - »Gleichheit«. Ist diese »Gleichheit« gewonnen, so fehlt auch die »Freiheit« nicht. Aber wessen Freiheit? die der Gesellschaft! Die Gesellschaft ist dann alles in allem, und die Menschen sind nur »füreinander«. Es wäre die Glorie des - Liebes-Staates.

Ich will aber lieber auf den Eigennutz der Menschen angewiesen sein, als auf ihre »Liebesdienste«, ihre Barmherzigkeit, Erbarmen usw. Jener fordert Gegenseitigkeit (wie Du Mir, so Ich Dir), tut nichts »umsonst«, und lässt sich gewinnen und - erkaufen. Womit aber erwerbe Ich Mir den Liebesdienst? Es kommt auf den Zufall an, ob Ich's gerade mit einem »Liebevollen« zu tun habe. Der Dienst des Liebreichen lässt sich nur - erbetteln, sei es durch meine ganze beklagenswerte Erscheinung, durch meine Hilfsbedürftigkeit, mein Elend, mein - Leiden. Was kann Ich ihm für seine Hilfleistung bieten? Nichts! Ich muss sie als - Geschenk annehmen. Liebe ist unbezahlbar, oder vielmehr: Liebe kann allerdings bezahlt werden, aber nur durch Gegenliebe (»Eine Gefälligkeit ist der andern wert«). Welche Armseligkeit und Bettelhaftigkeit gehört nicht dazu, Jahr aus Jahr ein Gaben anzunehmen, ohne Gegendienst, wie sie z.B. vom armen Tagelöhner regelmässig eingetrieben werden. Was kann der Empfänger für jenen und seine geschenkten Pfennige, in denen sein Reichtum besteht, tun? Der Tagelöhner hätte wahrlich mehr Genuss, wenn der Empfänger mit seinen Gesetzen, seinen Institutionen usw., die jener doch alle bezahlen muss, gar nicht existierte. Und dabei liebt der arme Wicht seinen Herrn doch.

Nein, die Gemeinschaft, als das »Ziel« der bisherigen Geschichte, ist unmöglich. Sagen Wir Uns vielmehr von jeder Heuchelei der Gemeinschaft los und erkennen Wir, dass, wenn Wir als Menschen gleich sind, Wir eben nicht gleich sind, weil Wir nicht Menschen sind. Wir sind nur in Gedanken gleich, nur wenn »Wir« gedacht werden, nicht wie Wir wirklich und leibhaftig sind. Ich bin Ich, und Du bist Ich, aber Ich bin nicht dieses gedachte Ich, sondern dieses Ich, worin Wir alle gleich sind, ist nur mein Gedanke. Ich bin Mensch und Du bist Mensch, aber »Mensch« ist nur ein Gedanke, eine Allgemeinheit; weder Ich noch Du sind sagbar, Wir sind unaussprechlich, weil nur Gedanken sagbar sind und im Sagen bestehen.

Trachten Wir darum nicht nach der Gemeinschaft, sondern nach der Einseitigkeit. Suchen Wir nicht die umfassendste Gemeinde, die »menschliche Gesellschaft«, sondern suchen Wir in den anderen nur Mittel und Organe, die Wir als unser Eigentum gebrauchen! Wie Wir im Baume, im Tiere nicht Unsersgleichen erblicken, so entspringt die Voraussetzung, dass die anderen Unsersgleichen seien, aus einer Heuchelei. Es ist keiner Meinesgleichen, sondern gleich allen andern Wesen betrachte Ich ihn als mein Eigentum. Dagegen sagt man Mir, Ich soll Mensch unter »Mitmenschen« sein (Judenfrage (95) S. 60), Ich soll in ihnen den Mitmenschen »respektieren«. Es ist keiner für Mich eine Respektsperson, auch der Mitmensch nicht, sondern lediglich wie andere Wesen ein Gegenstand, für den Ich Teilnahme habe oder auch nicht, ein interessanter oder uninteressanter Gegenstand, ein brauchbares oder unbrauchbares Subjekt.
Und wenn Ich ihn gebrauchen kann, so verständige Ich wohl und einige Mich mit ihm, um durch die Übereinkunft meine Macht zu verstärken und durch gemeinsame Gewalt mehr zu leisten, als die einzelne bewirken könnte. In dieser Gemeinsamkeit sehe Ich durchaus nichts anderes, als eine Multiplikation meiner Kraft, und nur solange sie meine vervielfachte Kraft ist, behalte Ich sie bei. So aber ist sie ein - Verein.
Den Verein hält weder ein natürliches noch ein geistiges Band zusammen, und er ist kein natürlicher, kein geistiger Bund. Nicht Ein Blut, nicht Ein Glaube (d.h. Geist) bringt ihn zu Stande. In einem natürlichen Bunde, - wie einer Familie, einem Stamme, einer Nation, ja der Menschheit - haben die Einzelnen nur den Wert von Exemplaren derselben Art oder Gattung; in einem geistigen Bunde - wie einer Gemeinde, einer Kirche - bedeutet der Einzelne nur ein Glied desselbigen Geistes; was Du in beiden Fällen als Einziger bist, das muss - unterdrückt werden. Als Einzigen kannst Du Dich bloss im Vereine behaupten, weil der Verein nicht Dich besitzt, sondern Du ihn besitzest oder Dir zu Nutze machst.

Im Vereine, und nur im Vereine, wird das Eigentum anerkannt, weil man das Seine von keinem Wesen mehr zu Lehen trägt. Die Kommunisten führen nur konsequent weiter, was während der religiösen Entwicklung und namentlich im Staate längst vorhanden war, nämlich die Eigentumslosigkeit, d.h. das Feudalwesen. Der Staat bemüht sich den Begehrlichen zu zähmen, mit andern Worten, er sucht dessen Begierde allein auf ihn zu richten und mit dem sie zu befriedigen, was er ihr bietet. Die Begierde um des Begehrlichen willen zu sättigen, kommt ihm nicht in den Sinn: im Gegenteil schilt er den die ungezügelte Begierde atmenden Menschen einen »egoistischen«, und der »egoistische Mensch« ist sein Feind. Er ist dies für ihn, weil die Befähigung, mit demselben zurecht zu kommen, dem Staate abgeht, der gerade den Egoisten nicht »begreifen« kann. Da es dem Staate, wie nicht anders möglich, lediglich um sich zu tun ist, so sorgt er nicht für meine Bedürfnisse, sondern sorgt nur, wie er Mich umbringe, d.h. ein anderes Ich aus Mir mache, einen guten Bürger. Er trifft Anstalten zur »Sittenverbesserung«. - Und womit gewinnt er die Einzelnen für sich? Mit Sich, d.h. mit dem, was des Staates ist, mit Staatseigentum. Er wird unablässig tätig sein, alle seiner »Güter« teilhaftig zu machen, alle mit den »Gütern der Kultur« zu bedenken: er schenkt ihnen seine Erziehung, öffnet ihnen den Zugang zu seinen Kulturanstalten, befähigt sie auf den Wegen der Industrie zu Eigentum, d.h. zu Lehen zu kommen usw. Für all dies Lehen fordert er nur den richtigen Zins eines steten Dankes. Aber die »Undankbaren« vergessen diesen Dank abzutragen - Wesentlich anders nun, als der Staat, kann es die »Gesellschaft« auch nicht machen.

In den Verein bringst Du deine ganze Macht, dein Vermögen, und machst Dich geltend, in der Gesellschaft wirst Du mit deiner Arbeitskraft verwendet; in jenem lebst Du egoistisch, in dieser menschlich, d.h. religiös, als ein »Glied am Leibe dieses Herrn«: der Gesellschaft schuldest Du, was Du hast, und bist ihr verpflichtet, bist von »sozialen Pflichten« - besessen, den Verein benutzest Du und gibst ihn, »pflicht- und treulos« auf, wenn Du keinen Nutzen weiter verschärfst und vergrösserst; der Verein ist für Dich und durch Dich da, die Gesellschaft nimmt umgekehrt Dich für sich in Anspruch und ist auch ohne Dich; kurz die Gesellschaft ist heilig, der Verein dein eigen: die Gesellschaft verbraucht Dich, den Verein verbrauchst Du.

Man wird gleichwohl mit dem Einwande nicht zurückhalten, dass Uns die geschlossene Ãœbereinkunft wieder lästig werden und unsere Freiheit beschränken könne; man wird sagen, Wir kämen auch endlich darauf hinaus, dass »jeder um des Allgemeinen willen einen Teil seiner Freiheit opfern müsse«. Allein um des »Allgemeinen« willen fiele das Opfer ganz und gar nicht, so wenig als Ich die Ãœbereinkunft um des »Allgemeinen« oder auch nur um irgend eines andern Menschen willen schloss; vielmehr ging Ich auf sie nur um meines eigenen Nutzens willen, aus Eigennutz, ein. Was aber das Opfern betrifft, so »opfere« Ich doch wohl nur dasjenige, was nicht in meiner Gewalt steht, d.h. »opfere« gar nichts. Auf das Eigentum zurückzukommen, so ist Eigentümer der Herr. Wähle denn, ob Du der Herr sein willst, oder die Gesellschaft Herrin sein soll! Davon hängt es ab, ob Du ein Eigner oder ein Lump sein wirst: Der Egoist ist Eigner, der Soziale ein Lump. Lumperei aber oder Eigentumslosigkeit ist der Sinn der Feudalität, des Lehnswesens, das seit dem vorigen Jahrhundert nur den Lehnsherrn vertauscht hat, indem es »den Menschen« an die Stelle Gottes setzte und vom Menschen zu Lehen annahm, was vorher ein Lehen von Gottes Gnaden gewesen war. Dass die Lumperei des Kommunismus durch das humane Prinzip zur absoluten oder lumpigsten Lumperei hinausgeführt wird, ist oben gezeigt worden, zugleich aber auch, wie nur so die Lumperei zur Eigenheit umschlagen kann. Das alte Feudalwesen wurde in der Revolution so gründlich eingestampft, dass seitdem alle reaktionäre List fruchtlos blieb und immer fruchtlos bleiben wird, weil das Tote - tot ist; aber auch die Auferstehung musste in der christlichen Geschichte sich als eine Wahrheit bewähren und hat sich bewährt: denn in einem Jenseits ist mit verklärtem Leibe die Feudalität wiedererstanden, die neue Feudalität unter der Oberlehnsherrlichkeit »des Menschen«.
Das Christentum ist nicht vernichtet, sondern die Gläubigen haben Recht, wenn sie bisher von jedem Kampfe dagegen vertrauungsvoll annahmen, dass er nur zur Läuterung und Befestigung desselben dienen könne; denn es ist wirklich nur verklärt worden, und »das entdeckte Christentum« ist das - menschliche. Wir leben noch ganz im christlichen Zeitalter, und die sich daran am meisten ärgern, tragen gerade am eifrigsten dazu bei, es zu »vollenden«. Je menschlicher, desto lieber ist Uns die Feudalität geworden; denn desto weniger glauben Wir, dass sie noch Feudalität sei, desto getroster nehmen Wir sie für Eigenheit und meinen unser »Eigenstes« gefunden zu haben, wenn Wir »das Menschliche« entdecken.

Der Liberalismus will Mir das Meinige geben, aber nicht unter dem Titel des Meinigen, sondern unter dem des »Menschlichen« gedenkt er Mir's zu verschaffen. Als wenn es unter dieser Maske zu erreichen wäre! Die Menschenrechte, das teure Werk der Revolution, haben den Sinn, dass der Mensch in Mir Mich zu dem und jenem berechtige: Ich als Einzelner, d.h. als dieser, bin nicht berechtigt, sondern der Mensch hat das Recht und berechtigt Mich. Als Mensch kann Ich daher wohl berechtigt sein, da Ich aber, mehr als Mensch, nämlich ein absonderlicher Mensch bin, so kann es gerade Mir, dem Absonderlichen, verweigert werden. Haltet Ihr hingegen auf den Wert eurer Gaben, haltet sie im Preise, lasst Euch nicht zwingen, unter dem Preise loszuschlagen, lasst Euch nicht einreden, eure Ware sei nicht preiswürdig, macht Euch nicht zum Gespötte durch einen »Spottpreis«, sondern ahmt dem Tapfern nach, welcher sagt: Ich will mein Leben (Eigentum) teuer verkaufen, die Feinde sollen es nicht wohlfeilen Kaufes haben: so habt Ihr das Umgekehrte vom Kommunismus als das Richtige erkannt, und es heisst dann nicht: Gebt euer Eigentum auf! sondern: Verwertet euer Eigentum!
Über der Pforte unserer Zeit steht nicht jenes apollinische: »Erkenne Dich selbst«, sondern ein: Verwerte Dich!
Proudhon nennt das Eigentum »den Raub« (le vol). Es ist aber das fremde Eigentum - und von diesem allein spricht er - nicht minder durch Entsagung, Abtretung und Demut vorhanden, es ist ein Geschenk. Warum so sentimental als ein armer Beraubter das Mitleid anrufen, wenn man doch nur ein törichter, feiger Geschenkgeber ist. Warum auch hier wieder die Schuld anderen zuschieben, als beraubten sie Uns, da Wir doch selbst die Schuld tragen, indem Wir die anderen unberaubt lassen. Die Armen sind daran schuld, dass es Reiche gibt.

Ãœberhaupt ereifert sich Niemand über sein Eigentum, sondern über fremdes. Man greift in Wahrheit nicht das Eigentum an, sondern die Entfremdung des Eigentums. Man will mehr, nicht weniger, sein nennen können, man will alles sein nennen. Man kämpft also gegen die Fremdheit, oder, um ein dem Eigentum ähnliches Wort zu bilden, gegen das Fremdentum. Und wie hilft man sich dabei? Statt das Fremde in Eigenes zu verwandeln, spielt man den Unparteiischen und verlangt nur, dass alles Eigentum einem Dritten (z.B. der menschlichen Gesellschaft) überlassen werde. Man reklamiert das Fremde nicht im eigenen Namen, sondern in dem eines Dritten. Nun ist der »egoistische« Anstrich weggewischt und alles so rein und - menschlich!

Eigentumslosigkeit oder Lumperei, das ist also das »Wesen des Christentums«, wie es das Wesen aller Religiosität (d.h. Frömmigkeit, Sittlichkeit, Menschlichkeit) ist, und nur in der »absoluten Religion« am klarsten sich verkündete und als frohe Botschaft zum entwicklungsfähigen Evangelium wurde. Die sprechendste Entwicklung haben Wir im gegenwärtigen Kampfe wider das Eigentum vor Uns, einem Kampfe, der »den Menschen« zum Siege führen und die Eigentumslosigkeit vollständig machen soll: die siegende Humanität ist der Sieg des - Christentums. Das so »entdeckte Christentum« aber ist die vollendete Feudalität, das allumfassende Lehnswesen, d.h. die - vollkommene Lumperei.
Also wohl noch einmal eine »Revolution« gegen das Feudalwesen? -
Revolution und Empörung dürfen nicht für gleichbedeutend angesehen werden. Jene besteht in einer Umwälzung der Zustände, des bestehenden Zustandes oder status, des Staats oder der Gesellschaft, ist mithin eine politische oder soziale Tat; diese hat zwar eine Umwandlung der Zustände zur unvermeidlichen Folge, geht aber nicht von ihr, sondern von der Unzufriedenheit der Menschen mit sich aus, ist nicht eine Schilderhebung, sondern eine Erhebung der Einzelnen, ein Emporkommen, ohne Rücksicht auf die Einrichtungen, welche daraus entspriessen. Die Revolution zielte auf neue Einrichtungen, die Empörung führt dahin, Uns nicht mehr einrichten zu lassen, sondern Uns selbst einzurichten, und setzt auf »Institutionen« keine glänzende Hoffnung. Sie ist kein Kampf gegen das Bestehende, da, wenn sie gedeiht, das Bestehende von selbst zusammenstürzt, sie ist nur ein Herausarbeiten Meiner aus dem Bestehenden. Verlasse Ich das Bestehende, so ist es tot und geht in Fäulnis über. Da nun nicht der Umsturz eines Bestehenden mein Zweck ist, sondern meine Erhebung darüber, so ist meine Absicht und Tat keine politische oder soziale, sondern, als allein auf Mich und meine Eigenheit gerichtet, eine egoistische.
Einrichtungen zu machen gebietet die Revolution, sich auf- oder emporzurichten heischt die Empörung. Welche Verfassung zu wählen sei, diese Frage beschäftigte die revolutionären Köpfe, und von Verfassungskämpfen und Verfassungsfragen sprudelt die ganze politische Periode, wie auch die sozialen Talente an gesellschaftlichen Einrichtungen (Phalansterien u. dergl.) ungemein erfinderisch waren. Verfassungslos zu werden, bestrebt sich der Empörer. (96) Indem Ich zu grösserer Verdeutlichung auf einen Vergleich sinne, fällt Mir wider Erwarten die Stiftung des Christentums ein. Man vermerkt es liberalerseits den ersten Christen übel, dass sie gegen die bestehende heidnische Staatsordnung Gehorsam predigten, die heidnische Obrigkeit anzuerkennen befahlen und ein »Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist« getrost geboten. Wie viel Aufruhr entstand doch zu derselben Zeit gegen die römische Oberherrschaft, wie aufwieglerisch bewiesen sich die Juden und selbst die Römer gegen ihre eigene weltliche Regierung, kurz wie beliebt war die »politische Unzufriedenheit«! Davon wollten jene Christen nichts wissen; wollten den »liberalen Tendenzen« nicht beitreten. Die Zeit war politisch so aufgeregt, dass man, wie's in den Evangelien heisst, den Stifter des Christentums nicht erfolgreicher anklagen zu können meinte, als wenn man ihn »politischer Umtriebe« bezichtigte, und doch berichten dieselben Evangelien, dass gerade er sich am wenigsten an diesem politischen Treiben beteiligte. Warum aber war er kein Revolutionär, kein Demagoge, wie ihn die Juden gerne gesehen hätten, warum war er kein Liberaler? Weil er von einer Änderung der Zustände kein Heil erwartete, und diese ganze Wirtschaft ihm gleichgültig war. Er war kein Revolutionär, wie z.B. Cäsar, sondern ein Empörer, kein Staatsumwälzer, sondern einer, der sich emporrichtete. Darum galt es ihm auch allein um ein »Seid klug wie die Schlangen«, was denselben Sinn ausdrückt, als im speziellen Falle jenes »Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist«, er führte ja keinen liberalen oder politischen Kampf gegen die bestehende Obrigkeit, sondern wollte, unbekümmert um und ungestört von dieser Obrigkeit, seinen eigenen Weg wandeln. Nicht minder gleichgültig als die Regierung waren ihm deren Feinde, denn was er wollte, verstanden beide nicht, und er hatte sie nur mit Schlangenklugheit von sich abzuhalten. Wenn aber auch kein Volksaufwiegler, kein Demagog oder Revolutionär, so war er und jeder der alten Christen um so mehr ein Empörer, der über alles sich emporhob, was der Regierung und ihren Widersachern erhaben dünkte, und von allem sich entband, woran jene gebunden blieben, und der zugleich die Lebensquellen der ganzen heidnischen Welt abgrub, mit welchen der bestehende Staat ohnehin verwelken musste: er war gerade darum, weil er das Umwerfen des Bestehenden von sich wies, der Todfeind und wirkliche Vernichter desselben; denn er mauerte es ein, indem er darüber getrost und rücksichtslos den Bau seines Tempels aufführte, ohne auf die Schmerzen des Eingemauerten zu achten. Nun, wie der heidnischen Weltordnung geschah, wird's so der christlichen ergehen? Eine Revolution führt gewiss das Ende nicht herbei, wenn nicht vorher eine Empörung vollbracht ist!

