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Max Stirner/Der Einzige und sein Eigentum/Erste Abteilung:Der Mensch
- Erste Abteilung:Der Mensch
- Zweite Abteilung:Ich
- Anmerkungen
Contents
ERSTE ABTEILUNG
Der Mensch ist dem Menschen das höchste Wesen, sagt Feuerbach.
Der Mensch ist nun erst gefunden, sagt Bruno Bauer.
Sehen wir Uns denn dieses höchste Wesen und diesen neuen Fund genauer an.
I. Ein Menschenleben.
Von dem Augenblicke an, wo er das Licht der Welt erblickt, sucht ein Mensch aus ihrem Wirrwarr, in welchem auch er mit allem anderen bunt durcheinander herumgewürfelt wird, sich herauszufinden und sich zu gewinnen. Doch wehrt sich wiederum alles, was mit dem Kinde in Berührung kommt, gegen dessen Eingriffe und behauptet sein eigenes Bestehen. Mithin ist, weil Jegliches auf sich hält, und zugleich mit Anderem in stete Kollision gerät, der Kampf der Selbstbehauptung unvermeidlich. Siegen oder Unterliegen – zwischen beiden Wechselfällen schwankt das Kampfgeschick. Der Sieger wird der Herr, der Unterliegende der Untertan: jener übt die Hoheit und »Hoheitsrechte«, dieser erfüllt in Ehrfurcht und Respekt die »Untertanenpflichten«. Aber Feinde bleiben beide und liegen immer auf der Lauer: sie lauern einer auf die Schwäche des andern, Kinder auf die der Eltern, und Eltern auf die der Kinder (z.B. ihre Furcht), der Stock überwindet entweder den Menschen oder der Mensch überwindet den Stock. Im Kindheitsalter nimmt die Befreiung den Verlauf, dass Wir auf den Grund der Dinge oder »hinter die Dinge« zu kommen suchen: daher lauschen Wir allen ihre Schwächen ab, wofür bekanntlich Kinder einen sichern Instinkt haben, daher zerbrechen Wir gerne, durchstöbern gern verborgene Winkel, spähen nach dem Verhüllten und Entzogenen, und versuchen Uns an allem. Sind Wir erst dahinter gekommen, so wissen Wir Uns sicher; sind Wir z.B. dahinter gekommen, dass die Rute zu schwach ist gegen Unsern Trotz, so fürchten Wir sie nicht mehr, »sind ihr entwachsen«.
Hinter der Rute steht, mächtiger als sie, unser – Trotz, unser trotziger Mut. Wir kommen gemach hinter alles, was Uns unheimlich und nicht geheuer war, hinter die unheimlich gefürchtete Macht der Rute, der strengen Miene des Vaters usw., und hinter allem finden Wir Unsere – Ataraxie, d.h. Unerschütterlichkeit, Unerschrockenheit, unsere Gegengewalt, Übermacht, Unbezwingbarkeit. Was Uns erst Furcht und Respekt einflösste, davor ziehen Wir Uns nicht mehr scheu zurück, sondern fassen Mut. Hinter allem finden Wir Unsern Mut, Unsere Überlegenheit; hinter dem barschen Befehl der Vorgesetzten und Eltern steht doch Unser mutiges Belieben oder Unsere überlistende Klugheit. Und je mehr Wir Uns fühlen, desto kleiner erscheint, was zuvor unüberwindlich dünkte. Und was ist Unsere List, Klugheit, Mut, Trotz? Was sonst als – Geist!
Eine geraume Zeit hindurch bleiben Wir mit einem Kampfe, der später Uns so sehr in Atem setzt, verschont, mit dem Kampfe gegen die Vernunft. Die schönste Kindheit geht vorüber, ohne dass Wir nötig hätten, Uns mit der Vernunft herumzuschlagen. Wir kümmern Uns gar nicht um sie, lassen Uns mit ihr nicht ein, nehmen keine Vernunft an. Durch Überzeugung bringt man Uns zu nichts, und gegen die guten Gründe, Grundsätze usw. sind Wir taub; Liebkosungen, Züchtigungen und Ähnlichem widerstehen Wir dagegen schwer.
Dieser saure Lebenskampf mit der Vernunft tritt erst später auf, und beginnt eine neue Phase: in der Kindheit tummeln Wir Uns, ohne viel zu grübeln.
Geist heißt die erste Selbstfindung, die erste Entgötterung des Göttlichen, d.h. des Unheimlichen, des Spuks, der »oberen Mächte«. Unserem frischen Jugendgefühl, diesem Selbstgefühl, imponiert nun nichts mehr: die Welt ist in Verruf erklärt, denn Wir sind über ihr, sind Geist. Jetzt erst sehen Wir, dass Wir die Welt bisher gar nicht mit Geist angeschaut haben, sondern nur angestiert.
An Naturgewalten üben Wir Unsere ersten Kräfte. Eltern imponieren Uns als Naturgewalt; später heißt es: Vater und Mutter sei zu verlassen, alle Naturgewalt für gesprengt zu erachten. Sie sind überwunden. Für den Vernünftigen, d.h. »Geistigen Menschen«, gibt es keine Familie als Naturgewalt: es zeigt sich eine Absagung von Eltern, Geschwistern usw. Werden diese als geistige, vernünftige Gewalten »wiedergeboren«, so sind sie durchaus nicht mehr das, was sie vorher waren.
Und nicht bloß die Eltern, sondern die Menschen überhaupt, werden von dem jungen Menschen besiegt: sie sind ihm kein Hindernis, und werden nicht berücksichtigt: denn, heißt es nun: Man muss Gott mehr gehorchen, als den Menschen.
Alles »Irdische« weicht unter diesem hohen Standpunkte in verächtliche Ferne zurück: denn der Standpunkt ist der – himmlische.
Die Haltung hat sich nun durchaus umgekehrt, der Jüngling nimmt ein geistiges Verhalten an, während der Knabe, der sich noch nicht als Geist fühlte, in einem geistlosen Lernen aufwuchs. Jener sucht nicht der Dinge habhaft zu werden, z.B. nicht die Geschichtsdata in seinen Kopf zu bringen, sondern der Gedanken, die in den Dingen verborgen liegen, also z.B. des Geistes der Geschichte; der Knabe hingegen versteht wohl Zusammenhänge, aber nicht Ideen, den Geist; daher reiht er Lernbares an Lernbares, ohne apriorisch und theoretisch zu verfahren, d.h. ohne nach Ideen zu suchen.
Hatte man in der Kindheit den Widerstand der Weltgesetze zu bewältigen, so stösst man nun bei allem, was man vorhat, auf eine Einrede des Geistes, der Vernunft, des eigenen Gewissens. »Das ist unvernünftig, unchristlich, unpatriotisch« u. dergl., ruft Uns das Gewissen zu, und – schreckt Uns davon ab. – Nicht die Macht der rächenden Eumeniden, nicht den Zorn des Poseidon, nicht den Gott, sofern er auch das Verborgene sieht, nicht die Strafrute des Vaters fürchten Wir, sondern das – Gewissen.
Wir »hängen nun Unsern Gedanken nach« und folgen ebenso ihren Geboten, wie Wir vorher den elterlichen, menschlichen folgten. Unsere Taten richten sich nach Unseren Gedanken (Ideen, Vorstellungen, Glauben), wie in der Kindheit nach den Befehlen der Eltern.
Indes gedacht haben Wir auch schon als Kinder, nur waren Unsere Gedanken keine fleischlosen abstrakten, absoluten, d.h. nichts als Gedanken, ein Himmel für sich, eine reine Gedankenwelt, logische Gedanken.
Im Gegenteil waren es nur Gedanken gewesen, die Wir Uns über eine Sache machten: Wir dachten Uns das Ding so oder so. Wir dachten also wohl: die Welt, die Wir da sehen, hat Gott gemacht; aber Wir dachten (»erforschten«) nicht die »Tiefen der Gottheit selber«; Wir dachten wohl: »das ist das Wahre an der Sache«, aber Wir dachten nicht das Wahre oder die Wahrheit selbst, und verbanden nicht zu einem Satze »Gott ist die Wahrheit«. Die »Tiefen der Gottheit, welche die Wahrheit ist«, berührten Wir nicht. Bei solchen rein logischen, d.h. theologischen Fragen: »Was ist Wahrheit« hält sich Pilatus nicht auf, wenngleich er im einzelnen Falle darum nicht zweifelt, zu ermitteln, »was Wahres an der Sache ist«, d.h. ob die Sache wahr ist.
Jeder an eine Sache gebundene Gedanke ist noch nicht nichts als Gedanke, absoluter Gedanke.
Den reinen Gedanken zu Tage zu fördern, oder ihm anzuhängen, das ist Jugendlust, und alle Lichtgestalten der Gedankenwelt, wie Wahrheit, Freiheit, Menschentum, der Mensch usw. erleuchten und begeistern die jugendliche Seele.
Ist aber der Geist als das Wesentliche erkannt, so macht es doch einen Unterschied, ob der Geist arm oder reich ist, und man sucht deshalb reich an Geist zu werden: es will der Geist sich ausbreiten, sein Reich zu gründen, ein Reich, das nicht von dieser Welt ist, der eben überwundenen. So sehnt er sich denn alles in allem zu werden, d.h. obgleich Ich Geist bin, bin Ich doch nicht vollendeter Geist, und muss den vollkommenen Geist erst suchen.
Damit verliere Ich aber, der Ich Mich soeben als Geist gefunden hatte, sogleich Mich wieder, indem Ich vor dem vollkommenen Geiste, als einem Mir nicht eigenen, sondern jenseitigen Mich beuge und meine Leerheit fühle.
Auf Geist kommt zwar alles an, aber ist auch jeder Geist der »rechte« Geist? Der rechte und wahre Geist ist das Ideal des Geistes, der »heilige Geist«. Er ist nicht Mein oder Dein Geist, sondern eben ein – idealer, jenseitiger, er ist »Gott«. »Gott ist Geist.« Und dieser jenseitige »Vater im Himmel gibt ihn denen, die ihn bitten«. (1)
Den Mann scheidet es vom Jünglinge, dass er die Welt nimmt, wie sie ist, statt sie überall im Argen zu wähnen und verbessern, d.h. nach seinem Ideale modeln zu wollen; in ihm befestigt sich die Ansicht, dass man mit der Welt nach seinem Interesse verfahren müsse, nicht nach seinen Idealen.
Solange man sich nur als Geist weiß, und all seinen Wert darin legt, Geist zu sein (dem Jünglinge wird es leicht, sein Leben, das »leibliche«, für ein Nichts hinzugeben, für die albernste Ehrenkränkung), solange hat man auch nur Gedanken, Ideen, die man einst, wenn man einen Wirkungskreis gefunden, verwirklichen zu können hofft; man hat also einstweilen nur Ideale, unvollzogene Ideen oder Gedanken.
Erst dann, wenn man sich leibhaftig liebgewonnen, und an sich, wie man leibt und lebt, eine Lust hat – so aber findet sich’s im reifen Alter, beim Manne – erst dann hat man ein persönliches oder egoistisches Interesse, d.h. ein Interesse nicht etwa nur Unseres Geistes, sondern totaler Befriedigung, Befriedigung des ganzen Kerls, ein eigennütziges Interesse. Vergleicht doch einmal einen Mann mit einem Jünglinge, ob er Euch nicht härter, ungroßmütiger, eigennütziger erscheinen wird. Ist er darum schlechter? Ihr sagt Nein, er sei nur bestimmter, oder, wie Ihr’s auch nennt,
»praktischer« geworden. Hauptsache jedoch ist dies, dass er sich mehr zum Mittelpunkte macht, als der Jüngling, der für Anderes, z.B. Gott, Vaterland u. dergl. »schwärmt«.
Darum zeigt der Mann eine zweite Selbstfindung. Der Jüngling fand sich als Geist und verlor sich wieder an den allgemeinen Geist, den vollkommenen, heiligen Geist, den Menschen, die Menschheit, kurz alle Ideale; der Mann findet sich als leibhaftigen Geist.
Knaben hatten nur ungeistige, d.h. gedankenlose und ideenlose, Jünglinge nur geistige Interessen; der Mann hat leibhaftige, persönliche, egoistische Interessen.
Wenn das Kind nicht einen Gegenstand hat, mit welchem es sich beschäftigen kann, so fühlt es Langeweile: denn mit sich weiß es sich noch nicht zu beschäftigen. Umgekehrt wirft der Jüngling den Gegenstand auf die Seite, weil ihm Gedanken aus dem Gegenstande aufgingen: er beschäftigt sich mit seinen Gedanken, seinen Träumen, beschäftigt sich geistig oder »sein Geist ist beschäftigt«.
Alles nicht Geistige befasst der junge Mensch unter dem verächtlichen Namen der »Äusserlichkeiten«. Wenn er gleichwohl an den kleinlichsten Äusserlichkeiten haftet (z.B. burschikosen und andern Formalitäten), so geschieht es, weil und wenn er in ihnen Geist entdeckt, d.h. wenn sie ihm Symbole sind.
Wie Ich Mich hinter den Dingen finde, und zwar als Geist, so muss Ich Mich später auch hinter den Gedanken finden, nämlich als ihr Schöpfer und Eigner. In der Geisterzeit wuchsen Mir die Gedanken über den Kopf, dessen Geburten sie doch waren; wie Fieberphantasien umschwebten und erschütterten sie Mich, eine schauervolle Macht. Die Gedanken waren für sich selbst leibhaftig geworden, waren Gespenster, wie Gott, Kaiser, Papst, Vaterland usw. Zerstöre Ich ihre Leibhaftigkeit, so nehme Ich sie in die Meinige zurück und sage: Ich allein bin leibhaftig. Und nun nehme Ich die Welt als das, was sie Mir ist, als die Meinige, als Mein Eigentum: Ich beziehe alles auf Mich.
Stiess Ich als Geist die Welt zurück in tiefster Weltverachtung, so stosse Ich als Eigner die Geister oder Ideen zurück in ihre »Eitelkeit«. Sie haben keine Macht mehr über Mich, wie über den Geist keine »Gewalt der Erde« eine Macht hat.
Das Kind war realistisch, in den Dingen dieser Welt befangen, bis ihm nach und nach hinter eben diese Dinge zu kommen gelang; der Jüngling war idealistisch, von Gedanken begeistert, bis er sich zum Manne hinaufarbeitete, dem egoistischen, der mit den Dingen und Gedanken nach Herzenslust gebahrt und sein persönliches Interesse über alles setzt. Endlich der Greis? Wenn Ich einer werde, so ist noch Zeit genug, davon zu sprechen.
II. Menschen der alten und neuen Zeit
Wie ein jeder von Uns sich entwickelte, was er erstrebte, erlangte oder verfehlte, welche Zwecke er einst verfolgte und an welchen Plänen und Wünschen sein Herz im Augenblicke hängt, welche Umwandlungen seine Ansichten, welche Erschütterungen seine Prinzipien erfuhren, kurz wie er heute geworden, was er gestern oder vor Jahren nicht war: das hebt er mit mehr oder minderer Leichtigkeit aus seiner Erinnerung wieder hervor und empfindet besonders dann recht lebhaft, welche Veränderungen in ihm selbst vorgegangen sind, wenn er das Abrollen eines fremden Lebens vor Augen hat. Schauen Wir daher in das Treiben hinein, welches Unsere Voreltern vorführten.
1. Die Alten
Da das Herkommen einmal Unseren vorchristlichen Ahnen den Namen der »Alten« beigelegt hat, so wollen Wir es ihnen nicht vorrücken, dass sie gegen Uns erfahrene Leute eigentlich die Kinder heißen müssten, und sie lieber nach wie vor als Unsere guten Alten ehren. Wie aber sind sie dazu gekommen zu veralten, und wer konnte sie durch seine vorgebliche Neuheit verdrängen?
Wir kennen den revolutionären Neuerer und respektlosen Erben wohl, der selbst den Sabbat der Väter entheiligte, um seinen Sonntag zu heiligen, und die Zeit in ihrem Laufe unterbrach, um bei sich mit einer neuen Zeitrechnung zu beginnen: kennen ihn und wissen’s, dass es der – Christ ist. Bleibt er aber ewig jung und ist er heute noch der neue, oder wird auch er antiquiert werden, wie er die »Alten« antiquiert hat? -
Es werden die Alten wohl selbst den Jungen erzeugt haben, der sie hinaustrug. Belauschen Wir denn diesen Zeugungsakt.
»Den Alten war die Welt eine Wahrheit«, sagt Feuerbach, aber er vergisst den wichtigen Zusatz zu machen: eine Wahrheit, hinter deren Unwahrheit sie zu kommen suchten, und endlich wirklich kamen. Was mit jenen Feuerbachschen Worten gesagt sein soll, wird man leicht erkennen, wenn man sie mit dem christlichen Satze von der »Eitelkeit und Vergänglichkeit der Welt« zusammenhält. Wie der Christ nämlich sich niemals von der Eitelkeit des göttlichen Wortes überzeugen kann, sondern an die ewige und unerschütterliche Wahrheit desselben glaubt, die, je mehr in ihren Tiefen geforscht werde, nur um so glänzender an den Tag kommen und triumphieren müsse: so lebten die Alten ihrerseits in dem Gefühle, dass die Welt und weltliche Verhältnisse (z.B. die natürlichen Blutsbande) das Wahre seien, vor dem ihr ohnmächtiges Ich sich beugen müsse. Gerade dasjenige, worauf die Alten den grössten Wert legten, wird von den Christen als das Wertlose verworfen, und was jene als das Wahre erkannten, brandmarken diese als eitle Lüge: die hohe Bedeutung des Vaterlandes verschwindet, und der Christ muss sich für einen »Fremdling auf Erden« (2) ansehen, die Heiligkeit der Totenbestattung, aus der ein Kunstwerk wie die sophokleische Antigone entsprang, wird als eine Erbärmlichkeit bezeichnet (»Lass die Toten ihre Toten begraben«), die unverbrüchliche Wahrheit der Familienbande wird als eine Unwahrheit dargestellt, von der man nicht zeitig genug sich losmachen könne, (3) und so in allem.
Sieht man nun ein, dass beiden Teilen das Umgekehrte für Wahrheit gilt, den einen das Natürliche, den anderen das Geistige, den einen die irdischen Dinge und Verhältnisse, den anderen die himmlischen (das himmlische Vaterland, »das Jerusalem, das droben ist« usw.), so bleibt immer noch zu betrachten, wie aus dem Altertum die neue Zeit und jene unleugbare Umkehrung hervorgehen konnte. Es haben die Alten aber selbst darauf hingearbeitet, ihre Wahrheit zu einer Lüge zu machen.
Greifen Wir sogleich mitten in die glänzendsten Jahre der Alten hinein, in das perikleische Jahrhundert. Damals griff die sophistische Zeitbildung um sich, und Griechenland trieb mit dem Kurzweile, was ihm seither ein ungeheurer Ernst gewesen war.
Zu lange waren die Väter von der Gewalt des ungerüttelten Bestehenden geknechtet worden, als dass die Nachkommen nicht an den bitteren Erfahrungen hätten lernen sollen, sich zu fühlen. Mit mutiger Keckheit sprechen daher die Sophisten das ermannende Wort aus: »Lass Dich nicht verblüffen!« und verbreiten die aufklärende Lehre: »Brauche gegen alles Deinen Verstand, Deinen Witz, Deinen Geist; mit einem guten und geübten Verstande kommt man am besten durch die Welt, bereitet sich das beste Los, das angenehmste Leben.« Sie erkennen also in dem Geiste die wahre Waffe des Menschen gegen die Welt. Darum halten sie so viel auf die dialektische Gewandtheit, Redefertigkeit, Disputierkunst usw. Sie verkünden, dass der Geist gegen alles zu brauchen ist; aber von der Heiligkeit des Geistes sind sie noch weit entfernt, denn er gilt ihnen als Mittel, als Waffe, wie den Kindern List und Trotz dazu dient: ihr Geist ist der unbestechliche Verstand.
Heutzutage würde man das eine einseitige Verstandesbildung nennen und die Mahnung hinzufügen: Bildet nicht bloß Euren Verstand, sondern besonders auch Euer Herz. Dasselbe tat Sokrates. Wurde nämlich das Herz von seinen natürlichen Trieben nicht frei, sondern blieb es vom zufälligsten Inhalt erfüllt und als eine unkritisierte Begehrlichkeit ganz in der Gewalt der Dinge, d.h. nichts als ein Gefäss der verschiedensten Gelüste, so konnte es nicht fehlen, dass der freie Verstand dem »schlechten Herzen« dienen musste und alles zu rechtfertigen bereit war, was das arge Herz begehrte.
Darum sagt Sokrates, es genüge nicht, dass man in allen Dingen seinen Verstand gebrauche, sondern es komme darauf an, für welche Sache man ihn anstrenge. Wir würden jetzt sagen: Man müsse der »guten Sache« dienen. Der guten Sache dienen, heißt aber – sittlich sein. Daher ist Sokrates der Gründer der Ethik.
Allerdings musste das Prinzip der Sophistik dahin führen, dass der unselbständigste und blindeste Sklave seiner Begierden doch ein trefflicher Sophist sein und mit Verstandesschärfe alles zu Gunsten seines rohen Herzens auslegen und zustutzen konnte. Was gäbe es wohl, wofür sich nicht ein »guter Grund« auffinden, und was sich nicht durchfechten liesse?
Darum sagt Sokrates: Ihr müsst »reinen Herzens sein«, wenn man eure Klugheit achten soll. Von hier ab beginnt die zweite Periode griechischer Geistesbefreiung, die Periode der Herzensreinheit. Die erste nämlich kam durch die Sophisten zum Schluss, indem sie die Verstandesallmacht proklamierten. Aber das Herz blieb weltlich gesinnt, blieb ein Knecht der Welt, stets affiziert durch weltliche Wünsche. Dies rohe Herz sollte von nun an gebildet werden: die Zeit der Herzensbildung. Wie aber soll das Herz gebildet werden? Was der Verstand, diese eine Seite des Geistes, erreicht hat, die Fähigkeit nämlich, mit und über allem Gehalt frei zu spielen, das steht auch dem Herzen bevor: alles Weltliche muss vor ihm zu Schanden werden, so dass zuletzt Familie, Gemeinwesen, Vaterland u. dergl. um des Herzens, d.h. der Seligkeit, der Seligkeit des Herzens willen, aufgegeben wird.
Alltägliche Erfahrung bestätigt es, dass der Verstand längst einer Sache entsagt haben kann, wenn das Herz noch viele Jahre für sie schlägt. So war auch der sophistische Verstand über die herrschenden, alten Mächte so weit Herr geworden, dass sie nur noch aus dem Herzen, worin sie unbelästigt hausten, verjagt werden mussten, um endlich an dem Menschen gar kein Teil mehr zu haben.
Dieser Krieg wird von Sokrates erhoben und erreicht seinen Friedensschluss erst am Todestage der alten Welt.
Mit Sokrates nimmt die Prüfung des Herzens ihren Anfang, und aller Inhalt des Herzens wird gesichtet. In ihren letzten und äussersten Anstrengungen warfen die Alten allen Inhalt aus dem Herzen hinaus, und ließen es für Nichts mehr schlagen: dies war die Tat der Skeptiker. Dieselbe Reinheit des Herzens wurde nun in der skeptischen Zeit errungen, welche in der sophistischen dem Verstande herzustellen gelungen war.
Die sophistische Bildung hat bewirkt, dass einem der Verstand vor nichts mehr still steht, und die skeptische, dass das Herz von nichts mehr bewegt wird.
Solange der Mensch in das Weltgetriebe verwickelt und durch Beziehungen zur Welt befangen ist – und er ist es bis ans Ende des Altertums, weil sein Herz immer noch um die Unabhängigkeit von Weltlichem zu ringen hat – solange ist er noch nicht Geist; denn der Geist ist körperlos und hat keine Beziehung zur Welt und Körperlichkeit: für ihn existiert nicht die Welt, nicht natürliche Bande, sondern nur Geistiges und geistige Bande. Darum musste der Mensch erst so völlig rücksichtslos und unbekümmert, so ganz beziehungslos werden, wie ihn die skeptische Bildung darstellt, so ganz gleichgültig gegen die Welt, dass ihn ihr Einsturz selbst nicht rührte, ehe er sich als weltlos, d.h. als Geist fühlen konnte. Und dies ist das Resultat von der Riesenarbeit der Alten, dass der Mensch sich als beziehungs- und weltloses Wesen, als Geist weiß.
Nun erst, nachdem ihn alle weltliche Sorge verlassen hat, ist er sich alles in allem, ist nur für sich, d.h. ist Geist für den Geist, oder deutlicher: bekümmert sich nur um das Geistige.
In der christlichen Schlangenklugheit und Taubenunschuld sind die beiden Seiten der antiken Geistesbefreiung, Verstand und Herz so vollendet, dass sie wieder jung und neu erscheinen, das eine und das andere sich nicht mehr durch das Weltliche, Natürliche verblüffen lassen.
Zum Geiste also schwangen sich die Alten auf und geistig strebten sie zu werden. Es wird aber ein Mensch, der als Geist tätig sein will, zu ganz anderen Aufgaben hingezogen, als er sich vorher zu stellen vermochte, zu Aufgaben, welche wirklich dem Geiste und nicht dem bloßen Sinne oder Scharfsinn zu tun geben, der sich nur anstrengt, der Dinge Herr zu werden. Einzig um das Geistige bemüht sich der Geist, und in allem sucht er die »Spuren des Geistes« auf: dem gläubigen Geiste »kommt alles von Gott« und interessiert ihn nur insofern, als es diese Abkunft offenbart; dem philosophischen Geiste erscheint alles mit dem Stempel der Vernunft und interessiert ihn nur so weit, als er Vernunft, d.h. geistigen Inhalt, darin zu entdecken vermag.
Nicht den Geist also, der es schlechterdings mit nichts Ungeistigem, mit keinem Dinge, sondern allein mit dem Wesen, welches hinter und über den Dingen existiert, mit den Gedanken zu tun hat, nicht ihn strengten die Alten an, denn sie hatten ihn noch nicht; nein, nach ihm rangen und sehnten sie
sich erst und schärften ihn deshalb gegen ihren übermächtigen Feind, die Sinnenwelt (was wäre aber für sie nicht sinnlich gewesen, da Jehova oder die Götter der Heiden noch weit von dem Begriffe »Gott ist Geist« entfernt waren, da an die Stelle des sinnlichen Vaterlandes noch nicht das »himmlische« getreten war usw.?), sie schärften gegen die Sinnenwelt den Sinn, den Scharfsinn. Noch heute sind die Juden, diese altklugen Kinder des Altertums, nicht weiter gekommen, und können bei aller Subtilität und Stärke der Klugheit und des Verstandes, der der Dinge mit leichter Mühe Herr wird, und sie, ihm zu dienen, zwingt, den Geist nicht finden, der sich aus den Dingen gar nichts macht.
Der Christ hat geistige Interessen, weil er sich erlaubt ein geistiger Mensch zu sein; der Jude versteht diese Interessen in ihrer Reinheit nicht einmal, weil er sich nicht erlaubt, den Dingen keinen Wert beizulegen. Zur reinen Geistigkeit gelangt er nicht, einer Geistigkeit, wie sie religiös z.B. in dem allein d.h. ohne Werke rechtfertigenden Glauben der Christen ausgedrückt ist. Ihre Geistlosigkeit entfernt die Juden auf immer von den Christen; denn dem Geistlosen ist der Geistige unverständlich, wie dem Geistigen der Geistlose verächtlich ist. Die Juden haben aber nur den »Geist dieser Welt«.
Der antike Scharfsinn und Tiefsinn liegt so weit vom Geiste und der Geistigkeit der christlichen Welt entfernt, wie die Erde vom Himmel.
Von den Dingen dieser Welt wird, wer sich als freien Geist fühlt, nicht gedrückt und geängstigt, weil er sie nicht achtet; soll man ihre Last noch empfinden, so muss man borniert genug sein, auf sie Gewicht zu legen, wozu augenscheinlich gehört, dass es einem noch um das »liebe Leben« zu tun sei. Wem alles darauf ankommt, sich als freier Geist zu wissen und zu rühren, der fragt wenig darnach, wie kümmerlich es ihm dabei ergehe, und denkt überhaupt nicht darüber nach, wie er seine Einrichtungen zu treffen habe, um recht frei oder genussreich zu leben. Die Unbequemlichkeiten des von den Dingen abhängigen Lebens stören ihn nicht, weil er nur geistig und von Geistesnahrung lebt, im Übrigen aber, ohne es kaum zu wissen, nur frisst oder verschlingt, und wenn ihm der Frass ausgeht, zwar körperlich stirbt, als Geist aber sich unsterblich weiß und unter einer Andacht oder einem Gedanken die Augen schliesst. Sein Leben ist Beschäftigung mit Geistigem, ist – Denken, das Übrige schiert ihn nicht; mag er sich mit Geistigem beschäftigen, wie er immer kann und will, in Andacht, in Betrachtung oder in philosophischer Erkenntnis, immer ist das Tun ein Denken, und darum konnte Cartesius, dem dies endlich ganz klar geworden war, den Satz aufstellen: »Ich denke, das heißt: – Ich bin.« Mein Denken, heißt es da, ist Mein Sein oder Mein Leben; nur wenn Ich geistig lebe, lebe Ich; nur als Geist bin Ich wirklich oder – Ich bin durch und durch Geist und nichts als Geist. Der unglückliche Peter Schlemihl, der seinen Schatten verloren hat, ist das Portrait jenes zu Geist gewordenen Menschen: denn des Geistes Körper ist schattenlos. – Dagegen wie anders bei den Alten! Wie stark und männlich sie auch gegen die Gewalt der Dinge sich betragen mochten, die Gewalt selbst mussten sie doch anerkennen, und weiter brachten sie es nicht, als dass sie ihr Leben gegen jene so gut als möglich schützten. Spät erst erkannten sie, dass ihr »wahres Leben« nicht das im Kampfe gegen die Dinge der Welt geführte, sondern das »geistige«, von diesen Dingen »abgewandte« sei, und als sie dies einsahen, da wurden sie – Christen, d.h. die »Neuen« und Neuerer gegen die Alten. Das von den Dingen abgewandte, das geistige Leben, zieht aber keine Nahrung mehr aus der Natur, sondern »lebt nur von Gedanken«, und ist deshalb nicht mehr »Leben«, sondern – Denken.
Nun muss man jedoch nicht glauben, die Alten seien gedankenlos gewesen, wie man ja auch den geistigsten Menschen sich nicht so vorstellen darf, als könnte er leblos sein. Vielmehr hatten sie über alles, über die Welt, den Menschen, die Götter usw. ihre Gedanken, und bewiesen sich eifrig tätig, alles dies sich zum Bewusstsein zu bringen. Allein den Gedanken kannten sie nicht, wenn sie auch an allerlei dachten und »sich mit ihren Gedanken plagten«. Man vergleiche ihnen gegenüber den christlichen Spruch: »Meine Gedanken sind nicht Eure Gedanken, und so viel der Himmel höher ist, denn die Erde, so sind auch Meine Gedanken höher, denn Eure Gedanken«, und erinnere sich dessen, was oben über Unsere Kindergedanken gesagt wurde.
Was sucht also das Altertum? Den wahren Lebensgenuss, Genuss des Lebens! Am Ende wird es auf das »wahre Leben« hinauskommen.
Der griechische Dichter Simonides singt: »Gesundheit ist das edelste Gut dem sterblichen Menschen, das Nächste nach diesem ist Schönheit, das dritte Reichtum ohne Tücke erlanget, das vierte geselliger Freuden Genuss in junger Freunde Gesellschaft.« Das sind alles Lebensgüter, Lebensfreuden. Wonach anders suchte Diogenes von Sinope, als nach dem wahren Lebensgenuss, den er in der möglichst geringen Bedürftigkeit entdeckte? Wonach anders Aristipp, der ihn im heiteren Mute unter allen Lagen fand? Sie suchen den heitern, ungetrübten Lebensmut, die Heiterkeit, sie suchen »guter Dinge zu sein«.
Die Stoiker wollen den Weisen verwirklichen, den Mann der Lebensweisheit, den Mann, der zu leben weiß, also ein weises Leben; sie finden ihn in der Verachtung der Welt, in einem Leben ohne Lebensentwicklung, ohne Ausbreitung, ohne freundliches Vernehmen mit der Welt, d.h. im isolierten Leben, im Leben als Leben, nicht im Mitleben: nur der Stoiker lebt, alles Andere ist für ihn tot. Umgekehrt verlangen die Epikureer ein bewegliches Leben.
Die Alten verlangen, da sie guter Dinge sein wollen, nach Wohlleben (die Juden besonders nach einem langen, mit Kindern und Gütern gesegneten Leben), nach der Eudämonie, dem Wohlsein in den verschiedensten Formen. Demokrit z.B. rühmt als solches die »Gemütsruhe«, in der sich’s »sanft lebe, ohne Furcht und ohne Aufregung«.
Er meint also, mit ihr fahre er am besten, bereite sich das beste Los und komme am besten durch die Welt. Da er aber von der Welt nicht loskommen kann, und zwar gerade aus dem Grunde es nicht kann, weil seine ganze Tätigkeit in dem Bemühen aufgeht, von ihr loszukommen, also im Abstossen der Welt (wozu doch notwendig die abstossbare und abgestossene bestehen bleiben muss, widrigenfalls nichts mehr abzustossen wäre): so erreicht er höchstens einen äussersten Grad der Befreiung, und unterscheidet sich von den weniger Befreiten nur dem Grade nach. Käme er selbst bis zur irdischen Sinnenertötung, die nur noch das eintönige Wispern des Wortes »Brahm« zulässt, er unterschiede sich dennoch nicht wesentlich vom sinnlichen Menschen. Selbst die stoische Haltung und Mannestugend läuft nur darauf hinaus, dass man sich gegen die Welt zu erhalten und zu behaupten habe, und die Ethik der Stoiker (ihre einzige Wissenschaft, da sie nichts von dem Geiste auszusagen wussten, als wie er sich zur Welt verhalten solle, und von der Natur [Physik] nur dies, dass der Weise sich gegen sie zu behaupten habe) ist nicht eine Lehre des Geistes, sondern nur eine Lehre der Weltabstossung und Selbstbehauptung gegen die Welt. Und diese besteht in der »Unerschütterlichkeit und dem Gleichmute des Lebens«, also in der ausdrücklichsten Römertugend.
Weiter als zu dieser Lebensweisheit brachten es auch die Römer nicht (Horaz, Cicero usw.).
Das Wohlergehen (Hedone) der Epikureer ist dieselbe Lebensweisheit wie die der Stoiker, nur listiger, betrügerischer. Sie lehren nur ein anderes Verhalten gegen die Welt, ermahnen nur eine kluge Haltung gegen die Welt sich zu geben: die Welt muss betrogen werden, denn sie ist meine Feindin.
Vollständig wird der Bruch mit der Welt von den Skeptikern vollführt. Meine ganze Beziehung zur Welt ist »wert- und wahrheitslos«. Timon sagt: »die Empfindungen und Gedanken, welche wir aus der Welt schöpfen, enthalten keine Wahrheit.« »Was ist Wahrheit!« ruft Pilatus aus. Die Welt ist nach Pyrrhon’s Lehre weder gut noch schlecht, weder schön noch hässlich usw., sondern dies sind Prädikate, welche Ich ihr gebe. Timon sagt: »An sich sei weder etwas gut noch sei es schlecht, sondern der Mensch denke sich’s nur so oder so;« der Welt gegenüber bleibe nur die Ataraxie (die Ungerührtheit) und Aphasie (das Verstummen – oder mit andern Worten: die isolierte Innerlichkeit) übrig. In der Welt sei »keine Wahrheit mehr zu erkennen«, die Dinge widersprechen sich, die Gedanken über die Dinge seien unterschiedslos (gut und schlecht seien einerlei, so dass, was der Eine gut nennt, ein Anderer schlecht findet); da sei es mit der Erkenntnis der »Wahrheit« aus, und nur der erkenntnislose Mensch, der Mensch, welcher an der Welt nichts zu erkennen findet, bleibe übrig, und dieser Mensch lasse die wahrheitsleere Welt eben stehen und mache sich nichts aus ihr.
So wird das Altertum mit der Welt der Dinge, der Weltordnung, dem Weltganzen fertig; zur Weltordnung oder den Dingen dieser Welt gehört aber nicht etwa nur die Natur, sondern alle Verhältnisse, in welche der Mensch durch die Natur sich gestellt sieht, z.B. die Familie, das Gemeinwesen, kurz die sogenannten »natürlichen Bande«. Mit der Welt des Geistes beginnt dann das Christentum. Der Mensch, welcher der Welt noch gewappnet gegenüber steht, ist der Alte, der – Heide (wozu auch der Jude als Nichtchrist gehört); der Mensch, welchen nichts mehr leitet als seine »Herzenslust«, seine Teilnahme, Mitgefühl, sein – Geist, ist der Neue, der – Christ.
Da die Alten auf die Weltüberwindung hinarbeiteten und den Menschen von den schweren umstrickenden Banden des Zusammenhanges mit Anderem zu erlösen strebten, so kamen sie auch zuletzt zur Auflösung des Staates und Bevorzugung alles Privaten. Gemeinwesen, Familie usw. sind ja als natürliche Verhältnisse lästige Hemmungen, die meine geistige Freiheit schmälern.
2. Die Neuen
»Ist jemand in Christo, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden.« (4)
Wurde oben gesagt: »den Alten war die Welt eine Wahrheit«, so müssen Wir hier sagen: »den Neuen war der Geist eine Wahrheit«, dürfen aber, wie dort, so hier den Zusatz nicht auslassen: eine Wahrheit, hinter deren Unwahrheit sie zu kommen suchten und endlich wirklich kommen.
Ein ähnlicher Gang, wie das Altertum ihn genommen, lässt sich auch am Christentum nachweisen, indem bis in die die Reformation vorbereitende Zeit hinein der Verstand unter der Herrschaft der christlichen Dogmen gefangen gehalten wurde, im vorreformatorischen Jahrhundert aber sophistisch sich erhob und mit allen Glaubenssätzen ein ketzerisches Spiel trieb. Dabei hiess es denn, zumal in Italien und am römischen Hofe: wenn nur das Herz christlich gesinnt bleibt, so mag der Verstand immerhin seine Lust genießen.
Man war längst vor der Reformation so sehr an spitzfindiges »Gezänk« gewöhnt, dass der Papst und die Meisten auch Luthers Auftreten anfänglich für ein bloßes »Mönchsgezänk« ansahen. Der Humanismus entspricht der Sophistik, und wie zur Zeit der Sophisten das griechische Leben in höchster Blüte stand (Perikleisches Zeitalter), so geschah das Glänzendste zur Zeit des Humanismus, oder, wie man vielleicht auch sagen könnte, des Macchiavellismus (Buchdruckerkunst, Neue Welt usw.). Das Herz war in dieser Zeit noch weit davon entfernt, des christlichen Inhalts sich entledigen zu wollen.
Aber die Reformation machte endlich, wie Sokrates, mit dem Herzen selber Ernst, und seitdem sind die Herzen zusehends – unchristlicher geworden. Indem man mit Luther anfing, sich die Sache zu Herzen zu nehmen, musste dieser Schritt der Reformation dahin führen, dass auch das Herz von der schweren Last der Christlichkeit erleichtert wird.
Das Herz, von Tag zu Tag unchristlicher, verliert den Inhalt, mit welchem es sich beschäftigt, bis zuletzt ihm nichts als die leere Herzlichkeit übrig bleibt, die ganze allgemeine Menschenliebe, die Liebe des Menschen, das Freiheitsbewusstsein, das »Selbstbewusstsein«.
So erst ist das Christentum vollendet, weil es kahl, abgestorben und inhaltsleer geworden ist. Es gibt nun keinen Inhalt mehr, gegen welchen das Herz sich nicht auflehnte, es sei denn, dass es unbewusst oder ohne »Selbstbewusstsein« von ihm beschlichen würde. Das Herz kritisiert alles, was sich eindrängen will, mit schonungsloser Unbarmherzigkeit zu Tode, und ist keiner Freundschaft, keiner Liebe (ausser eben unbewusst oder überrumpelt) fähig. Was gäbe es auch an den Menschen zu lieben, da sie allesamt »Egoisten« sind, keiner der Mensch als solcher, d.h. keiner nur Geist. Der Christ liebt nur den Geist; wo wäre aber einer, der wirklich nichts als Geist wäre?
Den leibhaftigen Menschen mit Haut und Haaren lieb zu haben, das wäre ja keine »geistige« Herzlichkeit mehr, wäre ein Verrat an der »reinen« Herzlichkeit, dem »theoretischen Interesse«. Denn man stelle sich die reine Herzlichkeit nur nicht vor wie jene Gemütlichkeit, die jedermann freundlich die Hand drückt; im Gegenteil, die reine Herzlichkeit ist gegen Niemand herzlich, sie ist nur theoretische Teilnahme, Anteil am Menschen als Menschen, nicht als Person. Die Person ist ihr widerlich, weil sie »egoistisch«, weil sie nicht der Mensch, diese Idee, ist. Nur für die Idee aber gibt es ein theoretisches Interesse. Für die reine Herzlichkeit oder die reine Theorie sind die Menschen nur da, um kritisiert, verhöhnt und gründlichst verachtet zu werden: sie sind für sie nicht minder, als für den fanatischen Pfaffen, nur »Dreck« und sonst dergleichen Sauberes.
Auf diese äusserste Spitze interesseloser Herzlichkeit getrieben, müssen Wir endlich inne werden, dass der Geist, welchen der Christ allein liebt, nichts ist, oder dass der Geist eine – Lüge ist.
Was hier gedrängt und wohl noch unverständlich hingeworfen wurde, wird sich im weiteren Verlauf hoffentlich aufklären.
Nehmen Wir die von den Alten hinterlassene Erbschaft auf und machen Wir als tätige Arbeiter damit so viel, als sich – damit machen lässt! Die Welt liegt verachtet zu Unsern Füssen, tief unter Uns und Unserem Himmel, in den ihre mächtigen Arme nicht mehr hineingreifen und ihr sinnbetäubender Hauch nicht eindringt; wie verführerisch sie sich auch gebärde, sie kann nichts als unsern Sinn betören, den Geist – und Geist sind Wir doch allein wahrhaft – irrt sie nicht. Einmal hinter die Dinge gekommen, ist der Geist auch über sie gekommen, und frei geworden von ihren Banden, ein entknechteter, jenseitiger freier. So spricht die »geistige Freiheit« .
Dem Geiste, der nach langem Mühen die Welt los geworden ist, dem weltlosen Geiste, bleibt nach dem Verluste der Welt und des Weltlichen nichts übrig, als – der Geist und das Geistige.
Da er jedoch sich von der Welt nur entfernt und zu einem von ihr freien Wesen gemacht hat, ohne sie wirklich vernichten zu können, so bleibt sie ihm ein unwegräumbarer Anstoss, ein in Verruf gebrachtes Wesen, und da er andererseits nichts kennt und anerkennt, als Geist und Geistiges, so muss er fortdauernd sich mit der Sehnsucht tragen, die Welt zu vergeistigen, d.h. sie aus dem »Verschiss« zu erlösen. Deshalb geht er, wie ein Jüngling, mit Welterlösungs- oder Weltverbesserungsplänen um.
Die Alten dienten, Wir sahen es, dem Natürlichen, Weltlichen, der natürlichen Weltordnung, aber sie fragten sich unaufhörlich, ob sie denn dieses Dienstes sich nicht entheben könnten, und als sie in stets erneuten Empörungsversuchen sich todmüde gearbeitet hatten, da ward ihnen unter ihren letzten Seufzern der Gott geboren, der »Weltüberwinder«. All ihr Tun war nichts gewesen als Weltweisheit, ein Trachten, hinter und über die Welt hinaus zu kommen. Und was ist die Weisheit der vielen folgenden Jahrhunderte? Hinter was suchten die Neuen zu kommen? Hinter die Welt nicht mehr, denn das hatten die Alten vollbracht, sondern hinter den Gott, den jene ihnen hinterließen, hinter den Gott, »der Geist ist«, hinter alles, was des Geistes ist, das Geistige. Die Tätigkeit des Geistes aber, der »selbst die Tiefen der Gottheit erforscht«, ist die Gottesgelahrtheit. Haben die Alten nichts aufzuweisen als Weltweisheit, so brachten und bringen es die Neuen niemals weiter als zur Gottesgelahrtheit. Wir werden später sehen, dass selbst die neuesten Empörungen gegen Gott nichts als die äussersten Anstrengungen der »Gottesgelahrtheit«, d.h. theologische Insurrektionen sind.
§1. Der Geist.
Das Geisterreich ist ungeheuer groß, des Geistigen unendlich viel: sehen Wir doch zu, was denn der Geist, diese Hinterlassenschaft der Alten, eigentlich ist.
Aus ihren Geburtswehen ging er hervor, sie selbst aber konnten sich nicht als Geist aussprechen: sie konnten ihn gebären, sprechen musste er selbst. Der »geborene Gott, der Menschensohn« spricht erst das Wort aus, dass der Geist, d.h. er, der Gott, es mit nichts Irdischem und keinem irdischen Verhältnisse zu tun habe, sondern lediglich mit dem Geiste und geistigen Verhältnissen.
Ist etwa Mein unter allen Schlägen der Welt unvertilgbarer Mut, Meine Unbeugsamkeit und Mein Trotz, weil ihm die Welt nichts anhat, schon im vollen Sinne der Geist? So wäre er ja noch mit der Welt in Feindschaft, und all sein Tun beschränkte sich darauf, ihr nur nicht zu unterliegen! Nein, bevor er sich nicht allein mit sich selbst beschäftigt, bevor er es nicht mit seiner Welt, der geistigen, allein zu tun hat, ist er nicht freier Geist, sondern nur der »Geist dieser Welt«, der an sie gefesselte. Der Geist ist freier Geist, d.h. wirklich Geist erst in einer ihm eigenen Welt; in »dieser«, der irdischen Welt, ist er ein Fremdling. Nur mittelst einer geistigen Welt ist der Geist wirklich Geist, denn »diese« Welt versteht ihn nicht und weiß »das Mädchen aus der Fremde« nicht bei sich zu behalten.
Woher soll ihm diese geistige Welt aber kommen? Woher anders als aus ihm selbst! Er muss sich offenbaren, und die Worte, die er spricht, die Offenbarungen, in denen er sich enthüllt, die sind seine Welt. Wie ein Phantast nur in den phantastischen Gebilden, die er selber erschafft, lebt und seine Welt hat, wie ein Narr sich seine eigene Traumwelt erzeugt, ohne welche er eben kein Narr zu sein vermöchte, so muss der Geist sich seine Geisterwelt erschaffen, und ist, bevor er sie erschafft, nicht Geist.
Also seine Schöpfungen machen ihn zum Geist, und an den Geschöpfen erkennt man ihn, den Schöpfer: in ihnen lebt er, sie sind seine Welt.
Was ist nun der Geist? Er ist der Schöpfer einer geistigen Welt! Auch an Dir und Mir erkennt man erst Geist an, wenn man sieht, dass Wir Geistiges Uns angeeignet haben, d.h. Gedanken, mögen sie Uns auch vorgeführt worden sein, doch in Uns zum Leben gebracht haben; denn solange Wir Kinder waren, hätte man Uns die erbaulichsten Gedanken vorlegen können, ohne dass Wir gewollt oder im Stande gewesen wären, sie in Uns wiederzuerzeugen. So ist auch der Geist nur, wenn er Geistiges schafft: er ist nur mit dem Geistigen, seinem Geschöpfe, zusammen wirklich.
Da Wir ihn denn an seinen Werken erkennen, so fragt sich’s, welches diese Werke seien. Die Werke oder Kinder des Geistes sind aber nichts anderes als – Geister.
Hätte Ich Juden, Juden von echtem Schrot und Korn vor mir, so müsste Ich hier aufhören und sie vor diesem Mysterium stehen lassen, wie sie seit beinahe zweitausend Jahren ungläubig und erkenntnislos davor stehen geblieben sind. Da Du aber, mein lieber Leser, wenigstens kein Vollblutsjude bist – denn ein solcher wird sich nicht bis hierher verirren – so wollen Wir noch eine Strecke Weges miteinander
machen, bis auch Du vielleicht Mir den Rücken kehrst, weil Ich Dir ins Gesicht lache.
Sagte Dir Jemand, Du seiest ganz Geist, so würdest Du an Deinen Leib fassen und ihm nicht glauben, sondern antworten: Ich habe wohl Geist, existiere aber nicht bloß als Geist, sondern bin ein leibhaftiger Mensch. Du würdest Dich noch immer von »Deinem Geiste« unterscheiden. Aber, erwidert jener, es ist Deine Bestimmung, wenn Du auch jetzt noch in den Fesseln des Leibes einhergehst, dereinst ein »seliger Geist« zu werden, und wie Du das künftige Aussehen dieses Geistes Dir auch vorstellen magst, so ist doch so viel gewiss, dass Du im Tode diesen Leib ausziehen und gleichwohl Dich, d.h. Deinen Geist, für die Ewigkeit erhalten wirst; mithin ist Dein Geist das Ewige und Wahre an Dir, der Leib nur eine diesseitige Wohnung, welche Du verlassen und vielleicht mit einer andern vertauschen kannst.
Nun glaubst Du ihm! Für jetzt zwar bist Du nicht bloß Geist, aber wenn Du einst aus dem sterblichen Leibe auswandern musst, dann wirst Du ohne den Leib Dich behelfen müssen, und darum tut es not, dass Du Dich vorsehest und bei Zeiten für Dein eigentliches Ich sorgest. »Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele!«
Gesetzt aber auch, Zweifel, im Laufe der Zeit gegen die christlichen Glaubenssätze erhoben, haben Dich längst des Glaubens an die Unsterblichkeit Deines Geistes beraubt: Einen Satz hast Du dennoch ungerüttelt gelassen, und der einen Wahrheit hängst Du immer noch unbefangen an, dass der Geist Dein besser Teil sei, und dass das Geistige grössere Ansprüche an Dich habe, als alles andere. Du stimmst trotz all Deines Atheismus mit dem Unsterblichkeitsgläubigen im Eifer gegen den Egoismus zusammen.
Wen aber denkst Du Dir unter dem Egoisten? Einen Menschen, der, anstatt einer Idee, d.h. einem Geistigen zu leben, und ihr seinen persönlichen Vorteil zu opfern, dem letzteren dient. Ein guter Patriot z.B. trägt seine Opfer auf den Altar des Vaterlandes; dass aber das Vaterland eine Idee sei, lässt sich nicht bestreiten, da es für geistesunfähige Tiere oder noch geistlose Kinder kein Vaterland und keinen Patriotismus gibt. Bewährt sich nun Jemand nicht als einen guten Patrioten, so verrät er in Bezug auf’s Vaterland seinen Egoismus. Und so verhält sich’s in unzähligen anderen Fällen: wer in der menschlichen Gesellschaft ein Vorrecht sich zu nutze macht, der sündigt egoistisch gegen die Idee der Gleichheit; wer Herrschaft übt, den schilt man einen Egoisten gegen die Idee der Freiheit usw.
Darum verachtest Du den Egoisten, weil er das Geistige gegen das Persönliche zurücksetzt, und für sich besorgt ist, wo Du ihn einer Idee zu Liebe handeln sehen möchtest. Ihr unterscheidet Euch darin, dass Du den Geist, er aber Sich zum Mittelpunkte macht, oder dass Du Dein Ich entzweist und Dein »eigentliches Ich«, den Geist, zum Gebieter des wertloseren Restes erhebst, während er von dieser Entzweiung nichts wissen will, und geistige und materielle Interessen eben nach seiner Lust verfolgt. Du meinst zwar nur auf diejenigen loszuziehen, welche gar kein geistiges Interesse fassen, in der Tat aber fluchst Du auf alle, welche das geistige Interesse nicht für ihr »wahres und höchstes« ansehen. Du treibst den Ritterdienst für dieses Schöne so weit, dass Du behauptest, sie sei die einzige Schönheit der Welt. Du lebst nicht Dir, sondern Deinem Geiste und dem, was des Geistes ist, d.h. Ideen.
Da der Geist nur ist, indem er Geistiges schafft, so sehen Wir Uns nach seiner ersten Schöpfung um. Hat er diese erst vollbracht, so folgt fortan eine natürliche Fortpflanzung von Schöpfungen, wie nach der Mythe nur die ersten Menschen geschaffen zu werden brauchten, das übrige Geschlecht sich von selbst fortpflanzte. Die erste Schöpfung hingegen muss »aus dem Nichts« hervorgehen, d.h. der Geist hat zu ihrer Verwirklichung nichts als sich selber, oder vielmehr, er hat sich noch nicht einmal, sondern muss sich erschaffen: seine erste Schöpfung ist daher er selber, der Geist. So mystisch dies auch klinge, so erleben Wir’s doch als eine alltägliche Erfahrung. Bist Du eher ein Denkender, als Du denkst? Indem Du den ersten Gedanken erschaffst, erschaffst Du Dich, den Denkenden; denn Du denkst nicht, bevor Du einen Gedanken denkst, d.h. hast. Macht Dich nicht erst Dein Singen zum Sänger, Dein Sprechen zum sprechenden Menschen? Nun so macht Dich auch das Hervorbringen von Geistigen erst zum Geiste.
Wie Du indes vom Denker, Sänger und Sprecher Dich unterscheidest, so unterscheidest Du Dich nicht minder vom Geiste und fühlst sehr wohl, dass Du noch etwas anderes als Geist bist. Allein wie dem denkenden Ich im Enthusiasmus des Denkens leicht Hören und Sehen vergeht, so hat auch Dich der Geist-Enthusiasmus ergriffen, und Du sehnst Dich nun mit aller Gewalt, ganz Geist zu werden und im Geiste aufzugehen. Der Geist ist Dein Ideal, das Unerreichte, das Jenseitige: Geist heißt Dein – Gott, »Gott ist Geist«.
Gegen alles, was nicht Geist ist, bist Du ein Eiferer, und darum eiferst Du gegen Dich selbst, der Du einen Rest von Nichtgeistigem nicht los wirst. Statt zu sagen: »Ich bin mehr als Geist,« sagst Du mit Zerknirschung: »Ich bin weniger als Geist, und Geist, reinen Geist, oder den Geist, der nichts als Geist, den kann Ich Mir nur denken, bin es aber nicht, und da Ich’s nicht bin, so ist’s ein Anderer, existiert als ein Anderer, den Ich »Gott« nenne.«
Es liegt in der Natur der Sache, dass der Geist, der als reiner Geist existieren soll, ein jenseitiger sein muss, denn da Ich’s nicht bin, so kann er nur ausser Mir sein, da ein Mensch überhaupt nicht völlig in dem Begriffe »Geist« aufgeht, so kann der reine Geist, der Geist als solcher, nur ausserhalb der Menschen sein, nur jenseits der Menschenwelt, nicht irdisch, sondern himmlisch.
Nur aus diesem Zwiespalt, in welchem Ich und der Geist liegen, nur weil Ich und Geist nicht Namen für ein und dasselbe, sondern verschiedene Namen für völlig Verschiedenes sind, nur weil Ich nicht Geist und Geist nicht Ich ist: nur daraus erklärt sich ganz tautologisch die Notwendigkeit, dass der Geist im Jenseits haust, d.h. Gott ist.
Daraus geht aber auch hervor, wie durchaus theologisch, d.h. gottesgelahrt, die Befreiung ist, welche Feuerbach (5) Uns zu geben sich bemüht. Er sagt nämlich, Wir hätten Unser eigenes Wesen nur verkannt und darum es im Jenseits gesucht, jetzt aber, da Wir einsähen, dass Gott nur Unser menschliches Wesen sei, müssten Wir es wieder als das Unsere anerkennen und aus dem Jenseits in das Diesseits zurückversetzen. Den Gott, der Geist ist, nennt Feuerbach »Unser Wesen«. Können Wir Uns das gefallen lassen, dass »Unser Wesen« zu Uns in einen Gegensatz gebracht, dass Wir in ein wesentliches und ein unwesentliches Ich zerspalten werden? Rücken Wir damit nicht wieder in das traurige Elend zurück, aus Uns selbst Uns verbannt zu sehen?
Was gewinnen Wir denn, wenn Wir das Göttliche ausser Uns zur Abwechselung einmal in Uns verlegen? Sind Wir das, was in Uns ist? So wenig als Wir das sind, was ausser Uns ist. Ich bin so wenig mein Herz, als Ich meine Herzgeliebte, dieses mein »anderes Ich« bin. Gerade weil Wir nicht der Geist sind, der in Uns wohnt, gerade darum mussten Wir ihn ausser Uns versetzen: er war nicht Wir, fiel nicht mit Uns in Eins zusammen, und darum konnten Wir ihn nicht anders existierend denken als ausser Uns, jenseits von Uns, im Jenseits.
Mit der Kraft der Verzweiflung greift Feuerbach nach dem gesamten Inhalt des Christentums, nicht, um ihn wegzuwerfen, nein, um ihn an sich zu reissen, um ihn, den langersehnten, immer ferngebliebenen, mit einer letzten Anstrengung aus seinem Himmel zu ziehen und auf ewig bei sich zu behalten. Ist das nicht ein Griff der letzten Verzweiflung, ein Griff auf Leben und Tod, und ist es nicht zugleich die christliche Sehnsucht und Begierde nach dem Jenseits? Der Heros will nicht in das Jenseits eingehen, sondern das Jenseits an sich heranziehen, und zwingen, dass es zum Diesseits werde! Und schreit seitdem nicht alle Welt, mit mehr oder weniger Bewusstsein, auf’s »Diesseits« komme es an, und der Himmel müsse auf die Erde kommen und schon hier erlebt werden?
Stellen wir in Kürze die theologische Ansicht Feuerbach’s und Unsern Widerspruch einander gegenüber! »Das Wesen des Menschen ist des Menschen höchstes Wesen; das höchste Wesen wird nun zwar von der Religion Gott genannt und als ein gegenständliches Wesen betrachtet, in Wahrheit aber ist es nur des Menschen eigenes Wesen, und deshalb ist der Wendepunkt der Weltgeschichte der, dass fortan dem Menschen nicht mehr Gott als Gott, sondern der Mensch als Gott erscheinen soll.« (6) Wir erwidern hierauf: das höchste Wesen ist allerdings das Wesen des Menschen, aber eben weil es sein Wesen und nicht er selbst ist, so bleibt es sich ganz gleich, ob Wir es ausser ihm sehen und als »Gott« anschauen, oder in ihm finden und »Wesen des Menschen« oder »der Mensch« nennen. Ich bin weder Gott, noch der Mensch, weder das höchste Wesen, noch Mein Wesen, und darum ist’s in der Hauptsache einerlei, ob Ich das Wesen in Mir oder ausser Mir denke. Ja Wir denken auch wirklich immer das höchste Wesen in beiderlei Jenseitigkeit, in der innerlichen und äusserlichen, zugleich: denn der »Geist Gottes« ist nach christlicher Anschauung auch »Unser Geist« und »wohnet in Uns«. (7) Er wohnt im Himmel und wohnt in Uns; Wir armen Dinger sind eben nur seine »Wohnung«, und wenn Feuerbach noch die himmlische Wohnung desselben zerstört, und ihn nötigt, mit Sack und Pack zu Uns zu ziehen, so werden Wir, sein irdisches Logis, sehr überfüllt werden.
Doch nach dieser Ausschweifung, die Wir Uns, gedächten Wir überhaupt nach dem Schnürchen zu gehen, auf spätere Blätter hätten versparen müssen, um eine Wiederholung zu vermeiden, kehren Wir zur ersten Schöpfung des Geistes, dem Geiste selbst, zurück.
Der Geist ist etwas anderes als Ich. Dieses Andere aber, was ist’s?
§. 2. Die Besessenen.
Hast Du schon einen Geist gesehen? »Nein, Ich nicht, aber Meine Grossmutter.« Siehst Du, so geht Mir’s auch: Ich selbst habe keinen gesehen, aber Meiner Grossmutter liefen sie aller Wege zwischen die Beine, und aus Vertrauen zur Ehrlichkeit Unserer Grossmutter glauben Wir an die Existenz von Geistern.
Aber hatten Wir denn keine Grossväter, und zuckten die nicht jederzeit die Achseln, so oft die Grossmutter von ihren Gespenstern erzählte? Ja, es waren das ungläubige Männer und die Unserer guten Religion viel geschadet haben, diese Aufklärer! Wir werden das empfinden! Was läge denn dem warmen Gespensterglauben zu Grunde, wenn nicht der Glaube an das »Dasein geistiger Wesen überhaupt«, und wird nicht dieser letztere selbst in ein unseliges Wanken gebracht, wenn man gestattet, dass freche Verstandesmenschen an jenem rütteln dürfen? Welch einen Stoss der Gottesglaube selbst durch die Ablegung des Geister- oder Gespensterglaubens erlitt, das fühlten die Romantiker sehr wohl, und suchten den unheilvollen Folgen nicht bloß durch ihre wiedererweckte Märchenwelt abzuhelfen, sondern zuletzt besonders durch das »Hereinragen einer höheren Welt«, durch ihre Somnambulen, Seherinnen von Prevorst usw. Die guten Gläubigen und Kirchenväter ahnten nicht, dass mit dem Gespensterglauben der Religion ihr Boden entzogen werde, und dass sie seitdem in der Luft schwebe. Wer an kein Gespenst mehr glaubt, der braucht nur in seinem Unglauben konsequent fortzuwandeln, um einzusehen, dass überhaupt hinter den Dingen kein apartes Wesen stecke, kein Gespenst oder – was naiverweise auch dem Worte nach für gleichbedeutend gilt – kein »Geist«.
»Es existieren Geister!« Blicke umher in der Welt und sage selbst, ob nicht aus allem Dich ein Geist anschaut. Aus der Blume, der kleinen, lieblichen, spricht der Geist des Schöpfers zu Dir, der sie so wunderbar geformt hat; die Sterne verkünden den Geist, der sie geordnet, von den Berggipfeln weht ein Geist der Erhabenheit herunter, aus den Wassern rauscht ein Geist der Sehnsucht herauf, und – aus dem Menschen reden Millionen Geister. Mögen die Berge einsinken, die Blumen verblühen, die Sternenwelt zusammenstürzen, die Menschen sterben – was liegt am Untergang dieser sichtbaren Körper? Der Geist, der »unsichtbare«, bleibt ewig!
Ja, es spukt in der ganzen Welt! Nur in ihr? Nein, sie selber spukt, sie ist unheimlich durch und durch, sie ist der wandelnde Scheinleib eines Geistes, sie ist ein Spuk. Was wäre ein Gespenst denn anders als ein scheinbarer Leib, aber wirklicher Geist? Nun, die Welt ist »eitel«, ist »nichtig«, ist nur blendender »Schein«; ihre Wahrheit ist allein der Geist; sie ist der Scheinleib eines Geistes.
Schaue hin in die Nähe oder in die Ferne, Dich umgibt überall eine gespenstische Welt: Du hast immer »Erscheinungen« oder Visionen. Alles, was Dir erscheint, ist nur der Schein eines inwohnenden Geistes, ist eine gespenstische »Erscheinung«, die Welt Dir nur eine »Erscheinungswelt«, hinter welcher der Geist sein Wesen treibt. Du »siehst Geister«.
Gedenkst Du Dich etwa mit den Alten zu vergleichen, die überall Götter sahen? Götter, mein lieber Neuer, sind keine Geister; Götter setzen die Welt nicht zu einem Schein herab und vergeistigen sie nicht.
Dir aber ist die ganze Welt vergeistigt und ein rätselhaftes Gespenst geworden; darum wundere Dich nicht, wenn Du ebenso in Dir nichts als einen Spuk findest. Spukt nicht Dein Geist in Deinem Leibe, und ist nicht jener allein das Wahre und Wirkliche, dieser nur das »Vergängliche, Nichtige« oder ein »Schein«? Sind Wir nicht alle Gespenster, unheimliche Wesen, die auf »Erlösung« harren, nämlich »Geister«?
Seit der Geist in der Welt erschienen, seit »das Wort Fleisch geworden« ist, seitdem ist die Welt vergeistigt, verzaubert, ein Spuk.
Du hast Geist, denn Du hast Gedanken. Was sind Deine Gedanken? – Geistige Wesen. – Also keine Dinge? – Nein, aber der Geist der Dinge, die Hauptsache an allen Dingen, ihr Innerstes, ihre – Idee. – Was Du denkst, ist mithin nicht bloß Dein Gedanke? – Im Gegenteil, es ist das Wirklichste, das eigentlich Wahre an der Welt: es ist die Wahrheit selber; wenn Ich nur wahrhaft denke, so denke Ich die Wahrheit. Ich kann Mich zwar über die Wahrheit täuschen und sie verkennen; wenn Ich aber wahrhaft erkenne, so ist der Gegenstand Meiner Erkenntnis die Wahrheit. – So trachtest Du wohl allezeit die Wahrheit zu erkennen? – Die Wahrheit ist Mir heilig. Es kann wohl kommen, dass Ich eine Wahrheit unvollkommen finde und durch eine bessere ersetze, aber die Wahrheit kann Ich nicht abschaffen. An die Wahrheit glaube Ich, darum forsche Ich in ihr; über sie geht’s nicht hinaus, sie ist ewig.
Heilig, ewig ist die Wahrheit, sie ist das Heilige, das Ewige. Du aber, der Du von diesem Heiligen Dich erfüllen und leiten lässest, wirst selbst geheiligt. Auch ist das Heilige nicht für Deine Sinne, und niemals entdeckst Du als ein Sinnlicher seine Spur, sondern für Deinen Glauben oder bestimmter noch für Deinen Geist: denn es ist ja selbst ein Geistiges, ein Geist, ist Geist für den Geist.
Das Heilige lässt sich keineswegs so leicht beseitigen, als gegenwärtig Manche behaupten, die dies »ungehörige« Wort nicht mehr in den Mund nehmen. Werde Ich auch nur in einer Beziehung noch »Egoist« gescholten, so bleibt der Gedanke an ein Anderes übrig, dem Ich mehr dienen sollte als Mir, und das Mir wichtiger sein müsste als alles, kurz ein Etwas, worin Ich Mein wahres Heil zu suchen hätte, ein – »Heiliges«. Mag dies Heilige auch noch so menschlich aussehen, mag es das Menschliche selber sein, das nimmt ihm die Heiligkeit nicht ab, sondern macht es höchstens aus einem
überirdischen zu einem irdischen Heiligen, aus einem Göttlichen zu einem Menschlichen.
Heiliges existiert nur für den Egoisten, der sich selbst nicht anerkennt, den unfreiwilligen Egoisten, für ihn, der immer auf das Seine aus ist, und doch sich nicht für das höchste Wesen hält, der nur sich dient und zugleich stets einem höheren Wesen zu dienen meint, der nichts Höheres kennt als sich und gleichwohl für Höheres schwärmt, kurz für den Egoisten, der kein Egoist sein möchte, und sich erniedrigt, d.h. seinen Egoismus bekämpft, zugleich aber sich selbst nur deshalb erniedrigt, »um erhöht zu werden«, also um seinen Egoismus zu befriedigen. Weil er ablassen möchte, Egoist zu sein, sucht er in Himmel und Erde umher nach höheren Wesen, denen er diene und sich opfere; aber so viel er sich auch schüttelt und kasteit, zuletzt tut er doch alles um seinetwillen, und der verrufene Egoismus weicht nicht von ihm. Ich nenne ihn deswegen den unfreiwilligen Egoisten.
Sein Mühen und Sorgen, von sich loszukommen, ist nichts als der missverstandene Trieb nach Selbstauflösung. Bist Du an Deine vergangene Stunde gebunden, musst Du heute plappern, weil Du gestern geplappert hast (8), kannst Du nicht jeden Augenblick Dich umwandeln: so fühlst Du Dich in Sklavenfesseln und erstarrt. Darum winkt Dir über jede Minute Deines Daseins hinaus eine frische Minute der Zukunft, und, Dich entwickelnd, kommst Du »von Dir«, d.h. dem jeweiligen Du, los. Wie Du in jedem Augenblicke bist, so bist Du Dein Geschöpf, und eben an dieses »Geschöpf« magst Du Dich, den Schöpfer nicht verlieren. Du bist selbst ein höheres Wesen, als Du bist, und übertriffst Dich selbst. Allein, dass Du der bist, der höher ist als Du, d.h. dass Du nicht bloß Geschöpf, sondern gleicherweise Dein Schöpfer bist, das eben verkennst Du als unfreiwilliger Egoist, und
darum ist das »höhere Wesen« Dir ein – Fremdes. Jedes höhere Wesen, wie Wahrheit, Menschheit usw., ist ein Wesen über Uns.
Fremdheit ist ein Kennzeichen des »Heiligen«. In allem Heiligen liegt etwas »Unheimliches«, d.h. Fremdes, worin Wir nicht ganz heimisch und zu Hause sind. Was Mir heilig ist, das ist Mir nicht eigen, und wäre Mir z.B. das Eigentum Anderer nicht heilig, so sähe Ich’s für das Meine an, das Ich bei guter Gelegenheit Mir zulegte, oder gilt Mir umgekehrt das Gesicht des chinesischen Kaisers für heilig, so bleibt es meinem Auge fremd, und Ich schliesse dasselbe bei seinem Erscheinen.