Mein Verkehr mit der Welt, worauf geht er hinaus? Geniessen will Ich sie, darum muss sie mein Eigentum sein, und darum will Ich sie gewinnen. Ich will nicht die Freiheit, nicht die Gleichheit der Menschen; Ich will nur meine Macht über sie, will sie zu meinem Eigentum, d.h. geniessbar machen. Und gelingt Mir das nicht, nun, die Gewalt über Leben und Tod, die Kirche und Staat sich vorbehielten, Ich nenne auch sie die - meinige. Brandmarkt jene Offizier-Witwe, die auf der Flucht in Russland, nachdem ihr das Bein weggeschossen, das Strumpfband von diesem abzieht, ihr Kind damit erdrosselt und dann neben der Leiche verblutet, - brandmarkt das Andenken der - Kindesmörderin. Wer weiss, wie viel dies Kind, wenn es am Leben blieb, »der Welt hätte nützen« können! Die Mutter ermordete es, weil sie befriedigt und beruhigt sterben wollte. Dieser Fall sagt eurer Sentimentalität vielleicht noch zu, und Ihr wisst nichts Weiteres aus ihm herauszulesen. Es sei; Ich Meinerseits gebrauche ihn als Beispiel dafür, dass meine Befriedigung über mein Verhältnis zu den Menschen entscheidet, und dass Ich auch der Macht über Leben und Tod aus keiner Anwandlung von Demut entsage.

Was überhaupt die »Sozialpflichten« anlangt, so gibt Mir nicht ein Anderer meine Stellung zu anderen, also weder Gott noch die Menschlichkeit schreibt Mir meine Beziehung zu den Menschen vor, sondern Ich gebe Mir diese Stellung. Sprechender ist dies damit gesagt: Ich habe gegen Andere keine Pflicht, wie Ich auch nur so lange gegen Mich eine Pflicht habe (z.B. die der Selbsterhaltung, also nicht Selbstmord), als Ich Mich von Mir unterscheide (meine unsterbliche Seele von meinem Erdendasein usw.).

Ich demütige Mich vor keiner Macht mehr und erkenne, dass alle Mächte nur meine Macht sind, die Ich sogleich zu unterwerfen habe, wenn sie eine Macht gegen oder über Mich zu werden drohen; jede derselben darf nur eins meiner Mittel sein, Mich durchzusetzen, wie ein Jagdhund unsere Macht gegen das Wild ist, aber von Uns getötet wird, wenn er Uns selbst anfiele. Alle Mächte, die Mich beherrschen, setze Ich dann dazu herab, Mir zu dienen. Die Götzen sind durch Mich: Ich brauche sie nur nicht von neuem zu schaffen, so sind sie nicht mehr; »höhere Mächte« sind nur dadurch, dass Ich sie erhöhe und Mich niedriger stelle.

Somit ist denn mein Verhältnis zur Welt dieses: Ich tue für sie nichts mehr »um Gottes willen«, Ich tue nichts »um des Menschen willen«, sondern, was Ich tue, das tue Ich »um Meinetwillen«. So allein befriedigt Mich die Welt, während für den religiösen Standpunkt, wohin Ich auch den sittlichen und humanen rechne, es bezeichnend ist, dass alles darauf ein frommer Wunsch (pium desiderium), d.h. ein Jenseits, ein Unerreichtes bleibt. So die allgemeine Seligkeit der Menschen, die sittliche Welt einer allgemeinen Liebe, der ewige Friede, das Aufhören des Egoismus usw. »Nichts in dieser Welt ist vollkommen«. Mit diesem leidigen Spruche scheiden die Guten von ihr und flüchten sich in ihr Kämmerlein zu Gott oder in ihr stolzes »Selbstbewusstsein«. Wir aber bleiben in dieser »unvollkommenen« Welt, weil Wir sie auch so brauchen können zu unserem - Selbstgenuss. Mein Verkehr mit der Welt besteht darin, dass Ich sie geniesse und so sie zu meinem Selbstgenuss verbrauche. Der Verkehr ist Weltgenuss und gehört zu meinem - Selbstgenuss.

3. Mein Selbstgenuss

Wir stehen an der Grenzscheide einer Periode. Die bisherige Welt sann auf nichts als auf Gewinn des Lebens, sorgte fürs - Leben. Denn ob alle Tätigkeit für das diesseitige oder für das jenseitige, für das zeitliche oder für das ewige Leben in Spannung gesetzt wird, ob man nach dem »täglichen Brote« lechzt (»Gib Uns unser täglich Brot«) oder nach dem »heiligen Brote« (»das rechte Brot vom Himmel«; »das Brot Gottes, das vom Himmel kommt und der Welt das Leben gibt;« Â»das Brot des Lebens.« Joh. 6.), ob man ums »liebe Leben« sorgt oder um das »Leben in Ewigkeit«. das ändert den Zweck der Spannung und Sorge nicht, der im einen wie im andern Falle sich als das Leben ausweist. Kündigen sich die modernen Tendenzen anders an? Man will, dass Niemand mehr um die nötigsten Lebensbedürfnisse in Verlegenheit komme, sondern sich darin gesichert finde, und anderseits lehrt man, dass der Mensch sich ums Diesseits zu bekümmern und in die wirkliche Welt einzuleben habe, ohn eitle Sorge um ein Jenseits. Fassen Wir dieselbe Sache von einer andern Seite auf. Wer nur besorgt ist, dass er lebe, vergisst über diese Ängstlichkeit leicht den Genuss des Lebens. Ist's ihm nur ums Leben zu tun und denkt er, wenn Ich nur das liebe Leben habe, so verwendet er nicht seine volle Kraft darauf, das Leben zu nutzen, d.h. zu geniessen. Wie aber nutzt man das Leben? Indem man's verbraucht, gleich dem Lichte, das man nutzt,indem man's verbrennt. Man nutzt das Leben und mithin sich, den Lebendigen, indem man es und sich verzehrt. Lebensgenuss ist Verbrauch des Lebens.

Nun - den Genuss des Lebens suchen Wir auf! Und was tat die religiöse Welt? Sie suchte das Leben auf. »Worin besteht das wahre Leben, das selige Leben usw.? Wie ist es zu erreichen? Was muss der Mensch tun und werden, um ein wahrhaft Lebendiger zu sein? Wie erfüllt er diesen Beruf?« Diese und ähnliche Fragen deuten darauf hin, dass die Fragenden erst sich suchten, sich nämlich im wahren Sinne, im Sinne der wahrhaftigen Lebendigkeit. »Was Ich bin, ist Schaum und Schatten; was Ich sein werde, ist mein wahres Ich.« Diesem Ich nachzujagen, es herzustellen, es zu realisieren, macht die schwere Aufgabe der Sterblichen aus, die nur sterben, um aufzuerstehen, nur leben, um zu sterben, nur leben, um das wahre Leben zu finden. Erst dann, wenn Ich Meiner gewiss bin und Mich nicht mehr suche, bin Ich wahrhaft mein Eigentum: Ich habe Mich, darum brauche und geniesse Ich Mich. Dagegen kann Ich Meiner nimmermehr froh werden, solange Ich denke, mein wahres Ich hätte Ich erst noch zu finden, und es müsse dahin kommen, dass nicht Ich, sondern Christus in Mir lebe oder irgend ein anderes geistiges, d.h. gespenstisches Ich, z.B. der wahre Mensch, das Wesen des Menschen u. dgl. Ein ungeheurer Abstand trennt beide Anschauungen: in der alten gehe Ich auf Mich zu, in der neuen gehe Ich von Mir aus, in jener sehne Ich Mich nach Mir, in dieser habe Ich Mich und mache es mit Mir, wie man's mit jedem andern Eigentum macht, - Ich geniesse Mich nach meinem Wohlgefallen. Ich bange nicht mehr um's Leben, sondern »vertue« es.

Von jetzt an lautet die Frage, nicht wie man das Leben erwerben, sondern wie man's vertun, geniessen könne, oder nicht wie man das wahre Ich in sich herzustellen, sondern wie man sich aufzulösen, sich auszuleben habe.

Was wäre das Ideal wohl anders, als das gesuchte, stets ferne Ich? Sich sucht man, folglich hat man sich noch nicht, man trachtet nach dem, was man sein soll, folglich ist man's nicht. Man lebt in Sehnsucht und hat Jahrtausende in ihr, hat in Hoffnung gelebt. Ganz anders lebt es sich im - Genuss!

Trifft dies etwa nur die sogenannten Frommen? Nein, es trifft alle, die der scheidenden Geschichtsperiode angehören, selbst ihre Lebemänner. Auch ihnen folgte auf die Werkeltage ein Sonntag und auf das Welttreiben der Traum von einer besseren Welt, von einem allgemeinen Menschenglück, kurz ein Ideal. Aber namentlich die Philosophen werden den Frommen gegenübergestellt. Nun, haben die an etwas anderes gedacht, als an das Ideal, auf etwas anderes gesonnen, als auf das absolute Ich? Sehnsucht und Hoffnung überall, und nichts als diese. Nennt es meinetwegen Romantik.

Soll der Lebensgenuss über die Lebenssehnsucht oder Lebenshoffnung triumphieren, so muss er sie in ihrer doppelten Bedeutung, die Schiller im »Ideal und das Leben« vorführt, bezwingen, die geistliche und weltliche Armut ekrasieren, das Ideal vertilgen und - die Not ums tägliche Brot. Wer sein Leben aufwenden muss, um das Leben zu fristen, der kann es nicht geniessen, und wer sein Leben erst sucht, der hat es nicht und kann es ebensowenig geniessen: beide sind arm, »selig aber sind die Armen.« Die da hungern nach dem wahren Leben, haben keine Macht über ihr gegenwärtiges, sondern müssen es zu dem Zwecke verwenden, jenes wahre Leben damit zu gewinnen, und müssen es ganz diesem Trachten und dieser Aufgabe opfern. Wenn an jenen Religiösen, die auf ein jenseitiges Leben hoffen und das diesseitige bloss für eine Vorbereitung zu demselben ansehen, die Dienstbarkeit ihres irdischen Daseins, das sie lediglich in den Dienst des gehofften himmlischen geben, ziemlich scharf einleuchtet, so würde man doch weit fehlgreifen, wollte man die Aufgeklärtesten und Erleuchtetsten für minder aufopfernd halten. Lässt doch im »wahren Leben« eine viel umfassendere Bedeutung sich finden, als das »himmlische« auszudrücken vermag. Ist etwa, um sogleich den liberalen Begriff desselben vorzuführen, das »menschliche« und »wahrhaft menschliche« nicht das wahre Leben? Und führt etwa jeder schon von Haus aus dies wahrhaft menschliche Leben, oder muss er mit saurer Mühe sich erst dazu erheben? Hat er es schon als sein gegenwärtiges, oder muss er's als sein zukünftiges Leben erringen, das ihm erst dann zu Teil wird, wenn er »von keinem Egoismus mehr befleckt ist«? Das Leben ist bei dieser Ansicht nur dazu da, um Leben zu gewinnen, und man lebt nur, um das Wesen des Menschen in sich lebendig zu machen, man lebt um dieses Wesens willen. Man hat sein Leben nur, um sich mittelst desselben das »wahre«, von allem Egoismus gereinigte Leben zu verschaffen. Daher fürchtet man sich, von seinem Leben einen beliebigen Gebrauch zu machen: es soll nur zum »rechten Gebrauche« dienen.

Kurz man hat einen Lebensberuf, eine Lebensaufgabe, hat durch sein Leben Etwas zu verwirklichen und herzustellen, ein Etwas, für welches unser Leben nur Mittel und Werkzeug ist, ein Etwas, das mehr wert ist, als dieses Leben, ein Etwas, dem man das Leben schuldig ist. Man hat einen Gott, der ein lebendiges Opfer verlangt. Nur die Roheit des Menschenopfers hat sich mit der Zeit verloren; das Menschenopfer selbst ist unverkürzt geblieben, und stündlich fallen Verbrecher der Gerechtigkeit zum Opfer, und Wir »armen Sünder« schlachten Uns selbst zum Opfer für »das menschliche Wesen«, die »Idee der Menschheit«, die »Menschlichkeit« und wie die Götzen oder Götter sonst noch heissen. Weil Wir aber unser Leben jenem Etwas schulden, darum haben Wir - dies das Nächste - kein Recht es uns zu nehmen.

Die konservative Tendenz des Christentums erlaubt nicht anders an den Tod zu denken, als mit der Absicht, ihm reinen Stachel zu nehmen und - hübsch fortzuleben und sich zu erhalten. Alles lässt der Christ geschehen und über sich ergehen, wenn er - der Erzjude - sich nur in den Himmel hineinschachern und -schmuggeln kann; sich selbst töten darf er nicht, er darf sich nur - erhalten, und an der »Bereitung einer zukünftigen Stätte« arbeiten. Konservatismus oder Ȇberwindung des Todes« liegt ihm am Herzen: »Der letzte Feind, der aufgehoben wird, ist der Tod.« (97) »Christus hat dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht durch das Evangelium.« (98) »Unvergänglichkeit«, Stabilität.

Der Sittliche will das Gute, das Rechte, und wenn er die Mittel ergreift, welche zu diesem Ziele führen, wirklich führen, so sind diese Mittel nicht seine Mittel, sondern die des Guten, Rechten usw. selbst. Unsittlich sind diese Mittel niemals, weil der gute Zweck selbst sich durch sie vermittelt: der Zweck heiligt die Mittel. Diesen Grundsatz nennt man jesuitisch, er ist aber durchaus »sittlich«. Der Sittliche handelt im Dienste eines Zweckes oder einer Idee: er macht sich zum Werkzeuge der Idee des Guten, wie der Fromme ein Werk- oder Rüstzeug Gottes zu sein sich zum Ruhme anrechnet. Den Tod abzuwarten, heischt das sittliche Gebot als das Gute; ihn sich selbst zu geben, ist unsittlich und böse: der Selbstmord findet keine Entschuldigung vor dem Richterstuhle der Sittlichkeit. Verbietet der Religiöse ihn, weil »du dir das Leben nicht gegeben hast, sondern Gott, der es dir auch allein wieder nehmen kann« (als ob, auch in dieser Vorstellung gesprochen, Mir's Gott nicht ebensowohl nähme, wenn ich Mich töte, als wenn Mich ein Dachziegel oder eine feindliche Kugel umwirft: er hätte ja den Todesentschluss auch in mir geweckt!): so verbietet der Sittliche ihn, weil Ich mein Leben dem Vaterlande usw. schulde, »weil ich nicht wisse, ob ich durch mein Leben nicht noch Gutes wirken könne.« Natürlich, es verliert ja das Gute an mir ein Werkzeug, wie Gott ein Rüstzeug. Bin ich unsittlich, so ist dem

[363] Guten mit meiner Besserung gedient, bin Ich »gottlos«, so hat Gott Freude an meiner Bussfertigkeit. Selbstmord ist also sowohl gottlos als ruchlos. Wenn einer, dessen Standpunkt die Religiosität ist, sich das Leben nimmt, so handelt er gottvergessen; ist aber der Standpunkt des Selbstmörders die Sittlichkeit, so handelt er pflichtvergessen, unsittlich. Man quälte sich viel mit der Frage, ob Emilia Galottis Tod vor der Sittlichkeit sich rechtfertigen lasse (man nimmt ihn, als wäre er Selbstmord, was er der Sache nach auch ist). Dass sie in die Keuschheit, dies sittliche Gut, so vernarrt ist, um selbst ihr Leben dafür zu lassen, ist jedenfalls sittlich; dass sie aber sich die Gewalt über ihr Blut nicht zutraut, ist wieder unsittlich. Solche Widersprüche bilden in dem sittlichen Trauerspiele den tragischen Konflikt überhaupt, und man muss sittlich denken und fühlen, um daran ein Interesse nehmen zu können.

Was von der Frömmigkeit und Sittlichkeit gilt, wird notwendig auch die Menschlichkeit treffen, weil man dem Menschen, der Menschheit oder Gattung gleichfalls sein Leben schuldig ist. Nur wenn ich keinem Wesen verpflichtet bin, ist die Erhaltung des Lebens - meine Sache. »Ein Sprung von dieser Brücke macht Mich frei!«

Sind Wir aber jenem Wesen, das Wir in Uns lebendig machen sollen, die Erhaltung unseres Lebens schuldig, so ist es nicht weniger unsere Pflicht, dieses Leben nicht nach unserer Lust zu führen, sondern es jenem Wesen gemäss zu gestalten. All mein Fühlen, Denken und Wollen, all mein Tun und Trachten gehört - ihm.

Was jenem Wesen gemäss sei, ergibt sich aus dem Begriffe desselben, und wie verschieden ist dieser Begriff begriffen oder wie verschieden ist jenes Wesen vorgestellt worden! Welche Forderungen macht das höchste Wesen an den Mohammedaner, und welch andere glaubt wieder der Christ von ihm zu vernehmen; wie abweichend muss daher beider Lebensgestaltung ausfallen! Nur dies halten alle fest, dass das höchste Wesen unser Leben zu richten habe.

Doch an den Frommen, die in Gott ihren Richter und in seinem Wort einen Leitfaden für ihr Leben haben, gehe Ich überall nur erinnerungsweise vorüber, weil sie einer verlebten Entwicklungsperiode angehören und als Versteinerungen immerhin auf ihrem fixen Platze bleiben mögen; in unserer Zeit haben nicht mehr die Frommen, sondern die Liberalen das grosse Wort, und die Frömmigkeit selbst kann sich dessen nicht erwehren, mit liberalen Teint ihr blasses Gesicht zu röten. Die Liberalen aber verehren nicht in Gott ihren Richter und wickeln ihr Leben nicht am Leitfaden des göttlichen Wortes ab, sondern richten sich nach dem Menschen: nicht »göttlich«, sondern »menschlich« wollen sie sein und leben. Der Mensch ist des Liberalen höchstes Wesen, der Mensch seines Lebens Richter, die Menschlichkeit sein Leitfaden oder Katechismus. Gott ist Geist, aber der Mensch ist der »vollkommenste Geist«, das endliche Resultat der langen Geistesjagd oder der »Forschung in den Tiefen der Gottheit«, d.h. in den Tiefen des Geistes. Jeder deiner Züge soll menschlich sein; Du selbst sollst es vom Wirbel bis zur Zehe, im Innern wie im Äussern sein: denn die Menschlichkeit ist dein Beruf. Beruf - Bestimmung - Aufgabe! -

Was einer werden kann, das wird er auch. Ein geborener Dichter mag wohl durch die Ungunst der Umstände gehindert werden, auf der Höhe der Zeit zu stehen und nach den dazu unerlässlichen grossen Studien ausgebildete Kunstwerke zu schaffen; aber dichten wird er, er sei Ackerknecht oder so glücklich, am Weimarschen Hofe zu leben. Ein geborener Musiker wird Musik treiben, gleichviel ob auf allen Instrumenten oder nur auf einem Haferrohr. Ein geborener philosophischer Kopf kann sich als Universitätsphilosoph oder als Dorfphilosoph bewähren. Endlich ein geborener Dummerjan, der, was sich sehr wohl damit verträgt, zugleich ein Pfiffikus sein kann, wird, wie wahrscheinlich jeder, der Schulen besucht hat, an manchen Beispielen von Mitschülern sich zu vergegenwärtigen imstande ist, immer ein vernagelter Kopf bleiben, er möge nun zu einem Bürochef einexerziert und dressiert worden sein, oder demselben Chef als Stiefelputzer dienen. Ja die geborenen beschränkten Köpfe bilden unstreitig die zahlreichste Menschenklasse. Warum sollten auch in der Menschengattung nicht dieselben Unterschiede hervortreten, welche in jeder Tiergattung unverkennbar sind? Ãœberall finden sich Begabtere und minder Begabte. So blödsinnig sind indes nur Wenige, dass man ihnen nicht Ideen beibringen könnte. Daher hält man gewöhnlich alle Menschen für fähig, Religion zu haben. In einem gewissen Grade sind sie auch zu andern Ideen noch abzurichten, z.B. zu einigem musikalischen Verständnis, selbst etwas Philosophie usw. Hier knüpft denn das Pfaffentum der Religion, der Sittlichkeit, der Bildung, der Wissenschaft usw. an, und die Kommunisten z.B. wollen durch ihre »Volksschule« allen alles zugänglich machen. Eine gewöhnliche Behauptung wird gehört, dass diese »grosse Masse« ohne Religion nicht auskommen könne; die Kommunisten erweitern sie zu dem Satze, dass nicht nur die »grosse Masse«, sondern schlechthin alle zu allem berufen seien.

Nicht genug, dass man die grosse Masse zur Religion abgerichtet hat, nun soll sie gar mit »allem Menschlichen« sich noch befassen müssen. Die Dressur wird immer allgemeiner und umfassender. Ihr armen Wesen, die Ihr so glücklich leben könntet, wenn Ihr nach eurem Sinne Sprünge machen dürftet, Ihr sollt nach der Pfeife der Schulmeister und Bärenführer tanzen, um Kunststücke zu machen, zu denen Ihr selbst Euch nimmermehr gebrauchen würdet. Und Ihr schlagt nicht endlich einmal dagegen aus, dass man Euch immer anders nimmt, als Ihr Euch geben wollt. Nein, Ihr sprecht Euch die vorgesprochene Frage mechanisch selber vor: »Wozu bin Ich berufen? Was soll Ich?« So braucht Ihr nur zu fragen, um Euch sagen und befehlen zu lassen, was Ihr sollt, euren Beruf Euch vorzeichnen zu lassen, oder auch es Euch selbst nach der Vorschrift des Geistes zu befehlen und aufzuerlegen. Da heisst es denn in Bezug auf den Willen: Ich will, was Ich soll. Ein Mensch ist zu nichts »berufen« und hat keine »Aufgabe«, keine »Bestimmung«, so wenig als eine Pflanze oder ein Tier einen »Beruf« hat. Die Blume folgt nicht dem Berufe, sich zu vollenden, aber sie wendet alle ihre Kräfte auf, die Welt, so gut sie kann, zu geniessen und zu verzehren, d.h. sie saugt so viel Säfte der Erde, so viel Luft des Äthers, so viel Licht der Sonne ein, als sie bekommen und beherbergen kann. Der Vogel lebt keinem Berufe nach, aber er gebraucht seine Kräfte so viel es geht: er hascht Käfer und singt nach Herzenslust. Der Blume und des Vogels Kräfte sind aber im Vergleich zu denen eines Menschen gering, und viel gewaltiger wird ein Mensch, der seine Kräfte anwendet, in die Welt eingreifen als Blume und Tier. Einen Beruf hat er nicht, aber er hat Kräfte, die sich äussern, wo sie sind, weil ihr Sein ja einzig in ihrer Äusserung besteht und sie so wenig untätig verharren können als das Leben, das, wenn es auch nur eine Sekunde »stille stände«, nicht mehr Leben wäre. Nun könnte man dem Menschen zurufen: gebrauche deine Kraft. Doch in diesen Imperativ würde der Sinn gelegt werden, es sei des Menschen Aufgabe, seine Kraft zu gebrauchen. So ist es nicht. Es gebraucht vielmehr wirklich jeder seine Kraft, ohne dies erst für seinen Beruf anzusehen: es gebraucht jeder in jedem Augenblicke so viel Kraft als er besitzt. Man sagt wohl von einem Besiegten, er hätte seine Kraft mehr anspannen sollen; allein man vergisst, dass, wenn er im Augenblicke des Erliegens die Kraft gehabt hätte, seine Kräfte (z.B. Leibeskräfte) anzuspannen, er es nicht unterlassen haben würde: war es auch nur die Mutlosigkeit einer Minute, so war dies doch eine minutenlange - Kraftlosigkeit. Die Kräfte lassen sich allerdings schärfen und vervielfältigen, besonders durch feindlichen Widerstand oder befreundeten Beistand; aber wo man ihre Anwendung vermisst, da kann man auch ihrer Abwesenheit gewiss sein. Man kann aus einem Steine Feuer schlagen, aber ohne den Schlag kommt keines heraus; in gleicher Art bedarf auch ein Mensch des »Anstosses«. Darum nun, weil Kräfte sich stets von selbst werktätig erweisen, wäre das Gebot, sie zu gebrauchen, überflüssig und sinnlos. Seine Kräfte zu gebrauchen ist nicht der Beruf und die Aufgabe des Menschen, sondern es ist seine allezeit wirkliche, vorhandene Tat. Kraft ist nur ein einfacheres Wort für Kraftäusserung. Wie nun diese Rose von vorn herein wahre Rose, diese Nachtigall stets wahre Nachtigall ist, so bin Ich nicht erst wahrer Mensch, wenn Ich meinen Beruf erfülle, meiner Bestimmung nachlebe, sondern Ich bin von Haus »wahrer Mensch«. Mein erstes Lallen ist das Lebenszeichen eines »wahren Menschen«, meine Lebenskämpfe seine Kraftergüsse, mein letzter Atemzug das letzte Kraftaushauchen »des Menschen«. Nicht in der Zukunft, ein Gegenstand der Sehnsucht, liegt der wahre Mensch, sondern daseiend und wirklich liegt er in der Gegenwart. Wie und wer Ich auch sei, freudvoll und leidvoll, ein Kind oder ein Greis, in Zuversicht oder Zweifel, im Schlaf oder im Wachen, Ich bin es, Ich bin der wahre Mensch. Bin Ich aber der Mensch und habe Ich ihn, den die religiöse Menschheit als fernes Ziel bezeichnete, wirklich in Mir gefunden, so ist auch alles »wahrhaft Menschliche« mein eigen. Was man der Idee der Menschheit zuschrieb, das gehört Mir. Jene Handelsfreiheit z.B., welche die Menschheit erst erreichen soll, und die man wie einen bezaubernden Traum in ihre goldene Zukunft versetzt, Ich nehme sie Mir als mein Eigentum vorweg und treibe sie einstweilen in der Form des Schmuggels. Freilich möchten nur wenige Schmuggler sich diese Rechenschaft über ihr Tun zu geben wissen, aber der Instinkt des Egoismus ersetzt ihr Bewusstsein. Von der Pressfreiheit habe Ich dasselbe oben gezeigt.

Alles ist mein eigen, darum hole Ich Mir wieder, was sich Mir entziehen will, vor allem aber hole Ich Mich stets wieder, wenn Ich zu irgend einer Dienstbarkeit Mir entschlüpfet bin. Aber auch dies ist nicht mein Beruf, sondern meine natürliche Tat. Genug, es ist ein mächtiger Unterschied, ob Ich Mich zum Ausgangs- oder zum Zielpunkt mache. Als letzeren habe Ich Mich nicht, bin Mir mithin noch fremd, bin mein Wesen, mein »wahres Wesen«, und dieses Mir fremde »wahre Wesen« wird als ein Spuk von tausenderlei Namen sein Gespött mit Mir treiben. Weil Ich noch nicht Ich bin, so ist ein Anderer (wie Gott, der wahre Mensch, der wahrhaft Fromme, der Vernünftige, der Freie usw.) Ich, mein Ich. Von Mir noch fern trenne Ich Mich in zwei Hälften, deren eine, die unerreichte und zu erfüllende, die wahre ist. Die eine, die unwahre, muss zum Opfer gebracht werden, nämlich die ungeistige; die andere, die wahre, soll der ganze Mensch sein, nämlich der Geist. Dann heisst es: »Der Geist ist das eigentliche Wesen des Menschen« oder »der Mensch existiert als Mensch nur geistig«. Nun geht es mit Gier darauf los, den Geist zu fahen, als hätte man sich dann erwischt, und so im Jagen nach sich verliert man sich, der man ist, aus den Augen. Und wie man stürmisch sich selbst, dem nie erreichten, nachsetzt, so verachtet man auch die Regel der Klugen, die Menschen zu nehmen wie sie sind, und nimmt sie lieber wie sie sein sollen, hetzt deshalb jeden hinter seinem seinsollenden Ich her und »strebt alle zu gleich berechtigten, gleich achtbaren, gleich sittlichen oder vernünftigen Menschen zu machen«. (99) Ja, »wenn die Menschen wären, wie sie sein sollten, sein könnten, wenn alle Menschen vernünftig wären, alle einander als Brüder liebten«, dann wär's ein paradiesisches Leben. (100) - Wohlan, die Menschen sind, wie sie sein sollen, sein können. Was sollen sie sein? Doch wohl nicht mehr als sie sein können! Und was können sie sein? Auch eben nicht mehr als sie - können, d.h. als sie das Vermögen, die Kraft zu sein haben. Das aber sind sie wirklich, weil, was sie nicht sind, sie zu sein nicht imstande sind: denn imstande sein heisst - wirklich sein. Man ist nichts imstande, was man nicht wirklich ist, man ist nichts imstande zu tun, was man nicht wirklich tut. Könnte ein am Star Erblindeter sehen? O ja, wenn er sich den Star glücklich stechen liesse. Allein jetzt kann er nicht sehen, weil er nicht sieht. Möglichkeit und Wirklichkeit fallen immer zusammen. Man kann nichts, was man nicht tut, wie man nichts tut, was man nicht kann. Die Sonderbarkeit dieser Behauptung verschwindet, wenn man erwägt, dass die Worte »es ist möglich, dass usw.« fast nie einen andern Sinn in sich bergen, als diesen: »Ich kann Mir denken, dass usw.« z.B. Es ist möglich, dass alle Menschen vernünftig leben, d.h. Ich kann Mir denken, dass alle usw. Da nun mein Denken nicht bewirken kann, mithin auch nicht bewirkt, dass alle Menschen vernünftig leben, sondern dies den Menschen selbst überlassen bleiben muss, so ist die allgemeine Vernunft für Mich nur denkbar, eine Denkbarkeit, als solche aber in der Tat eine Wirklichkeit, die nur in Bezug auf das, was Ich nicht machen kann, nämlich die Vernünftigkeit der anderen, eine Möglichkeit genannt wird. So weit es von Dir abhängt, könnten alle Menschen vernünftig sein, denn Du hast nichts dagegen, ja so weit dein Denken reicht, kannst Du vielleicht auch kein Hindernis entdecken, und mithin steht auch in deinem Denken der Sache nichts entgegen: sie ist Dir denkbar. Aber da die Menschen nun doch nicht alle vernünftig sind, so werden sie es auch wohl - nicht sein können.

Ist oder geschieht etwas nicht, wovon man sich vorstellt, es wäre doch leicht möglich, so kann man versichert sein, es stehe der Sache etwas im Wege und sie sei - unmöglich. Unsere Zeit hat ihre Kunst, Wissenschaft usw.: die Kunst mag herzlich schlecht sein; darf man aber sagen, Wir verdienten eine bessere zu haben und »könnten« sie haben, wenn Wir nur wollten? Wir haben gerade so viel Kunst, als Wir haben können. Unsere heutige Kunst ist die dermalen einzig mögliche und darum wirkliche. Selbst in dem Verstande, worauf man das Wort »möglich«, zuletzt noch reduzieren könnte, dass es »zukünftig« bedeute, behält es die volle Kraft des »Wirklichen«. Sagt man z.B. Es ist möglich, dass morgen die Sonne aufgeht, - so heisst dies nur: für das Heute ist das Morgen die wirkliche Zukunft; denn es bedarf wohl kaum der Andeutung, dass eine Zukunft nur dann wirkliche »Zukunft« ist, wenn sie noch nicht erschienen ist. Jedoch wozu diese Würdigung eines Wortes? Hielte sich nicht der folgenreichste Missverstand von Jahrtausenden dahinter versteckt, spukte nicht aller Spuk der besessenen Menschen in diesem einzigen Begriffe des Wörtleins »möglich«, so sollte Uns seine Betrachtung hier wenig kümmern. Der Gedanke, wurde eben gezeigt, beherrscht die besessene Welt. Nun denn, die Möglichkeit ist nichts anders, als die Denkbarkeit, und der grässlichen Denkbarkeit sind seither unzählige Opfer gefallen. Es war denkbar, dass die Menschen vernünftig werden könnten, denkbar, dass sie Christum erkennen, denkbar, dass sie für das Gute sich begeistern und sittlich werden, denkbar, dass sie alle in den Schoss der Kirche sich flüchten, denkbar, dass sie nichts Staatsgefährliches sinnen, sprechen und tun, denkbar, dass sie gehorsame Untertanen sein könnten: darum aber, weil es denkbar war, war es - so lautet der Schluss - möglich, und weiter, weil es den Menschen möglich war (hier eben liegt das Trügerische: weil es Mir denkbar ist, ist es den Menschen möglich), so sollten sie es sein, so war es ihr Beruf; und endlich - nur nach diesem Berufe, nur als Berufene, hat man die Menschen zu nehmen, nicht »wie sie sind, sondern wie sie sein sollen«. Und der weitere Schluss? Nicht der Einzelne ist der Mensch, sondern ein Gedanke, ein Ideal ist der Mensch, zu dem der Einzelne sich nicht einmal so verhält, wie das Kind zum Manne, sondern wie ein Kreidepunkt zu dem gedachten Punkte, oder wie ein - endliches Geschöpf zum ewigen Schöpfer, oder nach neuerer Ansicht, wie das Exemplar zur Gattung. Hier kommt denn die Verherrlichung der »Menschheit« zum Vorschein, der »ewigen, unsterblichen«, zu deren Ehre (in maiorem humanitatis gloriam) der Einzelne sich hingeben und seinen »unsterblichen Ruhm« darin finden muss, für den »Menschheitsgeist« etwas getan zu haben. So herrschen die Denkenden in der Welt, so lange die Pfaffen- oder Schulmeister-Zeit dauert, und was sie sich denken, das ist möglich, was aber möglich ist, das muss verwirklicht werden. Sie denken sich ein Menschen-Ideal, das einstweilen nur in ihren Gedanken wirklich ist; aber sie denken sich auch die Möglichkeit seiner Ausführung, und es ist nicht zu streiten, die Ausführung ist wirklich - denkbar, sie ist eine - Idee. Aber Ich und Du, Wir mögen zwar Leute sein, von denen sich ein Krummacher denken kann, dass Wir noch gute Christen werden könnten; wenn er Uns indes »bearbeiten« wollte, so würden Wir ihm bald fühlbar machen, dass unsere Christlichkeit nur denkbar, sonst aber unmöglich ist: er würde, grinste er Uns fort und fort mit seinen zudringlichen Gedanken, seinem »guten Glauben«, an, erfahren müssen, dass Wir gar nicht zu werden brauchen, was Wir nicht werden mögen. Und so geht es fort, weit über die Frömmsten und Frommen hinaus. »Wenn alle Menschen vernünftig wären, wenn alle das Rechte täten, wenn alle von Menschenliebe geleitet würden usw.«! Vernunft, Recht, Menschenliebe usw. wird als der Menschen Beruf, als Ziel ihres Trachtens ihnen vor Augen gestellt. Und was heisst vernünftig sein? Sich selbst vernehmen? Nein, die Vernunft ist ein Buch voll Gesetze, die alle gegen den Egoismus gegeben sind. Die bisherige Geschichte ist die Geschichte des geistigen Menschen. Nach der Periode der Sinnlichkeit beginnt die eigentliche Geschichte, d.h. die Periode der Geistigkeit, Geistlichkeit, Unsinnlichkeit, Ãœbersinnlichkeit, Unsinnigkeit. Der Mensch fängt nur an, etwas sein und werden zu wollen. Was? Gut, schön, wahr; näher sittlich, fromm, wohlgefällig usw. Er will einen »rechten Menschen«, »etwas Rechtes« aus sich machen. Der Mensch ist sein Ziel, sein Sollen, seine Bestimmung, Beruf, Aufgabe, sein - Ideal: er ist sich ein Zukünftiger, Jenseitiger. Und was macht aus ihm einen »rechten Kerl«? Das Wahrsein, Gutsein, Sittlichkeit u. dgl. Nun sieht er jeden scheel an, der nicht dasselbe »Was« anerkennt, dieselbe Sittlichkeit sucht, denselben Glauben hat: er verjagt die »Separatisten, Ketzer, Sekten« usw. Kein Schaf, kein Hund bemüht sich, ein »rechtes Schaf, ein rechter Hund« zu werden; keinem Tier erscheint sein Wesen als eine Aufgabe, d.h. als ein Begriff, den es zu realisieren habe. Es realisiert sich, indem es sich auslebt, d.h. auflöst, vergeht. Es verlangt nicht, etwas Anderes zu sein oder zu werden, als es ist. Will Ich Euch raten, den Tieren zu gleichen? Dass Ihr Tiere werden sollt, dazu kann Ich wahrlich nicht ermuntern, da dies wieder eine Aufgabe, ein Ideal wäre (»Im Fleiss kann Dich die Biene meistern«). Auch wäre es dasselbe, als wünschte man den Tieren, dass sie Menschen werden. Eure Natur ist nun einmal eine menschliche, Ihr seid menschliche Naturen, d.h. Menschen. Aber eben weil Ihr das bereits seid, braucht Ihr's nicht erst zu werden. Auch Tiere werden »dressiert«, und ein dressiertes Tier leistet mancherlei Unnatürliches. Nur ist ein dressierter Hund für sich nichts besseres, als ein natürlicher, und hat keinen Gewinn davon, wenn er auch für Uns umgänglicher ist. Von jeher waren die Bemühungen im Schwange, alle Menschen zu sittlichen, vernünftigen, frommen, menschlichen u. dgl. »Wesen zu bilden«, d.h. die Dressur. Sie scheitern an der unbezwinglichen Ichheit, an der eigenen Natur, am Egoismus. Die Abgerichteten erreichen niemals ihr Ideal und bekennen sich nur mit dem Munde zu den erhabenen Grundsätzen, oder legen ein Bekenntnis, ein Glaubensbekenntnis, ab. Diesem Bekenntnisse gegenüber müssen sie im Leben sich »allzumal für Sünder erkennen« und bleiben hinter ihrem Ideal zurück, sind »schwache Menschen« und tragen sich mit dem Bewusstsein der »menschlichen Schwachheit«.