Warum ist eine unumstössliche mathematische Wahrheit, die nach dem gewöhnlichen Wortverstande sogar eine ewige genannt werden könnte, keine – heilige? Weil sie keine geoffenbarte, oder nicht die Offenbarung eines höhern Wesens ist. Wenn man unter geoffenbarten nur die sogenannten religiösen Wahrheiten versteht, so geht man sehr irre, und verkennt gänzlich die Weite des Begriffes »höheres Wesen«. Mit dem höheren Wesen, welches auch unter dem Namen des »höchsten« oder être suprême verehrt wurde, treiben die Atheisten ihren Spott und treten einen »Beweis von seinem Dasein« nach dem andern in den Staub, ohne zu merken, dass sie selber aus Bedürfnis eines höheren Wesens das alte nur vernichten, um für ein neues Platz zu gewinnen. Ist etwa nicht »der Mensch« ein höheres Wesen als ein einzelner Mensch, und werden die Wahrheiten, Rechte und Ideen, die sich aus seinem Begriffe ergeben, nicht als Offenbarungen eben dieses Begriffes verehrt und – heilig gehalten werden müssen? Denn sollte man auch manche Wahrheit, welche durch diesen Begriff manifestiert zu sein schien, wieder abschaffen, so zeugte dies doch allein für ein Missverständnis von unserer Seite, ohne im Geringsten dem heiligen Begriffe selbst Eintrag zu tun oder denjenigen Wahrheiten, welche »mit Recht« als Offenbarungen desselben angesehen werden müssen, ihre Heiligkeit zu nehmen. Der Mensch greift über jeden einzelnen Menschen hinaus und ist, obgleich »sein Wesen«, in der Tat doch nicht sein Wesen, welches vielmehr so einzig wäre als er, der Einzelne, selber, sondern ein allgemeines und »höheres«, ja für die Atheisten »das höchste Wesen«. Und wie die göttlichen Offenbarungen nicht von Gott eigenhändig niedergeschrieben, sondern durch die »Rüstzeuge des Herrn« veröffentlicht wurden, so schreibt auch das neue höchste Wesen seine Offenbarungen nicht selbst auf, sondern lässt sie durch »wahre Menschen« zu unserer Kunde gelangen. Nur verrät das neue Wesen eine in der Tat geistigere Auffassung als der alte Gott, weil dieser noch in einer Art von Beleibtheit oder Gestalt vorgestellt wurde, dem neuen hingegen die ungetrübte Geistigkeit erhalten und ein besonderer materieller Leib nicht angedichtet wird. Gleichwohl fehlt ihm auch die Leiblichkeit nicht, die sich sogar noch verführerischer anlässt, weil sie natürlicher und weltlicher aussieht und in nichts Geringerem besteht, als in jedem leibhaftigen Menschen oder auch schlechtweg in der »Menschheit« oder »allen Menschen«. Die Spukhaftigkeit des Geistes in einem Scheinleibe ist dadurch wieder einmal recht kompakt und populär geworden.
Heilig also ist das höchste Wesen und alles, worin dies höchste Wesen sich offenbart oder offenbaren wird; geheiligt aber diejenigen, welche dies höchste Wesen samt dem Seinen, d.h. samt den Offenbarungen desselben anerkennen. Das Heilige heiligt hinwiederum seinen Verehrer, der durch den Kultus selbst zu einem Heiligen wird, wie denn gleichfalls, was er tut, heilig ist: ein heiliger Wandel, ein heiliges Denken und Tun, Dichten und Trachten usw.
Was als das höchste Wesen verehrt wird, darüber kann begreiflicher Weise nur so lange der Streit bedeutungsvoll sein, als selbst die erbittertsten Gegner einander den Hauptsatz einräumen, dass es ein höchstes Wesen gebe, dem Kultus oder Dienst gebühre. Lächelte einer mitleidig über den ganzen Kampf um ein höchstes Wesen, wie etwa ein Christ bei dem Wortgefecht eines Schiiten mit einem Sunniten oder eines Brahminen mit einem Buddhisten, so gälte ihm die Hypothese von einem höchsten Wesen für nichtig und der Streit auf dieser Basis für ein eitles Spiel. Ob dann der einige oder dreieinige Gott, ob der luthersche Gott oder das être suprême oder Gott gar nicht, sondern »der Mensch« das höchste Wesen vorstellen mag, das macht für den durchaus keinen Unterschied, der das höchste Wesen selbst negiert, denn in seinen Augen sind jene Diener eines höchsten Wesens insgesamt – fromme Leute: der wütendste Atheist nicht weniger als der gläubigste Christ.
Obenan steht also im Heiligen das höchste Wesen und der Glaube an dies Wesen, Unser »heiliger Glaube«.
’’’Der Spuk’’’
Mit den Gespenstern gelangen Wir ins Geisterreich, ins Reich der Wesen.
Was in dem Weltall spukt und sein mysteriöses, »unbegreifliches« Wesen treibt, das ist eben der geheimnisvolle Spuk, den Wir höchstes Wesen nennen. Und diesem Spuk auf den Grund zu kommen, ihn zu begreifen, in ihm die Wirklichkeit zu entdecken (das »Dasein Gottes« zu beweisen), – diese Aufgabe setzten sich Jahrtausende die Menschen; mit der grässlichen Unmöglichkeit, der endlosen Danaidenarbeit, den Spuk in einen Nicht-Spuk, das Unwirkliche in ein Wirkliches, den Geist in eine ganze und leibhaftige Person zu verwandeln, – damit quälten sie sich ab. Hinter der daseienden Welt suchten sie das »Ding an sich«, das Wesen, sie suchten hinter dem Ding das Unding.
Wenn man einer Sache auf den Grund schaut, d.h. ihrem Wesen nachgeht, so entdeckt man oft etwas ganz anderes, als das, was sie zu sein scheint: eine honigsüsse Rede und ein lügnerisches Herz, pomphafte Worte und armselige Gedanken usw. Man setzt dadurch, dass man das Wesen hervorhebt, die bisher verkannte Erscheinung zu einem bloßen Scheine, zu einer Täuschung herab. Das Wesen der so anziehenden, herrlichen Welt ist für den, der ihr auf den Grund sieht, die – Eitelkeit: die Eitelkeit ist = Weltwesen (Welttreiben). Wer nun religiös ist, der befasst sich nicht mit dem trügerischen Schein, nicht mit den eitlen Erscheinungen, sondern schaut das Wesen an, und hat in dem Wesen die – Wahrheit.
Die Wesen, welche aus den einen Erscheinungen sich ergeben, sind die bösen Wesen, und umgekehrt aus andern die guten. Das Wesen des menschlichen Gemütes z.B. ist die Liebe, das Wesen des menschlichen Willens ist das Gute, das seines Denkens das Wahre usw.
Was zuerst für Existenz galt, wie Welt u. dergl., das erscheint jetzt als bloßer Schein, und das wahrhaft Existierende ist vielmehr das Wesen, dessen Reich sich füllt mit Göttern, Geistern, Dämonen, d.h. mit guten oder bösen Wesen. Nur diese verkehrte Welt, die Welt der Wesen, existiert jetzt wahrhaft. Das menschliche Herz kann lieblos sein, aber sein Wesen existiert, der Gott, »der die Liebe ist«; das menschliche Denken kann im Irrtum wandeln, aber sein Wesen, die Wahrheit existiert: »Gott ist die Wahrheit« usw.
Die Wesen allein und nichts als die Wesen zu erkennen und anzuerkennen, das ist Religion: ihr Reich ein Reich der Wesen, des Spukes und der Gespenster.
Der Drang, den Spuk fassbar zu machen, oder den Nonsens zu realisieren, hat ein leibhaftiges Gespenst zu Wege gebracht, ein Gespenst oder einen Geist mit einem wirklichen Leibe, ein beleibtes Gespenst. Wie haben sich die kräftigsten genialsten Christenmenschen abgemartert, um diese gespenstische Erscheinung zu begreifen. Es blieb aber stets der Widerspruch zweier Naturen, der göttlichen und menschlichen, d.h. der gespenstischen und sinnlichen: es blieb der wundersamste Spuk, ein Unding. Seelenmarternder war noch nie ein Gespenst, und kein Schamane, der bis zu rasender Wut und, nervenzerreissenden Krämpfen sich stachelt, um ein Gespenst zu bannen, kann solche Seelenqual erdulden, wie Christen sie von jenem unbegreiflichsten Gespenst erlitten.
Allein durch Christus war zugleich die Wahrheit der Sache zu Tage gekommen, dass der eigentliche Geist oder das eigentliche Gespenst – der Mensch sei. Der leibhaftige oder beleibte Geist ist eben der Mensch: er selbst das grauenhafte Wesen und zugleich des Wesens Erscheinung und Existenz oder Dasein. Fortan graut dem Menschen nicht eigentlich mehr vor Gespenstern ausser ihm, sondern vor ihm selber: er erschrickt vor sich selbst. In der Tiefe seiner Brust wohnt der Geist der Sünde, schon der leiseste Gedanke (und dieser ist ja selber ein Geist) kann ein Teufel sein usw. – Das Gespenst hat einen Leib angezogen, der Gott ist Mensch geworden, aber der Mensch ist nun selbst der grausige Spuk, hinter den er zu kommen, den er zu bannen, zu ergründen, zur Wirklichkeit und zum Reden zu bringen sucht: der Mensch ist – Geist. Mag auch der Leib verdorren, wenn nur der Geist gerettet wird: auf den Geist kommt alles an, und das Geistes- oder »Seelenheil« wird alleiniges Augenmerk. Der Mensch ist sich selbst ein Gespenst, ein unheimlicher Spuk geworden, dem sogar ein bestimmter Sitz im Leibe angewiesen wird (Streit über den Sitz der Seele, ob im Kopfe usw.).
Du bist Mir und Ich bin Dir kein höheres Wesen. Gleichwohl kann in jedem von Uns ein höheres Wesen stecken, und die gegenseitige Verehrung desselben hervorrufen. Um gleich das Allgemeinste zu nehmen, so lebt in Dir und Mir der Mensch. Sähe Ich in Dir nicht den Menschen, was hätte Ich Dich zu achten? Du bist freilich nicht der Mensch und seine wahre und adäquate Gestalt, sondern nur eine sterbliche Hülle desselben, aus welcher er ausscheiden kann, ohne selbst aufzuhören; aber für jetzt haust dieses allgemeine und höhere Wesen doch in Dir, und Du vergegenwärtigst Mir, weil ein unvergänglicher Geist in Dir einen vergänglichen Leib angenommen hat, mithin Deine Gestalt wirklich nur eine »angenommene« ist, einen Geist, der erscheint, in Dir erscheint, ohne an Deinen Leib und diese bestimmte Erscheinungsweise gebunden zu sein, also einen Spuk. Darum betrachte Ich nicht Dich als ein höheres Wesen, sondern respektiere allein jenes höhere Wesen, das in Dir »umgeht«: Ich »respektiere in Dir den Menschen«. So etwas beachteten die Alten nicht in ihren Sklaven, und das höhere Wesen: »der Mensch« fand noch wenig Anklang. Dagegen sahen sie ineinander Gespenster anderer Art. Das Volk ist ein höheres Wesen als ein Einzelner, und gleich dem Menschen oder Menschengeiste ein in den Einzelnen spukender Geist: der Volksgeist. Deshalb verehrten sie diesen Geist, und nur so weit er diesem oder auch einem ihm verwandten Geiste, z.B. dem Familiengeiste usw. diente, konnte der Einzelne bedeutend erscheinen; nur um des höheren Wesens, des Volkes, willen, überliess man dem »Volksgliede« eine Geltung. Wie Du Uns durch »den Menschen«, der in Dir spukt, geheiligt bist, so war man zu jeder Zeit durch irgend ein höheres Wesen, wie Volk, Familie u. dergl. geheiligt. Nur um eines höhern Wesens willen ist man von jeher geehrt, nur als ein Gespenst für eine geheiligte, d.h. geschützte und anerkannte Person betrachtet worden. Wenn Ich Dich hege und pflege, weil Ich Dich lieb habe, weil Mein Herz an Dir Nahrung, Mein Bedürfnis Befriedigung findet, so geschieht es nicht um eines höheren Wesens willen, dessen geheiligter Leib Du bist, nicht darum, weil Ich ein Gespenst, d.h. einen erscheinenden Geist in Dir erblicke, sondern aus egoistischer Lust: Du selbst mit Deinem Wesen bist Mir wert, denn Dein Wesen ist kein höheres, ist nicht höher und allgemeiner als Du, ist einzig wie Du selber, weil Du es bist.
Aber nicht bloß der Mensch, sondern alles spukt. Das höhere Wesen, der Geist, der in allem umgeht, ist zugleich an Nichts gebunden, und – »erscheint« nur darin. Gespenst in allen Winkeln!
Hier wäre der Ort, die spukenden Geister vorüberziehen zu lassen, wenn sie nicht weiter unten wieder vorkommen müssten, um vor dem Egoismus zu verfliegen. Daher mögen nur einige derselben beispielsweise namhaft gemacht werden, um sogleich auf unser Verhalten zu ihnen überzuleiten.
Heilig z.B. ist vor allem der »heilige Geist«, heilig die Wahrheit, heilig das Recht, das Gesetz, die gute Sache, die Majestät, die Ehe, das Gemeinwohl, die Ordnung, das Vaterland usw. usw.
’’’Der Sparren.’’’
Mensch, es spukt in Deinem Kopfe; Du hast einen Sparren zu viel! Du bildest Dir große Dinge ein und malst Dir eine ganze Götterwelt aus, die für Dich da sei, ein Geisterreich, zu welchem Du berufen seist, ein Ideal, das Dir winkt. Du hast eine fixe Idee!
Denke nicht, dass Ich scherze oder bildlich rede, wenn Ich die am Höheren hängenden Menschen, und weil die ungeheure Mehrzahl hierher gehört, fast die ganze Menschenwelt für veritable Narren, Narren im Tollhause ansehe. Was nennt man denn eine »fixe Idee«? Eine Idee, die den Menschen sich unterworfen hat. Erkennt Ihr an einer solchen fixen Idee, dass sie eine Narrheit sei, so sperrt Ihr den Sklaven derselben in eine Irrenanstalt. Und ist etwa die Glaubenswahrheit, an welcher man nicht zweifeln, die Majestät z.B. des Volkes, an der man nicht rütteln (wer es tut, ist ein – Majestätsverbrecher), die Tugend, gegen welche der Zensor kein Wörtchen durchlassen soll, damit die Sittlichkeit rein erhalten werde usw., sind dies nicht »fixe Ideen«? Ist nicht alles dumme Geschwätz, z.B. unserer meisten Zeitungen, das Geplapper von Narren, die an der fixen Idee der Sittlichkeit, Gesetzlichkeit, Christlichkeit usw. leiden, und nur frei herumzugehen scheinen, weil das Narrenhaus, worin sie wandeln, einen so weiten Raum einnimmt? Man taste einem solchen Narren an seine fixe Idee, und man wird sogleich vor der Heimtücke des Tollen den Rücken zu hüten haben. Denn auch darin gleichen diese großen Tollen den kleinen sogenannten Tollen, dass sie heimtückisch über den herfallen, der ihre fixe Idee anrührt. Sie stehlen ihm erst die Waffe, stehlen ihm das freie Wort, und dann stürzen sie mit ihren Nägeln über ihn her. Jeder Tag deckt jetzt die Feigheit und
Rachsucht dieser Wahnsinnigen auf, und das dumme Volk jauchzt ihren tollen Massregeln zu. Man muss die Tagesblätter dieser Periode lesen, und muss den Philister sprechen hören, um die grässliche Überzeugung zu gewinnen, dass man mit Narren in ein Haus gesperrt ist. »Du sollst Deinen Bruder keinen Narren schelten, sonst usw.« Ich aber fürchte den Fluch nicht und sage: meine Brüder sind Erznarren. Ob ein armer Narr des Tollhauses von dem Wahne besessen ist, er sei Gott der Vater, Kaiser von Japan, der heilige Geist usw., oder ob ein behaglicher Bürger sich einbildet, es sei seine Bestimmung, ein guter Christ, ein gläubiger Protestant, ein loyaler Bürger, ein tugendhafter Mensch usw. zu sein – das ist beides ein und dieselbe »fixe Idee«. Wer es nie versucht und gewagt hat, kein guter Christ, kein gläubiger Protestant, kein tugendhafter Mensch usw. zu sein, der ist in der Gläubigkeit, Tugendhaftigkeit usw. gefangen und befangen. Gleichwie die Scholastiker nur philosophierten innerhalb des Glaubens der Kirche, Papst Benedikt XIV. dickleibige Bücher innerhalb des papistischen Aberglaubens schrieb, ohne je diesen Glauben in Zweifel zu ziehen, Schriftsteller ganze Folianten über den Staat anfüllen, ohne die fixe Idee des Staates selbst in Frage zu stellen, unsere Zeitungen von Politik strotzen, weil sie in dem Wahne gebannt sind, der Mensch sei dazu geschaffen, ein zoon politikon zu werden, so vegetieren auch Untertanen im Untertanentum, tugendhafte Menschen in der Tugend, Liberale im »Menschentum« usw., ohne jemals an diese ihre fixen Ideen das schneidende Messer der Kritik zu legen. Unverrückbar, wie der Irrwahn eines Tollen, stehen jene Gedanken auf festem Fusse, und wer sie bezweifelt, der – greift das Heilige an! Ja, die »fixe Idee«, das ist das wahrhaft Heilige!
Begegnen Uns etwa bloß vom Teufel Besessene, oder treffen Wir ebensooft auf entgegengesetzte Besessene, die vom Guten, von der Tugend, Sittlichkeit, dem Gesetze oder irgend welchem »Prinzipe« besessen sind? Die Teufelsbesitzungen sind nicht die einzigen. Gott wirkt auf Uns, und der Teufel wirkt:
jenes »Gnadenwirkungen«, dieses »Teufelswirkungen«. Besessene sind auf ihre Meinungen versessen.
Missfällt Euch das Wort »Besessenheit«, so nennt es Eingenommenheit, ja nennt es, weil der Geist Euch besitzt und von ihm alle »Eingebungen« kommen, – Begeisterung und Enthusiasmus. Ich setze hinzu, dass der vollkommene Enthusiasmus – denn bei dem faulen und halben kann man nicht stehenbleiben – Fanatismus heißt.
Der Fanatismus ist gerade bei den Gebildeten zu Hause; denn gebildet ist der Mensch, soweit er sich für Geistiges interessiert, und Interesse für Geistiges ist eben, wenn es lebendig ist, Fanatismus und muss es sein; es ist ein fanatisches Interesse für das Heilige (fanum). Man beobachte unsere Liberalen, man blicke in die Sächsischen Vaterlandsblätter, man höre, was Schlosser sagt: »Die Gesellschaft Holbachs bildete ein förmliches Komplott gegen die überlieferte Lehre und das bestehende System, und die Mitglieder derselben waren eben so fanatisch für ihren Unglauben, als Mönche und Pfaffen, Jesuiten und Pietisten, Methodisten, Missions- und Bibelgesellschaften für mechanischen Gottesdienst und Wortglauben zu sein pflegen.« (9) Man achte darauf, wie ein »Sittlicher« sich benimmt, der heutiges Tages häufig mit Gott fertig zu sein meint, und das Christentum als eine Verlebtheit abwirft. Wenn man ihn fragt, ob er je daran gezweifelt habe, dass die Vermischung der Geschwister eine Blutschande sei, dass die Monogamie die Wahrheit der Ehe sei, dass die Pietät eine heilige Pflicht sei usw., so wird ein sittlicher Schauder ihn bei der Vorstellung überfallen, dass man seine Schwester auch als Weib berühren dürfe usw. Und woher dieser Schauder? Weil er an jene sittlichen Gebote glaubt. Dieser sittliche Glaube wurzelt tief in seiner Brust. So viel er gegen die frommen Christen eifert, so sehr ist er dennoch selbst Christ geblieben, nämlich ein sittlicher Christ. In der Form der Sittlichkeit hält ihn das Christentum gefangen, und zwar gefangen unter dem Glauben. Die Monogamie soll etwas Heiliges sein, und wer etwa in Doppelehe lebt, der wird als Verbrecher gestraft; wer Blutschande treibt, leidet als Verbrecher. Hiermit zeigen sich diejenigen einverstanden, die immer schreien, auf die Religion solle im Staate nicht gesehen werden, und der Jude Staatsbürger gleich dem Christen sein. Ist jene Blutschande und Monogamie nicht ein Glaubenssatz? Man rühre ihn an, und man wird erfahren, wie dieser Sittliche eben auch ein Glaubensheld ist, trotz einem Krummacher, trotz einem Philipp II. Diese fechten für den Kirchenglauben, er für den Staatsglauben, oder die sittlichen Gesetze des Staates; für Glaubensartikel verdammen beide denjenigen, der anders handelt, als ihr Glaube es gestatten will. Das Brandmal des »Verbrechens« wird ihm aufgedrückt, und schmachten mag er in Sittenverbesserungshäusern, in Kerkern. Der sittliche Glaube ist so fanatisch als der religiöse! Das heißt dann »Glaubensfreiheit«, wenn Geschwister um eines Verhältnisses willen, das sie vor ihrem »Gewissen« auszumachen hätten, ins Gefängnis geworfen werden. »Aber sie gaben ein verderbliches Beispiel!« Ja freilich, es könnten Andere auch darauf verfallen, dass der Staat sich nicht in ihr Verhältnis zu mischen habe, und darüber ginge die »Sittenreinheit« zu Grunde. So eifern denn die religiösen Glaubenshelden für den »heiligen Gott«, die sittlichen für das »heilige Gute«.
Die Eiferer für etwas Heiliges sehen einander oft gar wenig ähnlich. Wie differieren die strengen Orthodoxen oder Altgläubigen von den Kämpfern für »Wahrheit, Licht und Recht« von den Philalethen, Lichtfreunden, Aufgeklärten usw. Und doch wie gar nichts Wesentliches enthält die Differenz. Rüttelt man an einzelnen althergebrachten Wahrheiten (z.B. Wunder, unumschränkte Fürstengewalt usw.), so rütteln die Aufgeklärten mit, und nur die Altgläubigen jammern. Rüttelt man aber an der Wahrheit selbst, so hat man gleich beide als Gläubige zu Gegnern. So mit Sittlichkeiten:
die Strenggläubigen sind unnachsichtig, die helleren Köpfe sind toleranter. Aber wer die Sittlichkeit selbst angreift, der bekommt’s mit beiden zu tun. »Wahrheit, Sittlichkeit, Recht, Licht usw.« sollen »heilig« sein und bleiben. Was man am Christentum zu tadeln findet, das soll nach der Ansicht dieser Aufgeklärten eben »unchristlich« sein; das Christentum aber muss das »Feste« bleiben, an ihm zu rütteln ist frevelhaft, ist ein »Frevel«. Allerdings setzt sich der Ketzer gegen den reinen Glauben nicht mehr der früheren Verfolgungswut aus, desto mehr aber gilt es jetzt dem Ketzer gegen die reine Sitte.
Die Frömmigkeit hat seit einem Jahrhundert so viele Stösse erfahren und ihr übermenschliches Wesen so oft ein »unmenschliches« schelten hören müssen, dass man sich nicht versucht fühlen kann, noch einmal sich gegen sie auszulegen. Und doch sind fast immer nur sittliche Gegner auf der Mensur erschienen, um das höchste Wesen anzufechten zu Gunsten eines – andern höchsten Wesens. So sagt Proudhon ungescheut: »Der Mensch ist bestimmt, ohne Religion zu leben, aber das Sittengesetz (la loi morale) ist ewig und absolut. Wer würde es heute wagen, die Moral anzugreifen?« (10) Die Sittlichen schöpften das beste Fett von der Religion ab, genossen es selbst und haben nun ihre liebe Not, die daraus entstandene Drüsenkrankheit loszuwerden. Wenn Wir deshalb darauf hinweisen, dass die Religion noch bei weitem nicht in ihrem Innersten verletzt wird, solange man ihr nur ihr übermenschliches Wesen zum Vorwurfe macht, und dass sie in letzter Instanz allein an den »Geist« appelliert (denn Gott ist Geist), so haben Wir ihre endliche Eintracht mit der Sittlichkeit genugsam angedeutet, und können ihren hartnäckigen Streit mit derselben hinter Uns liegen lassen. Um ein höchstes Wesen handelt es sich bei beiden, und ob dasselbe ein übermenschliches oder ein menschliches sei, das kann Mir, da es jedenfalls ein Wesen über Mir, gleichsam ein übermeiniges ist, nur wenig verschlagen. Zuletzt wird das Verhalten zum menschlichen Wesen oder zum »Menschen«, hat es nur erst die Schlangenhaut der alten Religion abgestreift, doch wieder eine religiöse Schlangenhaut tragen.
So belehrt Uns Feuerbach, dass »wenn man die spekulative Philosophie nur umkehre, d.h. immer das Prädikat zum Subjekt, und so das Subjekt zum Objekt und Prinzip mache, man die unverhüllte, die pure, blanke Wahrheit habe.« (11) Damit verlieren Wir allerdings den beschränkten religiösen Standpunkt, verlieren den Gott, der auf diesem Standpunkte Subjekt ist; allein Wir tauschen dafür die andere Seite des religiösen Standpunktes, den sittlichen ein. Wir sagen z.B. nicht mehr: »Gott ist die Liebe«, sondern »die Liebe ist göttlich«. Setzen Wir noch an die Stelle des Prädikats »göttlich« das gleichbedeutende »heilig«, so kehrt der Sache nach alles Alte wieder zurück. Die Liebe soll darnach das Gute am Menschen sein, seine Göttlichkeit, das was ihm Ehre macht, seine wahre Menschlichkeit (sie »macht ihn erst zum Menschen«, macht erst einen Menschen aus ihm). So wäre es denn genauer gesprochen so: die Liebe ist das Menschliche am Menschen, und das Unmenschliche ist der lieblose Egoist. Aber gerade alles dasjenige, was das Christentum und mit ihm die spekulative Philosophie, d.h. Theologie als das Gute, das Absolute offeriert, ist in der Eigenheit eben nicht das Gute (oder, was dasselbe sagt, es ist nur das Gute), mithin würde durch die Verwandlung des Prädikats in das Subjekt das christliche Wesen (und das Prädikat enthält ja eben das Wesen) nur noch drückender fixiert. Der Gott und das Göttliche verflöchte sich um so unauflöslicher mit Mir. Den Gott aus seinem Himmel zu vertreiben und der »Transzendenz« zu berauben, das kann noch keinen Anspruch auf vollkommene Besiegung begründen, wenn er dabei nur in die Menschenbrust gejagt, und mit unvertilgbarer Immanenz beschenkt wird. Nun heißt es: Das Göttliche ist das wahrhaft Menschliche!
Dieselben Leute, welche dem Christentum als der Grundlage des Staates, d.h. dem sogenannten christlichen Staate widerstreben, werden nicht müde zu wiederholen, dass die Sittlichkeit »der Grundpfeiler des gesellschaftlichen Lebens und des Staates« sei. Als ob nicht die Herrschaft der Sittlichkeit eine vollkommene Herrschaft des Heiligen, eine »Hierarchie« wäre.
So kann hier beiläufig der aufklärenden Richtung gedacht werden, die, nachdem die Theologen lange darauf bestanden hatten, nur der Glaube sei fähig, die Religionswahrheiten zu fassen, nur den Gläubigen offenbare sich Gott usw., also nur das Herz, Gefühl, die gläubige Phantasie sei religiös, mit der Behauptung hervorbrach, dass auch der »natürliche Verstand«, die menschliche Vernunft fähig sei, Gott zu erkennen. Was heißt das anders, als dass auch die Vernunft darauf Anspruch machte, dieselbe Phantastin zu sein wie die Phantasie. In diesem Sinne schrieb Reimarus seine »Vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion«. Es musste dahin kommen, dass der ganze Mensch mit allen seinen Fähigkeiten sich als religiös erwies; Herz und Gemüt, Verstand und Vernunft, Fühlen, Wissen und Wollen, kurz alles am Menschen erschien religiös. Hegel hat gezeigt, dass selbst die Philosophie religiös sei. Und was wird heutiges Tages nicht alles Religion genannt? Die »Religion der Liebe«, die »Religion der Freiheit«, die »politische Religion«, kurz jeder Enthusiasmus. So ist’s auch in der Tat.
Noch heute brauchen Wir das welsche Wort »Religion«, welches den Begriff der Gebundenheit ausdrückt. Gebunden bleiben Wir allerdings, soweit die Religion unser Inneres einnimmt; aber ist auch der Geist gebunden? Im Gegenteil, der ist frei, ist alleiniger Herr, ist nicht Unser Geist, sondern absolut. Darum wäre die richtige affirmative Übersetzung des Wortes Religion die – »Geistesfreiheit«! Bei wem der Geist frei ist, der ist gerade in derselben Weise religiös, wie derjenige ein sinnlicher Mensch heißt, bei welchem die Sinne freien Lauf haben. Jenen bindet der Geist, diesen die Lüste. Gebundenheit oder religio ist also die Religion in Beziehung auf Mich: Ich bin gebunden; Freiheit in Beziehung auf den Geist: der Geist ist frei oder hat Geistesfreiheit. Wie übel es Uns bekommt, wenn frei und zügellos die Lüste mit Uns durchgehen, davon wird Mancher die Erfahrung gemacht haben; dass aber der freie Geist, die herrliche Geistigkeit, der Enthusiasmus für geistige Interessen, oder wie immer in den verschiedensten Wendungen dies Juwel benannt werden mag, Uns noch ärger in die Klemme bringt, als selbst die wildeste Ungezogenheit, das will man nicht merken, und kann es auch nicht merken, ohne bewussterweise ein Egoist zu sein.
Reimarus und alle, welche gezeigt haben, dass auch Unsere Vernunft, Unser Herz usw. auf Gott führe, haben damit eben gezeigt, dass Wir durch und durch besessen sind. Freilich ärgerten sie die Theologen, denen sie das Privilegium der religiösen Erhebung nahmen, aber der Religion, der Geistesfreiheit eroberten sie dadurch nur noch mehr Terrain. Denn wenn der Geist nicht länger auf das Gefühl oder den Glauben beschränkt ist, sondern auch als Verstand, Vernunft und Denken überhaupt sich, dem Geiste, angehört, also auch in der Form des Verstandes usw., an den geistigen und himmlischen Wahrheiten teilnehmen darf, dann ist der ganze Geist nur mit Geistigem, d.h. mit sich beschäftigt, also frei. Jetzt sind Wir so durch und durch religiös, dass »Geschworne« Uns zum Tode verdammen, und jeder Polizeidiener als guter Christ durch »Amtseid« Uns ins Loch bringt.
Die Sittlichkeit konnte erst von da ab gegen die Frömmigkeit in einen Gegensatz treten, wo überhaupt der brausende Hass wider alles, was einem »Befehle« (Ordonnanz, Gebote usw.) ähnlich sah, sich revoltierend Luft machte, und der persönliche »absolute Herr« verhöhnt und verfolgt wurde: sie konnte folglich zur Selbständigkeit erst durch den Liberalismus kommen, dessen erste Form als »Bürgertum« sich weltgeschichtliche Bedeutung verschaffte, und die eigentlich religiösen Gewalten schwächte (siehe unten »Liberalismus«). Denn das Prinzip der neben der Frömmigkeit nicht bloß beihergehenden, sondern auf eigenen Füssen stehenden Sittlichkeit liegt nicht mehr in den göttlichen Geboten, sondern im Vernunftgesetze, von welchem jene, soweit sie noch gültig bleiben sollen, zu ihrer Gültigkeit erst die Berechtigung erwarten müssen. Im Vernunftgesetze bestimmt sich der Mensch aus sich selbst, denn »der Mensch« ist vernünftig, und aus dem »Wesen des Menschen« ergeben sich jene Gesetze mit Notwendigkeit. Frömmigkeit und Sittlichkeit scheiden sich darin voneinander, dass jene Gott, diese den Menschen zum Gesetzgeber macht.
Von einem gewissen Standpunkte der Sittlichkeit aus räsoniert man etwa so: Entweder treibt den Menschen seine Sinnlichkeit, und er ist, ihr folgend, unsittlich, oder es treibt ihn das Gute, welches, in den Willen aufgenommen, sittliche Gesinnung (Gesinnung und Eingenommenheit für das Gute) heißt: dann beweist er sich als sittlich. Wie lässt sich von diesem Gesichtspunkte aus z.B. die Tat Sands gegen Kotzebue unsittlich nennen? Was man so unter uneigennützig versteht, das war sie doch gewiss in demselben Masse als unter anderem die Diebereien des heiligen Crispin zu Gunsten der Armen. »Er hätte nicht morden sollen, denn es stehet geschrieben: Du sollst nicht morden!« Also dem Guten zu dienen, dem Volkswohl, wie Sand wenigstens beabsichtigte, oder dem Wohl der Armen, wie Crispin, das ist sittlich; aber der Mord und Diebstahl ist unsittlich: der Zweck sittlich, das Mittel unsittlich. Warum? »Weil der Mord, der Meuchelmord etwas absolut Böses ist.« Wenn die Guerillas die Feinde des Landes in Schluchten verlockten und sie ungesehen aus den Büschen niederschossen, so war das etwa kein Meuchelmord? Ihr könntet dem Prinzip der Sittlichkeit nach, welches befiehlt, dem Guten zu dienen, doch nur fragen, ob der Mord nie und nimmer eine Verwirklichung des Guten sein könne, und müsstet denjenigen Mord anerkennen, der das Gute realisierte. Ihr könnt die Tat Sands gar nicht verdammen: sie war sittlich, weil im Dienst des Guten, weil uneigennützig; sie war ein Strafakt, den der Einzelne vollzog, eine mit Gefahr des eigenen Lebens vollzogene – Hinrichtung. Was war am Ende sein Unterfangen anders gewesen, als dass er Schriften durch rohe Gewalt unterdrücken wollte? Kennt Ihr dasselbe Verfahren nicht als ein »gesetzliches« und sanktioniertes? Und Was lässt sich aus Eurem Prinzip der Sittlichkeit dagegen einwenden? – »Aber es war eine widergesetzliche Hinrichtung.« Also das Unsittliche daran war die Ungesetzlichkeit, der Ungehorsam gegen das Gesetz? So räumt Ihr ein, dass das Gute nichts anders ist, als das – Gesetz, die Sittlichkeit nichts anders als Loyalität. Es muss auch bis zu dieser Äusserlichkeit der »Loyalität« Eure Sittlichkeit heruntersinken, bis zu dieser Werkheiligkeit der Gesetzerfüllung, nur dass die letztere zugleich tyrannischer und empörender ist, als die einstige Werkheiligkeit. Denn bei dieser bedurfte es nur der Tat, Ihr aber braucht auch die Gesinnung: man soll das Gesetz, die Satzung in sich tragen, und wer am gesetzlichsten gesinnt ist, der ist der Sittlichste. Auch die letzte Heiterkeit des katholischen Lebens muss in dieser protestantischen Gesetzlichkeit zu Grunde gehen. Hier endlich erst vollendet sich die Gesetzesherrschaft. Nicht »Ich lebe, sondern das Gesetz lebt in Mir«. So bin Ich denn wirklich so weit gekommen, nur das »Gefäss seiner (des Gesetzes) Herrlichkeit« zu sein. »Jeder Preusse trägt seinen Gensd’armen in der Brust«, sagt ein hoher preussischer Offizier.
Warum wollen gewisse Oppositionen nicht gedeihen? Lediglich aus dem Grunde, weil sie die Bahn der Sittlichkeit oder Gesetzlichkeit nicht verlassen wollen. Daher die masslose Heuchelei von Ergebenheit, Liebe usw., an deren Widerwärtigkeit man sich täglich den gründlichsten Ekel vor diesem verdorbenen und heuchlerischen Verhältnis einer »gesetzlichen Opposition« holen kann. – In dem sittlichen Verhältnis der Liebe und Treue kann ein zwiespältiger, ein entgegengesetzter Wille nicht stattfinden; das schöne Verhältnis ist gestört, wenn der Eine dies und der Andere das Umgekehrte will. Nun soll aber nach der bisherigen Praxis und dem alten Vorurteil der Opposition das sittliche Verhältnis vor allem bewahrt werden. Was bleibt da der Opposition übrig? Etwa dies, eine Freiheit zu wollen, wenn der Geliebte sie abzuschlagen für gut findet? Mit nichten! Wollen darf sie die Freiheit nicht; sie kann sie nur wünschen, darum »petitionieren«, ein »Bitte, bitte!« lallen. Was sollte daraus werden, wenn die Opposition wirklich wollte, wollte mit der vollen Energie des Willens? Nein, sie muss auf den Willen Verzicht leisten, um der Liebe zu leben, auf die Freiheit – der Sittlichkeit zu Liebe. Sie darf nie »als ein Recht in Anspruch nehmen«, was ihr nur »als Gunst zu erbitten« erlaubt ist. Die Liebe, Ergebenheit usw. heischt mit unabwendbarer Bestimmtheit, dass nur Ein Wille sei, dem die anderen sich ergeben, dem sie dienen, folgen, den sie lieben. Ob dieser Wille für vernünftig oder für unvernünftig gelte: man handelt in beiden Fällen sittlich, wenn man ihm folgt, und unsittlich, wenn man sich ihm entzieht. Der Wille, der die Zensur gebietet, scheint Vielen unvernünftig; wer aber sein Buch im Lande der Zensur dieser unterschlägt, der handelt unsittlich, und wer ihr’s vorlegt, handelt sittlich. Quittierte einer sein sittliches Urteil, und errichtete z.B. eine geheime Presse, so müsste man ihn unsittlich nennen, und unklug obenein, wenn er sich erwischen liesse; aber wird ein solcher Anspruch darauf machen, in den Augen der »Sittlichen« einen Wert zu haben? Vielleicht! – Wenn er sich, nämlich einbildete, einer »höhern Sittlichkeit« zu dienen.
Das Gewebe der heutigen Heuchelei hängt an den Marken zweier Gebiete, zwischen denen Unsere Zeit herüber und hinüber schwebt und ihre feinen Fäden der Täuschung und Selbsttäuschung anklebt. Nicht mehr kräftig genug, um zweifellos und ungeschwächt der Sittlichkeit zu dienen, noch nicht rücksichtslos genug, um ganz dem Egoismus zu leben, zittert sie in dem Spinnennetze der Heuchelei bald zur einen bald zum andern hin und fängt, vom Fluche der Halbheit gelähmt, nur dumme, elende Mücken. Hat man’s einmal gewagt, einen »freien« Antrag zu stellen, gleich verwässert man ihn wieder mit Liebesversicherungen und – heuchelt Resignation; hat man anderseits die Stirne gehabt, den freien Antrag mit sittlichen Verweisungen auf Vertrauen usw. zurückzuschlagen, gleich sinkt auch der sittliche Mut, und man versichert, wie man die freien Worte mit besonderem Wohlgefallen usw. vernehme: man – heuchelt Anerkennung. Kurz man möchte das Eine haben, aber das Andere nicht entbehren: man möchte einen freien Willen haben, aber den sittlichen bei Leibe nicht missen. – Kommt nur zusammen, Ihr Liberalen, mit einem Servilen. Ihr werdet jedes Wort der Freiheit mit einem Blick des loyalsten Vertrauens versüssen, und er wird seinen Servilismus in die schmeichelndsten Phrasen der Freiheit kleiden. Dann geht Ihr auseinander, und er wie Ihr denkt: Ich kenne Dich, Fuchs! Er wittert an Euch so gut den Teufel, als Ihr an ihm den alten finstern Herrgott.
Ein Nero ist nur in den Augen der »Guten« ein »böser« Mensch; in den Meinigen ist er nichts als ein Besessener, wie die Guten auch. Die Guten sehen in ihm einen Erzbösewicht und delegieren ihn der Hölle. Warum hinderte ihn nichts in seinen Willkürlichkeiten? Warum liess man sich so viel gefallen? Waren etwa die zahmen Römer, die von einem solchen Tyrannen sich allen Willen binden ließen, um ein Haar besser? Im alten Rom hätte man ihn augenblicklich hingerichtet, wäre nie sein Sklave geworden. Aber die jetzigen »Guten« unter den Römern setzten ihm nur die sittliche Forderung entgegen, nicht ihren Willen; sie seufzten darüber, dass ihr Kaiser nicht der Sittlichkeit huldige wie sie: sie selber blieben »sittliche Untertanen«, bis endlich einer den Mut fand, die »sittliche, gehorsame Untertänigkeit« aufzugeben. Und dann jauchzten dieselben »guten Römer«, die als »gehorsame Untertanen« alle Schmach der Willenlosigkeit ertragen hatten, über die frevelhafte, unsittliche Tat des Empörers. Wo war denn bei den »Guten« der Mut zur Revolution, den sie jetzt priesen, nachdem ein Anderer ihn gefasst hatte? Die Guten konnten diesen Mut nicht haben, denn eine Revolution, und gar eine Insurrektion, ist immer etwas »Unsittliches«, wozu man sich nur entschließen kann, wenn man aufhört, »gut« zu sein, und entweder »böse« wird, oder – keins von beiden. Nero war nicht schlimmer als seine Zeit, in der man nur eins von beiden sein konnte, gut oder böse. Seine Zeit musste von ihm urteilen: er sei böse, und zwar im höchsten Grade, nicht ein Flauer, sondern ein Erzböser. Alle Sittlichen können nur dieses Urteil über ihn fällen. Schurken, wie er war, leben heute noch mitunter fort (siehe z.B. Memoiren des Ritters von Lang) inmitten der Sittlichen. Bequem lebt sich’s allerdings unter ihnen nicht, da man keinen Augenblick seines Lebens sicher ist; allein lebt man unter den Sittlichen etwa bequemer? Seines Lebens ist man da ebensowenig sicher, nur dass man »im Wege Rechtens« gehängt wird, seiner Ehre aber ist man am wenigsten sicher, und die Nationalkokarde fliegt im Umsehen davon. Die derbe Faust der Sittlichkeit geht gar unbarmherzig mit dem edlen Wesen des Egoismus um.
»Aber man kann doch nicht einen Schurken und einen ehrlichen Mann auf gleiche Linie stellen!« Nun, kein Mensch tut das öfter als Ihr Sittenrichter, ja noch mehr als das, einen ehrlichen Mann, der offen gegen die bestehende Staatsverfassung, gegen die geheiligten Institutionen usw. redet, den sperrt Ihr ein als Verbrecher, und einem verschmitzten Schurken überlasst Ihr Portefeuille und noch wichtigere Dinge. Also in praxi habt Ihr Mir nichts vorzuwerfen. »Aber in der Theorie!« Nun, da stelle ich beide in der Tat auf eine Linie als zwei entgegengesetzte Pole: beide nämlich auf die Linie des Sittengesetzes. Sie haben beide nur Sinn in der »sittlichen« Welt, gerade so wie in der vorchristlichen Zeit ein gesetzlicher Jude und ein ungesetzlicher nur Sinn und Bedeutung hatten in Bezug auf das jüdische Gesetz, dagegen vor Christus der Pharisäer nicht mehr war als die
»Sünder und Zöllner«. So gilt auch vor der Eigenheit der sittliche Pharisäer so viel als der unsittliche Sünder.
Nero wurde durch seine Besessenheit sehr unbequem. Ihm würde aber ein eigener Mensch nicht alberner Weise das »Heilige« entgegensetzen, um zu jammern, wenn der Tyrann des Heiligen nicht achtet, sondern seinen Willen. Wie oft wird die Heiligkeit der unveräusserlichen Menschenrechte den Feinden derselben vorgehalten und irgend eine Freiheit als ein »heiliges Menschenrecht« erwiesen und vordemonstriert. Die das tun, verdienen ausgelacht zu werden, wie’s ihnen wirklich geschieht, wenn sie nicht eigentlich doch, sei’s auch unbewusst, den zum Ziele führenden Weg einschlügen. Sie ahnen es, dass, wenn nur erst die Mehrzahl für jene Freiheit gewonnen ist, sie auch dieselbe wollen und dann nehmen wird, was sie haben will. Die Heiligkeit der Freiheit und alle möglichen Beweise dieser Heiligkeit werden sie niemals verschaffen: das Lamentieren und Petitionieren zeigt eben nur Bettler.
Der Sittliche ist notwendig darin borniert, dass er keinen andern Feind kennt als den »Unsittlichen«. »Wer nicht sittlich ist der ist unsittlich!«, mithin verworfen, verächtlich usw. Darum kann der Sittliche niemals den Egoisten verstehen. Ist nicht unehelicher Beischlaf eine Unsittlichkeit? Der Sittliche mag sich drehen, wie er will, er wird bei diesem Ausspruch bleiben müssen; Emilia Galotti liess für diese sittliche Wahrheit ihr Leben. Und es ist wahr, es ist eine Unsittlichkeit. Ein tugendhaftes Mädchen mag eine alte Jungfer werden; ein tugendhafter Mann mag die Zeit damit hinbringen, sich mit seinen Naturtrieben herumzuschlagen, bis er sie vielleicht verdumpft hat, er mag sich um der Tugend willen verschneiden wie der heilige Origenes um des Himmels willen: er ehrt die heilige Ehe, die heilige Keuschheit dadurch als unverletzlich, er ist – sittlich. Unkeuschheit kann nie zu einer sittlichen Tat werden. Mag der Sittliche den, der sie beging, auch noch so nachsichtig beurteilen und entschuldigen, ein Vergehen, eine Sünde wider ein sittliches Gebot bleibt sie, es haftet daran ein unauslöschlicher Makel. Wie die Keuschheit einst zum Ordensgelübde, so gehört sie zu sittlichem Wandel. Keuschheit ist ein – Gut. – Dagegen für den Egoisten ist eben auch Keuschheit kein Gut, darohne er nicht auskommen könnte: es ist ihm nichts daran gelegen. Was folgt nun für das Urteil des Sittlichen hieraus? Dies, dass er den Egoisten in die einzige Klasse von Menschen wirft, die er ausser den sittlichen Menschen kennt, in die der – Unsittlichen. Er kann nicht anders, er muss den Egoisten in allem, worin dieser die Sittlichkeit nicht achtet, unsittlich finden. Fände er ihn nicht so, so wäre er eben schon der Sittlichkeit abtrünnig geworden, ohne sich’s zu gestehen, er wäre schon kein wahrhaft sittlicher Mensch mehr. Man sollte sich doch durch solche Erscheinungen, die heutiges Tages allerdings nicht mehr zu den seltenen gehören, nicht irreführen lassen, und bedenken, dass, wer der Sittlichkeit etwas vergibt, so wenig zu den wahrhaft Sittlichen gezählt werden kann, als Lessing, der in der bekannten Parabel die christliche Religion, so gut als die muhamedanische und jüdische, einem »unechten Ringe« vergleicht, ein frommer Christ war. Oft sind die Leute schon weiter, als sie sich’s zu gestehen getrauen. – Für Sokrates wäre es, weil er auf der Bildungsstufe der Sittlichkeit stand, eine Unsittlichkeit gewesen, wenn er der verführerischen Zusprache Kritons hätte folgen und dem Kerker entrinnen wollen; zu bleiben war das einzig Sittliche. Allein es war es lediglich darum, weil Sokrates – ein sittlicher Mensch war. Die »sittenlosen, ruchlosen« Revolutionsmänner dagegen hatten Ludwig XVI. Treue geschworen, und dekretierten seine Absetzung, ja seinen Tod; die Tat war aber eine unsittliche, worüber die Sittlichen sich in alle Ewigkeit entsetzen werden.
Mehr oder weniger trifft jedoch dies alles nur die »bürgerliche Sittlichkeit«, auf welche die Freieren mit Verachtung herabsehen. Sie ist nämlich, wie überhaupt die Bürgerlichkeit, ihr heimischer Boden, von dem religiösen Himmel noch zu wenig entfernt und frei, um nicht die Gesetze desselben kritiklos und ohne Weiteres nur auf ihr Gebiet herüber zu verpflanzen, statt eigene und selbständige Lehren zu erzeugen. Ganz anders nimmt sich die Sittlichkeit aus, wenn sie zum Bewusstsein ihrer Würde gelangt, und ihr Prinzip, das Wesen des Menschen oder »den Menschen«, zum einzigen Massgebenden erhebt. Diejenigen, welche zu so entschiedenem Bewusstsein sich durchgearbeitet haben, brechen vollständig mit der Religion, deren Gott neben ihrem »Menschen« keinen Platz mehr findet, und wie sie (s. unten) das Staatsschiff selbst anbohren, so zerbröckeln sie auch die im Staate allein gedeihende »Sittlichkeit«, und dürften folgerichtig nicht einmal ihren Namen weiter gebrauchen. Denn, was diese »Kritischen« Sittlichkeit nennen, das scheidet sich sehr bündig von der sogenannten »bürgerlichen oder politischen Moral«, ab, und muss dem Staatsbürger wie eine »sinn- und zügellose Freiheit« vorkommen. Im Grunde aber hat es nur die »Reinheit des Prinzips« voraus, das, aus seiner Verunreinigung mit dem Religiösen befreit, nun in seiner geläuterten Bestimmtheit als – »Menschlichkeit« zur Allgewalt gekommen ist. Deshalb darf man sich nicht wundern, dass auch der Name Sittlichkeit neben andern, wie Freiheit, Humanität, Selbstbewusstsein usw. beibehalten, und nur etwa mit dem Zusatze einer »freien« Sittlichkeit versehen wird, gerade so wie auch, obgleich der bürgerliche Staat Unglimpf erfährt, doch der Staat als »freier Staat«, oder, wenn selbst so nicht, doch als »freie Gesellschaft« wieder erstehen soll.
Weil diese zur Menschlichkeit vollendete Sittlichkeit mit der Religion, aus welcher sie geschichtlich hervorgegangen, sich völlig auseinandergesetzt hat, so hindert sie nichts, auf eigene Hand Religion zu werden. Denn zwischen Religion und Sittlichkeit waltet nur so lange ein Unterschied ob, als unsere Beziehungen zur Menschenwelt durch unser Verhältnis zu einem übermenschlichen Wesen geregelt und geheiligt werden, oder so lange als unser Tun ein Tun »um Gottes willen« ist. Kommt es hingegen dahin, dass »dem Menschen der Mensch das höchste Wesen ist«, so verschwindet jener Unterschied, und die Sittlichkeit vollendet sich, indem sie ihrer untergeordneten Stellung entrückt wird, zur – Religion. Es hat dann nämlich das bisher dem höchsten untergeordnete höhere Wesen, der Mensch, die absolute Höhe erstiegen, und Wir verhalten Uns zu ihm als zum höchsten Wesen, d.h. religiös. Sittlichkeit und Frömmigkeit sind nun ebenso synonym, als im Anfang des Christentums, und nur weil das höchste Wesen ein anderes geworden, heißt ein heiliger Wandel nicht mehr ein »heiliger«, sondern ein »menschlicher«. Hat die Sittlichkeit gesiegt, so ist ein vollständiger – Herrenwechsel eingetreten.
Nach der Vernichtung des Glaubens wähnt Feuerbach in die vermeintlich sichere Bucht der Liebe einzulaufen. »Das höchste und erste Gesetz muss die Liebe des Menschen zum Menschen sein. Homo homini Deus est – dies ist der oberste praktische Grundsatz – dies der Wendepunkt der Weltgeschichte.« (12) Eigentlich ist aber nur der Gott verändert, der Deus, die Liebe ist geblieben; dort Liebe zum übermenschlichen Gott, hier Liebe zum menschlichen Gott, zum homo als Deus. Also der Mensch ist Mir – heilig. Und alles »wahrhaft Menschliche« ist Mir – heilig! »Die Ehe ist durch sich selbst heilig. Und so ist es mit allen sittlichen Verhältnissen. Heilig ist und sei Dir die Freundschaft, heilig das Eigentum, heilig die Ehe, heilig das Wohl jedes Menschen, aber heilig an und für sich selbst.« (13) Hat man da nicht wieder den Pfaffen? Wer ist sein Gott? Der Mensch? Was das Göttliche? Das Menschliche! So hat sich allerdings das Prädikat nur ins Subjekt verwandelt, und statt des Satzes »Gott ist die Liebe« heißt es »die Liebe ist göttlich«, statt »Gott ist Mensch geworden« – »der Mensch ist Gott geworden« usw. Es ist eben nur eine neue – Religion. »Alle sittlichen Verhältnisse sind nur da moralische, sie werden nur da mit sittlichem Sinne gepflogen, wo sie durch sich selbst (ohne religiöse Weihe durch den Segen des Priesters) als religiöse gelten.« (14) Feuerbachs Satz: die Theologie ist Anthropologie, heißt nur die »Religion muss Ethik sein, die Ethik ist allein Religion«.
Überhaupt bewirkt Feuerbach nur eine Umstellung von Subjekt und Prädikat, eine Bevorzugung des letzteren. Da er aber selbst sagt: »Die Liebe ist nicht dadurch heilig (und hat den Menschen niemals dadurch für heilig gegolten), dass sie ein Prädikat Gottes, sondern sie ist ein Prädikat Gottes, weil sie durch und für sich selbst göttlich ist,« (15) so konnte er finden, dass der Kampf gegen die Prädikate selbst eröffnet werden musste, gegen die Liebe und alle Heiligkeiten. Wie durfte er hoffen, die Menschen von Gott abzuwenden, wenn er ihnen das Göttliche liess? Und ist ihnen, wie Feuerbach sagt, Gott selbst nie die Hauptsache gewesen, sondern nur seine Prädikate, so konnte er ihnen immerhin den Flitter noch länger lassen, da ja die Puppe doch blieb, der eigentliche Kern. Er erkennt das auch, dass es sich bei ihm »nur um die Vernichtung einer Illusion handelt«, meint jedoch, sie »wirke grundverderblich auf die Menschen, da selbst die Liebe, an sich die innerste, wahrste Gesinnung, durch die Religiosität zu einer unscheinbaren, illusorischen werde, indem die religiöse Liebe den Menschen nur um Gottes Willen, also nur scheinbar den Menschen, in Wahrheit nur Gott liebt«. (16) Ist dies anders mit der sittlichen Liebe? Liebt sie den Menschen, diesen Menschen um dieses Menschen willen, oder um der Sittlichkeit willen, um des Menschen willen, also – denn homo homini Deus – um Gottes willen?
Der Sparren hat noch eine Menge von formellen Seiten, deren einige hier anzudeuten, nützlich sein möchte.
So ist die Selbstverleugnung den Heiligen gemein mit den Unheiligen, den Reinen und Unreinen. Der Unreine verleugnet alle »besseren Gefühle«, alle Scham, ja die natürliche Furchtsamkeit, und folgt nur der ihn beherrschenden Begierde. Der Reine verleugnet seine natürliche Beziehung zur Welt (»verleugnet die Welt«) und folgt nur dem ihn beherrschenden »Verlangen«. Von Gelddurst getrieben verleugnet der Habgierige alle Mahnungen des Gewissens, alles Ehrgefühl, alle Milde und alles Mitleid: er setzt alle Rücksichten aus den Augen: ihn reisst die Begierde fort. Gleiches begehrt der Heilige. Er macht sich zum »Spotte der Welt«, ist hartherzig und »strenggerecht«; denn ihn reisst das Verlangen fort. Wie der Unheilige vor dem Mammon sich selbst verleugnet, so verleugnet der Heilige sich vor Gott und den göttlichen Gesetzen. Wir leben jetzt in einer Zeit, wo die Unverschämtheit der Heiligen täglich mehr gefühlt und aufgedeckt wird, wodurch sie zugleich gezwungen ist, sich selbst täglich mehr zu enthüllen und bloßzustellen. Übersteigt nicht die Unverschämtheit und Dummheit der Gründe, mit denen man dem »Fortschritt der Zeit« entgegenwirkt, längst alles Mass und alle Erwartung? Aber es muss so kommen. Die Selbstverleugnenden müssen als Heilige denselben Gang nehmen, wie als Unheilige, und wie diese nach und nach ins vollste Mass selbstverleugnender Gemeinheit und Niedrigkeit versinken, so müssen jene zur entehrendsten Erhabenheit aufsteigen. Der Mammon der Erde und der Gott des Himmels fordern beide genau denselben Grad der – Selbstverleugnung. Der Niedrige wie der Erhabene langen nach einem »Gute«, jener nach dem materiellen, dieser nach dem ideellen, dem sogenannten »höchsten Gute«, und beide ergänzen zuletzt auch einander wieder, indem der »materiell Gesinnte« einem ideellen Schemen alles opfert, seiner Eitelkeit, der »geistlich Gesinnte« einem materiellen Genusse, dem Wohlleben.
Ungemein viel glauben diejenigen zu sagen, welche den Menschen »Uneigennützigkeit« ans Herz legen. Was verstehen sie darunter? Wohl etwas Ähnliches als unter »Selbstverleugnung«. Wer aber ist dieses Selbst, das verleugnet werden und keinen Nutzen haben soll? Du scheinst es selber sein zu sollen. Und zu wessen Nutzen empfiehlt man Dir die uneigennützige Selbstverleugnung? Wiederum Dir zu Nutzen und Frommen, nur dass Du durch Uneigennützigkeit Deinen »wahren Nutzen« Dir verschaffst.
Dir sollst Du nutzen, und doch sollst Du Deinen Nutzen nicht suchen.
Für uneigennützig hält man den Wohltäter der Menschen, einen Francke, welcher das Waisenhaus stiftete, einen O’Connell, der für sein irisches Volk unermüdlich arbeitet; aber auch den Fanatiker, der, wie der heilige Bonifatius, sein Leben für die Heidenbekehrung einsetzt, oder wie Robespierre alles der Tugend opfert, wie Körner für Gott, König und Vaterland stirbt. Daher versuchen u.a. die Gegner O’Connells ihm eine Eigennützigkeit oder Gewinnsucht unterzuschieben, wozu ihnen die O’Connell-Rente Grund zu geben schien; denn gelänge es, seine »Uneigennützigkeit« zu verdächtigen, so trennten sie ihn leicht von seinen Anhängern.
Was könnten sie indes weiter beweisen, als dass O’Connell auf einen andern als den vorgeblichen Zweck hinarbeite! Ob er aber Geldgewinn oder Volksbefreiung erzielen mag, dass er einem Zwecke, und zwar seinem Zwecke zustrebt, bleibt doch im einen wie im andern Falle gewiss: Eigennutz hier wie da, nur dass sein nationaler Eigennutz auch anderen zu Gute käme, mithin gemeinnützig wäre.
Ist nun etwa die Uneigennützigkeit unwirklich und nirgends vorhanden? Im Gegenteil, nichts ist gewöhnlicher! Man darf sie sogar einen Modeartikel der zivilisierten Welt nennen, den man für so unentbehrlich hält, dass man, wenn er in solidem Stoffe zuviel kostet, wenigstens mit seinem Flitterschein sich ausputzt und ihn erheuchelt. Wo beginnt die Uneigennützigkeit? Gerade da, wo ein Zweck aufhört, Unser Zweck und Unser Eigentum, mit dem Wir als Eigentümer nach Belieben schalten können, zu sein; wo er ein fixer Zweck oder eine – fixe Idee wird, wo er anfängt, Uns zu begeistern, enthusiasmieren, fanatisieren, kurz wo er zu Unserer Rechthaberei ausschlägt und Unser – Herr wird. Man ist nicht uneigennützig, solange man den Zweck in seiner Gewalt behält; man wird es erst bei jenem »Hier steh’ ich, ich kann nicht anders«, dem Kernspruche aller Besessenen, man wird es bei einem heiligen Zwecke durch den entsprechenden heiligen Eifer. -
Ich bin nicht uneigennützig, solange der Zweck Mein eigen bleibt, und Ich, statt zum blinden Mittel seiner Vollführung Mich herzugeben, ihn vielmehr allezeit in Frage lasse. Mein Eifer braucht darum nicht geringer zu sein als der fanatischste, aber Ich bleibe zu gleicher Zeit gegen ihn frostig kalt, ungläubig und sein unversöhnlichster Feind; Ich bleibe sein Richter, weil Ich sein Eigentümer bin.
Die Uneigennützigkeit wuchert üppig, soweit die Besessenheit reicht, gleich sehr auf Teufelsbesitzungen wie auf denen eines guten Geistes: dort Laster, Narrheit usw. ; hier Demut, Hingebung usw. Wohin könnte man blicken, ohne Opfern der Selbstverleugnung zu begegnen? Da sitzt Mir gegenüber ein Mädchen, das vielleicht schon seit zehn Jahren seiner Seele blutige Opfer bringt. Über der üppigen Gestalt neigt sich ein todmüdes Haupt, und bleiche Wangen verraten die langsame Verblutung ihrer Jugend. Armes Kind, wie oft mögen die Leidenschaften an Dein Herz geschlagen und die reichen Jugendkräfte ihr Recht gefordert haben! Wenn Dein Haupt sich in die weichen Kissen wühlte, wie zuckte die erwachende Natur durch Deine Glieder, spannte das Blut Deine Adern, und gossen feurige Phantasien den Glanz der Wollust in Deine Augen. Da erschien das Gespenst der Seele und ihrer Seligkeit. Du erschrakst, Deine Hände falteten sich, Dein gequältes Auge richtete den Blick nach oben, Du – betetest. Die Stürme der Natur verstummten, Meeresstille glitt hin über den Ozean Deiner Begierden. Langsam senkten sich die matten Augenlider über das unter ihnen erloschene Leben, aus den strotzenden Gliedern schlich unvermerkt die Spannung, in dem Herzen versiegten die lärmenden Wogen, die gefalteten Hände selbst lasteten entkräftet auf dem widerstandlosen Busen, ein leises, letztes Ach stöhnte noch nach, und – die Seele war ruhig. Du entschliefst, um am Morgen zu neuem Kampfe zu erwachen und zu neuem – Gebete. Jetzt kühlt die Gewohnheit der Entsagung die Hitze Deines Verlangens, und die Rosen Deiner Jugend erblassen in der – Bleichsucht Deiner Seligkeit. Die Seele ist gerettet, der Leib mag verderben! O Lais, o Ninon, wie tatet Ihr wohl, diese bleiche Tugend zu verschmähen. Eine freie Grisette gegen tausend in der Tugend grau gewordene Jungfern!
Auch als »Grundsatz, Prinzip, Standpunkt« u. dergl. lässt sich die fixe Idee vernehmen. Archimedes verlangte einen Standpunkt ausserhalb der Erde, um sie zu bewegen. Nach diesem Standpunkte suchten fortwährend die Menschen, und jeder nahm ihn ein, so gut er vermochte. Dieser fremde Standpunkt ist die Welt des Geistes, der Ideen, Gedanken, Begriffe, Wesen usw.; es ist der Himmel. Der Himmel ist der »Standpunkt«, von welchem aus die Erde bewegt, das irdische Treiben überschaut und – verachtet wird. Sich den Himmel zu sichern, den himmlischen Standpunkt fest und auf ewig einzunehmen, wie schmerzlich und unermüdlich rang darnach die Menschheit.
Es hat das Christentum dahin gezielt, Uns von der Naturbestimmung (Bestimmung durch die Natur), von den Begierden als antreibend, zu erlösen, mithin gewollt, dass der Mensch sich nicht von seinen Begierden bestimmen lasse. Darin liegt nicht, dass er keine Begierden haben solle, sondern dass die Begierden ihn nicht haben sollen, dass sie nicht fix, unbezwinglich, unauflöslich werden sollen. Was nun das Christentum (die Religion) gegen die Begierden machinierte, könnten Wir das nicht auf seine eigene Vorschrift, dass Uns der Geist (Gedanke, Vorstellungen, Ideen, Glaube usw.) bestimmen solle, anwenden, könnten verlangen, dass auch der Geist oder die Vorstellung, die Idee Uns nicht bestimmen, nicht fix und unantastbar oder »heilig« werden dürfe? Dann ginge es auf die Auflösung des Geistes, Auflösung aller, Gedanken, aller Vorstellungen aus. Wie es dort heißen musste: Wir sollen zwar Begierden haben, aber die Begierden sollen Uns nicht haben, so hiesse es nun: Wir sollen zwar Geist haben, aber der Geist soll Uns nicht haben. Scheint das Letztere eines rechten Sinnes zu ermangeln, so denke man z.B. daran, dass bei so Manchem ein Gedanke zur »Maxime« wird, wodurch Er selbst in dessen Gefangenschaft gerät, so dass nicht Er die Maxime, sondern diese vielmehr Ihn hat. Und mit der Maxime hat er wieder einen »festen Standpunkt«. Die Lehren des Katechismus werden unversehens Unsere Grundsätze und ertragen keine Verwerfung mehr. Der Gedanke derselben oder der – Geist hat die alleinige Gewalt, und keine Einrede des »Fleisches« wird weiter gehört. Gleichwohl aber kann Ich nur durch das »Fleisch« die Tyrannei des Geistes brechen; denn nur, wenn ein Mensch auch sein Fleisch vernimmt, vernimmt er sich ganz, und nur, wenn er sich ganz vernimmt, ist er vernehmend oder vernünftig. Der Christ vernimmt den Jammer seiner geknechteten Natur nicht, sondern lebt in »Demut«; darum murrt er nicht gegen die Unbill, welche seiner Person widerfährt: mit der »Geistesfreiheit« glaubt er sich befriedigt. Führt aber einmal das Fleisch das Wort und ist der Ton desselben, wie es nicht anders sein kann, »leidenschaftlich«, »unanständig«, »nicht wohlmeinend«, »böswillig« usw., so glaubt er Teufelsstimmen zu vernehmen, Stimmen gegen den Geist (denn Anstand, Leidenschaftlosigkeit, Wohlmeinung u. dergl. ist eben – Geist), und eifert mit Recht dagegen. Er müsste nicht Christ sein, wenn er sie dulden wollte. Er hört nur auf die Sittlichkeit und schlägt die Sittenlosigkeit aufs Maul, er hört nur auf die Gesetzlichkeit und knebelt das gesetzlose Wort: der Geist der Sittlichkeit und Gesetzlichkeit hält ihn gefangen, ein starrer, unbeugsamer Herr. Das nennen sie die »Herrschaft des Geistes« », es ist zugleich der Standpunkt des Geistes.
Und wen wollen nun die gewöhnlichen liberalen Herrn freimachen? Nach wessen Freiheit schreien und lechzen sie denn? Nach der des Geistes! Des Geistes der Sittlichkeit, Gesetzlichkeit, Frömmigkeit, Gottesfurcht usw. Das wollen die antiliberalen Herrn auch, und der ganze Streit zwischen beiden dreht sich um den Vorteil, ob die letzteren das Wort allein haben oder die ersteren einen »Mitgenuss desselben Vorteils« erhalten sollen. Der Geist bleibt für beide der absolute Herr, und sie hadern nur darum, wer den hierarchischen Thron, der dem »Statthalter des Herrn« gebührt, einnehmen soll. Das Beste an der Sache ist, dass man dem Treiben ruhig zusehen kann mit der Gewissheit, dass die wilden Tiere der Geschichte sich ebenso zerfleischen werden wie die der Natur; ihre verwesenden Kadaver düngen den Boden für – Unsere Früchte. Auf manchen andern Sparren, wie den des Berufes, der Wahrhaftigkeit, der Liebe usw. kommen Wir später zurück.
Wenn das Eigene dem Eingegebenen entgegengestellt wird, so will der Einwurf nichts verschlagen, dass Wir Isoliertes nicht haben können, sondern alles im Weltzusammenhange, also durch den Eindruck des um Uns Befindlichen empfangen, mithin als ein »Eingegebenes« haben; denn es ist ein großer Abstand zwischen den Gefühlen und Gedanken, welche durch Anderes in mir angeregt, und denen, welche Mir gegeben werden. Gott, Unsterblichkeit, Freiheit, Menschlichkeit usw. werden Uns von Kindheit an als Gedanken und Gefühle eingeprägt, die kräftiger oder flauer Unser Inneres bewegen und entweder unbewusst Uns beherrschen oder in reicheren Naturen zu Systemen und Kunstwerken sich darlegen können, immer aber nicht angeregte, sondern eingegebene Gefühle sind, weil Wir an sie glauben und an ihnen hängen müssen. Dass ein Absolutes sei und dieses Absolute von Uns aufgenommen, gefühlt und gedacht werden müsse, stand als Glaube bei denen fest, die alle Kraft ihres Geistes darauf verwandten, es zu erkennen und darzustellen. Das Gefühl für das Absolute besteht da als ein eingegebenes und kommt fortan nur zu den mannigfaltigsten Offenbarungen seiner selbst. So war in Klopstock das religiöse Gefühl ein eingegebenes, das sich in der Messiade nur künstlerisch verkündete. Wäre hingegen die Religion, welche er vorfand, für ihn nur eine Anregung zu Gefühl und Gedanke gewesen, und hätte er sich ganz eigen dagegen zu stellen gewusst, so ergab sich statt religiöser Begeisterung eine Auflösung und Verzehrung des Objektes. Dafür setzte er im reifen Alter nur seine kindischen, in der Kindheit empfangenen Gefühle fort, und verprasste die Kräfte seiner Mannheit in dem Aufputz seiner Kindereien.