Anders, wenn Du nicht einem Ideal, als deiner »Bestimmung«, nachjagst, sondern Dich auflösest, wie die Zeit alles auflöst. Die Auflösung ist nicht deine »Bestimmung«, weil sie Gegenwart ist. Doch hat die Bildung, die Religiosität der Menschen diese allerdings frei gemacht, frei aber nur von einem Herrn, um sie einem andern zuzuführen. Meine Begierde habe Ich durch die Religion bezähmen gelernt, den Widerstand der Welt breche Ich durch die List, welche Mir von der Wissenschaft an die Hand gegeben wird; selbst keinem Menschen diene Ich: »Ich bin keines Menschen Knecht«. Aber dann kommt's: Du musst Gott mehr gehorchen als dem Menschen. Ebenso bin Ich zwar frei von der unvernünftigen Bestimmung durch meine Triebe, aber gehorsam der Herrin: Vernunft. Ich habe die »geistige Freiheit«, »Freiheit des Geistes« gewonnen. Damit bin Ich denn gerade dem Geiste untertan geworden. Der Geist befiehlt Mir, die Vernunft leitet Mich, sie sind meine Führer und Gebieter. Es herrschen die »Vernünftigen«, die »Diener des Geistes«. Wenn Ich aber nicht Fleisch bin, so bin Ich wahrlich auch nicht Geist. Freiheit des Geistes ist Knechtshaft Meiner, weil Ich mehr bin als Geist oder Fleisch.

Ohne Zweifel hat die Bildung Mich zum Gewaltigen gemacht. Sie hat Mir Gewalt über alle Antriebe gegeben, sowohl über die Triebe meiner Natur als über die Zumutungen und Gewalttätigkeiten der Welt. Ich weiss und habe durch die Bildung die Kraft dazu gewonnen, dass Ich Mich durch keine meiner Begierden, Lüste, Aufwallungen usw. zwingen zu lassen brauche: Ich bin ihr - Herr; gleicherweise werde Ich durch die Wissenschaften und Künste der Herr der widerspenstigen Welt, dem Meer und Erde gehorchen und selbst die Sterne Rede stehen müssen. Der Geist hat Mich zum Herrn gemacht. - Aber über den Geist selbst habe Ich keine Gewalt. Aus der Religion (Bildung) lerne Ich wohl die Mittel zur »Besiegung der Welt«, aber nicht, wie Ich auch Gott bezwinge und seiner Herr werde; denn Gott »ist der Geist«. Und zwar kann der Geist, dessen Ich nicht Herr zu werden vermag, die mannigfaltigsten Gestalten haben: er kann Gott heissen oder Volksgeist, Staat, Familie, Vernunft, auch - Freiheit, Menschlichkeit, Mensch.

Ich nehme mit Dank auf, was die Jahrhunderte der Bildung Mir erworben haben; nichts davon will Ich wegwerfen und aufgeben: Ich habe nicht umsonst gelebt. Die Erfahrung, dass Ich Gewalt über meine Natur habe und nicht der Sklave meiner Begierden zu sein brauche, soll Mir nicht verloren gehen; die Erfahrung, dass Ich durch Bildungsmittel die Welt bezwingen kann, ist zu teuer erkauft, als dass Ich sie vergessen könnte. Aber Ich will noch mehr.

Man fragt, was kann der Mensch werden, was kann er leisten, welche Güter sich verschaffen, und stellt das Höchste von allem als Beruf hin. Als wäre Mir alles möglich!

Wenn man Jemand in einer Sucht, einer Leidenschaft usw. verkommen sieht (z.B. im Schachergeist, Eifersucht), so regt sich das Verlangen ihn aus dieser Besessenheit zu erlösen und ihm zur »Selbstüberwindung« zu verhelfen. »Wir wollen einen Menschen aus ihm machen!« Das wäre recht schön, wenn nicht eine andere Besessenheit gleich an die Stelle der früheren gebracht würde. Von der Geldgier befreit man aber den Knecht derselben nur, um der Frömmigkeit, der Humanität oder welchem sonstigen Prinzip ihn zu überliefern und ihn von neuem auf einen festen Standpunkt zu versetzen.

Diese Versetzung von einem beschränkten Standpunkt auf einen erhabenen spricht sich in den Worten aus: der Sinn dürfe nicht auf das Vergängliche, sondern allein auf das Unvergängliche gerichtet sein, nicht aufs Zeitliche, sondern Ewige, Absolute, Göttliche, Reinmenschliche usw. - aufs Geistige. Man sah sehr bald ein, dass es nicht gleichgültig sei, woran man sein Herz hänge, oder womit man sich beschäftige; man erkannte die Wichtigkeit des Gegenstandes. Ein über die Einzelheit der Dinge erhabener Gegenstand ist das Wesen der Dinge; ja das Wesen ist allein das Denkbare an ihnen, ist für den denkenden Menschen. Darum richte nicht länger Deinen Sinn auf die Dinge, sondern Deine Gedanken auf das Wesen. »Selig sind, die nicht sehen und doch glauben«, d.h. selig sind die Denkenden, denn die haben's mit dem Unsichtbaren zu tun und glauben daran. Doch auch ein Gegenstand des Denkens, welcher Jahrhunderte lang einen wesentlichen Streitpunkt ausmachte, kommt zuletzt dahin, dass er »nicht mehr der Rede wert ist«. Das sah man ein, aber gleichwohl behielt man immer wieder eine für sich gültige Wichtigkeit des Gegenstandes, einen absoluten Wert desselben vor Augen, als wenn nicht die Puppe dem Kinde, der Koran dem Türken das Wichtigste wäre. Solange Ich Mir nicht das einzig Wichtige bin, ist's gleichgültig, von welchem Gegenstande Ich »viel Wesens« mache, und nur mein grösseres oder kleineres Verbrechen gegen ihn ist von Wert. Der Grad meiner Anhänglichkeit und Ergebenheit bezeichnet den Standpunkt meiner Dienstbarkeit, der Grad meiner Versündigung zeigt das Mass meiner Eigenheit.

Endlich aber muss man überhaupt sich alles »aus dem Sinn zu schlagen« wissen, schon um - einschlafen zu können. Es darf Uns nichts beschäftigen, womit Wir Uns nicht beschäftigen: der Ehrsüchtige kann seinen ehrgeizigen Plänen nicht entrinnen, der Gottesfürchtige nicht dem Gedanken an Gott; Vernarrtheit und Besessenheit fallen in Eins zusammen.

Sein Wesen realisieren oder seinem Begriffe gemäss leben zu wollen, was bei den Gottgläubigen so viel als »fromm« sein bedeutet, bei den Menschheitsgläubigen »menschlich« leben heisst, kann nur der sinnliche und sündige Mensch sich vorsetzen, der Mensch, solange er zwischen Sinnenglück und Seelenfrieden die bange Wahl hat, der Mensch, solange er ein »armer Sünder« ist. Der Christ ist nichts anderes, als ein sinnlicher Mensch, der, indem er vom Heiligen weiss und sich bewusst ist, dass er dasselbe verletzt, in sich einen armen Sünder sieht: Sinnlichkeit, als »Sündlichkeit« gewusst, das ist christliches Bewusstsein, das ist der Christ selber. Und wenn nun »Sünde« und »Sündlichkeit« von Neueren nicht mehr in den Mund genommen wird, statt dessen aber »Egoismus«, »Selbstsucht«, »Eigennützigkeit« u. dergl. ihnen zu schaffen macht, wenn der Teufel in den »Unmenschen« oder »egoistischen Menschen« Ã¼bersetzt wurde, ist dann der Christ weniger vorhanden als vorher? Ist nicht der alte Zwiespalt zwischen Gut und Böse, ist nicht ein Richter über Uns, der Mensch, ist nicht ein Beruf, der Beruf, sich zum Menschen zu machen, geblieben? Nennt man's nicht mehr Beruf, sondern »Aufgabe« oder auch wohl »Pflicht«, so ist die Namensänderung ganz richtig, weil »der Mensch« nicht gleich Gott ein persönliches Wesen ist, das »rufen« kann; aber ausser dem Namen bleibt die Sache beim Alten.

Es hat jeder ein Verhältnis zu den Objekten, und zwar verhält sich jeder anders zu denselben. Wählen Wir als Beispiel jenes Buch, zu welchem Millionen Menschen zweier Jahrtausende ein Verhältnis hatten, die Bibel. Was ist, was war sie einem jeden? Durchaus nur das, was er aus ihr machte! Wer sich gar nichts aus ihr macht, für den ist sie gar nichts; wer sie als Amulett gebraucht, für den hat sie lediglich den Wert, die Bedeutung eines Zaubermittels; wer, wie Kinder, damit spielt, für den ist sie nichts als ein Spielzeug usw.

Nun verlangt das Christentum, dass sie für alle dasselbe sein soll, etwa das heilige Buch oder die »heilige Schrift«. Dies heisst so viel als dass die Ansicht des Christen auch die der andern Menschen sein soll, und dass Niemand sich anders zu jenem Objekt verhalten dürfe. Damit wird denn die Eigenheit des Verhaltens zerstört, und Ein Sinn, eine Gesinnung, als der »wahre«, der »allein wahre« festgesetzt. Mit der Freiheit, aus der Bibel zu machen, was Ich daraus machen will, wird die Freiheit des Machens überhaupt gehindert, und an deren Stelle der Zwang einer Ansicht oder eines Urteils gesetzt. Wer das Urteil fällte, es sei die Bibel ein langer Irrtum der Menschheit, der urteilte - verbrecherisch.

In der Tat urteilt das Kind, welches sie zerfetzt oder damit spielt, der Inka Atahualpa, der sein Ohr daran legt und sie verächtlich wegwirft, als sie stumm bleibt, eben so richtig über die Bibel, als der Pfaffe, welcher in ihr das »Wort Gottes« anpreist, oder der Kritiker, der sie ein Machwerk von Menschenhänden nennt. Denn wie Wir mit den Dingen umspringen, das ist die Sache unseres Beliebens, unserer Willkür: Wir gebrauchen sie nach Herzenslust, oder deutlicher, Wir gebrauchen sie, wie Wir eben können. Worüber schreien denn die Pfaffen, wenn sie sehen, wie Hegel und die spekulativen Theologen aus dem Inhalte der Bibel spekulative Gedanken machen? Gerade darüber, dass jene nach Herzenslust damit gebaren oder »willkürlich damit verfahren«.

Weil Wir aber alle im Behandeln der Objekte Uns willkürlich zeigen, d.h. so mit ihnen umgehen, wie es Uns am besten gefällt, nach unserem Gefallen (dem Philosophen gefällt nichts so sehr, als wenn er in allem eine »Idee« aufspüren kann, wie es dem Gottesfürchtigen gefällt, durch alles, also z.B. durch Heilighaltung der Bibel, sich Gott zum Freunde zu machen): so begegnen Wir nirgends so peinlicher Willkür, so fürchterlicher Gewalttätigkeit, so dummem Zwange, als eben in diesem Gebiete unserer - eigenen Willkür. Verfahren Wir willkürlich, indem Wir die heiligen Gegenstände so oder so nehmen, wie wollen Wir's da den Pfaffengeistern verargen, wenn sie Uns ebenso willkürlich nach ihrer Art nehmen, und Uns des Ketzerfeuers oder einer andern Strafe, etwa der - Zensur, würdig erachten? Was ein Mensch ist, das macht er aus den Dingen; »wie Du die Welt anschaust, so schaut sie Dich wieder an«. Da lässt sich denn gleich der weise Rat vernehmen: Du musst sie nur »recht, unbefangen« usw. anschauen. Als ob das Kind die Bibel nicht »recht und unbefangen« anschaute, wenn es dieselbe zum Spielzeug macht. Jene kluge Weisung gibt Uns z.B. Feuerbach. (101) Die Dinge schaut man eben recht an, wenn man aus ihnen macht, was man will (unter Dingen sind hier Objekte, Gegenstände überhaupt verstanden, wie Gott, unsere Mitmenschen, ein Liebchen, ein Buch, ein Tier usw.). Und darum sind die Dinge und ihre Anschauung nicht das Erste, sondern Ich bin's, mein Wille ist's. Man will Gedanken aus den Dingen herausbringen, will Vernunft in der Welt entdecken, will Heiligkeit in ihr haben: daher wird man sie finden. »Suchet, so werdet Ihr finden.« Was Ich suchen will, das bestimme Ich: Ich will Mir z.B. aus der Bibel Erbauung holen: sie ist zu finden; Ich will die Bibel gründlich lesen und prüfen: es wird Mir eine gründliche Belehrung und Kritik entstehen - nach meinen Kräften. Ich erkiese Mir das, wonach mein Sinn steht, und erkiesend beweise Ich Mich - willkürlich.

Hieran knüpft sich die Einsicht, dass jedes Urteil, welches Ich über ein Objekt fälle, das Geschöpf meines Willens ist, und wiederum leitet Mich jene Einsicht dahin, dass Ich Mich nicht an das Geschöpf, das Urteil, verliere, sondern der Schöpfer bleibe, der Urteilende, der stets von neuem schafft. Alle Prädikate von den Gegenständen sind meine Aussagen, meine Urteile, meine - Geschöpfe. Wollen sie sich losreissen von Mir, und etwas für sich sein, oder gar Mir imponieren, so habe Ich nichts Eiligeres zu tun, als sie in ihr Nichts, d.h. in Mich, den Schöpfer, zurückzunehmen. Gott, Christus, Dreieinigkeit, Sittlichkeit, das Gute usw. sind solche Geschöpfe, von denen Ich Mir nicht bloss erlauben muss, zu sagen, sie seien Wahrheiten, sondern auch, sie seien Täuschungen. Wie Ich einmal ihr Dasein gewollt und dekretiert habe, so will Ich auch ihr Nichtsein wollen dürfen; Ich darf sie Mir nicht über den Kopf wachsen, darf nicht die Schwachheit haben, etwas »Absolutes« aus ihnen werden zu lassen, wodurch sie verewigt und meiner Macht und Bestimmung entzogen würden. Damit würde Ich dem Stabilitätsprinzip verfallen, dem eigentlichen Lebensprinzip der Religion, die sich's angelegen sein lässt, »unantastbare Heiligtümer«, »ewige Wahrheiten«, kurz ein »Heiliges« zu kreieren und Dir das Deinige zu entziehen.

Das Objekt macht Uns in seiner heiligen Gestalt ebenso zu Besessenen, wie in seiner unheiligen, als übersinnliches Objekt ebenso, wie als sinnliches. Auf beide bezieht sich die Begierde oder Sucht, und auf gleicher Stufe stehen Geldgier und Sehnsucht nach dem Himmel. Als die Aufklärer die Leute für die sinnliche Welt gewinnen wollten, predigte Lavater die Sehnsucht nach dem Unsichtbaren. Rührung wollen die Einen hervorrufen, Rührigkeit die anderen.

Die Auffassung der Gegenstände ist eine durchaus verschiedene, wie denn Gott, Christus, Welt usw. auf die mannigfaltigste Weise aufgefasst wurden und werden. Jeder ist darin ein »Andersdenkender«, und nach blutigen Kämpfen hat man endlich so viel erreicht, dass die entgegengesetzten Ansichten über ein und denselben Gegenstand nicht mehr als todeswürdige Ketzereien verurteilt werden. Die »Andersdenkenden« vertragen sich. Allein warum sollte Ich nur anders über eine Sache denken, warum nicht das Andersdenken bis zu seiner letzten Spitze treiben, nämlich zu der, gar nichts mehr von der Sache zu halten, also ihr Nichts zu denken, sie zu ekrasieren? Dann hat die Auffassung selbst ein Ende, weil nichts mehr aufzufassen ist. Warum soll Ich wohl sagen:

Gott ist nicht Allah, nicht Brahma, nicht Jehovah, sondern - Gott; warum aber nicht: Gott ist nichts, als eine Täuschung? Warum brandmarkt man Mich, wenn Ich ein »Gottesleugner« bin? Weil man das Geschöpf über den Schöpfer setzt (»Sie ehren und dienen dem Geschöpf mehr, denn dem Schöpfer« (102)) und ein herrschendes Objekt braucht, damit das Subjekt hübsch unterwürfig diene. Ich soll unter das Absolute Mich beugen, Ich soll es.