Der Unterschied ist also der, ob Mir Gefühle eingegeben oder nur angeregt sind. Die letzteren sind eigene, egoistische, weil sie Mir nicht als Gefühle eingeprägt, vorgesagt und aufgedrungen wurden; zu den ersteren aber spreize Ich Mich auf, hege sie in Mir wie ein Erbteil, kultiviere sie und bin von ihnen besessen. Wer hätte es niemals, bewusster oder unbewusster gemerkt, dass Unsere ganze Erziehung darauf ausgeht, Gefühle in Uns zu erzeugen, d.h. sie uns einzugeben, statt die Erzeugung derselben Uns zu überlassen, wie sie auch ausfallen mögen. Hören Wir den Namen Gottes, so sollen Wir Gottesfurcht empfinden, hören Wir den der fürstlichen Majestät, so soll er mit Ehrfurcht, Ehrerbietung, Untertänigkeit aufgenommen werden, hören Wir den der Moral, so sollen Wir etwas Unverletzliches zu hören meinen, hören Wir von dem und den Bösen, so sollen Wir schaudern usw. Auf diese Gefühle ist’s abgesehen, und wer z.B. die Taten der »Bösen« mit Wohlgefallen vernähme, der müsste durch die Zuchtrute »gezüchtigt und erzogen« werden. So mit eingegebenen Gefühlen vollgestopft, erscheinen Wir vor den Schranken der Mündigkeit und werden »mündig gesprochen«. Unsere Ausrüstung besteht aus »erhebenden Gefühlen, erhabenen Gedanken, begeisternden Grundsätzen, ewigen Prinzipien« usw. Mündig sind die Jungen dann, wenn sie zwitschern wie die Alten; man hetzt sie durch die Schule, damit sie die alte Leier lernen, und haben sie diese inne, so erklärt man sie für mündig.
Wir dürfen nicht bei jeder Sache und jedem Namen, der Uns vorkommt, fühlen, was Wir dabei fühlen möchten und könnten, dürfen z.B. bei dem Namen Gottes nichts Lächerliches denken, nichts Unehrerbietiges fühlen, sondern es ist Uns vorgeschrieben und eingegeben, was und wie Wir dabei fühlen und denken sollen.
Das ist der Sinn der Seelsorge, dass meine Seele oder mein Geist gestimmt sei, wie Andere es recht finden, nicht wie Ich selbst möchte. Wie viele Mühe kostet es einem nicht, wenigstens bei dem und jenem Namen endlich sich ein eigenes Gefühl zu sichern und Manchem ins Gesicht zu lachen, der von Uns bei seinen Reden ein heiliges Gesicht und eine unverzogene Miene erwartet. Das Eingegebene ist Uns fremd, ist Uns nicht eigen, und darum ist es »heilig«, und es hält schwer, die »heilige Scheu davor« abzulegen.
Heutigen Tages hört man auch wieder den »Ernst« anpreisen, den »Ernst bei hochwichtigen Gegenständen und Verhandlungen«, den »deutschen Ernst« usw. Diese Art der Ernsthaftigkeit spricht deutlich aus, wie alt und ernstlich schon die Narrheit und Besessenheit geworden ist. Denn es gibt nichts Ernsthafteres als den Narren, wenn er auf den Kernpunkt seiner Narrheit kommt: da versteht er vor großem Eifer keinen Spass mehr. (Siehe Tollhäuser.)
§ 3. Die Hierarchie
Die geschichtliche Reflexion über Unser Mongolentum, welche Ich an dieser Stelle episodisch einlegen will, gebe Ich nicht mit dem Anspruche auf Gründlichkeit oder auch nur auf Bewährtheit, sondern lediglich darum, weil Mich dünkt, sie könne zur Verdeutlichung des Übrigen beitragen.
Die Weltgeschichte, deren Gestaltung eigentlich ganz dem kaukasischen Menschenstamm angehört, scheint bis jetzt zwei kaukasische Weltalter durchlaufen zu haben, in deren erstem Wir Unsere angeborne Negerhaftigkeit aus- und abzuarbeiten hatten, worauf im zweiten die Mongolenhaftigkeit (das Chinesentum) folgte, dem gleichfalls endlich ein Ende mit Schrecken gemacht werden muss. Die Negerhaftigkeit stellt dar das Altertum, die Zeit der Abhängigkeit von den Dingen (vom Hahnenfrass, Vögelflug, vom Niesen, von Donner und Blitz, vom Rauschen heiliger Bäume usw.); die Mongolenhaftigkeit die Zeit der Abhängigkeit von Gedanken, die christliche. Der Zukunft sind die Worte vorbehalten: Ich bin Eigner der Welt der Dinge, und Ich bin Eigner der Welt des Geistes.
Ins negerhafte Weltalter fallen die Züge des Sesostris und die Bedeutsamkeit Ägyptens und Nordafrikas überhaupt. Dem mongolenhaften Weltalter gehören die Hunnen- und Mongolenzüge an, bis herauf zu den Russen.
Der Wert Meiner kann unmöglich hoch angeschlagen werden, solange der harte Demant des Nicht-Ich so gewaltig im Preise steht, wie dies sowohl mit dem Gotte als mit der Welt der Fall war. Das Nicht-Ich ist noch zu körnig und unbezwinglich, um von mir verzehrt und absorbiert zu werden; vielmehr kriechen die Menschen nur auf diesem Unbeweglichen, d.h. auf dieser Substanz, mit ausserordentlicher Geschäftigkeit herum wie Schmarotzertierchen auf einem Leibe, von dessen Säften sie Nahrung ziehen, ohne ihn darum aufzuzehren. Es ist die Geschäftigkeit des Ungeziefers, die Betriebsamkeit der Mongolen. Bei den Chinesen bleibt ja alles beim Alten, und nichts »Wesentliches« oder »Substantielles« unterliegt einer Veränderung; desto rühriger arbeiten sie an dem Bleibenden, welches den Namen des »Alten«, der »Vorfahren« usw. führt, herum.
Sonach ist in unserem mongolischen Weltalter alle Veränderung nur eine reformatorische oder ausbessernde, keine destruktive oder verzehrende und vernichtende gewesen. Die Substanz, das Objekt bleibt. All unsere Betriebsamkeit war nur Ameisentätigkeit und Flohsprung, Jongleurkünste auf dem unbeweglichen Seile des Objektiven, Frondienst unter der Herrschaft des Unveränderlichen oder »Ewigen«. Die Chinesen sind wohl das positivste Volk, weil ganz in Satzungen vergraben; aus dem Positiven ist aber auch das christliche Weltalter nicht herausgekommen, d.h. aus der »beschränkten Freiheit«, der Freiheit »innerhalb gewisser Schranken«. Auf der vorgeschrittensten Bildungsstufe verdient diese Tätigkeit den Namen der wissenschaftlichen, des Arbeitens auf einer unbewegten Voraussetzung, einer unumstösslichen Hypothese.
In ihrer ersten und unverständlichsten Form gibt sich die Sittlichkeit als Gewohnheit. Nach seines Landes Sitte und Gewohnheit handeln – heißt da sittlich sein. Darum wird ein reines sittliches Handeln, eine lautere, unverfälschte Sittlichkeit am schlichtesten in China geübt: man bleibt bei der alten Gewohnheit und Sitte und hasst als todeswürdiges Verbrechen jegliche Neuerung. Denn die Neuerung ist der Todfeind der Gewohnheit, des Alten, der Beharrlichkeit. Es unterliegt auch in der Tat keinem Zweifel, dass der Mensch sich durch Gewohnheit gegen die Zudringlichkeit der Dinge, der Welt, sichert und eine eigene Welt gründet, in welcher er allein heimisch und zu Hause ist, d.h. sich einen Himmel erbaut. Hat ja doch der »Himmel« keinen andern Sinn, als den, dass er die eigentliche Heimat des Menschen sei, worin ihn nichts Fremdes mehr bestimmt und beherrscht, kein Einfluss des Irdischen mehr ihn selbst entfremdet, kurz worin die Schlacken des Irdischen abgeworfen sind und der Kampf gegen die Welt ein Ende gefunden hat, worin ihm also nichts mehr versagt ist. Der Himmel ist das Ende der Entsagung, er ist der freie Genuss. Dort versagt sich der Mensch nichts mehr, weil ihm nichts mehr fremd und feindlich ist. Nun ist aber die Gewohnheit eine »andere Natur«, welche den Menschen von seiner ersten und ursprünglichen Natürlichkeit ablöst und befreit, indem sie ihn gegen jede Zufälligkeit derselben sichert. Die ausgebildete Gewohnheit der Chinesen hat für alle Vorfälle gesorgt, und für alles ist »vorgesehen«; was auch kommen mag, es weiß der Chinese immer, wie er sich zu verhalten hat, und er braucht sich nicht erst nach den Umständen zu bestimmen: aus dem Himmel seiner Ruhe stürzt ihn kein unvorhergesehener Fall. Der sittlich eingewohnte und eingelebte Chinese wird nicht überrascht und überrumpelt: er verhält sich gegen alles gleichmütig, d.h. mit gleichem Mute oder Gemüte, weil sein Gemüt, durch die Vorsicht seiner althergebrachten Sitte geschützt, nicht ausser Fassung kommt. Auf der Stufenleiter der Bildung oder Kultur besteigt die Menschheit mithin durch die Gewohnheit die erste Sprosse, und da sie sich vorstellt, im Erklimmen der Kultur zugleich den Himmel, das Reich der Kultur oder zweiten Natur, zu erklimmen, so besteigt sie wirklich die erste Sprosse der – Himmelsleiter.
Hat das Mongolentum das Dasein geistiger Wesen festgestellt, eine Geisterwelt, einen Himmel geschaffen, so haben die Kaukasier Jahrtausende mit diesen geistigen Wesen gerungen, um ihnen auf den Grund zu kommen. Was Taten sie also anders, als dass sie auf mongolischem Grund bauten? Sie haben nicht auf Sand, sondern in der Luft gebaut, haben mit dem Mongolischen gerungen, den mongolischen Himmel, den Tiän, gestürmt. Wann werden sie diesen Himmel endlich vernichten? Wann werden sie endlich wirkliche Kaukasier werden und sich selber finden? Wann wird die »Unsterblichkeit der Seele«, die sich in letzterer Zeit noch mehr zu sichern glaubte, wenn sie sich als »Unsterblichkeit des Geistes« präsentierte, endlich in die Sterblichkeit des Geistes umschlagen?
Im industriösen Ringen der mongolischen Rasse hatten die Menschen einen Himmel erbaut, als die vom kaukasischen Menschenstamme, solange sie in ihrer mongolischen Färbung es mit dem Himmel zu tun haben, die entgegengesetzte Aufgabe, die Aufgabe, jenen Himmel der Sitte zu stürmen, die himmelstürmende Tätigkeit übernahmen. Alle Menschensatzung zu unterwühlen, um über dem aufgeräumten Bauplatz eine neue und – bessere zu schaffen, alle Sitte zu verderben, um immer neue und – bessere Sitten an die Stelle derselben zu setzen usw., darauf beschränkt sich ihre Tat. Ist sie so
aber schon rein und wirklich das, was sie zu sein trachtet, und erreicht sie ihr letztes Absehen? Nein, sie ist in diesem Erschaffen eines »Besseren« mit dem Mongolentum behaftet. Sie stürmt den Himmel nur, um wieder einen Himmel zu machen, sie stürzt eine alte Gewalt nur, um eine neue Gewalt zu legitimieren, sie – verbessert nur. Gleichwohl ist der Zielpunkt, sooft er auch bei jedem neuen Ansatz aus den Augen verschwinden mag, der wirkliche, vollendete Sturz des Himmels, der Sitte usw., kurz des nur gegen die Welt gesicherten Menschen, der Isolierung oder Innerlichkeit des Menschen. Durch den Himmel der Kultur sucht sich der Mensch von der Welt zu isolieren, ihre feindselige Macht zu brechen. Diese Himmelsisolierung muss aber gleichfalls gebrochen werden, und das wahre Ende des Himmelstürmens ist der – Himmelssturz, die Himmelsvernichtung. Das Verbessern und Reformiren ist das Mongolentum des Kaukasiers, weil er dadurch von neuem wieder setzt, was vorher schon war, nämlich eine Satzung, ein Allgemeines, einen Himmel. Er hegt die unversöhnlichste Feindschaft gegen den Himmel und baut doch täglich neue Himmel: Himmel auf Himmel türmend erdrückt er nur einen durch den andern, der Himmel der Juden zerstört den der Griechen, der der Christen den der Juden, der der Protestanten den der Katholiken usw. – Streifen die himmelstürmenden Menschen des kaukasischen Blutes ihre Mongolenhaut ab, so werden sie den Gemütsmenschen unter dem Schutt der ungeheuren Gemütswelt begraben, den isolierten Menschen unter seiner isolierten Welt, den Verhimmelnden unter seinem Himmel. Und der Himmel ist das Geisterreich, das Reich der Geistesfreiheit.
Das Himmelreich, das Reich der Geister und Gespenster, hat in der spekulativen Philosophie seine rechte Ordnung gefunden. Hier wurde es ausgesprochen als das Reich der Gedanken, Begriffe und Ideen: der Himmel ist von Gedanken und Ideen bevölkert, und dies »Geisterreich« ist dann die wahre Wirklichkeit.
Dem Geiste Freiheit erwerben wollen, das ist Mongolentum, Geistesfreiheit ist mongolische Freiheit, Gemütsfreiheit, moralische, sittliche Freiheit usw.
Man nimmt das Wort »Sittlichkeit« wohl für gleichbedeutend mit Selbsttätigkeit, Selbstbestimmung. Allein das liegt nicht darin, und es hat sich der Kaukasier vielmehr nur selbsttätig bewiesen trotz seiner mongolischen Sittlichkeit. Der mongolische Himmel oder die Sitte blieb die feste Burg, und nur dadurch, dass der Kaukasier unaufhörlich gegen diese Burg anstürmte, bewies er sich sittlich; hätte er’s gar nicht mehr mit der Sitte zu tun gehabt, hätte er nicht an ihr seinen unbezwinglichen, fortwährenden Feind gehabt, so hörte die Beziehung zur Sitte auf, mithin die Sittlichkeit. Dass also seine Selbsttätigkeit noch eine sittliche ist, das ist eben das Mongolenhafte an ihr, ist ein Zeichen, dass er in derselben nicht zu sich selbst gekommen. Die »sittliche Selbsttätigkeit« entspricht ganz der »religiösen und rechtgläubigen Philosophie«, der »konstitutionellen Monarchie«, dem »christlichen Staate«, der »Freiheit in gewissen Schranken«, der »beschränkten Pressfreiheit«, oder in einem Bilde dem ans Krankenlager gefesselten Helden.
Erst dann hat der Mensch das Schamanentum und seinen Spuk wirklich überwunden, wenn er nicht bloß den Gespensterglauben, sondern auch den Glauben an den Geist abzulegen die Kraft besitzt, nicht bloß den Geisterglauben, sondern auch den Geistesglauben.
Wer an einen Spuk glaubt, nimmt nicht mehr das »Hereinragen einer höhern Welt« an, als wer an den Geist glaubt, und beide suchen hinter der sinnlichen Welt eine übersinnliche, kurz sie erzeugen und glauben eine andere Welt, und diese andere Welt, das Erzeugnis ihres Geistes, ist eine geistige Welt: ihre Sinne fassen und wissen ja nichts von einer anderen, unsinnlichen Welt, nur ihr Geist lebt darin. Der Fortgang von diesem mongolischen Glauben an das Dasein geistiger Wesen dahin, dass auch des Menschen eigentliches Wesen sein Geist sei, und dass auf diesen allein, auf sein »Seelenheil« alle Sorgfalt gerichtet werden müsse, ist nicht schwer. Damit wird die Einwirkung auf den Geist, der sogenannte »moralische Einfluss« gesichert.
Es springt daher in die Augen, dass das Mongolentum die vollkommene Rechtlosigkeit der Sinnlichkeit, die Unsinnlichkeit und Unnatur repräsentiere, und dass die Sünde und das Sündbewusstsein unsere Jahrtausende lange mongolische Plage war.
Wer aber wird auch den Geist in sein Nichts auflösen? Er, der mittelst des Geistes die Natur als das Nichtige, Endliche, Vergängliche darstellte, er kann allein auch den Geist zu gleicher Nichtigkeit herabsetzen: Ich kann es, es kann es jeder unter Euch, der als unumschränktes Ich waltet und schafft, es kann’s mit einem Worte der – Egoist.
Vor dem Heiligen verliert man alles Machtgefühl und allen Mut: man verhält sich gegen dasselbe ohnmächtig und demütig. Und doch ist kein Ding durch sich heilig, sondern durch Meine Heiligsprechung, durch Meinen Spruch, Mein Urteil, Mein Kniebeugen, kurz durch Mein – Gewissen.
Heilig ist alles, was dem Egoisten unnahbar sein soll, unberührbar, ausserhalb seiner Gewalt, d.h. über ihm: heilig mit einem Worte jede – Gewissenssache, denn »dies ist Mir eine Gewissenssache« heißt eben: »dies halte Ich heilig«.
Für kleine Kinder, wie für Tiere, existiert nichts Heiliges, weil man, um dieser Vorstellung Raum zu geben, schon so weit zu Verstand gekommen sein muss, dass man Unterschiede wie: »gut und böse, berechtigt und unberechtigt« usw. machen kann; nur bei solchem Grade der Reflexion oder Verständigkeit – dem eigentlichen Standpunkte der Religion – kann an die Stelle der natürlichen Furcht die unnatürliche (d.h. erst durch Denken hervorgebrachte) Ehrfurcht treten, die »heilige Scheu«. Es gehört dazu, dass man etwas ausser sich für mächtiger, grösser, berechtigter, besser usw. hält, d.h. dass man die Macht eines Fremden anerkennt, also nicht bloß fühlt, sondern ausdrücklich anerkennt, d.h. einräumt, weicht, sich gefangen gibt, sich binden lässt (Hingebung, Demut, Unterwürfigkeit, Untertänigkeit usw.). Hier spukt die ganze Gespensterschar der »christlichen Tugenden«.
Alles, wovor Ihr einen Respekt oder eine Ehrfurcht hegt, verdient den Namen eines Heiligen; auch sagt Ihr selbst, Ihr trüget eine »heilige Scheu«, es anzutasten. Und selbst dem Unheiligen gebt Ihr diese Farbe (Galgen, Verbrechen usw.). Es graut Euch vor der Berührung desselben. Es liegt etwas Unheimliches, d.h. Unheimisches oder Uneigenes darin.
»Gälte dem Menschen nicht irgend etwas als heilig, so wäre ja der Willkür, der schrankenlosen Subjektivität Tür und Tor geöffnet!« Furcht macht den Anfang, und dem rohsten Menschen kann man sich fürchterlich machen; also schon ein Damm gegen seine Frechheit. Allein in der Furcht bleibt immer noch der Versuch, sich vom Gefürchteten zu befreien durch List, Betrug, Pfiffe usw. Dagegen ist’s in der Ehrfurcht ganz anders. Hier wird nicht bloß gefürchtet, sondern auch geehrt: das Gefürchtete ist zu einer innerlichen Macht geworden, der Ich Mich nicht mehr entziehen kann; Ich ehre dasselbe, bin davon eingenommen, ihm zugetan und angehörig: durch die Ehre, welche Ich ihm zolle, bin Ich vollständig in seiner Gewalt, und versuche die Befreiung nicht einmal mehr. Nun hänge ich mit der ganzen Kraft des Glaubens daran, Ich glaube. Ich und das Gefürchtete sind eins: »nicht Ich lebe, sondern das Respektierte lebt in Mir!« Weil der Geist, das Unendliche, kein Ende nehmen lässt, darum ist er stationär: er fürchtet das Sterben, er kann von seinem Jesulein nicht lassen, die Grösse der Endlichkeit wird von seinem geblendeten Auge nicht mehr erkannt: das nun zur Verehrung gesteigerte Gefürchtete darf nicht mehr angetastet werden: die Ehrfurcht wird verewigt, das Respektierte wird vergöttert. Der Mensch ist nun nicht mehr schaffend, sondern lernend (wissend, forschend usw.), d.h. beschäftigt mit einem festen Gegenstande, sich vertiefend in ihn, ohne Rückkehr zu sich selber. Das Verhältnis zu diesem Gegenstande ist das des Wissens, des Ergründens und Begründens usw., nicht das des Auflösens (Abschaffens usw.). »Religiös soll der Mensch sein«, das steht fest; daher beschäftigt man sich nur mit der Frage, wie dies zu erreichen, welches der rechte Sinn der Religiosität usw. Ganz anders, wenn man das Axiom selbst fraglich macht und in Zweifel zieht, und sollte es auch über den Haufen stürzen. Sittlichkeit ist auch solch eine heilige Vorstellung: sittlich müsse man sein, und müsse nur das rechte Wie, die rechte Art es zu sein, aufsuchen. An die Sittlichkeit selbst wagt man sich nicht mit der Frage, ob sie nicht selbst ein Truggebilde sei: sie bleibt über allem Zweifel erhaben, unwandelbar. Und so geht es fort mit dem Heiligen, Stufe für Stufe, vom »Heiligen« bis zum »Hochheiligen«.
Man teilt mitunter die Menschen in zwei Klassen, in Gebildete und Ungebildete. Die ersteren beschäftigten sich, soweit sie ihres Namens würdig waren, mit Gedanken, mit dem Geiste, und forderten, weil sie in der nachchristlichen Zeit, deren Prinzip eben der Gedanke ist, die Herrschenden waren, für die von ihnen anerkannten Gedanken einen unterwürfigen Respekt. Staat, Kaiser, Kirche, Gott, Sittlichkeit, Ordnung usw. sind solche Gedanken oder Geister, die nur für den Geist sind. Ein bloß lebendiges Wesen, ein Tier, kümmert sich um sie so wenig als ein Kind. Allein die Ungebildeten sind wirklich nichts als Kinder, und wer nur seinen Lebensbedürfnissen nachhängt, ist gleichgültig gegen jene Geister; weil er aber auch schwach gegen dieselben ist, so unterliegt er ihrer Macht, und wird beherrscht von – Gedanken. Dies ist der Sinn der Hierarchie.
Hierarchie ist Gedankenherrschaft, Herrschaft des Geistes!
Hierarchisch sind Wir bis auf den heutigen Tag, unterdrückt von denen, welche sich auf Gedanken stützen. Gedanken sind das Heilige.
Immer aber stossen Beide aneinander, der Gebildete an den Ungebildeten, wie umgekehrt, und zwar nicht bloß im Anrennen zweier Menschen, sondern in ein und demselben Menschen. Denn kein Gebildeter ist so gebildet, dass er nicht auch an den Dingen Freude fände, mithin ungebildet wäre, und kein Ungebildeter ist ganz ohne Gedanken. Bei Hegel kommt endlich zu Tage, welche Sehnsucht gerade der Gebildetste nach den Dingen hat, und welchen Abscheu er vor jeder »hohlen Theorie« hegt. Da soll dem Gedanken ganz und gar die Wirklichkeit, die Welt der Dinge, entsprechen und kein Begriff ohne Realität sein. Dies verschaffte Hegels System den Namen des objektivsten, als feierten darin Gedanke und Ding ihre Vereinigung. Aber es war dies eben nur die äusserste Gewaltsamkeit des Denkens, die höchste Despotie und Alleinherrschaft desselben, der Triumph des Geistes, und mit ihm der Triumph der Philosophie. Höheres kann die Philosophie nicht mehr leisten, denn ihr Höchstes ist die Allgewalt des Geistes, die Allmacht des Geistes. (17) Die geistlichen Menschen haben sich Etwas in den Kopf gesetzt, was realisiert werden soll. Sie haben Begriffe von Liebe, Güte u. dergl., die sie verwirklicht sehen möchten; darum wollen sie ein Reich der Liebe auf Erden errichten, worin keiner mehr aus Eigennutz, sondern jeder »aus Liebe« handelt. Die Liebe soll herrschen. Was sie sich in den Kopf gesetzt haben, wie soll man das anders nennen als – fixe Idee? Es »spukt ja in ihrem Kopfe«. Der beklemmendste Spuk ist der Mensch. Man denke des Sprichwortes: »Der Weg zum Verderben ist mit guten Vorsätzen gepflastert.« Der Vorsatz, die Menschlichkeit ganz in sich zu verwirklichen, ganz Mensch zu werden, ist von so verderblicher Art; dahin gehören die Vorsätze, gut, edel, liebevoll usw. zu werden.
In dem sechsten Hefte der Denkwürdigkeiten S. 7 sagt Br. Bauer: »Jene Bürgerklasse, die für die neuere Geschichte ein so furchtbares Gewicht erhalten sollte, ist keiner aufopfernden Handlung, keiner Begeisterung für eine Idee, keiner Erhebung fähig: sie gibt sich für nichts hin, als für das Interesse ihrer Mittelmäßigkeit, d.h. sie bleibt immer auf sich selbst beschränkt und siegt endlich nur durch ihre Massenhaftigkeit, mit welcher sie die Anstrengungen der Leidenschaft, der Begeisterung, der Konsequenz zu ermüden wusste, durch ihre Oberfläche, in welche sie einen Teil der neuen Ideen einsaugt.« (18) Und S. 6: »Sie hat die revolutionären Ideen, für welche nicht sie, sondern uneigennützige oder leidenschaftliche Männer sich aufopferten, sich allein zu Gute kommen lassen, den Geist in Geld verwandelt. – Freilich nachdem sie jenen Ideen die Spitze, die Konsequenz, den zerstörenden und gegen allen Egoismus fanatischen Ernst genommen hatte.« Diese Leute sind also nicht aufopfernd, nicht begeistert, nicht ideal, nicht konsequent, keine Enthusiasten; sie sind im gewöhnlichen Verstande Egoisten, Eigennützige, auf ihren Vorteil bedacht, nüchtern, berechnend usw.
Wer ist denn »aufopfernd«? Vollständig doch wohl derjenige, der an Eins, einen Zweck, einen Willen, eine Leidenschaft usw. alles Andere setzt. Ist der Liebende, der Vater und Mutter verlässt, der alle Gefahren und Entbehrungen besteht, um zu seinem Ziele zu kommen, nicht aufopfernd? Oder der Ehrgeizige, der alle Begierden, Wünsche und Befriedigungen der einzigen Leidenschaft darbringt, oder der Geizige, der sich alles versagt, um Schätze zu sammeln, oder der Vergnügungssüchtige usw.? Ihn beherrscht eine Leidenschaft, der er die übrigen zum Opfer bringt.
Und sind diese Aufopfernden etwa nicht eigennützig, nicht Egoisten? Da sie nur eine herrschende Leidenschaft haben, sorgen sie auch nur für eine Befriedigung, aber für diese um desto eifriger: sie gehen in ihr auf. Egoistisch ist ihr ganzes Tun und Treiben, aber es ist ein einseitiger, unaufgeschlossener, bornierter Egoismus: es ist Besessenheit. »Das sind ja kleinliche Leidenschaften, von denen sich im Gegenteil der Mensch nicht knechten lassen soll. Für eine große Idee, eine große Sache muss der Mensch Opfer bringen!« Eine »große Idee«, eine »gute Sache« ist etwa die Ehre Gottes, für die Unzählige in den Tod gingen, das Christentum, das seine bereitwilligen Märtyrer gefunden hat, die alleinseligmachende Kirche, die sich Ketzeropfer gierig gelangt hat; die Freiheit und Gleichheit, der blutige Guillotinen zu Diensten standen.
Wer für eine große Idee, eine gute Sache, eine Lehre, ein System, einen erhabenen Beruf lebt, der darf kein weltliches Gelüste, kein selbstsüchtiges Interesse in sich aufkommen lassen. Hier haben Wir den Begriff des Pfaffentums, oder wie es in seiner pädagogischen Wirksamkeit auch genannt werden kann, der Schulmeisterlichkeit; denn die Idealen schulmeistern Uns. Der Geistliche ist recht eigentlich berufen, der Idee zu leben und für die Idee, die wahrhaft gute Sache, zu wirken. Deshalb fühlt das Volk, wie wenig es ihm anstehe, einen weltlichen Hochmut zu zeigen, ein Wohlleben zu begehren, Vergnügen, wie Tanz und Spiel, mitzumachen, kurz ein anderes als ein »heiliges Interesse« zu haben. Daher schreibt sich wohl auch die dürftige Besoldung der Lehrer, die sich allein durch die Heiligkeit ihres Berufes belohnt fühlen und sonstigen Genüssen »entsagen« sollen.
Auch an einer Rangliste der heiligen Ideen, deren eine oder mehrere der Mensch als seinen Beruf ansehen soll, fehlt es nicht. Familie, Vaterland, Wissenschaft u. dergl. kann an Mir einen berufstreuen Diener finden.
Da stossen Wir auf den uralten Wahn der Welt, die des Pfaffentums noch nicht entraten gelernt hat. Für eine Idee leben und schaffen, das sei der Beruf des Menschen, und nach der Treue seiner Erfüllung messe sich sein menschlicher Wert.
Dies ist die Herrschaft der Idee oder das Pfaffentum. Robespierre z.B., St. Just usw. waren durch und durch Pfaffen, begeistert von der Idee, Enthusiasten, konsequente Rüstzeuge dieser Idee, ideale Menschen. So ruft St. Just in einer Rede aus: »Es gibt etwas Schreckliches in der heiligen Liebe zum Vaterlande; sie ist so ausschließend, dass sie alles ohne Erbarmen, ohne Furcht, ohne menschliche Beachtung dem öffentlichen Interesse opfert. Sie stürzt Manlius in den Abgrund; sie opfert ihre Privatneigungen; sie führt Regulus nach Karthago, wirft einen Römer in den Schlund, und setzt Marat als Opfer seiner Hingebung, ins Panteon.« (19) Diesen Vertretern idealer oder heiliger Interessen steht nun eine Welt zahlloser »persönlicher« profaner Interessen gegenüber. Keine Idee, kein System, keine heilige Sache ist so groß, dass sie nie von diesen persönlichen Interessen überboten und modifiziert werden sollte. Wenn sie auch augenblicklich und in Zeiten der Rage und des Fanatismus schweigen, so kommen sie doch durch »den gesunden Sinn des Volkes« bald wieder obenauf. Jene Ideen siegen erst dann vollkommen, wenn sie nicht mehr gegen die persönlichen Interessen feindlich sind, d.h. wenn sie den Egoismus befriedigen.
Der Mann, der eben vor meinem Fenster Bücklinge zum Verkauf ausruft, hat ein persönliches Interesse an gutem Absatz, und wenn sein Weib oder wer sonst ihm desgleichen wünschen, so bleibt dies gleichwohl ein persönliches Interesse. Entwendete ihm hingegen ein Dieb seinen Korb, so entstünde sogleich ein Interesse Vieler, der ganzen Stadt, des ganzen Landes, oder mit einem Worte aller, welche den Diebstahl verabscheuen: ein Interesse, wobei die Person des Bücklinghändlers gleichgültig würde, und an ihrer Statt die Kategorie des »Bestohlenen« in den Vordergrund träte. Aber auch hier könnte noch alles auf ein persönliches Interesse hinauslaufen, indem jeder Teilnehmende bedächte, dass er der Bestrafung des Diebes deshalb beitreten müsse, weil sonst das straflose Stehlen allgemein werden und auch ihn um das Seinige bringen könnte. Eine solche Berechnung lässt sich indes schwerlich bei Vielen voraussetzen, und man wird vielmehr den Ausruf hören: der Dieb sei ein »Verbrecher«. Da haben Wir ein Urteil vor Uns, indem die Handlung des Diebes ihren Ausdruck erhält in dem Begriffe »Verbrechen«. Nun stellt sich die Sache so: wenn ein Verbrechen auch weder Mir, noch irgend einem derjenigen, an welchen Ich Anteil nehme, den geringsten Schaden brächte, so würde Ich dennoch gegen dasselbe eifern. Warum? Weil Ich für die Sittlichkeit begeistert, von der Idee der Sittlichkeit erfüllt bin; was ihr feindlich ist, das verfolge Ich. Weil ihm der Diebstahl ohne alle Frage für verabscheuungswürdig gilt, darum glaubt z.B. Proudhon schon mit dem Satze: »Das Eigentum ist ein Diebstahl«, dieses gebrandmarkt zu haben. Im Sinne der Pfäffischen ist er allemal ein Verbrechen oder mindestens Vergehen.
Hier hat das persönliche Interesse ein Ende. Diese bestimmte Person, die den Korb gestohlen hat, ist meiner Person völlig gleichgültig; nur an dem Diebe, diesem Begriffe, von welchem jene Person ein Exemplar darstellt, nehme Ich ein Interesse. Der Dieb und der Mensch sind in meinem Geiste unversöhnliche Gegensätze; denn man ist nicht wahrhaft Mensch, wenn man Dieb ist; man entwürdigt in sich den Menschen, oder die »Menschheit«, wenn man stiehlt. Aus dem persönlichen Anteil herausfallend, gerät man in den Philanthropismus, die Menschenfreundlichkeit, die gewöhnlich so missverstanden wird, als sei sie eine Liebe zu den Menschen, zu jedem Einzelnen, während sie nichts als eine Liebe des Menschen, des unwirklichen Begriffs, des Spuks ist. Nicht tous anthropous, die Menschen, sondern ton anthropon, den Menschen, schliesst der Philanthrop in sein Herz. Allerdings bekümmert er sich um jeden Einzelnen, aber nur deswegen, weil er sein geliebtes Ideal überall verwirklicht sehen möchte.
Also von der Sorge um Mich, Dich, Uns ist hier keine Rede:
das wäre persönliches Interesse und gehört in das Kapitel von der »weltlichen Liebe«. Der Philanthropismus ist eine himmlische, geistige, eine – pfäffische Liebe. Der Mensch muss in Uns hergestellt werden, und gingen Wir armen Teufel darüber auch zu Grunde. Es ist derselbe pfäffische Grundsatz wie jenes berühmte fiat justitia, pereat mundus: Mensch und Gerechtigkeit sind Ideen, Gespenster, denen zu Liebe alles geopfert wird: darum sind die pfäffischen Geister die »aufopfernden«.
Wer für den Menschen schwärmt, der lässt, soweit jene Schwärmerei sich erstreckt, die Personen ausser Acht und schwimmt in einem idealen, heiligen Interesse. Der Mensch ist ja keine Person, sondern ein Ideal, ein Spuk.
Zu dem Menschen kann nun das allerverschiedenste gehören und gerechnet werden. Findet man das Haupterfordernis desselben in der Frömmigkeit, so entsteht das religiöse Pfaffentum; sieht man’s in der Sittlichkeit, so erhebt das sittliche Pfaffentum sein Haupt. Die pfäffischen Geister unserer Tage möchten deshalb aus allem eine »Religion« machen; eine »Religion der Freiheit, Religion der Gleichheit usw.«, und alle Ideen werden ihnen zu einer »heiligen Sache«, z.B. selbst das Staatsbürgertum, die Politik, die Öffentlichkeit, Pressfreiheit, Schwurgericht usw.
Was heißt nun in diesem Sinne »Uneigennützigkeit«? Nur ein ideales Interesse haben, vor welchem kein Ansehen der Person gilt!
Dem widersetzt sich der starre Kopf des weltlichen Menschen, ist aber Jahrtausende lang immer soweit wenigstens erlegen, dass er den widerspenstigen Nacken beugen und »die höhere Macht verehren« musste: das Pfaffentum drückte ihn nieder. Hatte der weltliche Egoist eine höhere Macht abgeschüttelt, z.B. das Alttestamentliche Gesetz, den römischen Papst usw., so war gleich eine siebenfach höhere wieder über ihm, z.B. der Glaube an der Stelle des Gesetzes, die Umwandlung aller Laien in Geistliche an Stelle des beschränkten Clerus usw. Es ging ihm wie dem Besessenen, in den sieben Teufel fuhren, als er von dem einen sich befreit zu haben glaubte.
In der oben angeführten Stelle wird der Bürgerklasse alle Idealität usw. abgesprochen. Sie machinierte allerdings gegen die ideale Konsequenz, mit welcher Robespierre das Prinzip ausführen wollte. Der Instinkt ihres Interesses sagte ihr, dass diese Konsequenz mit dem, wonach ihr der Sinn stände, zu wenig harmoniere, und dass es gegen sich selbst handeln hiesse, wollte sie der Prinzipiellen Begeisterung Vorschub leisten. Sollte sie etwa sich so uneigennützig benehmen, alle ihre Zwecke fahren zu lassen, um eine herbe Theorie zum Triumphe zu führen? Es sagt das freilich den Pfaffen trefflich zu, wenn die Leute ihrem Aufrufe Gehör geben: »Wirf alles von Dir und folge mir nach,« oder: »Verkaufe alles, was Du hast, und gib es den Armen, so wirst Du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach.« Einige entschiedene Idealisten gehorchen diesem Rufe; die Meisten hingegen handeln wie Ananias und Sapphira, indem sie halb pfäffisch oder religiös und halb weltlich sich betragen, Gott und dem Mammon dienen.
Ich verdenke es der Bürgerklasse nicht, dass sie sich durch Robespierre nicht um ihre Zwecke bringen lassen mochte, d.h. dass sie bei ihrem Egoismus anfragte, wie weit sie den revolutionären Idee Raum geben dürfe. Aber denen könnte man’s verdenken (wenn überhaupt ein Verdenken hier angebracht wäre), die durch die Interessen der Bürgerklasse sich um ihre eigenen bringen ließen. Indes werden sie sich nicht über kurz oder lang gleichfalls auf ihren Vorteil verstehen lernen? August Becker sagt: »Die Produzenten (Proletarier) zu gewinnen, genügt eine Negation der hergebrachten Rechtsbegriffe keineswegs. Die Leute kümmern sich leider wenig um den theoretischen Sieg der Idee. Man muss ihnen ad oculos demonstrieren, wie dieser Sieg praktisch fürs Leben benutzt werden könne.« (20) Und S. 32: »Ihr müsst die Leute bei ihren wirklichen Interessen anpacken, wenn Ihr auf sie wirken wollt.« Gleich darauf zeigt er, wie unter unsern Bauern schon eine recht artige Sittenlosigkeit um sich greift, weil sie ihr wirkliches Interesse lieber verfolgen, als die Gebote der Sittlichkeit.
Weil die revolutionären Pfaffen oder Schulmeister dem Menschen dienten, darum schnitten sie den Menschen die Hälse ab. Die revolutionären Laien oder Profanen trugen nicht etwa eine grössere Scheu vor dem Halsabschneiden, waren aber weniger um die Menschenrechte, d.h. die Rechte des Menschen besorgt, als um die ihrigen.
Wie kommt es indessen, dass der Egoismus derer, welche das persönliche Interesse behaupten und bei ihm alle Zeit anfragen, dennoch immer wieder einem pfäffischen oder schulmeisterlichen, d.h. einem idealen Interesse unterliegt? Ihre Person kommt ihnen selbst zu klein, zu unbedeutend vor, und ist es in der Tat auch, um alles in Anspruch zu nehmen und sich vollständig durchsetzen zu können. Ein sicheres Zeichen dafür liegt darin, dass sie sich selbst in zwei Personen, eine ewige und eine zeitliche, zerteilen, und jedesmal nur entweder für die eine oder für die andere sorgen, am Sonntage für die ewige, am Werkeltage für die zeitliche, im Gebet für jene, in der Arbeit für diese. Sie haben den Pfaffen in sich, darum werden sie ihn nicht los, und hören sich sonntäglich in ihrem Innern abgekanzelt.
Wie haben die Menschen gerungen und gerechnet, um diese dualistischen Wesen zu ermitteln. Idee folgte auf Idee, Prinzip auf Prinzip, System auf System, und keines wusste den Widerspruch des »weltlichen« Menschen, des sogenannten »Egoisten« auf die Dauer niederzuhalten. Beweist dies nicht, dass alle jene Ideen zu ohnmächtig waren, Meinen ganzen Willen in sich aufzunehmen und ihm genugzutun? Sie waren und blieben Mir feindlich, wenn auch die Feindschaft längere Zeit verhüllt lag. Wird es mit der Eigenheit ebenso sein? Ist auch sie nur ein Vermittlungsversuch? Zu welchem Prinzipe Ich Mich wendete, wie etwa zu dem der Vernunft, Ich musste mich immer wieder von ihm abwenden. Oder kann Ich immer vernünftig sein, in allem Mein Leben nach der Vernunft einrichten? Nach der Vernünftigkeit streben kann Ich wohl, Ich kann sie lieben, wie eben Gott und jede andere Idee auch: Ich kann Philosoph sein, ein Liebhaber der Weisheit, wie Ich Gott lieb habe. Aber was Ich liebe, wonach Ich strebe, das ist nur in Meiner Idee, Meiner Vorstellung, Meinen Gedanken: es ist in Meinem Herzen, Meinem Kopfe, es ist in Mir wie das Herz, aber es ist nicht Ich, Ich bin es nicht.
Zur Wirksamkeit pfäffischer Geister gehört besonders das, was man häufig »moralischen Einfluss« nennen hört.
Der moralische Einfluss nimmt da seinen Anfang, wo die Demütigung beginnt, ja er ist nichts anderes, als diese Demütigung selbst, die Brechung und Beugung des Mutes zur Demut herab. Wenn Ich Jemand zurufe, bei Sprengung eines Felsens aus dessen Nähe zu gehen, so übe Ich keinen moralischen Einfluss durch diese Zumutung; wenn Ich dem Kinde sage, Du wirst hungern, willst Du nicht essen, was aufgetischt wird, so ist dies kein moralischer Einfluss. Sage Ich ihm aber: Du wirst beten, die Eltern ehren, das Kruzifix respektieren, die Wahrheit reden usw., denn dies gehört zum Menschen und ist der Beruf des Menschen, oder gar, dies ist Gottes Wille, so ist der moralische Einfluss fertig: ein Mensch soll sich da beugen vor dem Beruf des Menschen, soll folgsam sein, demütig werden, soll seinen Willen aufgeben gegen einen fremden, der als Regel und Gesetz aufgestellt wird; er soll sich erniedrigen vor einem Höheren: Selbsterniedrigung. »Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöhet werden.« Ja, ja, die Kinder müssen beizeiten zur Frömmigkeit, Gottseligkeit und Ehrbarkeit angehalten werden; ein Mensch von guter Erziehung ist einer, dem »gute Grundsätze« beigebracht und eingeprägt, eingetrichtert, eingebläut und eingepredigt worden sind.
Zuckt man hierüber die Achseln, gleich ringen die Guten verzweiflungsvoll die Hände und rufen: »Aber um’s Himmels willen, wenn man den Kindern keine guten Lehren geben soll, so laufen sie ja gerades Weges der Sünde in den Rachen und werden nichtsnutzige Rangen!« Gemach, Ihr Unheilspropheten. Nichtsnutzige in Eurem Sinne werden sie allerdings werden; aber Euer Sinn ist eben ein sehr nichtsnutziger Sinn. Die frechen Buben werden sich von Euch nichts mehr einschwatzen und vorgreinen lassen und kein Mitgefühl für all die Torheiten haben, für welche Ihr seit Menschengedenken schwärmt und faselt: sie werden das Erbrecht aufheben, d.h. sie werden Eure Dummheiten nicht erben wollen, wie Ihr sie von den Vätern geerbt habt; sie vertilgen die Erbsünde. Wenn Ihr ihnen befehlt: Beuge Dich vor dem Höchsten – so werden sie antworten: Wenn er Uns beugen will, so komme er selbst und tue es; Wir wenigstens wollen Uns nicht von freien Stücken beugen. Und wenn Ihr ihnen mit seinem Zorn und seinen Strafen droht, so werden sie’s nehmen wie ein Drohen mit dem Wauwau. Glückt es Euch nicht mehr, ihnen Gespensterfurcht einzujagen, so ist die Herrschaft der Gespenster zu Ende, und die Ammenmärchen finden keinen – Glauben.
Und sind es nicht gerade wieder die Liberalen, die auf eine gute Erziehung und Verbesserung des Erziehungswesens dringen? Denn wie könnte auch ihr Liberalismus, ihre »Freiheit in den Grenzen des Gesetzes« ohne Zucht zustande kommen? Erziehen sie auch nicht gerade zur Gottesfurcht, so fordern sie doch um so strenger Menschenfurcht, d.h. Furcht vor dem Menschen, und wecken durch Zucht die »Begeisterung für den wahrhaft menschlichen Beruf«.
Eine lange Zeit verfloss, in welcher man sich mit dem Wahne begnügte, die Wahrheit zu haben, ohne dass man daran ernstlich dachte, ob man selber vielleicht wahr sein müsse, um die Wahrheit zu besitzen. Diese Zeit war das Mittelalter. Mit dem gemeinen, d h. dem dinglichen Bewusstsein, demjenigen Bewusstsein, welches nur für Dinge oder Sinnliches und Sinnfälliges Empfänglichkeit hat, gedachte man das Undingliche, Unsinnliche zu fassen. Wie man freilich auch sein Auge anstrengt, um das Entfernte zu sehen, oder seine Hand mühsam übt, bis sie Fingerfertigkeit genug erlangt hat, um die Tasten kunstgerecht zu greifen: so kasteite man sich selbst auf die mannigfachste Weise, damit man fähig würde, das Übersinnliche ganz in sich aufzunehmen. Allein, was man kasteite, war doch nur der sinnliche Mensch, das gemeine Bewusstsein, das sogenannte endliche oder gegenständliche Denken. Da dieses Denken jedoch, dieser Verstand, welchen Luther unter dem Namen der Vernunft »anpfuit«, der Auffassung des Göttlichen unfähig ist, so trug seine Kasteiung gerade so viel dazu bei, die Wahrheit zu begreifen, als wenn man die Füsse jahraus und jahrein im Tanzen übte und hoffte, sie würden auf diesem Wege endlich Flöten blasen lernen. – Erst Luther, mit welchem das sogenannte Mittelalter endet, begriff, dass der Mensch selber ein anderer werden müsse, wenn er die Wahrheit auffassen wolle, nämlich ebenso wahr, als die Wahrheit selbst. Nur wer die Wahrheit schon im Glauben hat, nur wer an sie glaubt, kann ihrer teilhaftig werden, d.h. nur der Gläubige findet sie zugänglich und ergründet die Tiefen derselben. Nur dasjenige Organ des Menschen, welches überhaupt aus den Lungen zu blasen vermag, kann auch das Flötenblasen erreichen, und nur derjenige Mensch kann der Wahrheit teilhaftig werden, der für sie das rechte Organ hat. Wer nur Sinnliches, Gegenständliches, Dingliches zu denken imstande ist, der stellt sich auch in der Wahrheit nur Dingliches vor. Die Wahrheit ist aber Geist, durchaus Unsinnliches, daher nur für das »höhere Bewusstsein«, nicht für das »irdisch gesinnte«.
Demnach geht mit Luther die Erkenntnis auf, dass die Wahrheit, weil sie Gedanke ist, nur für den denkenden Menschen sei. Und dies heißt, dass der Mensch fortan einen schlechthin anderen Standpunkt einnehmen müsse, nämlich den himmlischen, gläubigen, wissenschaftlichen, oder den Standpunkt des Denkens gegenüber seinem Gegenstande dem – Gedanken, den Standpunkt des Geistes gegenüber dem Geiste. Also: Nur der Gleiche erkennt den Gleichen! »Du gleichst dem Geist, den Du begreifst.«
Weil der Protestantismus die mittelalterliche Hierarchie knickte, konnte die Meinung Wurzel fassen, es sei die Hierarchie überhaupt durch ihn gebrochen worden, und gänzlich übersehen werden, dass er gerade eine »Reformation« war, also eine Auffrischung der veralteten Hierarchie. Jene mittelalterliche war nur eine schwächliche Hierarchie gewesen, da sie alle mögliche Barbarei des Profanen unbezwungen neben sich hergehen lassen musste, und erst die Reformation stählte die Kraft der Hierarchie. Wenn Bruno Bauer meint: »Wie die Reformation hauptsächlich die abstrakte Losreissung des religiösen Prinzips von Kunst, Staat und Wissenschaft, also die Befreiung desselben von jenen Mächten war, mit denen es sich im Altertum der Kirche und in der Hierarchie des Mittelalters verbunden hatte, so sind auch die theologischen und kirchlichen Richtungen, welche aus der Reformation hervorgingen, nur die konsequente Durchführung dieser Abstraktion des religiösen Prinzips von den andern Mächten der Menschheit« (21): so sehe Ich gerade in dem Gegenteil das Richtige und meine, die Geisterherrschaft oder Geistesfreiheit – was auf Eins hinauskommt – sei nie zuvor so umfassend und allmächtig gewesen, weil die jetzige, statt das religiöse Prinzip von Kunst, Staat und Wissenschaft loszureissen, vielmehr diese ganz aus der Wertigkeit in das »Reich des Geistes« erhob und religiös machte.
Man stellte passend Luther und Cartesius zusammen in dem »Wer glaubt, ist ein Gott« und »Ich denke, also bin Ich« (cogito, ergo sum). Der Himmel des Menschen ist das Denken, der – Geist. Alles kann ihm entrissen werden, das Denken nicht, nicht der Glaube. Bestimmter Glaube, wie Glaube an Zeus, Astarte, Jehova, Allah usw., kann zerstört werden, der Glaube selbst hingegen ist unzerstörbar. Im Denken ist Freiheit. Was Ich brauche und wonach Ich Hunger habe, das wird Mir durch keine Gnade mehr gewährt, durch die Jungfrau Maria, durch Fürsprache der Heiligen, oder durch die lösende und bindende Kirche, sondern Ich verschaffe Mir’s selber. Kurz Mein Sein (das sum) ist ein Leben im Himmel des Denkens, des Geistes, ein cogitare. Ich selber aber bin nichts anderes als Geist, als denkender (nach Cartesius), als Gläubiger (nach Luther). Mein Leib, das bin Ich nicht; Mein Fleisch mag leiden von Gelüsten oder Qualen. Ich bin nicht Mein Fleisch, sondern Ich bin Geist, nur Geist.
Dieser Gedanke durchzieht die Reformationsgeschichte bis heute.
Erst die neuere Philosophie seit Cartesius hat Ernst damit gemacht, das Christentum zu vollendeter Wirksamkeit zu bringen, indem sie das »wissenschaftliche Bewusstsein« zum allein wahren und geltenden erhob. Daher beginnt sie mit dem absoluten Zweifel, dem dubitare, mit der »Zerknirschung« des gemeinen Bewusstseins, mit der Abwendung von allem, was nicht durch den »Geist«, das »Denken« legitimiert wird. Nichts gilt ihr die Natur, nichts die Meinung der Menschen, ihre »Menschensatzungen«, und sie ruht nicht, bis sie in alles Vernunft gebracht hat und sagen kann: »das Wirkliche ist das Vernünftige und nur das Vernünftige ist das Wirkliche«. So hat sie endlich den Geist, die Vernunft zum Siege geführt, und alles ist Geist, weil alles vernünftig ist, die ganze Natur so gut als selbst die verkehrtesten Meinungen der Menschen Vernunft enthalten: denn »es muss ja alles zum Besten dienen«, d.h. zum Siege der Vernunft führen.
Das dubitare des Cartesius enthält den entschiedenen Ausspruch, dass nur das cogitare, das Denken, der Geist »sei. Ein vollkommener Bruch mit dem »gemeinen« Bewusstsein, welches den unvernünftigen Dingen Wirklichkeit zuschreibt! Nur das Vernünftige ist, nur der Geist ist! Dies ist das Prinzip der neueren Philosophie, das echt christliche. Scharf schied schon Cartesius den Körper vom Geiste, und »der Geist ist’s, der sich den Körper baut« sagt Goethe.
Aber diese Philosophie selbst, die christliche, wird doch das Vernünftige nicht los und eifert darum gegen das »bloß Subjektive«, gegen die »Einfälle, Zufälligkeiten, Willkür« usw. Sie will ja, dass das Göttliche in allem sichtbar werden soll, und alles Bewusstsein ein Wissen des Göttlichen werde und der Mensch Gott überall schaue; aber Gott ist eben nie ohne den Teufel.
Ein Philosoph ist eben darum Derjenige nicht zu nennen, welcher zwar offene Augen für die Dinge der Welt, einen klaren und unverblendeten Blick, ein richtiges Urteil über die Welt hat, aber in der Welt eben nur die Welt, in den Gegenständen nur die Gegenstände, kurz alles prosaisch, wie es ist, sieht, sondern ein Philosoph ist allein Derjenige, welcher in der Welt den Himmel, in dem Irdischen das Überirdische, in dem Weltlichen das – Göttliche sieht und nachweist oder beweist. Jener mag noch so verständig sein, es bleibt doch dabei: Was kein Verstand der Verständigen sieht, das übet in Einfalt ein kindlich Gemüt. Dies kindliche Gemüt macht erst den Philosophen, dieses Auge für das Göttliche. Jener hat nur ein »gemeines« Bewusstsein, wer aber das Göttliche weiß und zu sagen weiß, der hat ein »wissenschaftliches«. Aus diesem Grunde verwies man den Baco aus dem Reiche der Philosophen. Und weiter scheint allerdings Dasjenige, was man englische Philosophie nennt, es nicht gebracht zu haben, als zu den Entdeckungen sogenannter »offener Köpfe«, wie Bacon und Hume waren. Die Einfalt des kindlichen Gemütes wussten die Engländer nicht zu philosophischer Bedeutung zu erheben, wussten nicht aus kindlichen Gemütern – Philosophen zu machen. Dies heißt so viel als: ihre Philosophie vermochte nicht, theologisch oder Theologie zu werden, und doch kann sie nur als Theologie sich wirklich ausleben, sich vollenden. In der Theologie ist die Wahlstatt ihres Todeskampfes. Bacon bekümmerte sich nicht um die theologischen Fragen und Kardinalpunkte.
Am Leben hat das Erkennen seinen Gegenstand. Das deutsche Denken sucht mehr als das der Übrigen zu den Anfängen und Quellpunkten des Lebens zu gelangen, und sieht im Erkennen selbst erst das Leben. Cartesius’ cogito, ergo sum hat den Sinn: Man lebt nur, wenn man denkt. Denkendes Leben heißt: »geistiges Leben«! Es lebt nur der Geist, sein Leben ist das wahre Leben. Ebenso sind dann in der Natur nur die »ewigen Gesetze«, der Geist oder die Vernunft der Natur das wahre Leben derselben. Nur der Gedanke, im Menschen, wie in der Natur, lebt; alles Andere ist tot! Zu dieser Abstraktion, zum Leben der Allgemeinheiten oder des Leblosen muss es mit der Geschichte des Geistes kommen. Gott, welcher Geist ist, lebt allein. Es lebt nichts als das Gespenst.
Wie kann man von der neueren Philosophie oder Zeit behaupten wollen, sie habe es zur Freiheit gebracht, da sie Uns von der Gewalt der Gegenständlichkeit nicht befreite? Oder bin Ich etwa frei vom Despoten, wenn Ich mich zwar vor dem persönlichen Machthaber nicht fürchte, aber vor jeder Verletzung der Pietät, welche Ich ihm zu schulden wähne? Nicht anders verhält es sich mit der neueren Zeit. Sie verwandelte nur die existierenden Objekte, den wirklichen Gewalthaber usw. in vorgestellte, d.h. in Begriffe, vor denen der alte Respekt sich nicht nur nicht verlor, sondern an Intensität zunahm. Schlug man auch Gott und dem Teufel in ihrer vormaligen krassen Wirklichkeit ein Schnippchen, so widmete man nur um so grössere Aufmerksamkeit ihren Begriffen. »Den Bösen sind sie los, das Böse ist geblieben.« Den bestehenden Staat zu revoltieren, die bestehenden Gesetze umzustürzen, trug man wenig Bedenken, da man einmal entschlossen war, sich von dem Vorhandenen und Handgreiflichen nicht länger imponieren zu lassen; allein gegen den Begriff des Staates zu sündigen, dem Begriffe des Gesetzes sich nicht zu unterwerfen, wer hätte das gewagt? So blieb man »Staatsbürger« und ein »gesetzlicher«, loyaler Mensch; ja man dünkte sich nur um so gesetzlicher zu sein, je rationalistischer man das vorige mangelhafte Gesetz abschaffte, um dem »Geiste des Gesetzes« zu huldigen. In alle dem hatten nur die Objekte eine Umgestaltung erlitten, waren aber in ihrer Übermacht und Oberhoheit verblieben; kurz, man steckte noch in Gehorsam und Besessenheit, lebte in der Reflexion, und hatte einen Gegenstand, auf welchen man reflektierte, den man respektierte und vor dem man Ehrfurcht und Furcht empfand. Man hatte nichts anderes getan, als dass man die Dinge in Vorstellungen von den Dingen, in Gedanken und Begriffe verwandelte, und die Abhängigkeit um so inniger und unauflöslicher wurde. So hält es z.B. nicht schwer, von den Geboten der Eltern sich zu emanzipieren oder den Ermahnungen des Onkels und der Tante, den Bitten des Bruders und der Schwester sich zu entziehen; allein der aufgekündigte Gehorsam fährt einem leicht ins Gewissen, und je weniger man auch den einzelnen Zumutungen nachgibt, weil man sie rationalistisch aus eigener Vernunft für unvernünftig erkennt, desto gewissenhafter hält man die Pietät, die Familienliebe fest, und vergibt sich um so schwerer eine Versündigung gegen die Vorstellung, welche man von der Familienliebe und der Pietätspflicht gefasst hat. Von der Abhängigkeit gegen die existierende Familie erlöst, fällt man in die bindendere Abhängigkeit von dem Familienbegriff: man wird vom Familiengeiste beherrscht. Die aus Hans und Grete usw. bestehende Familie, deren Herrschaft machtlos geworden, ist nur verinnerlicht, indem sie als »Familie« überhaupt übrig bleibt, auf welche man eben nur anwendet den alten Spruch: Man muss Gott mehr gehorchen als dem Menschen, dessen Bedeutung hier diese ist: Ich kann zwar Euren unsinnigen Anforderungen Mich nicht fügen, aber als meine »Familie« bleibt Ihr doch der Gegenstand meiner Liebe und Sorge; denn »die Familie« ist ein heiliger Begriff, den der Einzelne nie beleidigen darf. – Und diese zu einem Gedanken, einer Vorstellung, verinnerlichte und entsinnlichte Familie gilt nun als das »Heilige«, dessen Despotie noch zehnmal ärger ist, weil sie in meinem Gewissen rumort. Diese Despotie wird nur gebrochen, wenn auch die vorgestellte Familie Mir zu einem Nichts wird. Die christlichen Sätze: »Weib, was habe Ich mit Dir zu schaffen?« (22) »Ich bin kommen, den Menschen zu erregen wider seinen Vater und die Tochter wider ihre Mutter« (23) und andere werden von der Verweisung auf die himmlische oder eigentliche Familie begleitet und bedeuten nicht mehr, als die Forderung des Staates, bei einer Kollision zwischen ihm und der Familie, seinen Geboten zu gehorchen.
Ähnlich, wie mit der Familie, verhält sich’s mit der Sittlichkeit. Von der Sitte sagt sich Mancher los, von der Vorstellung »Sittlichkeit« sehr schwer. Die Sittlichkeit ist die »Idee« der Sitte, ihre geistige Macht, ihre Macht über die Gewissen; dagegen die Sitte zu materiell ist, um den Geist zu beherrschen, und einen »geistigen« Menschen, einen sogenannten Unabhängigen, einen »Freigeist« nicht fesselt.
Der Protestant mag es anstellen, wie er will, heilig bleibt ihm doch die »heilige Schrift«, das »Wort Gottes«. Wem dies nicht mehr »heilig« ist, der hat aufgehört ein – Protestant zu sein. Hiermit bleibt ihm aber auch heilig, was in ihr »verordnet« ist, die von Gott eingerichtete Obrigkeit usw. Diese Dinge bleiben ihm unauflöslich, unnahbar, »über allem Zweifel erhaben«, und da der Zweifel, der in der Praxis ein Rütteln wird, des Menschen Eigenstes ist, so bleiben diese Dinge über ihm selbst »erhaben«. Wer nicht davon loskommen kann, der wird – glauben; denn daran glauben heißt daran gebunden sein. Dadurch, dass im Protestantismus der Glaube ein innerlicherer wurde, ist auch die Knechtschaft eine innerlichere geworden: man hat jene Heiligkeiten in sich aufgenommen, sie mit seinem ganzen Dichten und Trachten verflochten, sie zur »Gewissenssache« gemacht, sich eine »heilige Pflicht« aus ihnen bereitet. Darum ist dem Protestanten heilig das, wovon sein Gewissen nicht loskommen kann, und die Gewissenhaftigkeit bezeichnet am deutlichsten seinen Charakter.
Der Protestantismus hat den Menschen recht eigentlich zu einem »Geheimen-Polizei-Staat« gemacht. Der Spion und Laurer »Gewissen« überwacht jede Regung des Geistes, und alles Tun und Denken ist ihm eine »Gewissenssache«, d.h. Polizeisache. In dieser Zerrissenheit des Menschen in »Naturtrieb« und »Gewissen« (innerer Pöbel und innere Polizei) besteht der Protestant. Die Vernunft der Bibel (an Stelle der katholischen »Vernunft der Kirche«) gilt als heilig, und dies Gefühl und Bewusstsein, dass das Bibelwort heilig sei, heißt – Gewissen. Damit ist denn die Heiligkeit einem »ins Gewissen geschoben«. Befreit man sich nicht vom Gewissen, dem Bewusstsein des Heiligen, so kann man zwar ungewissenhaft, niemals aber gewissenlos handeln.
Der Katholik findet sich befriedigt, wenn er den Befehl vollzieht; der Protestant handelt nach »bestem Wissen und Gewissen«. Der Katholik ist ja nur Laie, der Protestant ist selbst Geistlicher. Das eben ist der Fortschritt über das Mittelalter und zugleich der Fluch der Reformationsperiode, dass das Geistliche vollständig wurde.
Was war die jesuitische Moral anders, als eine Fortsetzung des Ablasskrames, nur dass der seiner Sünden Entlastete nunmehr auch eine Einsicht in den Sündenerlass gewann und sich überzeugte, wie wirklich seine Sünde von ihm genommen werde, da es ja in diesem oder jenem bestimmten Falle (Kasuisten) gar keine Sünde sei, was er begehe. Der Ablasskram hatte alle Sünden und Vergehen zulässig gemacht und jede Gewissensregung zum Schweigen gebracht. Die ganze Sinnlichkeit durfte walten, wenn sie nur der Kirche abgekauft wurde. Diese Begünstigung der Sinnlichkeit wurde von den Jesuiten fortgesetzt, während die sittenstrengen, finstern, fanatischen, bussfertigen, zerknirschten, betenden Protestanten allerdings als die wahren Vollender des Christentums, den geistigen und geistlichen Menschen allein gelten ließen. Der Katholizismus, besonders die Jesuiten leisteten auf diese Weise dem Egoismus Vorschub, fanden innerhalb des Protestantismus selbst einen unfreiwilligen und unbewussten Anhang und retteten Uns vor dem Verkommen und Untergang der Sinnlichkeit. Gleichwohl breitet der protestantische Geist seine Herrschaft immer weiter aus, und da das Jesuitische neben ihm, dem »Göttlichen«, nur das von allem Göttlichen untrennbare »Teuflische« darstellt, so kann es nirgends sich allein behaupten, sondern muss zusehen, wie z.B. in Frankreich endlich das Philistertum des Protestantismus siegt und der Geist obenauf ist.
Dem Protestantismus pflegt das Kompliment gemacht zu werden, dass er das Weltliche wieder zu Ehren gebracht habe, z.B. die Ehe, den Staat usw. Ihm aber ist gerade das Weltliche als Weltliches, das Profane, noch viel gleichgültiger als dem Katholizismus, der die profane Welt bestehen, ja sich ihre Genüsse schmecken lässt, während der vernünftige, konsequente Protestant das Weltliche ganz und gar zu vernichten sich anschickt, und zwar einfach dadurch, dass er es heiligt. So ist die Ehe um ihre Natürlichkeit gebracht worden, indem sie heilig wurde, nicht im Sinne des katholischen Sakramentes, wo sie nur von der Kirche ihre Weihe empfängt, also im Grunde unheilig ist, sondern in dem Sinne, dass sie fortan etwas durch sich Heiliges ist, ein heiliges Verhältnis. Ebenso der Staat usw. Früher gab der Papst ihm und seinen Fürsten die Weihe und seinen Segen; jetzt ist der Staat von Haus aus heilig, die Majestät ist es, ohne des Priestersegens zu bedürfen. Überhaupt wurde die Ordnung der Natur oder das Naturrecht als »Gottesordnung« geheiligt. Daher heißt es z.B. in der Augsburgischen Konfession Art. 11: »So bleiben wir nun billig bei dem Spruch, wie die Jurisconsulti weislich und recht gesagt haben: dass Mann und Weib beieinander sei, ist natürlich Recht. Ist’s nun natürlich Recht, so ist es Gottes Ordnung, also in der Natur gepflanzt und also auch göttlich Recht.« Und ist es etwa mehr als aufgeklärter Protestantismus, wenn Feuerbach die sittlichen Verhältnisse zwar nicht als Gottes Ordnung, dafür aber um des ihnen inwohnenden Geistes willen heilig spricht? »Aber die Ehe – natürlich als freier Bund der Liebe – ist durch sich selbst, durch die Natur der Verbindung, die hier geschlossen wird, heilig. Nur die Ehe ist eine religiöse, die eine wahre ist, die dem Wesen der Ehe, der Liebe entspricht. Und so ist es mit allen sittlichen Verhältnissen. Sie sind da nur moralische, sie werden nur da mit sittlichem Sinne gepflogen, wo sie durch sich selbst als religiöse gelten. Wahrhafte Freundschaft ist nur da, wo die Grenzen der Freundschaft mit religiöser Gewissenhaftigkeit bewahrt werden, mit derselben Gewissenhaftigkeit, mit welcher der Gläubige die Dignität seines Gottes wahrt. Heilig ist und sei Dir die Freundschaft, heilig das Eigentum, heilig die Ehe, heilig das Wohl jedes Menschen, aber heilig an und für sich selbst.« (24) Das ist ein sehr wesentliches Moment. Im Katholizismus kann das Weltliche zwar geweiht werden oder geheiligt, ist aber nicht ohne diesen priesterlichen Segen heilig; dagegen im Protestantismus sind weltliche Verhältnisse durch sich selbst heilig, heilig durch ihre bloße Existenz. Mit der Weihe, durch welche Heiligkeit verliehen wird, hängt genau die jesuitische Maxime zusammen: »Der Zweck heiligt die Mittel.« Kein Mittel ist für sich heilig oder unheilig, sondern seine Beziehung zur Kirche, sein Nutzen für die Kirche, heiligt das Mittel. Königsmord wurde als ein solches angegeben; ward er zum Frommen der Kirche vollführt, so konnte er ihrer, wenn auch nicht offen ausgesprochenen Heiligung gewiss sein. Dem Protestanten gilt die Majestät für heilig, dem Katholiken könnte nur die durch den Oberpriester geweihte dafür gelten, und gilt ihm auch nur deshalb dafür, weil der Papst diese Heiligkeit ihr, wenn auch ohne besonderen Akt, ein für allemal erteilt. Zöge er seine Weihe zurück, so bliebe der König dem Katholiken nur ein »Weltmensch oder Laie«, ein »Ungeweihter«.
Sucht der Protestant im Sinnlichen selbst eine Heiligkeit zu entdecken, um dann nur an Heiligem zu hängen, so strebt der Katholik vielmehr, das Sinnliche von sich weg in ein besonderes Gebiet zu verweisen, wo es wie die übrige Natur seinen Wert für sich behält. Die katholische Kirche schied aus ihrem geweihten Stande die weltliche Ehe aus und entzog die Ihrigen der weltlichen Familie; die protestantische erklärte die Ehe und das Familienband für heilig und darum nicht unpassend für ihre Geistlichen.
Ein Jesuit darf als guter Katholik alles heiligen. Er braucht sich z.B. nur zu sagen: Ich als Priester bin der Kirche notwendig, diene ihr aber eifriger, wenn Ich meine Begierden gehörig stille; folglich will Ich dies Mädchen verführen, meinen Feind dort vergiften lassen usw.; Mein Zweck ist heilig, weil der eines Priesters, folglich heiligt er das Mittel. Es geschieht ja am letzten Ende doch zum Nutzen der Kirche. Warum sollte der katholische Priester sich scheuen, dem Kaiser Heinrich VII. die vergiftete Hostie zu reichen zum – Heil der Kirche?
Die echt – kirchlichen Protestanten eiferten gegen jedes »unschuldige Vergnügen«, weil unschuldig nur das Heilige, das Geistige sein konnte. Worin sie nicht den heiligen Geist nachweisen konnten, das mussten die Protestanten verwerfen: Tanz, Theater, Prunk (z.B. in der Kirche) u. dergl.
Gegen diesen puritanischen Calvinismus ist wieder das Luthertum mehr auf dem religiösen, d.h. geistigen Wege, ist radikaler. Jener nämlich schliesst flugs eine Menge Dinge als sinnlich und weltlich aus und purifiziert die Kirche; das Luthertum hingegen sucht wo möglich in alle Dinge Geist zu bringen, den heiligen Geist in allem als Wesen zu erkennen, und so alles Weltliche zu heiligen. (»Einen Kuss in Ehren kann niemand wehren.« Der Geist der Ehrbarkeit heiligt ihn.) Daher gelang auch dem Lutheraner Hegel (er erklärt sich an irgend einer Stelle dafür: »er wolle Lutheraner bleiben«) die vollständige Durchführung des Begriffs durch alles. In allem ist Vernunft, d.h. heiliger Geist, oder »das Wirkliche ist vernünftig«. Das Wirkliche ist nämlich in der Tat alles, da in jedem, z.B. jeder Lüge, die Wahrheit aufgedeckt werden kann: es gibt keine absolute Lüge, kein absolut Böses u. dergl.
Grosse »Geisteswerke« wurden fast nur von Protestanten geschaffen, da sie allein die wahren Jünger und Vollbringer des Geistes waren.