Durch das »Reich der Gedanken« hat das Christentum sich vollendet, der Gedanke ist jene Innerlichkeit, in welcher alle Lichter der Welt erlöschen, alle Existenz existenzlos wird, der innerliche Mensch (das Herz, der Kopf) alles in allem ist. Dies Reich der Gedanken harret seiner Erlösung, harret gleich der Sphinx des ödipischen Rätselwortes, damit es endlich eingehe in seinen Tod. Ich bin der Vernichter seines Bestandes, denn im Reiche des Schöpfers bildet es kein eigenes Reich mehr, keinen Staat im Staate, sondern ein Geschöpf meiner schaffenden - Gedankenlosigkeit. Nur zugleich und zusammen mit der erstarrten, denkenden Welt kann die Christenwelt, das Christentum und die Religion selbst, zugrunde gehen; nur wenn die Gedanken ausgehen, gibt es keine Gläubigen mehr. Es ist dem Denkenden sein Denken eine »erhabene Arbeit, eine heilige Tätigkeit«, und es ruht auf einem festen Glauben, dem Glauben an die Wahrheit. Zuerst ist das Beten eine heilige Tätigkeit, dann geht diese heilige »Andacht« in ein vernünftiges und räsonierendes »Denken« Ã¼ber, das aber gleichfalls an der »heiligen Wahrheit« seine unverrückbare Glaubensbasis behält, und nur eine wundervolle Maschine ist, welche der Geist der Wahrheit zu seinem Dienste aufzieht. Das freie Denken und die freie Wissenschaft beschäftigt Mich - denn nicht Ich bin frei, nicht Ich beschäftige Mich, sondern das Denken ist frei und beschäftigt Mich - mit dem Himmel und dem Himmlischen oder »Göttlichen«, das heisst eigentlich, mit der Welt und dem Weltlichen, nur eben mit einer »andern« Welt; es ist nur die Umkehrung und Verrückung der Welt, eine Beschäftigung mit dem Wesen der Welt, daher eine Verrücktheit. Der Denkende ist blind gegen die Unmittelbarkeit der Dinge und sie zu bemeistern unfähig: er isst nicht, trinkt nicht, geniesst nicht, denn der Essende und Trinkende ist niemals der Denkende, ja dieser vergisst Essen und Trinken, sein Fortkommen im Leben, die Nahrungssorgen usw. über das Denken; er vergisst es, wie der Betende es auch vergisst. Darum erscheint er auch dem kräftigen Natursohne als ein närrischer Kauz, ein Narr, wenngleich er ihn für heilig ansieht, wie den Alten die Rasenden so erschienen. Das freie Denken ist Raserei, weil reine Bewegung der Innerlichkeit, der bloss innerliche Mensch, welcher den übrigen Menschen leitet und regelt. Der Schamane und der spekulative Philosoph bezeichnen die unterste und oberste Sprosse an der Stufenleiter des innerlichen Menschen, des - Mongolen. Schamane und Philosoph kämpfen mit Gespenstern, Dämonen, Geistern, Göttern.

Von diesem freien Denken total verschieden ist das eigene Denken, mein Denken, ein Denken, welches nicht Mich leitet, sondern von Mir geleitet, fortgeführt oder abgebrochen wird, je nach meinem Gefallen. Dies eigene Denken unterscheidet sich von dem freien Denken ähnlich, wie die eigene Sinnlichkeit, welche Ich nach Gefallen befriedige, von der freien, unbändigen, der Ich erliege. Feuerbach pocht in den »Grundsätzen der Philosophie der Zukunft« immer auf das Sein. Darin bleibt auch er, bei aller Gegnerschaft gegen Hegel und die absolute Philosophie, in der Abstraktion stecken; denn »das Sein« ist Abstraktion, wie selbst »das Ich«. Nur Ich bin nicht Abstraktion allein, Ich bin alles in allem, folglich selbst Abstraktion oder Nichts, Ich bin alles und Nichts; Ich bin kein blosser Gedanke, aber Ich bin zugleich voller Gedanken, eine Gedankenwelt. Hegel verurteilt das Eigene, das Meinige, die - »Meinung«. Das »absolute Denken« ist dasjenige Denken, welches vergisst, dass es mein Denken ist, dass Ich denke und dass es nur durch Mich ist. Als Ich aber verschlinge Ich das Meinige wieder, bin Herr desselben, es ist nur meine Meinung, die Ich in jedem Augenblicke ändern, d.h. vernichten, in Mich zurücknehmen und aufzehren kann. Feuerbach will Hegels »absolutes Denken« durch das unüberwundene Sein schlagen. Das Sein ist aber in Mir so gut überwunden als das Denken. Es ist mein Sinn [Sein?], wie jenes mein Denken. Dabei kommt Feuerbach natürlich nicht weiter, als zu dem an sich trivialen Beweise, dass Ich die Sinne zu allem brauche oder dass Ich diese Organe nicht gänzlich entbehren kann. Freilich kann Ich nicht denken, wenn Ich nicht sinnlich existiere. Allein zum Denken wie zum Empfinden, also zum Abstrakten wie zum Sinnlichen brauche Ich vor allen Dingen Mich, und zwar Mich, diesen ganz Bestimmten, Mich diesen Einzigen. Wäre Ich nicht dieser, z.B. Hegel, so schaute Ich die Welt nicht so an, wie Ich sie anschaue, Ich fände aus ihr nicht dasjenige philosophische System heraus, welches gerade Ich als Hegel finde usw. Ich hätte zwar Sinne wie die andern Leute auch, aber Ich benutzte sie nicht so, wie Ich es tue.

So wird von Feuerbach gegen Hegel der Vorwurf aufgebracht, (103) dass er die Sprache missbrauche, indem er anderes unter manchen Worten verstehe, als wofür das natürliche Bewusstsein sie nehme, und doch begeht auch er denselben Fehler, wenn er dem »Sinnlichen« einen so eminenten Sinn gibt, wie er nicht gebräuchlich ist. So heisst es S. 68-69: »das Sinnliche sei nicht das Profane, Gedankenlose, das auf platter Hand Liegende, das sich von selbst Verstehende«. Ist es aber das Heilige, das Gedankenvolle, das verborgen Liegende, das nur durch Vermittlung Verständliche - nun so ist es nicht mehr das, was man das Sinnliche nennt. Das Sinnliche ist nur dasjenige, was für die Sinne ist; was hingegen nur denjenigen geniessbar ist, die mit mehr als den Sinnen geniessen, die über den Sinnengenuss oder die Sinnenempfängnis hinausgehen, das ist höchstens durch die Sinne vermittelt oder zugeführt, d.h. die Sinne machen zur Erlangung desselben eine Bedingung aus, aber es ist nichts Sinnliches mehr. Das Sinnliche, was es auch sei, in Mich aufgenommen, wird ein Unsinnliches, welches indes wieder sinnliche Wirkungen haben kann, z.B. durch Aufregung meiner Affekte und meines Blutes. Es ist schon gut, dass Feuerbach die Sinnlichkeit zu Ehren bringt, aber er weiss dabei nur den Materialismus seiner »neuen Philosophie« mit dem bisherigen Eigentum des Idealismus, der »absoluten Philosophie«, zu bekleiden. So wenig die Leute sich's einreden lassen, dass man vom »Geistigen« allein, ohne Brot, leben könne, so wenig werden sie ihm glauben, dass man als ein Sinnlicher schon alles sei, also geistig, gedankenvoll usw.

Durch das Sein wird gar nichts gerechtfertigt. Das Gedachte ist so gut als das Nicht-Gedachte, der Stein auf der Strasse ist und meine Vorstellung von ihm ist auch. Beide sind nur in verschiedenen Räumen, jener im luftigen, dieser in meinem Kopfe, in Mir: denn Ich bin Raum wie die Strasse. Die Zünftigen oder Privilegierten dulden keine Gedankenfreiheit, d.h. keine Gedanken, die nicht von dem »Geber alles Guten« kommen, hiesse dieser Geber Gott, Papst, Kirche oder wie sonst. Hat Jemand dergleichen illegitime Gedanken, so muss er sie seinem Beichtvater ins Ohr sagen und sich von ihm so lange kasteien lassen, bis den freien Gedanken die Sklavenpeitsche unerträglich wird. Auch auf andere Weise sorgt der Zunftgeist dafür, dass freie Gedanken gar nicht kommen, vor allem durch eine weise Erziehung. Wem die Grundsätze der Moral gehörig eingeprägt wurden, der wird von moralischen Gedanken niemals wieder frei, und Raub, Meineid, Ãœbervorteilung u. dgl. bleiben ihm fixe Ideen, gegen die ihn keine Gedankenfreiheit schützt. Er hat seine Gedanken »von oben« und bleibt dabei.

Anders die Konzessionierten oder Patentierten. Jeder muss Gedanken haben und sich machen können, wie er will. Wenn er das Patent oder die Konzession einer Denkfähigkeit hat, so braucht er kein besonderes Privilegium. Da aber »alle Menschen vernünftig sind«, so steht jedem frei, irgendwelche Gedanken sich in den Kopf zu setzen, und je nach dem Patent seiner Naturbegabung einen grösseren oder geringeren Gedankenreichtum zu haben. Nun hört man die Ermahnungen, dass man »alle Meinungen und Ãœberzeugungen zu ehren habe«, dass »jede Ãœberzeugung berechtigt sei«, dass man »gegen die Ansichten Anderer tolerant« sein müsse usw.

Aber »eure Gedanken sind nicht meine Gedanken und eure Wege sind nicht meine Wege«. Oder vielmehr das Umgekehrte will Ich sagen: Eure Gedanken sind meine Gedanken, mit denen Ich schalte, wie Ich will, und die ich unbarmherzig niederschlage: sie sind mein Eigentum, welches Ich, so Mir's beliebt, vernichte. Ich erwarte von Euch nicht erst die Berechtigung, um eure Gedanken zu zersetzen und zu verblasen. Mich schiert es nicht, dass Ihr diese Gedanken auch die eurigen nennt, sie bleiben gleichwohl die meinigen, und wie Ich mit ihnen verfahren will, ist meine Sache, keine Anmassung. Es kann Mir gefallen, Euch bei euren Gedanken zu lassen; dann schweige Ich. Glaubt Ihr, die Gedanken flögen so vogelfrei umher, dass sich jeder welche holen dürfte, die er dann als sein untastbares Eigentum gegen Mich geltend machte? Was umherfliegt, ist alles - mein.

Glaubt Ihr, eure Gedanken hättet Ihr für Euch und brauchtet sie vor keinem zu verantworten, oder, wie Ihr auch wohl sagt, Ihr hättet darüber nur Gott Rechenschaft abzulegen? Nein, eure grossen und kleinen Gedanken gehören Mir, und Ich behandle sie nach meinem Gefallen.

Eigen ist Mir der Gedanke erst, wenn Ich ihn jeden Augenblick in Todesgefahr zu bringen kein Bedenken trage, wenn Ich seinen Verlust nicht als einen Verlust für Mich, einen Verlust Meiner, zu fürchten habe. Mein eigen ist der Gedanke erst dann, wenn Ich zwar ihn, er aber niemals Mich unterjochen kann, nie Mich fanatisiert, zum Werkzeug seiner Realisation macht.

Also Gedankenfreiheit existiert, wenn Ich alle möglichen Gedanken haben kann; Eigentum aber werden die Gedanken erst dadurch, dass sie nicht zu Herren werden können. In der Zeit der Gedankenfreiheit herrschen Gedanken (Ideen); bringe Ich's aber zum Gedankeneigentum, so verhalten sie sich als meine Kreaturen.

Wäre die Hierarchie nicht so ins Innere gedrungen, dass sie den Menschen allen Mut benahm, freie, d.h. Gott vielleicht missfällige Gedanken zu verfolgen, so müsste man Gedankenfreiheit für ein ebenso leeres Wort ansehen, wie etwa eine Verdauungsfreiheit. Nach der Meinung der Zünftigen wird Mir der Gedanke gegeben, nach der der Freidenker suche Ich den Gedanken. Dort ist die Wahrheit bereits gefunden und vorhanden, nur muss Ich sie vom Geber derselben durch Gnade - empfangen; hier ist die Wahrheit zu suchen und mein in der Zukunft liegendes Ziel, nach welchem Ich zu rennen habe.

In beiden Fällen liegt die Wahrheit (der wahre Gedanke) ausser Mir, und Ich trachte ihn zu bekommen, sei es durch Geschenk (Gnade), sei es durch Erwerb (eigenes Verdienst). Also l) Die Wahrheit ist ein Privilegium, 2) Nein, der Weg zu ihr ist allen patent, und weder die Bibel, noch der heilige Vater, oder die Kirche oder wer sonst ist im Besitz der Wahrheit; aber man kann ihren Besitz - erspekulieren.

Beide, das sieht man, sind eigentumslos in Beziehung auf die Wahrheit: sie haben sie entweder als Lehen (denn der »heilige Vater« z.B. ist kein Einziger; als Einziger ist er dieser Sixtus, Clemens usw., aber als Sixtus, Clemens usw. hat er die Wahrheit nicht, sondern als »heiliger Vater«, d.h. als ein Geist), oder als Ideal. Als Lehen ist sie nur für Wenige (Privilegierte), als Ideal für alle (Patentierte).

Gedankenfreiheit hat also den Sinn, dass Wir zwar alle im Dunkel und auf den Wegen des Irrtums wandeln, jederaber auf diesem Wege sich der Wahrheit nähern könne und mithin auf dem rechten Wege sei (»Jede Strasse führt nach Rom, ans Ende der Welt usw.«). Gedankenfreiheit bedeutet daher so viel, dass Mir der wahre Gedanke nicht eigen sei; denn wäre er dies, wie wollte man Mich von ihm abschliessen?

Das Denken ist ganz frei geworden, und hat eine Menge von Wahrheiten aufgestellt, denen Ich Mich fügen muss. Es sucht sich zu einem System zu vollenden und zu einer absoluten »Verfassung« zu bringen. Im Staate z.B. sucht es etwa nach der Idee so lange, bis es den »Vernunft-Staat« herausgebracht hat, in welchem Ich Mir's dann recht sein lassen muss; im Menschen (der Anthropologie) so lange, bis es »den Menschen gefunden hat«.

Der Denkende unterscheidet sich vom Glaubenden nur dadurch, dass er viel mehr glaubt als dieser, der sich seinerseits bei seinem Glauben (Glaubensartikel) viel weniger denkt. Der Denkende hat tausend Glaubenssätze, wo der Gläubige mit wenigen auskommt; aber jener bringt in seine Sätze Zusammenhang und nimmt wiederum den Zusammenhang für den Massstab ihrer Würdigung. Passt ihm einer oder der andere nicht in seinen Kram, so wirft er ihn hinaus.

Die Denkenden laufen in ihren Aussprüchen den Gläubigen parallel. Statt: »Wenn es aus Gott ist, werdet Ihr's nicht tilgen«, heisst's: »Wenn es aus der Wahrheit ist, wahr ist«; statt: »Gebt Gott die Ehre« - »Gebt der Wahrheit die Ehre«. Es gilt Mir aber sehr gleich, ob Gott oder die Wahrheit siegt; zuvörderst will Ich siegen.

Wie soll übrigens innerhalb des Staates oder der Gesellschaft eine »unbeschränkte Freiheit« denkbar sein? Es kann der Staat wohl einen gegen den anderen schützen, aber sich selbst darf er doch nicht durch eine ungemessene Freiheit, eine sogenannte Zügellosigkeit, gefährden lassen. So erklärt der Staat bei der »Unterrichtsfreiheit« nur dies, dass ihm jeder recht sei, der, wie es der Staat, oder fasslicher gesprochen, die Staatsgewalt haben will, unterrichtet. Auf dies »wie es der Staat haben will« kommt es für die Konkurrierenden an. Will z.B. die Geistlichkeit nicht, wie der Staat, so schliesst sie sich selber von der Konkurrenz aus (s. Frankreich). Die Grenze, welche im Staate aller und jeder Konkurrenz notwendig gezogen wird, nennt man »die Ãœberwachung und Oberaufsicht des Staates«. Indem der Staat die Unterrichtsfreiheit in die gebührenden Schranken weist, setzt er zugleich der Gedankenfreiheit ihr Ziel, weil nämlich die Leute in der Regel nicht weiter denken, als ihre Lehrer gedacht haben.

Man höre den Minister Guizot: (104) »Die grosse Schwierigkeit der heutigen Zeit ist die Leitung und Beherrschung des Geistes. Ehemals erfüllte die Kirche diese Mission, jetzt ist sie dazu nicht hinreichend. Die Universität ist es, von der dieser grosse Dienst erwartet werden muss, und sie wird nicht ermangeln, ihn zu leisten. Wir, die Regierung, haben die Pflicht, sie darin zu unterstützen. Die Charte will die Freiheit des Gedankens und die des Gewissens.« Zu Gunsten also der Gedanken- und Gewissensfreiheit fordert der Minister »die Leitung und Beherrschung des Geistes«. Der Katholizismus zog den Examinanden vor das Forum der Kirchlichkeit, der Protestantismus vor das der biblischen Christlichkeit. Es wäre nur wenig gebessert, wenn man ihn vor das der Vernunft zöge, wie z.B. Ruge will. (105) Ob die Kirche, die Bibel oder die Vernunft (auf die sich übrigens schon Luther und Huss beriefen) die heilige Autorität ist, macht im Wesentlichen keinen Unterschied. Lösbar wird die »Frage unserer Zeit« noch nicht einmal dann, wenn man sie so stellt: Ist irgend ein Allgemeines berechtigt oder nur das Einzelne? Ist die Allgemeinheit (wie Staat, Gesetz, Sitte, Sittlichkeit usw.) berechtigt oder die Einzelheit? Lösbar wird sie erst, wenn man überhaupt nicht mehr nach einer »Berechtigung« fragt und keinen blossen Kampf gegen »Privilegien« führt. - Eine »vernünftige« Lehrfreiheit, die »nur das Gewissen der Vernunft anerkennt«, (106) bringt Uns nicht zum Ziele; Wir brauchen vielmehr eine egoistische, eine Lehrfreiheit für alle Eigenheit, worin Ich zu einem Vernehmbaren werde und mich ungehemmt kund geben kann. Dass Ich Mich »vernehmbar« mache, das allein ist »Vernunft«, sei Ich auch noch so unvernünftig; indem Ich Mich vernehmen lasse und so Mich selbst vernehme, geniessen Andere sowohl als Ich selber Mich, und verzehren Mich zugleich. Was wäre denn gewonnen, wenn, wie früher das rechtgläubige, das loyale, das sittliche usw. Ich frei war, nun das vernünftige Ich frei würde? Wäre dies die Freiheit Meiner?