Wie weniges vermag der Mensch zu bezwingen! Er muss die Sonne ihre Bahn ziehen, das Meer seine Wellen treiben, die Berge zum Himmel ragen lassen. So steht er machtlos vor dem Unbezwinglichen. Kann er sich des Eindruckes erwehren, dass er gegen diese riesenhafte Welt ohnmächtig sei? Sie ist ein festes Gesetz, dem er sich unterwerfen muss, sie bestimmt sein Schicksal. Wohin arbeitete nun die vorchristliche Menschheit? Dahin, das Einstürmen der Geschicke loszuwerden, sich durch sie nicht alterieren zu lassen. Die Stoiker erreichten dies in der Apathie, indem sie die Angriffe der Natur für gleichgültig erklärten, und sich nicht dadurch affizieren ließen. Horaz spricht das berühmte nil admirari aus, wodurch er gleichfalls die Gleichgültigkeit des anderen, der Welt, bekundet: sie soll auf Uns nicht einwirken, Unser Staunen nicht erregen. Und jenes impavidum ferient ruinae drückt ebendieselbe Unerschütterlichkeit aus, wie Psalm 46, 3: »Wir fürchten Uns nicht, wenn gleich die Welt unterginge.« In alledem ist für den christlichen Satz, dass die Welt eitel sei, für die christliche Weltverachtung der Raum geöffnet.
Der unerschütterliche Geist »des Weisen«, mit welchem die alte Welt ihrem Schlusse vorarbeitete, erfuhr nun eine innere Erschütterung, gegen welche ihn keine Ataraxie, kein stoischer Mut zu schützen vermochte. Der Geist, vor allem Einflusse der Welt gesichert, gegen ihre Stösse unempfindlich und über ihre Angriffe erhaben, nichts bewundernd, durch keinen Einsturz der Welt aus seiner Fassung zu bringen, – er schäumte unaufhaltsam wieder über, weil in seinem eigenen Innern Gase (Geister) sich entwickelten und, nachdem der mechanische Stoss, der von aussen kommt, unwirksam geworden, chemische Spannungen, die im Innern erregen, ihr wunderbares Spiel zu treiben begannen.
In der Tat schliesst die alte Geschichte damit, dass Ich an der Welt mein Eigentum errungen habe. »Alle Dinge sind Mir übergeben von meinem Vater.« (Matth. 11, 27.) Sie hat aufgehört, gegen Mich übermächtig, unnahbar, heilig, göttlich usw. zu sein, sie ist »entgöttert«, und Ich behandle sie nun so sehr nach Meinem Wohlgefallen, dass, läge Mir daran, Ich alle Wunderkraft, d.h. Macht des Geistes, an ihr ausüben, Berge versetzen, Maulbeerbäumen befehlen, dass sie sich selbst ausreissen und ins Meer versetzen (Luk. 17, 6), und alles Mögliche, d.h. Denkbare könnte: »Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubet.« (25) Ich bin der Herr der Welt, Mein ist die »Herrlichkeit«. Die Welt ist prosaisch geworden, denn das Göttliche ist aus ihr verschwunden: sie ist Mein Eigentum, mit dem ich schalte und walte, wie Mir’s (nämlich dem Geiste) beliebt.
Als Ich Mich dazu erhoben hatte, der Eigner der Welt zu sein, da hatte der Egoismus seinen ersten vollständigen Sieg errungen, hatte die Welt überwunden, war weltlos geworden, und legte den Erwerb eines langen Weltalters unter Schloss und Riegel.
Das erste Eigentum, die erste »Herrlichkeit« ist erworben!
Doch der Herr der Welt ist noch nicht Herr seiner Gedanken, seiner Gefühle, seines Willens: er ist nicht Herr und Eigner des Geistes, denn der Geist ist noch heilig, der »heilige Geist«, und der »weltlose« Christ vermag nicht »gottlos« zu werden. War der antike Kampf ein Kampf gegen die Welt, so ist der mittelalterliche (christliche) ein Kampf gegen sich, den Geist, jenes gegen die Aussenwelt, dieses gegen die innerliche Welt. Der Mittelalterliche ist der »in sich gekehrte«, der Sinnende, Sinnige.
Alle Weisheit der Alten ist Weltweisheit, alle Weisheit der Neuen ist Gottesgelahrtheit.
Mit der Welt wurden die Heiden (auch Juden hierunter) fertig; aber nun kam es darauf an, auch mit sich, dem Geiste, fertig, d.h. geistlos oder gottlos zu werden.
Fast zweitausend Jahre arbeiten Wir daran, den heiligen Geist Uns zu unterwerfen, und manches Stück Heiligkeit haben Wir allgemach losgerissen und unter die Füsse getreten; aber der riesige Gegner erhebt sich immer von Neuem unter veränderter Gestalt und Namen. Der Geist ist noch nicht entgöttert, entheiligt, entweiht. Zwar flattert er längst nicht mehr als eine Taube über unsern Häuptern, zwar beglückt er nicht allein mehr seine Heiligen, sondern lässt sich auch von den Laien fangen usw., aber als Geist der Menschheit, als Menschengeist, d.h. Geist des Menschen, bleibt er Mir, Dir, immer noch ein fremder Geist, noch fern davon, Unser unbeschränktes Eigentum zu werden, mit welchem Wir schalten und walten nach Unserm Wohlgefallen. Indes eines geschah gewiss und leitete sichtlich den Hergang der nachchristlichen Geschichte: dies Eine war das Streben, den heiligen Geist menschlicher zu machen, und ihn den Menschen oder die Menschen ihm zu nähern. Dadurch kam es, dass er zuletzt als der »Geist der Menschheit« gefasst werden konnte und unter verschiedenen Ausdrücken, wie »Idee der Menschheit, Menschentum, Humanität, allgemeine Menschenliebe« usw. ansprechender, vertrauter und zugänglicher erschien.
Sollte man nicht meinen, jetzt könnte jeder den heiligen Geist besitzen, die Idee der Menschheit in sich aufnehmen, das Menschentum in sich zur Gestalt und Existenz bringen?
Nein, der Geist ist nicht seiner Heiligkeit entkleidet und seiner Unnahbarkeit beraubt, ist Uns nicht erreichbar, nicht Unser Eigentum; denn der Geist der Menschheit ist nicht Mein Geist. Mein Ideal kann er sein, und als Gedanken nenne Ich ihn Mein: der Gedanke der Menschheit ist Mein Eigentum, und ich beweise dies zur Genüge dadurch, dass
Ich ihn ganz nach Meinem Sinne aufstelle und heute so, morgen anders gestalte: Wir stellen ihn Uns auf die mannigfaltigste Weise vor. Aber er ist zugleich ein Fideikommiss, das Ich nicht veräussern noch loswerden kann.
Unter mancherlei Wandlungen wurde aus dem heiligen Geiste mit der Zeit die »absolute Idee«, welche wieder in mannigfaltigen Brechungen zu den verschiedenen Ideen der Menschenliebe, Vernünftigkeit, Bürgertugend usw. auseinander schlug.
Kann Ich die Idee aber mein Eigentum nennen, wenn sie Idee der Menschheit ist, und kann Ich den Geist für überwunden halten, wenn Ich ihm dienen, ihm »Mich opfern« soll? Das endende Altertum hatte an der Welt erst dann sein Eigentum gewonnen, als es ihre Übermacht und »Göttlichkeit« gebrochen, ihre Ohnmacht und »Eitelkeit« erkannt hatte.
Entsprechend verhält es sich mit dem Geiste. Wenn Ich ihn zu einem Spuk und seine Gewalt über Mich zu einem Sparren herabgesetzt habe, dann ist er für entweiht, entheiligt, entgöttert anzusehen, und dann gebrauche Ich ihn, wie man die Natur unbedenklich nach Gefallen gebraucht.
Die »Natur der Sache«, der »Begriff des Verhältnisses« soll Mich in Behandlung derselben oder Schliessung desselben leiten. Als ob ein Begriff der Sache für sich existierte und nicht vielmehr der Begriff wäre, welchen man sich von der Sache macht! Als ob ein Verhältnis, welches Wir eingehen, nicht durch die Einzigkeit der Eingehenden selbst einzig wäre! Als ob es davon abhinge, wie Andere es rubrizieren! Wie man aber das »Wesen des Menschen« vom wirklichen Menschen trennte und diesen nach jenem beurteilte, so trennt man auch seine Handlung von ihm und veranschlagt sie nach dem »menschlichen Werte«. Begriffe sollen überall entscheiden, Begriffe das Leben regeln, Begriffe herrschen. Das ist die religiöse Welt, welcher Hegel einen systematischen Ausdruck gab, indem er Methode in den Unsinn brachte und die Begriffssatzungen zur runden, festgegründeten Dogmatik vollendete. Nach Begriffen wird alles abgeleiert, und der wirkliche Mensch, d.h. Ich werde nach diesen Begriffsgesetzen zu leben gezwungen. Kann es eine ärgere Gesetzesherrschaft geben, und hat nicht das Christentum gleich im Beginne zugestanden, dass es die Gesetzesherrschaft des Judentums nur schärfer anziehen wolle? (»Nicht ein Buchstabe des Gesetzes soll verloren gehen!«)
Durch den Liberalismus wurden nur andere Begriffe aufs Tapet gebracht, nämlich statt der göttlichen menschliche, statt der kirchlichen staatliche, statt der gläubigen »wissenschaftliche« oder allgemeiner statt der »rohen Sätze« und Satzungen wirkliche Begriffe und ewige Gesetze.
Jetzt herrscht in der Welt nichts als der Geist. Eine unzählige Menge von Begriffen schwirren in den Köpfen umher, und was tun die Weiterstrebenden? Sie negieren diese Begriffe, um neue an deren Stelle zu bringen! Sie sagen: Ihr macht Euch einen falschen Begriff vom Rechte, vom Staate, vom Menschen, von der Freiheit, von der Wahrheit, von der Ehe usw.; der Begriff des Rechts usw. ist vielmehr derjenige, den Wir jetzt aufstellen. So schreitet die Begriffsverwirrung vorwärts.
Die Weltgeschichte ist mit Uns grausam umgegangen, und der Geist hat eine allmächtige Gewalt errungen. Du musst Meine elenden Schuhe achten, die Deinen nackten Fuss schützen könnten, mein Salz, wodurch Deine Kartoffeln geniessbar würden, und meine Prunkkarosse, deren Besitz Dir alle Not auf einmal abnähme: Du darfst nicht darnach langen. Von alledem und unzähligem Anderen soll der Mensch die Selbständigkeit anerkennen, es soll ihm für unergreifbar und unnahbar gelten, soll ihm entzogen sein. Er muss es achten, respektieren; wehe ihm, wenn er begehrend seine Finger ausstreckt: Wir nennen das »lange Finger machen«!
Wie so bettelhaft wenig ist Uns verblieben, ja wie so gar nichts! Alles ist entrückt worden, an nichts dürfen Wir Uns wagen, wenn es Uns nicht gegeben wird: Wir leben nur noch von der Gnade des Gebers. Nicht eine Nadel darfst Du aufheben, es sei denn, Du habest Dir die Erlaubnis geholt, dass Du es dürfest. Und geholt von wem? Vom Respekte! Nur wenn er sie Dir überlässt als Eigentum, nur wenn Du sie als Eigentum respektieren kannst, nur dann darfst Du sie nehmen. Und wiederum sollst Du keinen Gedanken fassen, keine Silbe sprechen, keine Handlung begehen, die ihre Gewähr allein in Dir hätten, statt sie von der Sittlichkeit oder der Vernunft oder der Menschlichkeit zu empfangen. Glückliche Unbefangenheit des begehrlichen Menschen, wie unbarmherzig hat man Dich an dem Altare der Befangenheit zu schlachten gesucht! Um den Altar aber wölbt sich eine Kirche, und ihre Mauern rücken immer weiter hinaus. Was sie einschließen, ist – heilig. Du kannst nicht mehr dazu gelangen, kannst es nicht mehr berühren. Aufschreiend in verzehrendem Hunger schweifst Du um diese Mauern herum, das wenige Profane aufzusuchen, und immer ausgedehnter werden die Kreise Deines Laufes. Bald umspannt jene Kirche die ganze Erde, und Du bist zum äussersten Rande hinausgetrieben; noch ein Schritt, und die Welt des Heiligen hat gesiegt: Du versinkst in den Abgrund. Darum ermanne Dich, dieweil es noch Zeit ist, irre nicht länger umher im abgegrasten Profanen, wage den Sprung und stürze hinein durch die Pforten in das Heiligtum selber. Wenn Du das Heilige verzehrst, hast Du’s zum Eigenen gemacht! Verdaue die Hostie und Du bist sie los!
3. Die Freien
Wenn oben die Alten und die Neuen in zwei Abteilungen vorgeführt wurden, so könnte es scheinen, als sollten hier in einer dritten Abteilung die Freien für selbständig und abgesondert ausgegeben werden. Dem ist nicht so. Die Freien sind nur die Neueren und Neuesten unter den »Neuen« und werden bloß deshalb in eine besondere Abteilung gebracht, weil sie der Gegenwart angehören, und das Gegenwärtige vor allem unsere Aufmerksamkeit hier in Anspruch nimmt. Ich gebe die »Freien« nur als eine Übersetzung der Liberalen, muss aber rücksichtlich des Freiheitsbegriffes wie überhaupt so manches Anderen, dessen vorgreifliche Heranziehung nicht vermieden werden kann, auf Späteres verweisen.
§ 1. Der politische Liberalismus
Nachdem man den Kelch des sogenannten absoluten Königtums so ziemlich bis auf den Bodensatz geleert hatte, ward man im achtzehnten Jahrhundert zu deutlich inne, dass sein Getränk nicht menschlich schmecke, um nicht auf einen andern Becher lüstern zu werden. »Menschen«, was Unsere Väter doch waren, verlangten sie endlich, auch so angesehen zu werden.
Wer in Uns etwas Anderes sieht, als Menschen, in dem wollen Wir gleichfalls nicht einen Menschen, sondern einen Unmenschen sehen, und ihm wie einem Unmenschen begegnen; wer dagegen Uns als Menschen anerkennt und gegen die Gefahr schützt, unmenschlich behandelt zu werden, den wollen Wir als Unsern wahren Beschützer und Schirmherrn ehren.
Halten Wir denn zusammen, und schützen Wir einer im andern den Menschen; dann finden Wir in Unserem Zusammenhalt den nötigen Schutz und in Uns, den Zusammenhaltenden, eine Gemeinschaft derer, die ihre Menschenwürde kennen und als »Menschen« zusammenhalten. Unser Zusammenhalt ist der Staat, Wir Zusammenhaltenden sind die Nation.
In Unserem Zusammen als Nation oder Staat sind Wir nur Menschen. Wie Wir Uns sonst als Einzelne benehmen, und welchen selbstsüchtigen Trieben Wir da erliegen mögen, das gehört lediglich Unserem Privatleben an; Unser öffentliches oder Staatsleben ist ein rein menschliches. Was Unmenschliches oder »Egoistisches« an Uns haftet, das ist zur »Privatsache« erniedrigt, und Wir scheiden genau den Staat von der »bürgerlichen Gesellschaft«, in welcher der »Egoismus« sein Wesen treibt.
Der wahre Mensch ist die Nation, der Einzelne aber stets ein Egoist. Darum streifet Eure Einzelheit oder Vereinzelung ab, in welcher die egoistische Ungleichheit und der Unfriede hauset, und weihet Euch ganz dem wahren Menschen, der Nation oder dem Staate. Dann werdet Ihr als Menschen gelten und alles haben, was des Menschen ist; der Staat, der wahre Mensch, wird Euch zu dem Seinigen berechtigen und Euch die »Menschenrechte« geben: der Mensch gibt Euch seine Rechte!
So lautet die Rede des Bürgertums.
Das Bürgertum ist nichts anderes als der Gedanke, dass der Staat alles in allem, der wahre Mensch sei, und dass des Einzelnen Menschenwert darin bestehe, ein Staatsbürger zu sein. Ein guter Bürger zu sein, darin sucht er seine höchste Ehre, darüber hinaus kennt er nichts Höheres als höchstens das antiquierte – ein guter Christ.
Das Bürgertum entwickelte sich im Kampfe gegen die privilegierten Stände, von denen es als »dritter Stand« cavalièrement behandelt und mit der »canaille« zusammengeworfen wurde. Man hatte also im Staate bis jetzt »die ungleiche Person angesehen«. Der Sohn eines Adeligen war zu Chargen ausersehen, nach denen die ausgezeichnetsten Bürgerlichen vergebens aufschauten usw. Dagegen empörte sich das bürgerliche Gefühl. Keine Auszeichnung mehr, keine Bevorzugung von Personen, kein Standesunterschied! Alle seien gleich! Kein Sonder-Interesse soll ferner verfolgt werden, sondern das allgemeine Interesse aller. Der Staat soll eine Gemeinschaft von freien und gleichen Menschen sein, und jeder sich dem »Wohle des Ganzen« widmen, in den Staat aufgehen, den Staat zu seinem Zweck und Ideal machen. Staat! Staat! so lautete der allgemeine Ruf, und fortan suchte man die »rechte Staatsverfassung«, die beste Konstitution, also den Staat in seiner besten Fassung. Der Gedanke des Staats zog in alle Herzen ein und weckte Begeisterung;
ihm zu dienen, diesem weltlichen Gotte, das ward der neue Gottesdienst und Kultus. Die eigentlich politische Epoche war angebrochen. Dem Staate oder der Nation dienen, das ward höchstes Ideal, Staatsinteresse – höchstes Interesse, Staatsdienst (wozu man keineswegs Beamter zu sein braucht) höchste Ehre.
So waren denn die Sonder-Interessen und Persönlichkeiten verscheucht und die Aufopferung für den Staat zum Schibboleth geworden. Sich muss man aufgeben und nur dem Staate leben. Man muss »uninteressiert« handeln, muss nicht sich nützen wollen, sondern dem Staate. Dieser ist dadurch zur eigentlichen Person geworden, vor welcher die einzelne Persönlichkeit verschwindet: nicht Ich lebe, sondern Er lebet in Mir. Darum war man gegen die frühere Selbstsucht gehalten, die Uneigennützigkeit und Unpersönlichkeit selber. Vor diesem Gotte, – Staat », verschwand jeder Egoismus, und vor ihm waren alle gleich: sie waren ohne allen andern Unterschied – Menschen, nichts als Menschen.
An dem entzündlichen Stoffe des Eigentums entbrannte die Revolution. Die Regierung brauchte Geld. Jetzt musste sie den Satz, dass sie absolut, mithin Herrin alles Eigentums, alleinige Eigentümerin sei, bewähren; sie musste ihr Geld, welches sich nur im Besitz, nicht im Eigentum der Untertanen befand, an sich nehmen. Statt dessen beruft sie Generalstände, um sich dies Geld bewilligen zu lassen. Die Furcht vor der letzten Konsequenz zerstörte die Illusion einer absoluten Regierung; wer sich etwas »bewilligen« lassen muss, der kann nicht für absolut angesehen werden. Die Untertanen erkannten, dass sie wirkliche Eigentümer seien, und dass es ihr Geld sei, welches man fordere. Die bisherigen Untertanen erlangten das Bewusstsein, dass sie Eigentümer seien. Mit wenig Worten schildert dies Bailly: »Wenn ihr nicht ohne rneine Einstimmung über mein Eigentum verfügen könnt, wieviel weniger könnt ihr es über meine Person, über alles, was meine geistige und gesellschaftliche Stellung angeht! Alles das ist mein Eigentum, wie das Stück Land, das ich beackere: und ich habe ein Recht, ein Interesse, die Gesetze selber zu machen.« (26) Baillys Worte klingen freilich so, als wäre nun jeder ein Eigentümer. Indes statt der Regierung, statt des Fürsten, ward jetzt Eigentümerin und Herrin – die Nation. Von nun an heißt das Ideal – »Volksfreiheit – ein freies Volk« usw.
Schon am 8. Juli 1789 zerstörte die Erklärung des Bischofs von Autun und Barrères den Schein, als sei jeder, der Einzelne, von Bedeutung in der Gesetzgebung: sie zeigte die völlige Machtlosigkeit der Kommittenten: die Majorität der Repräsentanten ist Herrin geworden. (27) Als am 9. Juli der Plan über Einteilung der Verfassungsarbeiten vorgetragen wird, bemerkt Mirabeau: »Die Regierung habe nur Gewalt, kein Recht; nur im Volke sei die Quelle alles Rechts zu finden.« (28) Am 16. Juli ruft ebenderselbe Mirabeau aus: »Ist nicht das Volk die Quelle aller Gewalt?« (29) Also die Quelle alles Rechts und die Quelle aller – Gewalt! Beiläufig gesagt, kommt hier der Inhalt des »Rechts« zum Vorschein: es ist die – Gewalt. »Wer die Gewalt hat, der hat das Recht.«
Das Bürgertum ist der Erbe der privilegierten Stände. In der Tat gingen nur die Rechte der Barone, die als »Usurpationen« ihnen abgenommen wurden, auf das Bürgertum über. Denn das Bürgertum hiess nun die »Nation«. »In die Hände der Nation« wurden alle Vorrechte zurückgegeben. Dadurch hörten sie auf, »Vorrechte« zu sein: sie wurden »Rechte«. Die Nation fordert von nun an Zehnten, Frondienste, sie hat das Herrengericht geerbt, die Jagdgerechtigkeit, die – Leibeigenen. Die Nacht vom 4. August war die Todesnacht der Privilegien oder »Vorrechte« (auch Städte, Gemeinden, Magistrate waren privilegiert, mit Vorrechten und Herrenrechten versehen), und endete mit dem neuen Morgen des »Rechtes«, der »Staatsrechte«, der »Rechte der Nation«. (30) Der Monarch in der Person des »königlichen Herren« war ein armseliger Monarch gewesen gegen diesen neuen Monarchen, die »souveräne Nation«. Diese Monarchie war tausendfach schärfer, strenger und konsequenter. Gegen den neuen Monarchen gab es gar kein Recht, kein Privilegium mehr; wie beschränkt nimmt sich dagegen der »absolute König« des ancien régime aus! Die Revolution bewirkte die Umwandlung der beschränkten Monarchie in die absolute Monarchie. Von nun an ist jedes Recht, welches nicht von diesem Monarchen verliehen wird, eine »Anmassung«, jedes Vorrecht aber, welches Er erteilt, ein »Recht«. Die Zeit verlangte nach dem absoluten Königtum, der absoluten Monarchie, darum fiel jenes sogenannte absolute Königtum, welches so wenig absolut zu werden verstanden hatte, dass es durch tausend kleine Herren beschränkt blieb.
Was Jahrtausende ersehnt und erstrebt wurde, nämlich jenen absoluten Herrn zu finden, neben dem keine anderen Herren und Herrchen mehr machtverkürzend beständen, das hat die Bourgeoisie hervorgebracht. Sie hat den Herrn offenbart, welcher allein »Rechtstitel« verleiht, und ohne dessen Gewährung nichts berechtigt ist. »So wissen wir nun, dass ein Götze nichts in der Welt sei, und dass kein ander Gott sei ohne der einige.« (31) Gegen das Recht kann man nicht mehr, wie gegen ein Recht, mit der Behauptung auftreten, es sei »ein Unrecht«. Man kann nur noch sagen, es sei Unsinn, eine Illusion. Nennete man’s Unrecht, so müsste man ein anderes Recht dagegenstellen und an diesem es messen. Verwirft man hingegen das Recht als solches, das Recht an und für sich, ganz und gar, so verwirft man auch den Begriff des Unrechts, und löst den ganzen Rechtsbegriff (wozu der Unrechtsbegriff gehört) auf.
Was heißt das, Wir genießen alle »Gleichheit der politischen Rechte?« Nur dies, dass der Staat keine Rücksicht auf Meine Person nehme, dass Ich ihm, wie jeder Andere, nur ein Mensch bin, ohne eine andere ihm imponierende Bedeutung zu haben. Ich imponiere ihm nicht als Adliger, Sohn eines Edelmannes, oder gar als Erbe eines Beamten, dessen Amt Mir erblich zugehört (wie im Mittelalter die Grafschaften usw. und später unter dem absoluten Königtum, wo erbliche Ämter vorkommen). Nun hat der Staat eine unzählige Menge von Rechten zu vergeben, z.B. das Recht, ein Bataillon, eine Kompagnie usw. zu führen, das Recht, an einer Universität zu lesen usw.; er hat sie zu vergeben, weil sie die seinigen, d.h. Staatsrechte oder »politische« Rechte sind. Dabei ist’s ihm gleich, an wen er sie erteilt, wenn der Empfänger nur die Pflichten erfüllt, welche aus den überlassenen Rechten entspringen. Wir sind ihm alle recht und – gleich, einer nicht mehr und nicht weniger wert, als der Andere. Wer den Armeebefehl empfängt, das gilt Mir gleich, spricht der souveräne Staat, vorausgesetzt, dass der Belehnte die Sache gehörig versteht. »Gleichheit der politischen Rechte« hat sonach den Sinn, dass jeder jedes Recht, welches der Staat zu vergeben hat, erwerben darf, wenn er nur die daran geknüpften Bedingungen erfüllt, Bedingungen, welche nur in der Natur des jedesmaligen Rechtes, nicht in einer Vorliebe für die Person (persona grata) gesucht werden sollen: die Natur des Rechtes, Offizier zu werden, bringt es z.B. mit sich, dass man gesunde Glieder und ein angemessenes Mass von Kenntnissen besitze, aber sie hat nicht adlige Geburt zur Bedingung; könnte hingegen selbst der verdienteste Bürgerliche jene Charge nicht erreichen, so fände eine Ungleichheit der politischen Rechte statt. Unter den heutigen Staaten hat der eine mehr, der andere weniger jenen Gleichheitsgrundsatz durchgeführt.
Die Ständemonarchie (so will Ich das absolute Königtum, die Zeit der Könige vor der Revolution, nennen) erhielt den Einzelnen in Abhängigkeit von lauter kleinen Monarchien. Dies waren Genossenschaften (Gesellschaften), wie die Zünfte, der Adelstand, Priesterstand, Bürgerstand, Städte, Gemeinden usw. Überall musste der Einzelne sich zuerst als ein Glied dieser kleinen Gesellschaft ansehen und dem Geiste derselben, dem esprit de corps, als seinem Monarchen unbedingten Gehorsam leisten. Mehr als der einzelne Adlige z.B. sich selbst, muss ihm seine Familie, die Ehre seines Stammes, gelten. Nur mittelst seiner Korporation, seines Standes, bezog sich der Einzelne auf die grössere Korporation, den Staat; wie im Katholizismus der Einzelne erst durch den Priester sich mit Gott vermittelt. Dem machte nun der dritte Stand, indem er den Mut bewies, sich als Stand zu negieren, ein Ende. Er entschloss sich, nicht mehr ein Stand neben andern Ständen zu sein und zu heißen, sondern zur »Nation« sich zu verklären und verallgemeinern. Dadurch erschuf er eine viel vollkommnere und absolutere Monarchie, und das ganze vorher herrschende Prinzip der Stände, das Prinzip der kleinen Monarchien innerhalb der großen, ging zu Grunde. Man kann aber nicht sagen, die Revolution habe den beiden ersten privilegierten Ständen gegolten, sondern sie galt den kleinen ständischen Monarchien überhaupt. Waren aber die Stände und ihre Zwingherrschaft gebrochen (auch der König war ja nur ein Ständekönig, kein Bürgerkönig), so blieben die aus der Standesungleichheit befreiten Individuen übrig. Sollten sie nun wirklich ohne Stand und aus »Rand und Band« sein, durch keinen Stand (status) mehr gebunden ohne allgemeines Band? Nein, es hatte ja nur deshalb der dritte Stand sich zur Nation erklärt, um nicht ein Stand neben andern Ständen zu bleiben, sondern der einzige Stand zu werden. Dieser einzige Stand ist die Nation, der »Staat« (status). Was war nun aus dem Einzelnen geworden? Ein politischer Protestant, denn er war mit seinem Gotte, dem Staate, in unmittelbaren Konnex getreten. Er war nicht mehr als Adliger in der Noblessenmonarchie, als Handwerker in der Zunftmonarchie, sondern Er wie alle erkannten und bekannten nur – einen Herrn, den Staat, als dessen Diener sie sämtlich den gleichen Ehrentitel »Bürger« erhielten.
Die Bourgeoisie ist der Adel des Verdienstes, »dem Verdienste seine Kronen« – ihr Wahlspruch. Sie kämpfte gegen den »faulen« Adel, denn nach ihr, dem fleissigen, durch Fleiss und Verdienst erworbenen Adel, ist nicht der »Geborene« frei, aber auch nicht Ich bin frei, sondern der »Verdienstvolle«, der redliche Diener (seines Königs; des Staates; des Volkes in den konstitutionellen Staaten). Durch Dienen erwirbt man Freiheit, d.h. erwirbt sich »Verdienste« und diente man auch dem – Mammon. Verdient machen muss man sich um den Staat, d.h. um das Prinzip des Staates, um den sittlichen Geist desselben. Wer diesem Geiste des Staates dient, der ist, er lebe, welchem rechtlichen Erwerbszweige er wolle, ein guter Bürger. In ihren Augen treiben die »Neuerer« eine »brotlose Kunst«. Nur der »Krämer« ist »praktisch«, und Krämergeist ist so gut der, der nach Beamtenstellen jagt, als der, welcher im Handel sein Schäfchen zu scheren oder sonstwie sich und anderen nützlich zu werden sucht.
Gelten aber die Verdienstvollen als die Freien (denn was fehlt dem behaglichen Bürger, dem treuen Beamten an derjenigen Freiheit, nach der sein Herz verlangt?), so sind die »Diener« die – Freien. Der gehorsame Diener ist der freie Mensch! Welch eine Härte der Widersinnigkeit! Dennoch ist dies der Sinn der Bourgeoisie, und ihr Dichter Goethe, wie ihr Philosoph Hegel haben die Abhängigkeit des Subjekts vom Objekt, den Gehorsam gegen die Objektive Welt usw. zu verherrlichen gewusst. Wer nur der Sache dient, »sich ihr ganz hingibt«, der hat die wahre Freiheit. Und die Sache war bei den Denkenden die – Vernunft, sie, die gleich Staat und Kirche – allgemeine Gesetze gibt und durch den Gedanken der Menschheit den einzelnen Menschen in Bande schlägt. Sie bestimmt, was »wahr« sei, wonach man sich dann zu richten hat. Keine »vernünftigeren« Leute als die redlichen Diener, die zunächst als Diener des Staates gute Bürger genannt werden.
Sei Du steinreich oder blutarm – das überlässt der Staat des Bürgertums Deinem Belieben; habe aber nur eine »gute Gesinnung«. Sie verlangt er von Dir und hält es für seine dringendste Aufgabe, dieselbe bei allen herzustellen. Darum wird er vor »bösen Einflüsterungen« Dich bewahren, indem er die »Übelgesinnten« im Zaume hält und ihre aufregenden Reden unter Zensurstrichen oder Pressstrafen und hinter Kerkermauern verstummen lässt, und wird anderseits Leute von »guter Gesinnung« zu Zensoren bestellen und auf alle Weise von »Wohlgesinnten und Wohlmeinenden« einen moralischen Einfluss auf Dich ausüben lassen. Hat er Dich gegen die bösen Einflüsterungen taub gemacht, so öffnet er Dir um so emsiger die Ohren wieder für die guten Einflüsterungen.
Mit der Zeit der Bourgeoisie beginnt die des Liberalismus. Man will überall das »Vernünftige«, das »Zeitgemässe« usw. hergestellt sehen. Folgende Definition des Liberalismus, die ihm zu Ehren gesagt sein soll, bezeichnet ihn vollständig: »Der Liberalismus ist nichts anders, als die Vernunfterkenntnis angewandt auf unsere bestehenden Verhältnisse.« (32) Sein Ziel ist eine »vernünftige Ordnung«, ein »sittliches Verhalten«, eine »beschränkte Freiheit«, nicht die Anarchie, die Gesetzlosigkeit, die Eigenheit. Herrscht aber die Vernunft, so unterliegt die Person. Die Kunst hat längst das Hässliche nicht nur gelten lassen, sondern als zu ihrem Bestehen notwendig erachtet und in sich aufgenommen: sie braucht den Bösewicht usw. Auch im religiösen Gebiete gehen die extremsten Liberalen so weit, dass sie den religiösesten Menschen für einen Staatsbürger angesehen wissen wollen, d.h. den religiösen Bösewicht; sie wollen nichts mehr von Ketzergerichten wissen. Aber gegen das »vernünftige Gesetz« soll sich Keiner empören, sonst droht ihm die härteste – Strafe. Man will nicht eine freie Bewegung und Geltung der Person oder Meiner, sondern der Vernunft, d.h. eine Vernunftherrschaft, eine Herrschaft. Die Liberalen sind Eiferer, nicht gerade für den Glauben, für Gott usw., wohl aber für die Vernunft, ihre Herrin. Sie vertragen keine Ungezogenheit und darum keine Selbstentwicklung und Selbstbestimmung: sie bevormunden trotz den absolutesten Herrschern.
»Politische Freiheit«, was soll man sich darunter denken? Etwa die Freiheit des Einzelnen vom Staate und seinen Gesetzen? Nein, im Gegenteil die Gebundenheit des Einzelnen im Staate und an die Staatsgesetze. Warum aber »Freiheit«? Weil man nicht mehr vom Staate durch Mittelspersonen getrennt wird, sondern in direkter und unmittelbarer Beziehung zu ihm steht, weil man – Staatsbürger ist, nicht Untertan eines anderen, selbst nicht des Königs als einer Person, sondern nur in seiner Eigenschaft als »Staatsoberhaupt«. Die politische Freiheit, diese Grundlehre des Liberalismus, ist nichts als eine zweite Phase des – Protestantismus und läuft mit der »religiösen Freiheit« ganz parallel. (33) Oder wäre etwa unter letzterer eine Freiheit von der Religion zu verstehen? Nichts weniger als das. Nur die Freiheit von Mittelspersonen soll damit ausgesprochen werden, die Freiheit von vermittelnden Priestern, die Aufhebung der »Laienschaft«, also das direkte und unmittelbare Verhältnis zur Religion oder zu Gott. Nur unter der Voraussetzung, dass man Religion habe, kann man Religionsfreiheit genießen, Religionsfreiheit heißt nicht Religionslosigkeit, sondern Glaubensinnigkeit, unvermittelter Verkehr mit Gott. Wer »religiös frei« ist, dem ist die Religion eine Herzens-Sache, ist ihm seine eigene Sache, ist ihm ein »heiliger Ernst«. So auch ist’s dem »politisch Freien« ein heiliger Ernst mit dem Staate, er ist seine Herzenssache, seine Hauptsache, seine eigene Sache.