Bin Ich als »vernünftiges Ich« frei, so ist das Vernünftige an Mir oder die Vernunft frei, und diese Freiheit der Vernunft oder Freiheit des Gedankens war von jeher das Ideal der christlichen Welt. Das Denken - und, wie gesagt, ist der Glaube auch Denken, wie das Denken Glaube ist - wollte man freimachen, die Denkenden, d.h. sowohl die Gläubigen als die Vernünftigen, sollten frei sein, für die Ãœbrigen war Freiheit unmöglich. Die Freiheit der Denkenden aber ist die »Freiheit der Kinder Gottes« und zugleich die unbarmherzigste - Hierarchie oder Herrschaft des Gedankens: denn dem Gedanken erliege Ich. Sind die Gedanken frei, so bin Ich ihr Sklave, so habe Ich keine Gewalt über sie und werde von ihnen beherrscht. Ich aber will den Gedanken haben, will voller Gedanken sein, aber zugleich will Ich gedankenlos sein, und bewahre Mir statt der Gedankenfreiheit die Gedankenlosigkeit. Kommt es darauf an, sich zu verständigen und mitzuteilen, so kann Ich allerdings nur von den menschlichen Mitteln Gebrauch machen, die Mir, weil Ich zugleich Mensch bin, zu Gebote stehen. Und wirklich habe Ich nur als Mensch Gedanken, als Ich bin Ich zugleich gedankenlos. Wer einen Gedanken nicht los werden kann, der ist soweit nur Mensch, ist ein Knecht der Sprache, dieser Menschensatzung, dieses Schatzes von menschlichen Gedanken. Die Sprache oder »das Wort« tyrannisiert Uns am ärgsten, weil sie ein ganzes Heer von fixen Ideen gegen uns aufführt. Beobachte Dich einmal jetzt eben bei deinem Nachdenken, und Du wirst finden, wie Du nur dadurch weiter kommst, dass Du jeden Augenblick gedanken- und sprachlos wirst. Du bist nicht etwa bloss im Schlafe, sondern selbst im tiefsten Nachdenken gedanken- und sprachlos, ja dann gerade am meisten. Und nur durch diese Gedankenlosigkeit, diese verkannte »Gedankenfreiheit« oder Freiheit vom Gedanken bist Du dein eigen. Erst von ihr aus gelangst Du dazu, die Sprache als dein Eigentum zu verbrauchen.

Ist das Denken nicht mein Denken, so ist es bloss ein fortgesponnener Gedanke, ist Sklavenarbeit oder Arbeit eines »Dieners am Worte«. Für mein Denken ist nämlich der Anfang nicht ein Gedanke, sondern Ich, und darum bin Ich auch sein Ziel, wie denn sein ganzer Verlauf nur ein Verlauf meines Selbstgenusses ist; für das absolute oder freie Denken ist hingegen das Denken selbst der Anfang, und es quält sich damit, diesen Anfang als die äusserste »Abstraktion« (z.B. als Sein) aufzustellen. Ebendiese Abstraktion oder dieser Gedanke wird dann weiter ausgesponnen.

Das absolute Denken ist die Sache des menschlichen Geistes, und dieser ist ein heiliger Geist. Daher ist dies Denken Sache der Pfaffen, die »Sinn dafür haben«, Sinn für die »höchsten Interessen der Menschheit«, für »den Geist«.

Dem Gläubigen sind die Wahrheiten eine ausgemachte Sache, eine Tatsache; dem frei Denkenden eine Sache, die erst noch ausgemacht werden soll. Das absolute Denken sei noch so ungläubig, seine Ungläubigkeit hat ihre Schranken, und es bleibt doch ein Glaube an die Wahrheit, an den Geist, an die Idee und ihren endlichen Sieg: es sündigt nicht gegen den heiligen Geist. Alles Denken aber, das nicht gegen den heiligen Geist sündigt, ist Geister- oder Gespensterglaube.

Dem Denken kann ich so wenig entsagen, als dem Empfinden, der Tätigkeit des Geistes so wenig als der Sinnentätigkeit. Wie das Empfinden unser Sinn für die Dinge, so ist das Denken unser Sinn für die Wesen (Gedanken). Die Wesen haben ihr Dasein an allem Sinnlichen, besonders am Worte. Die Macht der Worte folgt auf die der Dinge: erst wird man durch die Rute bezwungen, hernach durch Überzeugung. Die Gewalt der Dinge überwindet unser Mut, unser Geist; gegen die Macht einer Überzeugung, also des Wortes, verliert selbst die Folter und das Schwert seine Übermacht und Kraft. Die Überzeugungsmenschen sind die pfäffischen, die jeder Lockung des Satans widerstehen.

Das Christentum nahm den Dingen dieser Welt nur ihre Unwiderstehlichkeit, machte Uns unabhängig von ihnen. Gleicherweise erhebe Ich Mich über die Wahrheiten und ihre Macht: Ich bin wie übersinnlich so überwahr. Die Wahrheiten sind vor Mir so gemein und so gleichgültig wie die Dinge, sie reissen Mich nicht hin und begeistern mich nicht. Da ist auch nicht eine Wahrheit, nicht das Recht, nicht die Freiheit, die Menschlichkeit usw., die vor Mir Bestand hätte, und der ich mich unterwürfe. Sie sind Worte, nichts als Worte, wie dem Christen alle Dinge nichts als »eitle Dinge« sind. In den Worten und den Wahrheiten (jedes Wort ist eine Wahrheit, wie Hegel behauptet, dass man keine Lüge sagen könne) ist kein Heil für Mich, so wenig als für den Christen in den Dingen und Eitelkeiten. Wie Mich die Reichtümer dieser Welt nicht glücklich machen, so auch die Wahrheiten nicht. Die Versuchungsgeschichte spielt jetzt nicht mehr der Satan, sondern der Geist, und dieser verführt nicht durch die Dinge dieser Welt, sondern durch die Gedanken derselben, durch den »Glanz der Idee«. Neben den weltlichen Gütern müssen auch alle heiligen Güter entwertet hingestellt werden. Wahrheiten sind Phrasen, Redensarten, Worte (logos); in Zusammenhang oder in Reih' und Glied gebracht, bilden sie die Logik, die Wissenschaft, die Philosophie.

Zum Denken und Sprechen brauche Ich die Wahrheiten und Worte, wie zum Essen die Speisen; ohne sie kann Ich nicht denken noch sprechen. Die Wahrheiten sind der Menschen Gedanken, in Worten niedergelegt und deshalb ebenso vorhanden, wie andere Dinge, obgleich nur für den Geist oder das Denken vorhanden. Sie sind Menschensatzungen und menschliche Geschöpfe, und wenn man sie auch für göttliche Offenbarungen ausgibt, so bleibt ihnen doch die Eigenschaft der Fremdheit für Mich, ja als meine eigenen Geschöpfe sind sie nach dem Schöpfungsakte Mir bereits entfremdet.

Der Christenmensch ist der Denkgläubige, der an die Oberherrschaft der Gedanken glaubt und Gedanken, sogenannte »Prinzipien« zur Herrschaft bringen will. Zwar prüft Mancher die Gedanken und wählt keinen derselben ohne Kritik zu seinem Herrn, aber er gleicht darin dem Hunde, der die Leute beschnoppert, um »seinen Herrn« herauszuriechen: auf den herrschenden Gedanken sieht er's allezeit ab. Der Christ kann unendlich viel reformieren und revoltieren, kann die herrschenden Begriffe von Jahrhunderten zu Grunde richten: immer wird er wieder nach einem neuen »Prinzipe« oder neuen Herrn trachten, immer wieder eine höhere oder »tiefere« Wahrheit aufrichten, immer einen Kultus wieder hervorrufen, immer einen zur Herrschaft berufenen Geist proklamieren, ein Gesetz für alle hinstellen.

Gibt es auch nur eine Wahrheit, welcher der Mensch sein Leben und seine Kräfte widmen müsste, weil er Mensch ist, so ist er einer Regel, Herrschaft, Gesetz usw. unterworfen, ist Dienstmann. Solche Wahrheit soll z.B. der Mensch, die Menschlichkeit, die Freiheit usw. sein.

Dagegen kann man so sagen: Ob Du mit dem Denken Dich des Weiteren befassen willst, das kommt auf Dich an; nur wisse, dass, wenn Du es im Denken zu etwas Erheblichem bringen möchtest, viele und schwere Probleme zu lösen sind, ohne deren Überwindung Du nicht weit kommen kannst. Es existiert also keine Pflicht und kein Beruf für Dich, mit Gedanken (Ideen, Wahrheiten) Dich abzugeben, willst Du's aber, so wirst Du wohltun, das, was Anderer Kräfte in Erledigung dieser schwierigen Gegenstände schon gefördert haben, zu benutzen.

So hat also, wer denken will, allerdings eine Aufgabe, die er sich mit jenem Willen bewusst oder unbewusst setzt; aber die Aufgabe zu denken oder zu glauben hat keiner. - Im ersteren Falle kann es heissen: Du gehst nicht weit genug, hast ein beschränktes und befangenes Interesse, gehst der Sache nicht auf den Grund, kurz bewältigst sie nicht vollständig. Andererseits aber, so weit Du auch jedesmal kommen magst, Du bist doch immer zu Ende, hast keinen Beruf weiter zu schreiten und kannst es haben, wie Du willst oder vermagst. Es steht damit, wie mit einer andern Arbeit, die Du aufgeben kannst, wenn Dir die Lust dazu abgeht. Ebenso wenn Du eine Sache nicht mehr glauben kannst, so hast Du zum Glauben Dich nicht zu zwingen oder als mit einer heiligen Glaubenswahrheit Dich fortdauernd zu beschäftigen, wie es die Theologen oder Philosophen machen, sondern kannst getrost dein Interesse aus ihr zurückziehen und sie laufen lassen. Die pfäffischen Geister werden Dir freilich diese Interesselosigkeit für »Faulheit, Gedankenlosigkeit, Verstocktheit, Selbsttäuschung« u. dgl. auslegen. Aber lass Du den Bettel nur dennoch liegen. Keine Sache, kein sogenanntes »höchstes Interesse der Menschheit«, keine »heilige Sache« ist wert, dass Du ihr dienest, und um ihretwillen Dich damit befassest; ihren Wert magst Du allein darin suchen, ob sie Dir um Deinetwillen wert ist. Werdet wie die Kinder, mahnt der biblische Spruch. Kinder aber haben kein heiliges Interesse und wissen nichts von einer »guten Sache«. Desto genauer wissen sie, wonach ihnen der Sinn steht, und wie sie dazu gelangen sollen, das bedenken sie nach besten Kräften.

Das Denken wird so wenig als das Empfinden aufhören. Aber die Macht der Gedanken und Ideen, die Herrschaft der Theorien und Prinzipien, die Oberherrlichkeit des Geistes, kurz die - Hierarchie währt so lange, als die Pfaffen, d.h. Theologen, Philosophen, Staatsmänner, Philister, Liberale, Schulmeister, Bedienten, Eltern, Kinder, Eheleute, Proudhon, George Sand, Bluntschli usw., usw. das grosse Wort führen: die Hierarchie wird dauern, solange man an Prinzipien glaubt, denkt, oder auch sie kritisiert: denn selbst die unerbittlichste Kritik, die alle geltenden Prinzipien untergräbt, glaubt schliesslich doch an das Prinzip.

Es kritisiert jeder, aber das Kriterium ist verschieden. Man jagt dem »rechten« Kriterium nach. Dies rechte Kriterium ist die erste Voraussetzung. Der Kritiker geht von einem Satze, einer Wahrheit, einem Glauben aus. Dieser ist nicht eine Schöpfung des Kritikers, sondern des Dogmatikers, ja er wird sogar gewöhnlich aus der Zeitbildung ohne Weiteres aufgenommen, wie z.B. »die Freiheit«, »die Menschlichkeit« usw. Der Kritiker hat nicht »den Menschen gefunden«, sondern als »der Mensch« ist diese Wahrheit vom Dogmatiker festgestellt worden, und der Kritiker, der übrigens mit jenem dieselbe Person sein kann, glaubt an diese Wahrheit, diesen Glaubenssatz. In diesem Glauben und besessen von diesem Glauben kritisiert er.

Das Geheimnis der Kritik ist irgend eine »Wahrheit«: diese bleibt ihr energierendes Mysterium. Aber Ich unterscheide zwischen dienstbarer und eigener Kritik. Kritisiere Ich unter der Voraussetzung eines höchsten Wesens, so dient meine Kritik dem Wesen und wird um seinetwillen geführt: bin Ich z.B. besessen von dem Glauben an einen »freien Staat«, so kritisiere Ich alles dahin Einschlagende von dem Gesichtspunkte aus, ob es diesem Staate konveniert; denn Ich liebe diesen Staat; kritisiere ich als Frommer, so zerfällt Mir alles in göttlich und teuflisch, und die Natur besteht vor meiner Kritik aus Gottesspuren oder Teufelsspuren (daher Benennungen wie: Gottesgabe, Gottesberg, Teufelskanzel usw.), die Menschen aus Gläubigen und Ungläubigen usw.; kritisiere Ich, indem Ich an den Menschen als das »wahre Wesen« glaube, so zerfällt Mir zunächst alles in den Menschen und den Unmenschen usw. Die Kritik ist bis auf den heutigen Tag ein Werk der Liebe geblieben: denn wir übten sie allezeit einem Wesen zu Liebe. Alle dienstbare Kritik ist ein Liebesprodukt, eine Besessenheit, und verfährt nach jenem neutestamentlichen: »Prüfet alles und das Gute behaltet.« (107) »Das Gute« ist der Prüfstein, das Kriterium. Das Gute, unter tausenderlei Namen und Gestalten wiederkehrend, blieb immer die Voraussetzung, blieb der dogmatisch feste Punkt für diese Kritik, blieb die - fixe Idee. Unbefangen setzt der Kritiker, indem er sich an die Arbeit macht, die »Wahrheit« voraus, und in dem Glauben, dass sie zu finden sei, sucht er die Wahrheit. Er will das Wahre ermitteln und hat daran eben jenes »Gute«.

Voraussetzen heisst nichts anders, als einen Gedanken voranstellen, oder etwas vor allem anderen denken und von diesem Gedachten aus das Ãœbrige denken, d.h. es daran messen und kritisieren. Mit andern Worten sagt dies so viel, dass das Denken mit einem Gedachten beginnen soll. Begönne das Denken überhaupt, statt begonnen zu werden, wäre das Denken ein Subjekt, eine eigene handelnde Persönlichkeit, wie schon die Pflanze eine solche ist, so wäre freilich nicht davon abzustehen, dass das Denken mit sich anfangen müsse. Allein die Personifikation des Denkens bringt eben jene unzähligen Irrtümer zu Stande. Im Hegelschen Systeme wird immer so gesprochen, als dächte und handelte das Denken oder »der denkende Geist«, d.h. das personifizierte Denken, das Denken als Gespenst; im kritischen Liberalismus heisst es stets: »die Kritik« tue das und das, oder auch: »das Selbstbewusstsein« finde das und das. Gilt aber das Denken für das persönlich Handelnde, so muss das Denken selbst vorausgesetzt sein, gilt die Kritik dafür, so muss gleichfalls ein Gedanke voranstehen. Denken und Kritik könnten nur von sich aus tätig, müssten selbst die Voraussetzung ihrer Tätigkeit sein, da sie, ohne zu sein, nicht tätig sein könnten. Das Denken aber, als Vorausgesetztes, ist ein fixer Gedanke, ein Dogma: Denken und Kritik könnten also nur von einem Dogma ausgehen, d.h. von einem Gedanken, einer fixen Idee, einer Voraussetzung.

Wir kommen damit wieder auf das oben Ausgesprochene zurück, dass das Christentum in der Entwicklung einer Gedankenwelt bestehe, oder dass es die eigentliche »Gedankenfreiheit« sei, der »freie Gedanke«, der »freie Geist«. Die »wahre« Kritik, die Ich die »dienstbare« nannte, ist daher ebenso die »freie« Kritik, denn sie ist nicht mein eigen.

Anders verhält es sich, wenn das Deinige nicht zu einem Fürsichseienden gemacht, nicht personifiziert, nicht als ein eigener »Geist« verselbständigt wird. Dein Denken hat nicht »das Denken« zur Voraussetzung, sondern Dich. Aber so setzest Du Dich doch voraus? Ja, aber nicht Mir, sondern meinem Denken. Vor meinem Denken bin - Ich. Daraus folgt, dass meinem Denken nicht ein Gedanke vorhergeht, oder dass mein Denken ohne eine »Voraussetzung« ist. Denn die Voraussetzung, welche Ich für mein Denken bin, ist keine vom Denken gemachte, keine gedachte, sondern ist das gesetzte Denken selbst, ist der Eigner des Denkens, und beweist nur, dass das Denken nichts weiter ist, als - Eigentum, d.h. dass ein »selbständiges« Denken, ein »denkender Geist« gar nicht existiert. Diese Umkehrung der gewöhnlichen Betrachtungsweise könnte einem leeren Spiel mit Abstraktionen so ähnlich sehen, dass selbst diejenigen, gegen welche sie gerichtet ist, ihrer harmlosen Wendung sich ergäben, wenn nicht praktische Folgen sich daran knüpften.

Um diese in einen bündigen Ausdruck zu bringen, so wird nun behauptet, dass nicht der Mensch das Mass von allem, sondern dass Ich dieses Mass sei. Der dienstbare Kritiker hat ein anderes Wesen, eine Idee, vor Augen, welchem er dienen will; darum schlachtet er seinem Gotte nur die falschen Götzen. Was diesem Wesen zu Liebe geschieht, was wäre es anders, als ein - Werk der Liebe? Ich aber habe, wenn Ich kritisiere, nicht einmal Mich vor Augen, sondern mache Mir nur ein Vergnügen, amüsiere Mich nach meinem Geschmacke: je nach meinem Bedürfnis zerkaue Ich die Sache, oder ziehe nur ihren Duft ein.

Sprechender noch wird der Unterschied beider Verfassungsarten sich herausstellen, wenn man bedenkt, dass der dienstbare Kritiker, weil ihn die Liebe leitet, der Sache selbst zu dienen meint. Die Wahrheit oder »die Wahrheit überhaupt« will man nicht aufgeben, sondern suchen. Was ist sie anders als das être suprême, das höchste Wesen? Verzweifeln müsste auch die »wahre Kritik«, wenn sie den Glauben an die Wahrheit verlöre. Und doch ist die Wahrheit nur ein - Gedanke, aber nicht bloss einer, sondern sie ist der Gedanke, der über alle Gedanken ist, der unumstössliche Gedanke, sie ist der Gedanke selbst, der alle andern erst heiligt, ist die Weihe der Gedanken, der »absolute«, der »heilige« Gedanke. Die Wahrheit hält länger vor, als alle Götter; denn nur in ihrem Dienste und ihr zu Liebe hat man die Götter und zuletzt selbst den Gott gestürzt. Den Untergang der Götterwelt überdauert »die Wahrheit«, denn sie ist die unsterbliche Seele dieser vergänglichen Götterwelt, sie ist die Gottheit selber.

Ich will antworten auf die Frage des Pilatus: Was ist Wahrheit? Wahrheit ist der freie Gedanke, die freie Idee, der freie Geist; Wahrheit ist, was von Dir frei, was nicht dein eigen, was nicht in deiner Gewalt ist. Aber Wahrheit ist auch das völlig Unselbständige, Unpersönliche, Unwirkliche und Unbeleibte; Wahrheit kann nicht auftreten, wie Du auftrittst, kann sich nicht bewegen, nicht ändern, nicht entwickeln; Wahrheit erwartet und empfängt alles von Dir und ist selbst nur durch Dich: denn sie existiert nur in - deinem Kopfe. Du gibst das zu, dass die Wahrheit ein Gedanke sei, aber nicht jeder Gedanke sei ein wahrer, oder, wie Du's auch wohl ausdrückst, nicht jeder Gedanke ist wahrhaft und wirklich Gedanke. Und woran missest und erkennst Du den wahren Gedanken? An deiner Ohnmacht, nämlich daran, dass Du ihm nichts mehr anhaben kannst! Wenn er Dich überwältigt, begeistert und fortreisst, dann hältst Du ihn für den wahren. Seine Herrschaft über Dich dokumentiert Dir seine Wahrheit, und wenn er Dich besitzt und Du von ihm besessen bist, dann ist Dir wohl bei ihm, denn dann hast Du deinen - Herrn und Meister gefunden. Als Du die Wahrheit suchtest, wonach sehnte sich dein Herz da? Nach deinem Herrn! Du trachtetest nicht nach deiner Gewalt, sondern nach einem Gewaltigen, und wolltest einen Gewaltigen erhöhen (»Erhöhet den Herrn, unsern Gott!«). Die Wahrheit, mein lieber Pilatus, ist - der Herr, und alle, welche die Wahrheit suchen, suchen und preisen den Herrn. Wo existiert der Herr? Wo anders als in deinem Kopfe? Er ist nur Geist, und wo immer Du ihn wirklich zu erblicken glaubst, da ist er ein - Gespenst; der Herr ist ja bloss ein Gedachtes, und nur die christliche Angst und Qual, das Unsichtbare sichtbar, das Geistige leibhaftig zu machen, erzeugte das Gespenst und war der furchtsame Jammer des Gespensterglaubens.

Solange Du an die Wahrheit glaubst, glaubst Du nicht an Dich und bist ein - Diener, ein - religiöser Mensch. Du allein bist die Wahrheit, oder vielmehr, Du bist mehr als die Wahrheit, die vor Dir gar nichts ist. Allerdings fragst auch Du nach der Wahrheit, allerdings »kritisierst« auch Du, aber Du fragst nicht nach einer »höhern Wahrheit«, die nämlich höher wäre als Du, und kritisierst nicht nach dem Kriterium einer solchen. Du machst Dich an die Gedanken und Vorstellungen wie an die Erscheinungen der Dinge nur zu dem Zwecke, um sie Dir mundgerecht, geniessbar und eigen zu machen, Du willst sie nur bewältigen und ihr Eigner werden, willst Dich in ihnen orientieren und zu Hause wissen, und befindest sie wahr oder siehst sie in ihrem wahren Lichte dann, wenn sie Dir nicht mehr entschlüpfen können, keine ungepackte oder unbegriffene Stelle mehr haben, oder wenn sie Dir recht, wenn sie dein Eigentum sind. Werden sie nachgehends wieder schwerer, entwinden sie deiner Gewalt sich wieder, so ist das eben ihre Unwahrheit, nämlich deine Ohnmacht. Deine Ohnmacht ist ihre Macht, deine Demut ihre Hoheit. Ihre Wahrheit also bist Du oder ist das Nichts, welches Du für sie bist und in welches sie zerfliessen, ihre Wahrheit ist ihre Nichtigkeit.

Erst als das Eigentum Meiner kommen die Geister, die Wahrheiten, zur Ruhe, und sie sind dann erst wirklich, wenn ihnen die leidige Existenz entzogen und sie zu einem Eigentum Meiner gemacht werden, wenn es nicht mehr heisst: die Wahrheit entwickelt sich, herrscht, macht sich geltend, die Geschichte (auch ein Begriff) siegt u. dergl. Niemals hat die Wahrheit gesiegt, sondern stets war sie mein Mittel zum Siege, ähnlich dem Schwerte (»das Schwert der Wahrheit«). Die Wahrheit ist tot, ein Buchstabe, ein Wort, ein Material, das Ich verbrauchen kann. Alle Wahrheit für sich ist tot, ein Leichnam; lebendig ist sie nur in derselben Weise, wie meine Lunge lebendig ist, nämlich in dem Masse meiner eigenen Lebendigkeit. Die Wahrheiten sind Material wie Kraut und Unkraut; ob Kraut oder Unkraut, darüber liegt die Entscheidung in Mir.

Mir sind die Gegenstände nur Material, das Ich verbrauche. Wo Ich hingreife, fasse Ich eine Wahrheit, die Ich Mir zurichte. Die Wahrheit ist Mir gewiss, und Ich brauche sie nicht zu ersehnen. Der Wahrheit einen Dienst zu leisten, ist nirgends meine Absicht; sie ist Mir nur ein Nahrungsmittel für meinen denkenden Kopf, wie die Kartoffel für meinen verdauenden Magen, der Freund für mein geselliges Herz. Solange Ich Lust und Kraft zu denken habe, dient Mir jede Wahrheit nur dazu, sie nach meinem Vermögen zu verarbeiten. Wie für den Christen die Wirklichkeit oder Weltlichkeit, so ist für Mich die Wahrheit »eitel und nichtig«. Sie existiert gerade so gut, als die Dinge dieser Welt fortexistieren, obgleich der Christ ihre Nichtigkeit bewiesen hat; aber sie ist eitel, weil sie ihren Wert nicht in sich hat, sondern in Mir. Für sich ist sie wertlos. Die Wahrheit ist eine - Kreatur. Wie Ihr durch eure Tätigkeit unzählige Dinge herstellt, ja den Erdboden neu gestaltet und überall Menschenwerke errichtet, so mögt Ihr auch noch zahllose Wahrheiten durch euer Denken ermitteln, und Wir wollen Uns gerne daran erfreuen. Wie Ich Mich jedoch nicht dazu hergeben mag, eure neu entdeckten Maschinen maschinenmässig zu bedienen, sondern sie nur zu meinem Nutzen in Gang setzen helfe, so will Ich auch eure Wahrheiten nur gebrauchen, ohne Mich für ihre Forderungen gebrauchen zu lassen. Alle Wahrheiten unter Mir sind Mir lieb; eine Wahrheit über Mir, eine Wahrheit, nach der Ich Mich richten müsste, kenne Ich nicht. Für Mich gibt es keine Wahrheit, denn über Mich geht nichts! Auch nicht mein Wesen, auch nicht das Wesen des Menschen geht über Mich! Und zwar über Mich, diesen »Tropfen am Eimer«, diesen »unbedeutenden Menschen«!

Ihr glaubt das Äusserste getan zu haben, wenn Ihr kühn behauptet, es gebe, weil jede Zeit ihre eigene Wahrheit habe, keine »absolute Wahrheit«. Damit lasst Ihr ja dennoch jeder Zeit ihre Wahrheit, und erschafft so recht eigentlich eine »absolute Wahrheit«, eine Wahrheit, die keiner Zeit fehlt, weil jede Zeit, wie ihre Wahrheit auch immer sei, doch eine »Wahrheit« hat. Soll nur gesagt sein, dass man in jeder Zeit gedacht, mithin Gedanken oder Wahrheiten gehabt hat, und dass diese in der folgenden Zeit andere waren, als in der früheren? Nein, es soll heissen, dass jede Zeit ihre »Glaubenswahrheit« hatte; und in der Tat ist noch keine erschienen, worin nicht eine »höhere Wahrheit« anerkannt worden wäre, eine Wahrheit, der man als »Hoheit und Majestät« sich unterwerfen zu müssen glaubte. Jede Wahrheit einer Zeit ist die fixe Idee derselben, und wenn man später eine andere Wahrheit fand, so geschah dies immer nur, weil man eine andere suchte: man reformierte nur die Narrheit und zog ihr ein modernes Kleid an. Denn man wollte doch - wer durfte an der Berechtigung hierzu zweifeln? - man wollte von einer »Idee begeistert« sein. Man wollte von einem Gedanken beherrscht, - besessen sein! Der modernste Herrscher dieser Art ist »unser Wesen« oder »der Mensch«.

Für alle freie Kritik war ein Gedanke das Kriterium, für die eigene Kritik bin Ich's, Ich, der Unsagbare, mithin nicht bloss Gedachte; denn das bloss Gedachte ist stets sagbar, weil Wort und Gedanke zusammenfallen. Wahr ist, was mein ist, unwahr das, dem Ich eigen bin; wahr z.B. der Verein, unwahr der Staat und die Gesellschaft. Die »freie und wahre« Kritik sorgt für die konsequente Herrschaft eines Gedankens, einer Idee, eines Geistes, die »eigene« für nichts als meinen Selbstgenuss. Darin aber gleicht die letztere in der Tat - und Wir wollen ihr diese »Schmach« nicht ersparen! - der tierischen Kritik des Instinktes. Mir ist es, wie dem kritisierenden Tiere, nur um Mich, nicht »um die Sache« zu tun. Ich bin das Kriterium der Wahrheit, Ich aber bin keine Idee, sondern mehr als Idee, d.h. unaussprechlich. Meine Kritik ist keine »freie«, nicht frei von Mir, und keine »dienstbare«, nicht im Dienste einer Idee, sondern eine eigene.

Die wahre oder menschliche Kritik bringt nur heraus, ob etwas dem Menschen, dem wahren Menschen konveniere; durch die eigene Kritik aber ermittelst Du, ob es Dir konveniert.

Die freie Kritik beschäftigt sich mit Ideen, und ist deshalb stets theoretisch. Wie sie auch gegen die Ideen wüten möge, so kommt sie doch von ihnen nicht los. Sie schlägt sich mit den Gespenstern herum, aber sie kann dies nur, indem sie dieselben für Gespenster hält. Die Ideen, mit denen sie's zu tun hat, verschwinden nicht völlig: der Morgenhauch eines neuen Tages verscheucht sie nicht. Der Kritiker kann zwar zur Ataraxie gegen die Ideen kommen, aber er wird sie niemals los, d.h. er wird nie begreifen, dass nicht über dem leibhaftigen Menschen etwas Höheres existiere, nämlich seine Menschlichkeit, die Freiheit usw. Es bleibt ihm immer noch ein »Beruf« des Menschen übrig, die »Menschlichkeit«. Und diese Idee der Menschlichkeit bleibt unrealisiert, weil sie eben »Idee« bleibt und bleiben soll.

Fasse Ich dagegen die Idee als meine Idee, so ist sie bereits realisiert, weil Ich ihre Realität bin: ihre Realität besteht darin, dass Ich, der Leibhaftige, sie habe.

Man sagt, in der Weltgeschichte realisiere sich die Idee der Freiheit. Umgekehrt, diese Idee ist reell, sowie ein Mensch sie denkt, und sie ist in dem Masse reell als sie Idee ist, d.h. als Ich sie denke oder habe. Nicht die Idee der Freiheit entwickelt sich, sondern die Menschen entwickeln sich und entwickeln in dieser Selbstentwicklung natürlich auch ihr Denken.

Kurz der Kritiker ist noch nicht Eigner, weil er mit den Ideen noch als mit mächtigen Fremden kämpft, wie der Christ nicht Eigner seiner »schlechten Begierden« ist, solange er sie zu bekämpfen hat: wer gegen das Laster streitet, für den existiert das Laster.

Die Kritik bleibt in der »Freiheit des Erkennens«, der Geistesfreiheit, stecken, und der Geist gewinnt seine rechte Freiheit dann, wenn er sich mit der reinen, der wahren Idee erfüllt; das ist die Denkfreiheit, die nicht ohne Gedanken sein kann.

Es schlägt die Kritik eine Idee nur durch eine andere, z.B. die des Privilegiums durch die der Menschheit, oder die des Egoismus durch die der Uneigennützigkeit.

Ãœberhaupt tritt der Anfang des Christentums in seinem kritischen Ende wieder auf, indem hier wie dort der »Egoismus« bekämpft wird. Nicht Mich, den Einzelnen, sondern die Idee, das Allgemeine, soll Ich zur Geltung bringen.

Krieg des Pfaffentums mit dem Egoismus, der geistlich Gesinnten mit den weltlich Gesinnten macht ja den Inhalt der ganzen christlichen Geschichte aus. In der neuesten Kritik wird dieser Krieg nur allumfassend, der Fanatismus vollständig. Freilich kann er auch so erst, nachdem er sich ausgelebt und ausgewütet hat, vergehen.

Ob, was Ich denke und tue, christlich sei, was kümmert's Mich? Ob es menschlich, liberal, human, ob unmenschlich, illiberal, inhuman, was frag' Ich darnach? Wenn es nur bezweckt, was Ich will, wenn Ich nur Mich darin befriedige, dann belegt es mit Prädikaten wie Ihr wollt: es gilt Mir gleich. Auch Ich wehre Mich vielleicht schon im nächsten Augenblicke gegen meinen vorigen Gedanken, auch Ich ändere wohl plötzlich meine Handlungsweise; aber nicht darum, weil sie der Christlichkeit nicht entspricht, nicht darum, weil sie gegen die ewigen Menschenrechte läuft, nicht darum, weil sie der Idee der Menschheit, Menschlichkeit und Humanität ins Gesicht schlägt, sondern - weil Ich nicht mehr ganz dabei bin, weil sie Mir keinen vollen Genuss mehr bereitet, weil Ich an dem früheren Gedanken zweifle oder in der eben geübten Handlungsweise Mir nicht mehr gefalle.

Wie die Welt als Eigentum zu einem Material geworden ist, mit welchem Ich anfange, was Ich will, so muss auch der Geist als Eigentum zu einem Material herabsinken, vor dem Ich keine heilige Scheu mehr trage. Zunächst werde Ich dann nicht ferner vor einem Gedanken schaudern, er erscheine so verwegen und »teuflisch« als er wolle, weil, wenn er Mir zu unbequem und unbefriedigend zu werden droht, sein Ende in meiner Macht liegt; aber auch vor keiner Tat werde Ich zurückbeben, weil ein Geist der Gottlosigkeit, Unsittlichkeit, Widerrechtlichkeit darin wohne, so wenig als der heilige Bonifatius von dem Umhauen der heiligen Heideneiche aus religiöser Bedenklichkeit abstehen mochte. Sind einst die Dinge der Welt eitel geworden, so müssen auch die Gedanken des Geistes eitel werden. Kein Gedanke ist heilig, denn kein Gedanke gelte für »Andacht«, kein Gefühl ist heilig (kein heiliges Freundschaftsgefühl, Muttergefühl usw.), kein Glaube ist heilig. Sie sind alle veräusserlich, mein veräusserliches Eigentum, und werden von Mir vernichtet wie geschaffen.

Der Christ kann alle Dinge oder Gegenstände, die geliebtesten Personen, diese »Gegenstände« seiner Liebe, verlieren, ohne Sich, d.h. im christlichen Sinne seinen Geist, seine Seele, verloren zu geben. Der Eigner kann alle Gedanken, die seinem Herzen lieb waren und seinen Eifer entzündeten, von sich werfen und wird gleichfalls »tausendfältig wieder gewinnen«, weil Er, ihr Schöpfer, bleibt.

Unbewusst und unwillkürlich streben Wir alle der Eigenheit zu, und schwerlich wird einer unter Uns sein, der nicht ein heiliges Gefühl, einen heiligen Gedanken, einen heiligen Glauben aufgegeben hätte, ja Wir begegnen wohl keinem, der sich nicht aus einem oder dem andern seiner heiligen Gedanken noch erlösen könnte. All unser Streit wider Überzeugungen geht von der Meinung aus, dass Wir den Gegner etwa aus seinen Gedankenverschanzungen zu vertreiben fähig seien. Aber was Ich unbewusst tue, das tue Ich halb, und darum werde Ich nach jedem Siege über einen Glauben wieder der Gefangene (Besessene) eines Glaubens, der dann von neuem mein ganzes Ich in seinen Dienst nimmt und Mich zum Schwärmer für die Vernunft macht, nachdem Ich für die Bibel zu schwärmen aufgehört, oder zum Schwärmer für die Idee der Menschheit, nachdem Ich lange genug für die der Christenheit gefochten habe.

Wohl werde Ich als Eigner der Gedanken so gut mein Eigentum mit dem Schilde decken, wie Ich als Eigner der Dinge nicht jedermann gutwillig zugreifen lasse; aber lächelnd zugleich werde Ich dem Ausgange der Schlacht entgegensehen, lächelnd den Schild auf die Leichen meiner Gedanken und meines Glaubens legen, lächelnd, wenn Ich geschlagen bin, triumphieren. Das eben ist der Humor von der Sache. Seinen Humor an den Kleinlichkeiten der Menschen auszulassen, das vermag jeder, der »erhabnere Gefühle« hat; ihn aber mit allen »grossen Gedanken, erhabenen Gefühlen, edler Begeisterung und heiligem Glauben« spielen zu lassen, das setzt voraus, dass Ich der Eigner von allem sei. Hat die Religion den Satz aufgestellt, Wir seien allzumal Sünder, so stelle Ich ihm den andern entgegen: Wir sind allzumal vollkommen! Denn wir sind jeden Augenblick alles, was Wir sein können, und brauchen niemals mehr zu sein. Da kein Mangel an Uns haftet, so hat auch die Sünde keinen Sinn. Zeigt Mir noch einen Sünder in der Welt, wenn's keiner mehr einem Höheren recht zu machen braucht! Brauche Ich's nur Mir recht zu machen, so bin Ich kein Sünder, wenn Ich's Mir nicht recht mache, da Ich in Mir keinen »Heiligen« verletze; soll Ich dagegen fromm sein, so muss Ich's Gott recht machen, soll Ich menschlich handeln, so muss Ich's dem Wesen des Menschen, der Idee der Menschheit usw. recht machen. Was die Religion den »Sünder« nennt, das nennt die Humanität den »Egoisten«. Nochmals aber, brauche Ich's keinem anderen recht zu machen, ist dann der »Egoist«, in welchem die Humanität sich einen neumodischen Teufel geboren hat, mehr als ein Unsinn? Der Egoist, vor dem die Humanen schaudern, ist so gut ein Spuk, als der Teufel einer ist: er existiert nur als Schreckgespenst und Phantasiegestalt in ihrem Gehirne. Trieben sie nicht zwischen dem altfränkischen Gegensatz von Gut und Böse, dem sie die modernen Namen von »Menschlich« und »Egoistisch« gegeben haben, unbefangen hin und her, so würden sie auch nicht den ergrauten »Sünder« zum »Egoisten« aufgefrischt und einen neuen Lappen auf ein altes Kleid geflickt haben. Aber sie konnten nicht anders, denn sie halten's für ihre Aufgabe, »Menschen« zu sein. Den Guten sind sie los, das Gute ist geblieben!

Wir sind allzumal vollkommen, und auf der ganzen Erde ist nicht Ein Mensch, der ein Sünder wäre! Es gibt Wahnsinnige, die sich einbilden, Gott Vater, Gott Sohn oder der Mann im Monde zu sein, und so wimmelt es auch von Narren, die sich Sünder zu sein dünken; aber wie jene nicht der Mann im Monde sind, so sind diese - keine Sünder. Ihre Sünde ist eingebildet.

Aber, wirft man verfänglicherweise ein, so ist doch ihr Wahnsinn oder ihre Besessenheit wenigstens ihre Sünde. Ihre Besessenheit ist nichts als das, was sie - zustande bringen konnten, das Resultat ihrer Entwicklung, wie Luthers Bibelgläubigkeit eben alles war, was er herauszubringen - vermochte. Der Eine bringt sich mit seiner Entwicklung ins Narrenhaus, der Andere bringt sich damit ins Pantheon und um die - Walhalla.

Es gibt keinen Sünder und keinen sündigen Egoismus!

Geh' Mir vom Leibe mit Deiner »Menschenliebe«! Schleiche Dich hinein, Du Menschenfreund, in die »Höhlen des Lasters«, verweile einmal in dem Gewühl der grossen Stadt: wirst Du nicht überall Sünde und Sünde und wieder Sünde finden? Wirst Du nicht jammern über die verderbte Menschheit, nicht klagen über den ungeheuern Egoismus? Wirst Du einen Reichen sehen, ohne ihn unbarmherzig und »egoistisch« zu finden? Du nennst Dich vielleicht schon Atheist, aber dem christlichen Gefühle bleibst Du treu, dass ein Kamel eher durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher kein »Unmensch« sei. Wie viele siehst Du überhaupt, die Du nicht unter die »egoistische Masse« würfest? Was hat also deine Menschenliebe gefunden? Lauter unliebenswürdige Menschen! Und woher stammen sie alle? Aus Dir, aus deiner Menschenliebe! Du hast den Sünder im Kopfe mitgebracht, darum fandest Du ihn, darum schobst Du ihn überall unter. Nenne die Menschen nicht Sünder, so sind sie's nicht: Du allein bist der Schöpfer der Sünder: Du, der Du die Menschen zu lieben wähnst, Du gerade wirfst sie in den Kot der Sünde, Du gerade scheidest sie in Lasterhafte und Tugendhafte, in Menschen und Unmenschen, Du gerade besudelst sie mit dem Geifer deiner Besessenheit; denn Du liebst nicht die Menschen, sondern den Menschen. Ich aber sage Dir, Du hast niemals einen Sünder gesehen, Du hast ihn nur - geträumt.

Der Selbstgenuss wird Mir dadurch verleidet, dass Ich einem anderen dienen zu müssen meine, dass Ich Mich ihm verpflichtet wähne, dass Ich Mich zu »Aufopferung«, »Hingebung«, »Begeisterung« berufen halte. Wohlan, diene Ich keiner Idee, keinem »höheren Wesen« mehr, so findet sich's von selbst, dass Ich auch keinem Menschen mehr diene, sondern - unter allen Umständen - Mir. So aber bin Ich nicht bloss der Tat oder dem Sein nach, sondern auch für mein Bewusstsein der - Einzige.

Dir kommt mehr zu, als das Göttliche, das Menschliche usw.; Dir kommt das Deinige zu.

Sieh Dich als mächtiger an, als wofür man Dich ausgibt, so hast Du mehr Macht; sieh Dich als mehr an, so hast Du mehr.

Du bist dann nicht bloss berufen zu allem Göttlichen, berechtigt zu allem Menschlichen, sondern Eigner des Deinigen, d.h. alles dessen, was Du Dir zu eigen zu machen Kraft besitzest, d.h. Du bist geeignet und befähigt zu allem Deinigen.

Man hat immer gemeint, Mir eine ausserhalb Meiner liegende Bestimmung geben zu müssen, so dass man zuletzt Mir zumutete, Ich sollte das Menschliche in Anspruch nehmen, weil Ich - Mensch sei. Dies ist der christliche Zauberkreis. Auch Fichtes Ich ist dasselbe Wesen ausser Mir, denn Ich ist jeder, und hat nur dieses Ich Rechte, so ist es »das Ich«, nicht Ich bin es. Ich bin aber nicht ein Ich neben andern Ichen, sondern das alleinige Ich: Ich bin einzig. Daher sind auch meine Bedürfnisse einzig, meine Taten, kurz alles an Mir ist einzig. Und nur als dieses einzige Ich nehme Ich Mir alles zu eigen, wie Ich nur als dieses Mich betätige und entwickle: Nicht als Mensch und nicht den Menschen entwickle Ich, sondern als Ich entwickle Ich - Mich.

Dies ist der Sinn des - Einzigen.


III. Der Einzige

Vorchristliche und christliche Zeit verfolgen ein entgegengesetztes Ziel; jene will das Reale idealisieren, diese das Ideale realisieren, jene sucht den »heiligen Geist«, diese den »verklärten Leib«. Daher schliesst jene mit der Unempfindlichkeit gegen das Reale, mit der »Weltverachtung«; diese wird mit der Abwerfung des Idealen, mit der »Geistesverachtung« enden.

Der Gegensatz des Realen und Idealen ist ein unversöhnlicher, und es kann das eine niemals das andere werden: würde das Ideale zum Realen, so wäre es eben nicht mehr das Ideale, und würde das Reale zum Idealen, so wäre allein das Ideale, das Reale aber gar nicht. Der Gegensatz beider ist nicht anders zu überwinden, als wenn man beide vernichtet. Nur in diesem »man«, dem Dritten, findet der Gegensatz sein Ende; sonst aber decken Idee und Realität sich nimmermehr. Die Idee kann nicht so realisiert werden, dass sie Idee bliebe, sondern nur, wenn sie als Idee stirbt, und ebenso verhält es sich mit dem Realen.

Nun haben Wir aber an den Alten Anhänger der Idee, an den Neuen Anhänger der Realität vor Uns. Beide kommen von dem Gegensatze nicht los und schmachten nur, die einen nach dem Geiste, und als dieser Drang der alten Welt befriedigt und dieser Geist gekommen zu sein schien, die anderen sogleich wieder nach der Verweltlichung dieses Geistes, die für immer ein »frommer Wunsch« bleiben muss. Der fromme Wunsch der Alten war die Heiligkeit, der fromme Wunsch der Neuen ist die Leibhaftigkeit. Wie aber das Altertum untergehen musste, wenn seine Sehnsucht befriedigt werden sollte (denn es bestand nur in der Sehnsucht), so kann es auch innerhalb des Ringes der Christlichkeit nimmermehr zur Leibhaftigkeit kommen. Wie der Zug der Heiligung oder Reinigung durch die alte Welt geht (die Waschungen usw.), so geht der der Verleiblichung durch die christliche: der Gott stürzt sich in diese Welt, wird Fleisch und will sie erlösen, d.h. mit sich erfüllen; da er aber »die Idee« oder »der Geist« ist, so führt man (z.B. Hegel) am Schlusse die Idee in alles, in die Welt, ein und beweist, »dass die Idee, dass Vernunft in allem sei«. Dem, was die heidnischen Stoiker als »den Weisen« aufstellten, entspricht in der heutigen Bildung »der Mensch«, jener wie dieser ein - fleischloses Wesen. Der unwirkliche »Weise«, dieser leiblose »Heilige« der Stoiker, wurde eine wirkliche Person, ein leiblicher »Heiliger« in dem fleischgewordenen Gotte; der unwirkliche »Mensch«, das leiblose Ich, wird wirklich werden im leibhaftigen Ich, in Mir.

Durch das Christentum schlingt sich die Frage nach dem »Dasein Gottes« hindurch, die, immer und immer wieder aufgenommen, Zeugnis dafür ablegt, dass der Drang nach dem Dasein, der Leibhaftigkeit, der Persönlichkeit, der Wirklichkeit, unaufhörlich das Gemüt beschäftigte, weil er niemals eine befriedigende Lösung fand. Endlich fiel die Frage nach dem Dasein Gottes, aber nur, um wieder aufzustehen in dem Satze, dass das »Göttliche« Dasein habe (Feuerbach). Aber auch dieses hat kein Dasein, und die letzte Zuflucht, dass das »rein Menschliche« realisierbar sei, wird auch nicht lange mehr Schutz gewähren. Keine Idee hat Dasein, denn keine ist der Leibhaftigkeit fähig. Der scholastische Streit des Realismus und Nominalismus hat denselben Inhalt; kurz, dieser spinnt sich durch die ganze christliche Geschichte hindurch und kann in ihr nicht enden.

Die Christenwelt arbeitet daran, die Ideen in den einzelnen Verhältnissen des Lebens, den Institutionen und Gesetzen der Kirche und des Staates zu realisieren; aber sie widerstreben und behalten immer etwas Unverkörpertes (Unrealisierbares) zurück. Rastlos geht es gleichwohl auf diese Verkörperung los, so sehr auch stets die Leibhaftigkeit ausbleibt.

Dem Realisierenden liegt nämlich wenig an den Realitäten, alles aber daran, dass dieselben Verwirklichungen der Idee seien; daher untersucht er stets von neuem, ob dem Verwirklichten in Wahrheit die Idee, sein Kern, inwohne, und indem er das Wirkliche prüft, prüft er zugleich die Idee, ob sie so, wie er sie denkt, realisierbar sei oder von ihm nur unrichtig und deshalb unausführbar gedacht werde.

Als Existenzen sollen den Christen Familie, Staat usw. nicht mehr kümmern; nicht, wie die Alten, sollen die Christen für diese »göttlichen Dinge« sich opfern, sondern dieselben sollen nur benutzt werden, um in ihnen den Geist lebendig zu machen. Die wirkliche Familie ist gleichgültig geworden, und eine ideale, die dann die »wahrhaft reale« wäre, soll aus ihr entstehen, eine heilige, von Gott gesegnete, oder, nach liberaler Denkweise, eine »vernünftige«. Bei den Alten ist Familie, Staat, Vaterland usw. als ein Vorhandenes göttlich; bei den Neuen erwartet es erst die Göttlichkeit, ist als vorhandenes nur sündhaft, irdisch, und muss erst »erlöst«, d.h. wahrhaft real werden. Das hat folgenden Sinn: Nicht die Familie usw. ist das Vorhandene und Reale, sondern das Göttliche, die Idee, ist vorhanden und wirklich; ob diese Familie durch Aufnahme des wahrhaft Wirklichen, der Idee, sich wirklich machen werde, steht noch dahin. Es ist nicht Aufgabe des Einzelnen, der Familie als dem Göttlichen zu dienen, sondern umgekehrt, dem Göttlichen zu dienen und die noch ungöttliche Familie ihm zuzuführen, d.h. im Namen der Idee alles zu unterwerfen, das Panier der Idee überall aufzupflanzen, die Idee zu realer Wirksamkeit zu bringen.

Da es aber dem Christentum wie dem Altertum ums Göttliche zu tun ist, so kommen sie auf entgegengesetzten Wegen stets wieder darauf hinaus. Am Ende des Heidentums wird das Göttliche zum Ausserweltlichen, am Ende des Christentums zum Innerweltlichen. Es ganz ausserhalb der Welt zu setzen, gelingt dem Altertum nicht, und als das Christentum diese Aufgabe vollbringt, da sehnt sich augenblicklich das Göttliche in die Welt zurück und will die Welt »erlösen«.

Aber innerhalb des Christentums kommt und kann es nicht dazu kommen, dass das Göttliche als Innerweltliches wirklich das Weltliche selbst würde: es bleibt genug übrig, was als das »Schlechte«, Unvernünftige, Zufällige, »Egoistische«, als das im schlechten Sinne »Weltliche« undurchdrungen sich erhält und erhalten muss. Das Christentum beginnt damit, dass der Gott zum Menschen wird, und es treibt sein Bekehrungs- und Erlösungswerk alle Zeit hindurch, um dem Gotte in allen Menschen und allem Menschlichen Aufnahme zu bereiten und alles mit dem Geiste zu durchdringen: es bleibt dabei, für den »Geist« eine Stätte zu bereiten.

Wenn zuletzt auf den Menschen oder die Menschheit der Akzent gelegt wurde, so war es wieder die Idee, die man »ewig sprach«: »Der Mensch stirbt nicht!« Man meinte nun die Realität der Idee gefunden zu haben: Der Mensch ist das Ich der Geschichte, der Weltgeschichte; er, dieser Ideale, ist es, der sich wirklich entwickelt, d.h. realisiert. Er ist der wirklich Reale, Leibhaftige, denn die Geschichte ist sein Leib, woran die Einzelnen nur die Glieder sind. Christus ist das Ich der Weltgeschichte, sogar das der vorchristlichen; in der modernen Anschauung ist es der Mensch, das Christusbild hat sich zum Menschenbilde entwickelt: es ist der Mensch als solcher, der Mensch schlechthin der »Mittelpunkt« der Geschichte. In »dem Menschen« kehrt der imaginäre Anfang wieder; denn »der Mensch« ist so imaginär als Christus es ist. »Der Mensch« als Ich der Weltgeschichte schliesst den Zyklus christlicher Anschauungen.

Der Zauberkreis der Christlichkeit wäre gebrochen, wenn die Spannung zwischen Existenz und Beruf, d.h. zwischen Mir, wie Ich bin, und Mir, wie Ich sein soll, aufhörte; er besteht nur als die Sehnsucht der Idee nach ihrer Leiblichkeit und verschwindet mit der nachlassenden Trennung beider: nur wenn die Idee - Idee bleibt, wie ja der Mensch oder die Menschheit eine leiblose Idee ist, ist die Christlichkeit noch vorhanden. Die leibhaftige Idee, der leibhaftige oder »vollendete« Geist schwebt dem Christen vor als »das Ende der Tage«, oder als das »Ziel der Geschichte«; er ist ihm nicht Gegenwart.

Nur Teil haben kann der Einzelne an der Stiftung des Gottesreiches oder, nach moderner Vorstellung von derselben Sache, an der Entwicklung und Geschichte der Menschheit, und nur soweit er daran Teil hat, kommt ihm ein christlicher oder, nach modernem Ausdruck, menschlicher Wert zu, im Ãœbrigen ist er Staub und ein Madensack.

Dass der Einzelne für sich eine Weltgeschichte ist und an der übrigen Weltgeschichte sein Eigentum besitzt, das geht übers Christliche hinaus. Dem Christen ist die Weltgeschichte das Höhere, weil sie die Geschichte Christi oder »des Menschen« ist; dem Egoisten hat nur seine Geschichte Wert, weil er nur sich entwickeln will, nicht die Menschheits-Idee, nicht den Plan Gottes, nicht die Absichten der Vorsehung, nicht die Freiheit u. dgl. Er sieht sich nicht für ein Werkzeug der Idee oder ein Gefäss Gottes an, er erkennt keinen Beruf an, er wähnt nicht, zur Fortentwicklung der Menschheit dazusein und sein Scherflein dazu beitragen zu müssen, sondern er lebt sich aus, unbesorgt darum, wie gut oder schlecht die Menschheit dabei fahre. Liesse es nicht das Missverständnis zu, als sollte ein Naturzustand gepriesen werden, so könnte man an Lenaus »Drei Zigeuner« erinnern. - Was, bin Ich dazu in der Welt, um Ideen zu realisieren? Um etwa zur Verwirklichung der Idee »Staat« durch mein Bürgertum das Meinige zu tun, oder durch die Ehe, als Ehegatte und Vater, die Idee der Familie zu einem Dasein zu bringen? Was ficht Mich ein solcher Beruf an! Ich lebe so wenig nach einem Berufe, als die Blume nach einem Berufe wächst und duftet.

Das Ideal »der Mensch« ist realisiert, wenn die christliche Anschauung umschlägt in den Satz: »Ich, dieser Einzige, bin der Mensch«. Die Begriffsfrage: »was ist der Mensch?« - hat sich dann in die persönliche umgesetzt: »wer ist der Mensch?« Bei »was« suchte man den Begriff, um ihn zu realisieren; bei »wer« ist's überhaupt keine Frage mehr, sondern die Antwort im Fragenden gleich persönlich vorhanden: die Frage beantwortet sich von selbst.

Man sagt von Gott: »Namen nennen Dich nicht«. Das gilt von Mir: kein Begriff drückt Mich aus, nichts, was man als mein Wesen angibt, erschöpft Mich; es sind nur Namen. Gleichfalls sagt man von Gott, er sei vollkommen und habe keinen Beruf, nach Vollkommenheit zu streben. Auch das gilt allein von Mir. Eigner bin Ich meiner Gewalt, und Ich bin es dann, wenn Ich Mich als Einzigen weiss. Im Einzigen kehrt selbst der Eigner in sein schöpferisches Nichts zurück, aus welchem er geboren wird. Jedes höhere Wesen über Mir, sei es Gott, sei es der Mensch, schwächt das Gefühl meiner Einzigkeit und erbleicht erst vor der Sonne dieses Bewusstseins. Stell' Ich auf Mich, den Einzigen, meine Sache, dann steht sie auf dem Vergänglichen, dem sterblichen Schöpfer seiner, der sich selbst verzehrt, und

Ich darf sagen:

Ich hab' mein' Sach' auf Nichts gestellt.