Politische Freiheit sagt dies, dass die Polis, der Staat, frei ist, Religionsfreiheit dies, dass die Religion frei ist, wie Gewissensfreiheit dies bedeutet, dass das Gewissen frei ist; also nicht, dass Ich vom Staate, von der Religion, vom Gewissen frei, oder dass Ich sie los bin. Sie bedeutet nicht Meine Freiheit, sondern die Freiheit einer Mich beherrschenden und bezwingenden Macht; sie bedeutet, dass einer Meiner Zwingherrn, wie Staat, Religion, Gewissen frei sind. Staat, Religion, Gewissen, diese Zwingherrn, machen Mich zum Sklaven, und ihre Freiheit ist Meine Sklaverei. Dass sie dabei notwendig dem Grundsatze »der Zweck heiligt die Mittel« folgen, versteht sich von selbst. Ist das Staatswohl Zweck, so ist der Krieg ein geheiligtes Mittel; ist die Gerechtigkeit Staatszweck, so ist der Totschlag ein geheiligtes Mittel und heißt mit seinem heiligen Namen: »Hinrichtung« usw.; der heilige Staat heiligt alles, was ihm frommt.
Die »individuelle Freiheit«, über welche der bürgerliche Liberalismus eifersüchtig wacht, bedeutet keineswegs eine vollkommen freie Selbstbestimmung, wodurch die Handlungen ganz die Meinigen werden, sondern nur Unabhängigkeit von Personen. Individuell frei ist, wer keinem Menschen verantwortlich ist. In diesem Sinne gefasst – und man darf sie nicht anders verstehen – ist nicht bloß der Herrscher individuell frei d. i. unverantwortlich gegen Menschen (»vor Gott« bekennt er sich ja verantwortlich), sondern alle, welche »nur dem Gesetze verantwortlich sind«. Diese Art der Freiheit wurde durch die revolutionäre Bewegung des Jahrhunderts errungen, die Unabhängigkeit nämlich vom Belieben, vom tel est notre plaisir. Daher musste der konstitutionelle Fürst selbst aller Persönlichkeit entkleidet, alles individuellen Beschließens beraubt werden, um nicht als Person, als individueller Mensch, die »individuelle Freiheit« Anderer zu verletzen. Der persönliche Herrscherwille ist im konstitutionellen Fürsten verschwunden; mit richtigem Gefühl wehren sich daher die absoluten dagegen. Gleichwohl wollen gerade diese im besten Sinne »christliche Fürsten«
sein. Dazu müssten sie aber eine rein geistige Macht werden, da der Christ nur dem Geiste untertan ist (»Gott ist Geist«). Konsequent stellt die rein geistige Macht nur der konstitutionelle Fürst dar, er, der ohne alle persönliche Bedeutung in dem Grade vergeistigt dasteht, dass er für einen vollkommenen unheimlichen »Geist« gelten kann, für eine Idee. Der konstitutionelle König ist der wahrhaft christliche König, die echte Konsequenz des christlichen Prinzips. In der konstitutionellen Monarchie hat die individuelle Herrschaft, d.h. ein wirklich wollender Herrscher, sein Ende gefunden; darum waltet hier die individuelle Freiheit, Unabhängigkeit von jedem individuellen Gebieter, von jedem, der Mir mit einem tel est notre plaisir gebieten könnte. Sie ist das vollendete christliche Staatsleben, ein vergeistigtes Leben.
Das Bürgertum benimmt sich durch und durch liberal. Jeder persönliche Eingriff in die Sphäre des anderen empört den bürgerlichen Sinn: sieht der Bürger, dass man von der Laune, dem Belieben, dem Willen eines Menschen als Einzelnen (d.h. als nicht durch eine »höhere Macht« Autorisierten) abhängig ist, gleich kehrt er seinen Liberalismus heraus und schreit über »Willkür«. Genug, der Bürger behauptet seine Freiheit von dem, was man Befehl (ordonnance) nennt: »Mir hat niemand etwas zu – befehlen!« Befehl hat den Sinn, dass das, was Ich soll, der Wille eines andern Menschen ist, wogegen Gesetz nicht eine persönliche Gewalt des anderen ausdrückt. Die Freiheit des Bürgertums ist die Freiheit oder Unabhängigkeit vom Willen einer andern Person, die sogenannte persönliche oder individuelle Freiheit; denn persönlich frei sein heißt nur so frei sein, dass keine andere Person über die Meinige verfügen kann, oder dass was Ich darf oder nicht darf, nicht von der persönlichen Bestimmung eines anderen abhängt. Die Pressfreiheit unter andern ist eine solche Freiheit des Liberalismus, der nur den Zwang der Zensur als den der persönlichen Willkür bekämpft, sonst aber jene durch »Pressgesetze« zu tyrannisieren äusserst geneigt und willig sich zeigt, d.h. die bürgerlichen Liberale wollen Schreibefreiheit für sich; denn da sie gesetzlich sind, werden sie durch ihre Schriften nicht dem Gesetze verfallen. Nur Liberales d.h. nur Gesetzliches soll gedruckt werden dürfen; sonst drohen die »Pressgesetze« mit »Pressstrafen«. Sieht man die persönliche Freiheit gesichert, so merkt man gar nicht, wie, wenn es nun zu etwas Weiterem kommt, die grellste Unfreiheit herrschend wird. Denn den Befehl ist man zwar los, und »Niemand hat Uns was zu befehlen«, aber um so unterwürfiger ist man dafür geworden dem – Gesetze. Man wird nun in aller Form Rechtens geknechtet. Im Bürger-Staate gibt es nur »freie Leute«, die zu Tausenderlei (z.B. zu Ehrerbietung, zu einem Glaubensbekenntnis u. dergl.) gezwungen werden. Was tut das aber? Es zwingt sie ja nur der – Staat, das Gesetz, nicht irgend ein Mensch!
Was will das Bürgertum damit, dass es gegen jeden persönlichen, d.h. nicht in der »Sache«, der »Vernunft« usw. begründeten Befehl eifert? Es kämpft eben nur im Interesse der »Sache« gegen die Herrschaft der »Personen«! Sache des Geistes ist aber das Vernünftige, Gute, Gesetzliche usw.; das ist die »gute Sache«. Das Bürgertum will einen unpersönlichen Herrscher.
Ist ferner das Prinzip dies, dass nur die Sache den Menschen beherrschen soll, nämlich die Sache der Sittlichkeit, die Sache der Gesetzlichkeit usw., so darf auch keinerlei persönliche Verkürzung des einen durch den anderen autorisiert werden (wie früher z.B. der Bürgerliche um die Adelsämter verkürzt wurde, der Adlige um bürgerliches Handwerk usw.), d.h. es muss freie Konkurrenz stattfinden. Nur durch die Sache kann einer den anderen verkürzen (der Reiche z.B. den Unbemittelten durch das Geld, eine Sache), als Person nicht. Es gilt fortan nur eine Herrschaft, die Herrschaft des Staats; persönlich ist keiner mehr ein Herr des anderen. Schon bei der Geburt gehören die Kinder dem Staate und den Eltern nur im Namen des Staates, der z.B. den Kindermord nicht duldet, die Taufe derselben fordert usw.
Aber dem Staate gelten auch alle seine Kinder ganz gleich (»bürgerliche oder politische Gleichheit«), und sie mögen selbst zusehen, wie sie miteinander fertig werden: sie mögen konkurrieren.
Freie Konkurrenz bedeutet nichts Anderes, als dass jeder gegen den anderen auftreten, sich geltend machen, kämpfen kann. Dagegen sperrte sich natürlich die feudale Partei, da ihre Existenz vom Nichtkonkurrieren abhängt. Die Kämpfe in der Restaurationszeit Frankreichs hatten keinen andern Inhalt als den, dass die Bourgeoisie nach freier Konkurrenz rang und die Feudalen die Zünftigkeit zurückzubringen suchten.
Nun, die freie Konkurrenz hat gesiegt und musste gegen die Zünftigkeit siegen. (Das Weitere siehe unten.)
Verlief sich die Revolution in eine Reaktion, so kam dadurch nur zu Tage, was die Revolution eigentlich war. Denn jedes Streben gelangt dann in die Reaktion, wenn es zur Besinnung kommt, und stürmt nur so lange in die ursprüngliche Aktion vorwärts, als es ein Rausch, eine »Unbesonnenheit« ist. »Besonnenheit« wird stets das Stichwort der Reaktion sein, weil die Besonnenheit Grenzen setzt, und das eigentliche Gewollte, d.h. das Prinzip, von der anfänglichen »Zügellosigkeit« und »Schrankenlosigkeit« befreit. Wilde Bursche, renommierende Studenten, die alle Rücksichten aus den Augen setzen, sind eigentlich Philister, da bei ihnen wie bei diesen die Rücksichten den Inhalt ihres Treibens bilden, nur dass sie als Bramarbasse sich gegen die Rücksichten auflehnen und negativ verhalten, als Philister später sich ihnen ergeben und positiv dazu verhalten. Um die »Rücksichten« dreht sich in beiden Fällen ihr gesamtes Tun und Denken, aber der Philister ist gegen den Burschen reaktionär, ist der zur Besinnung gekommene wilde Geselle, wie dieser der unbesonnene Philister ist. Die alltägliche Erfahrung bestätigt die Wahrheit dieses Umschlagens und zeigt, wie die Renommisten zu Philistern ergrauen.
So beweist auch die sogenannte Reaktion in Deutschland, wie sie nur die besonnene Fortsetzung des kriegerischen Freiheitsjubels war.
Die Revolution war nicht gegen das Bestehende gerichtet, sondern gegen dieses Bestehende, gegen einen bestimmten Bestand. Sie schaffte diesen Herrscher ab, nicht den Herrscher, im Gegenteil wurden die Franzosen aufs unerbittlichste beherrscht; sie tötete die alten Lasterhaften, wollte aber den Tugendhaften ein sicheres Bestehen gewähren, d.h. sie setzte an die Stelle des Lasters nur die Tugend (Laster und Tugend unterscheiden sich ihrerseits wieder nur, wie ein wilder Bursche von einem Philister) usw.
Bis auf den heutigen Tag ist das Revolutionsprinzip dabei geblieben, nur gegen dieses und jenes Bestehende anzukämpfen, d.h. reformatorisch zu sein. So viel auch verbessert, so stark auch der »besonnene Fortschritt« eingehalten werden mag: immer wird nur ein neuer Herr an die Stelle des alten gesetzt, und der Umsturz ist ein – Aufbau. Es bleibt bei dem Unterschiede des jungen von dem alten Philister. Spiessbürgerlich begann die Revolution mit der Erhebung des dritten Standes, des Mittelstandes, spiessbürgerlich versiegt sie. Nicht der einzelne Mensch – und dieser allein ist der Mensch – wurde frei, sondern der Bürger, der citoyen, der politische Mensch, der eben deshalb nicht der Mensch, sondern ein Exemplar der Menschengattung, und spezieller ein Exemplar der Bürgergattung, ein freier Bürger ist.
In der Revolution handelte nicht der Einzelne weltgeschichtlich, sondern ein Volk: die Nation, die souveräne, wollte alles bewirken. Ein eingebildetes Ich, eine Idee, wie die Nation ist, tritt handelnd auf, d.h. die Einzelnen geben sich zu Werkzeugen dieser Idee her und handeln als »Bürger«.
Seine Macht und zugleich seine Schranken hat das Bürgertum im Staatsgrundgesetze, in einer Charte, in einem rechtlichen oder »gerechten« Fürsten, der selbst nach »vernünftigen Gesetzen« sich richtet und herrscht, kurz in der Gesetzlichkeit. Die Periode der Bourgeoisie wird von dem britischen Geiste der Gesetzlichkeit beherrscht. Eine Versammlung von Landständen ruft sich z.B. stets ins Gedächtnis, dass ihre Befugnisse nur so und so weit gehen, und dass sie überhaupt nur aus Gnaden berufen sei und aus Ungnade wieder verworfen werden könne. Sie erinnert sich stets selbst an ihren – Beruf. Es ist zwar nicht zu leugnen, dass Mich mein Vater erzeugt hat; aber nun Ich einmal erzeugt bin, gehen Mich doch wohl seine Erzeugungs-Absichten gar nichts an, und wozu er Mich auch immer berufen haben mag, Ich tue, was Ich selber will. Darum erkannte auch eine berufene Ständeversammlung, die französische im Anfange der Revolution, ganz richtig, dass sie vom Berufer unabhängig sei. Sie existierte und wäre dumm gewesen, wenn sie das Recht der Existenz nicht geltend machte, sondern sich, wie vom Vater, abhängig wähnte. Der Berufene hat nicht mehr zu fragen: was wollte der Berufer, als er Mich schuf? – sondern: was will Ich, nachdem Ich einmal dem Rufe gefolgt bin? Nicht der Berufer, nicht die Kommittenten, nicht die Charte, nach welcher ihr Zusammentritt hervorgerufen wurde, nichts wird für ihn eine heilige, unantastbare Macht sein. Er ist zu allem befugt, was in seiner Macht steht; er wird keine beschränkende »Befugnis« kennen, wird nicht loyal sein wollen. Dies gäbe, wenn man von Kammern überhaupt so etwas erwarten könnte, eine vollkommen egoistische Kammer, abgelöst von aller Nabelschnur und rücksichtslos. Aber Kammern sind stets devot, und darum kann es nicht befremden, wenn so viel halber oder unentschiedener, d.h. heuchlerischer »Egoismus« sich in ihnen breit macht.
Die Ständemitglieder sollen in den Schranken bleiben, welche ihnen durch die Charte, durch den Königswillen u. dergl. vorgezeichnet sind. Wollen oder können sie das nicht, so sollen sie »austreten«. Welcher Pflichtgetreue könnte anders handeln, könnte sich, seine Überzeugung und seinen Willen als das Erste setzen, wer könnte so unsittlich sein, sich geltend machen zu wollen, wenn darüber auch die Körperschaft und alles zu Grunde ginge? Man hält sich sorglich innerhalb der Grenzen seiner Befugnis; in den Grenzen seiner Macht muss man ja ohnehin bleiben, weil keiner mehr kann als er kann. »Die Macht oder respektive Ohnmacht Meiner wäre meine alleinige Grenze, Befugnisse aber nur bindende – Satzungen? Zu dieser alles umstürzenden Ansicht sollte Ich Mich bekennen? Nein, Ich bin ein – gesetzlicher Bürger!«
Das Bürgertum bekennt sich zu einer Moral, welche aufs engste mit seinem Wesen zusammenhängt. Ihre erste Forderung geht darauf hin, dass man ein solides Geschäft, ein ehrliches Gewerbe betreibe, einen moralischen Wandel führe. Unsittlich ist ihr der Industrieritter, die Buhlerin, der Dieb, Räuber und Mörder, der Spieler, der vermögenlose Mann ohne Anstellung, der Leichtsinnige. Die Stimmung gegen diese »Unmoralischen« bezeichnet der wackere Bürger als seine »tiefste Entrüstung«. Es fehlt diesen allen die Ansässigkeit, das Solide des Geschäfts, ein solides, ehrsames Leben, das feste Einkommen usw., kurz, sie gehören, weil ihre Existenz nicht auf einer sicheren Basis ruht, zu den gefährlichen »Einzelnen oder Vereinzelten«, zum gefährlichen Proletariat: sie sind »einzelne Schreier«, die keine »Garantien« bieten und »nichts zu verlieren«, also nichts zu riskieren haben. Schliessung eines Familienbandes z.B. bindet den Menschen, der Gebundene gewährt eine Bürgschaft, ist fassbar; dagegen das Freudenmädchen nicht. Der Spieler setzt alles aufs Spiel, ruiniert sich und Andere; – keine Garantie. Man könnte alle, welche dem Bürger verdächtig, feindlich und gefährlich erscheinen, unter dem Namen »Vagabunden« zusammenfassen; ihm missfällt jede vagabundierende Lebensart. Denn es gibt auch geistige Vagabunden, denen der angestammte Wohnsitz ihrer Väter zu eng und drückend vorkommt, als dass sie ferner mit dem beschränkten Raume sich begnügen möchten: statt sich in den Schranken einer gemäßigten. Denkungsart zu halten und für unantastbare Wahrheit zu nehmen, was Tausenden Trost und Beruhigung gewährt, überspringen sie alle Grenzen des Althergebrachten und extravagieren mit ihrer frechen Kritik und ungezähmten Zweifelsucht, diese extravaganten Vagabunden. Sie bilden die Klasse der Unsteten, Ruhelosen, Veränderlichen, d.h. der Proletarier, und heißen, wenn sie ihr unsesshaftes Wesen laut werden lassen, »unruhige Köpfe«.
Solch weiten Sinn hat das sogenannte Proletariat oder der Pauperismus. Wie sehr würde man irren, wenn man dem Bürgertum das Verlangen zutraute, die Armut (Pauperismus) nach besten Kräften zu beseitigen. Im Gegenteil hilft sich der gute Bürger mit der unvergleichlich tröstlichen Überzeugung, dass »die Güter des Glückes nun einmal ungleich verteilt seien und immer so bleiben werden – nach Gottes weisem Ratschlusse«. Die Armut, welche ihn auf allen Gassen umgibt, stört den wahren Bürger nicht weiter, als dass er höchstens sich mit ihr durch ein hingeworfenes Almosen abfindet oder einem »ehrlichen und brauchbaren« Burschen Arbeit und Nahrung verschafft. Desto mehr aber fühlt er seinen ruhigen Genuss getrübt durch die neuerungssüchtige und unzufriedene Armut, durch jene Armen, welche sich nicht mehr stille verhalten und dulden, sondern zu extravagieren anfangen und unruhig werden. Sperrt den Vagabunden ein, steckt den Unruhestifter ins dunkelste Verliess! Er will im Staate »Missvergnügen erregen und gegen bestehende Verordnungen aufreizen« – steiniget, steiniget ihn!
Gerade aber von diesen Unzufriedenen geht etwa folgendes Raisonnement aus: Den »guten Bürgern« kann es gleich gelten, wer sie und ihre Prinzipien schützt, ob ein absoluter oder konstitutioneller König, eine Republik usw., wenn sie nur geschützt werden. Und welches ist ihr Prinzip, dessen Schutzherrn sie stets »lieben«? Das der Arbeit nicht; das der Geburt auch nicht. Aber das der Mittelmäßigkeit, der schönen Mitte: ein bisschen Geburt und ein bisschen Arbeit, d.h. ein sich verzinsender Besitz.Besitz ist hier das Feste, das Gegebene, Ererbte (Geburt), das Verzinsen ist daran die Mühwaltung (Arbeit), also arbeitendes Kapital. Nur kein Übermass, kein Ultra, kein Radikalismus! Allerdings Geburtsrecht, aber nur angeborner Besitz; allerdings Arbeit, aber wenig oder gar keine eigene, sondern Arbeit des Kapitals und der – untertänigen Arbeiter.
Liegt eine Zeit in einem Irrtum befangen, so ziehen stets die Einen Vorteil aus ihm, indes die anderen den Schaden davon haben. Im Mittelalter war der Irrtum allgemein unter den Christen, dass die Kirche alle Gewalt oder die Oberherrlichkeit auf Erden haben müsse; die Hierarchen glaubten nicht weniger an diese »Wahrheit« als die Laien, und beide waren in dem gleichen Irrtum festgebannt. Allein die Hierarchen hatten durch ihn den Vorteil der Gewalt, die Laien den Schaden der Untertänigkeit. Wie es aber heißt: »durch Schaden wird man klug«, so wurden die Laien endlich klug und glaubten nicht länger an die mittelalterliche »Wahrheit«. – Ein gleiches Verhältnis findet zwischen Bürgertum und Arbeitertum statt. Bürger und Arbeiter glauben an die »Wahrheit« des Geldes; sie, die es nicht besitzen, glauben nicht weniger daran, als jene, welche es besitzen, also die Laien wie die Priester. »Geld regiert die Welt« ist der Grundton der bürgerlichen Epoche. Ein besitzloser Adliger und ein besitzloser Arbeiter sind als »Hungerleider« für die politische Geltung bedeutungslos: Geburt und Arbeit tun’s nicht, sondern das Geld gibt Geltung. Die Besitzenden herrschen, der Staat aber erzieht aus den Besitzlosen seine »Diener«, denen er in dem Masse, als sie in seinem Namen herrschen (regieren) sollen, Geld (Gehalt) gibt.
Ich empfange alles vom Staate. Habe Ich etwas ohne die Bewilligung des Staates? Was Ich ohne sie habe, das nimmt er Mir ab, sobald er den fehlenden »Rechtstitel« entdeckt. Habe Ich also nicht alles durch seine Gnade, seine Bewilligung?
Darauf allein, auf den Rechtstitel, stützt sich das Bürgertum. Der Bürger ist, was er ist, durch den Staatsschutz, durch die Gnade des Staats. Er müsste fürchten, alles zu verlieren, wenn die Macht des Staates gebrochen würde.
Wie ist’s aber mit dem, der nichts zu verlieren hat, wie mit dem Proletarier? Da er nichts zu verlieren hat, braucht er für sein »Nichts« den Staatsschutz nicht. Er kann im Gegenteil gewinnen, wenn jener Staatsschutz den Schützlingen entzogen wird.
Darum wird der Nichtbesitzende den Staat als Schutzmacht des Besitzenden ansehen, die diesen privilegiert, ihn dagegen nur – aussaugt. Der Staat ist ein – Bürgerstaat, ist der status des Bürgertums. Er schützt den Menschen nicht nach seiner Arbeit, sondern nach seiner Folgsamkeit (»Loyalität«), nämlich danach, ob er die vom Staate anvertrauten Rechte dem Willen, d.h. Gesetzen des Staates gemäss geniesst und verwaltet.
Unter dem Regime des Bürgertums fallen die Arbeitenden stets den Besitzenden, d.h. denen, welche irgend ein Staatsgut (und alles Besitzbare ist Staatsgut, gehört dem Staate und ist nur Lehen der Einzelnen) zu ihrer Verfügung haben, besonders Geld und Gut, also den Kapitalisten in die Hände. Es kann der Arbeiter seine Arbeit nicht verwerten nach dem Masse des Wertes, welchen sie für den Genießenden hat. »Die Arbeit wird schlecht bezahlt!« Den grössten Gewinn hat der Kapitalist davon. – Gut und mehr als gut werden nur die Arbeiten derjenigen bezahlt, welche den Glanz und die Herrschaft des Staates erhöhen, die Arbeiten hoher Staatsdiener. Der Staat bezahlt gut, damit seine »guten Bürger«, die Besitzenden, ohne Gefahr schlecht bezahlen können; er sichert sich seine Diener, aus welchen er für die »guten Bürger« eine Schutzmacht, eine »Polizei« (zur Polizei gehören Soldaten, Beamte aller Art, z.B. die der Justiz, Erziehung usw., kurz die ganze »Staatsmaschine«) bildet, durch gute Bezahlung, und die »guten Bürger« entrichten gern hohe Abgaben an ihn, um desto niedrigere ihren Arbeitern zu leisten.
Aber die Klasse der Arbeiter bleibt, weil in dem, was sie wesentlich sind, ungeschützt (denn nicht als Arbeiter genießen sie den Staatsschutz, sondern als seine Untertanen haben sie einen Mitgenuss von der Polizei, einen sogenannten Rechtsschutz), eine diesem Staate, diesem Staate der Besitzenden, diesem »Bürgerkönigtum«, feindliche Macht. Ihr Prinzip, die Arbeit, ist nicht seinem Werte nach anerkannt: es wird ausgebeutet, eine Kriegsbeute der Besitzenden, der Feinde.
Die Arbeiter haben die ungeheuerste Macht in den Händen, und wenn sie ihrer einmal recht inne würden und sie gebrauchten, so widerstände ihnen nichts: sie dürften nur die Arbeit einstellen und das Gearbeitete als das Ihrige ansehen und genießen. Dies ist der Sinn der hie und da auftauchenden Arbeiterunruhen.
Der Staat beruht auf der – Sklaverei der Arbeit. Wird die Arbeit frei, so ist der Staat verloren.
§ 2. Der soziale Liberalismus
Wir sind freigeborene Menschen, und wohin Wir blicken, sehen Wir Uns zu Dienern von Egoisten gemacht! Sollen Wir darum auch Egoisten werden? Bewahre der Himmel, Wir wollen lieber die Egoisten unmöglich machen! Wir wollen sie alle zu »Lumpen« machen, wollen alle nichts haben, damit »alle« haben. –
So die Sozialen. –
Wer ist diese Person, die Ihr »alle« nennt? – Es ist die »Gesellschaft«! – Ist sie denn aber leibhaftig? – Wir sind ihr Leib! – Ihr? Ihr seid ja selbst kein Leib; – Du zwar bist leibhaftig, auch Du und Du, aber Ihr zusammen seid nur Leiber, kein Leib. Mithin hätte die einige Gesellschaft zwar Leiber zu ihrem Dienste, aber keinen einigen und eigenen Leib. Sie wird eben, wie die »Nation« der Politiker, nichts als ein »Geist« sein, der Leib an ihm nur Schein.
Die Freiheit des Menschen ist im politischen Liberalismus die Freiheit von Personen, von persönlicher Herrschaft, vom Herrn: Sicherung jeder einzelnen Person gegen andere Personen, persönliche Freiheit.
Es hat keiner etwas zu befehlen, das Gesetz allein befiehlt.
Aber sind die Personen auch gleich geworden, so doch nicht ihr Besitztum. Und doch braucht der Arme den Reichen, der Reiche den Armen, jener das Geld des Reichen, dieser die Arbeit des Armen. Also es braucht keiner den anderen als Person, aber er braucht ihn als Gebenden, mithin als einen, der etwas zu geben hat, als Inhaber oder Besitzer. Was er also hat, das macht den Mann. Und im Haben oder an »Habe« sind die Leute ungleich.
Folglich, so schliesst der soziale Liberalismus, muss keiner haben, wie dem politischen Liberalismus zufolge keiner befehlen sollte, d.h. wie hier der Staat allein den Befehl erhielt, so nun die Gesellschaft allein die Habe.
Indem nämlich der Staat eines jeden Person und Eigentum gegen den anderen schützt, trennt er sie voneinander: Jeder ist sein Teil für sich und hat sein Teil für sich. Wem genügt, was er ist und hat, der findet bei diesem Stande der Dinge seine Rechnung; wer aber mehr sein und haben möchte, der sieht sich nach diesem Mehr um und findet es in der Gewalt anderer Personen. Hier gerät er auf einen Widerspruch: als Person steht keiner dem anderen nach, und doch hat die eine Person, was die andere nicht hat, aber haben möchte. Also, schliesst er daraus, ist doch die eine Person mehr als die andere, denn jene hat, was sie braucht, diese hat es nicht, jene ist ein Reicher, diese ein Armer.
Sollen Wir, fragt er sich nunmehr weiter, wieder aufleben lassen, was Wir mit Recht begruben, sollen Wir diese auf einem Umwege wiederhergestellte Ungleichheit der Personen gelten lassen? Nein, wir müssen im Gegenteil, was nur halb vollbracht war, ganz zu Ende führen. Unserer Freiheit von der Person des anderen fehlt noch die Freiheit von dem, worüber die Person des anderen gebieten kann, von dem, was sie in ihrer persönlichen Macht hat, kurz von dem »persönlichen Eigentum«. Schaffen Wir also das persönliche Eigentum ab. Keiner habe mehr etwas, jeder sei ein – Lump. Das Eigentum sei unpersönlich, es gehöre der – Gesellschaft.
Vor dem höchsten Gebieter, dem alleinigen Befehlshaber, waren Wir alle gleich geworden, gleiche Personen, d.h. Nullen.
Vor dem höchsten Eigentümer werden Wir alle gleiche – Lumpe. Für jetzt ist noch Einer in der Schätzung des anderen ein »Lump«, »Habenichts«; dann aber hört diese Schätzung auf, Wir sind allzumal Lumpe, und als Gesamtmasse der Kommunistischen Gesellschaft könnten Wir Uns »Lumpengesindel« nennen.
Wenn der Proletarier seine beabsichtigte »Gesellschaft«, worin der Abstand von Reich und Arm beseitigt werden soll, wirklich gegründet haben wird, dann ist er Lump, denn er weiß sich dann etwas damit, Lump zu sein, und könnte »Lump« so gut zu einer ehrenden Anrede erheben, wie die Revolution das Wort »Bürger« dazu erhob. Lump ist sein Ideal, Lumpe sollen Wir alle werden.
Dies ist im Interesse der »Menschlichkeit« der zweite Raub am »Persönlichen«. Man lässt dem Einzelnen weder Befehl noch Eigentum; jenen nahm der Staat, dieses die Gesellschaft.
Weil in der Gesellschaft sich die drückendsten Übelstände bemerkbar machen, so denken besonders die Gedrückten, also die Glieder aus den unteren Regionen der Sozietät, die Schuld in der Gesellschaft zu finden, und machen sich’s zur Aufgabe, die rechte Gesellschaft zu entdecken. Es ist das nur die alte Erscheinung, dass man die Schuld zuerst in allem anderen als in sich sucht; also im Staate, in der Selbstsucht der Reichen usw., die doch gerade unserer Schuld ihr Dasein verdanken.
Die Reflexionen und Schlüsse des Kommunismus sehen sehr einfach aus. Wie die Sachen dermalen liegen, also unter den jetzigen Staatsverhältnissen, stehen die Einen gegen die anderen, und zwar die Mehrzahl gegen die Minderzahl im Nachteil. Bei diesem Stande der Dinge befinden sich jene im Wohlstande, diese im Notstande. Daher muss der gegenwärtige Stand der Dinge, d. i. der Staat (status = Stand) abgeschafft werden. Und was an seine Stelle? Statt des vereinzelten Wohlstandes – ein allgemeiner Wohlstand, ein Wohlstand aller.
Durch die Revolution wurde die Bourgeoisie allmächtig und alle Ungleichheit dadurch aufgehoben, dass jeder zur Würde eines Bürgers erhoben oder erniedrigt wurde: der gemeine Mann – erhoben, der Adlige – erniedrigt: der dritte Stand wurde einziger Stand, nämlich Stand der – Staatsbürger. Nun repliziert der Kommunismus: Nicht darin besteht unsere Würde und unser Wesen, dass Wir alle – die gleichen Kinder des Staates, unserer Mutter, sind, alle geboren mit dem gleichen Anspruch auf ihre Liebe und ihren Schutz, sondern darin, dass Wir alle füreinander da sind. Dies ist unsere Gleichheit oder darin sind Wir gleich, dass Ich so gut als Du und Ihr alle, jeder für den anderen, tätig sind oder »arbeiten«, also darin, dass jeder von Uns ein Arbeiter ist. Nicht auf das kommt es Uns an, was Wir für den Staat sind, nämlich Bürger, also nicht auf unser Bürgertum, sondern auf das, was Wir füreinander sind, nämlich darauf, dass jeder von Uns nur durch den anderen existiert, der, indem er für meine Bedürfnisse sorgt, zugleich von Mir die seinigen befriedigt sieht. Er arbeitet z.B. für meine Kleidung (Schneider), Ich für sein Vergnügungsbedürfnis (Komödienschreiber, Seiltänzer usw.), er für meine Nahrung (Landwirt usw.), Ich für seine Belehrung (Gelehrter usw.). Also das Arbeitertum ist unsere Würde und unsere – Gleichheit.
Welchen Vorteil bringt Uns das Bürgertum? Lasten! Und wie hoch schlägt man unsere Arbeit an? So niedrig als möglich! Arbeit ist aber gleichwohl unser einziger Wert; dass Wir Arbeiter sind, das ist das Beste an Uns, das ist unsere Bedeutung in der Welt, und darum muss es auch unsere Geltung werden und muss zur Geltung kommen. Was könnt Ihr Uns entgegenstellen? Doch auch nur – Arbeit. Nur für Arbeit oder Leistungen sind Wir Euch eine Rekompense schuldig, nicht für eure bloße Existenz; auch nicht für das, was Ihr für Euch seid, sondern nur für das, was Ihr für Uns seid. Wodurch habt Ihr Ansprüche an Uns? Etwa durch eure hohe Geburt usw.? Nein, nur durch das, was Ihr Uns Erwünschtes oder Nützliches leistet. So sei es denn auch so: Wir wollen Euch nur so viel wert sein, als Wir Euch leisten; Ihr aber sollt desgleichen von Uns gehalten werden. Die Leistungen bestimmen den Wert, d.h. diejenigen Leistungen, die Uns etwas wert sind, also die Arbeiten füreinander, die gemeinnützigen Arbeiten. Jeder sei in den Augen des anderen ein Arbeiter. Wer Nützliches verrichtet, der steht keinem nach, oder – alle Arbeiter (Arbeiter natürlich im Sinne von »gemeinnütziger«, d.h. kommunistischer Arbeiter) sind gleich. Da aber der Arbeiter seines Lohnes wert ist, so sei auch der Lohn gleich.
Solange das Glauben für die Ehre und Würde des Menschen ausreichte, liess sich gegen keine auch noch so anstrengende Arbeit etwas einwenden, wenn sie nur den Menschen nicht im Glauben hinderte. Hingegen jetzt, wo jeder sich zum Menschen ausbilden soll, fällt die Bannung des Menschen an maschinenmäßige Arbeit zusammen mit der Sklaverei. Muss ein Fabrikarbeiter sich zwölf Stunden und mehr todmüde machen, so ist er um die Menschwerdung gebracht. Jedwede Arbeit soll den Zweck haben, dass der Mensch befriedigt werde. Deshalb muss er auch in ihr Meister werden, d.h. sie als eine Totalität schaffen können. Wer in einer Stecknadelfabrik nur die Knöpfe aufsetzt, nur den Draht zieht usw., der arbeitet wie mechanisch, wie eine Maschine: er bleibt ein Stümper, wird kein Meister: seine Arbeit kann ihn nicht befriedigen, sondern nur ermüden. Seine Arbeit ist, für sich genommen, nichts, hat keinen Zweck in sich, ist nichts für sich Fertiges: er arbeitet nur einem anderen in die Hand, und wird von diesem anderen benutzt (exploitiert). Für diesen Arbeiter im Dienste eines anderen gibt es keinen Genuss eines gebildeten Geistes, höchstens rohe Vergnügungen: ihm ist ja die Bildung verschlossen. Um ein guter Christ zu sein, braucht man nur zu glauben, und das kann unter den drückendsten Verhältnissen geschehen. Daher sorgen die christlich Gesinnten nur für die Frömmigkeit der gedrückten Arbeiter, ihre Geduld, Ergebung usw. All ihr Elend konnten die unterdrückten Klassen nur so lange ertragen, als sie Christen waren: denn das Christentum lässt ihr Murren und ihre Empörung nicht aufkommen. Jetzt genügt nicht mehr die Beschwichtigung der Begierden, sondern es wird ihre Sättigung gefordert. Die Bourgeoisie hat das Evangelium des Weltgenusses, des materiellen Genusses verkündet und wundert sich nun, dass diese Lehre unter Uns Armen Anhänger findet; sie hat gezeigt, dass nicht Glaube und Armut, sondern Bildung und Besitz selig macht: das begreifen Wir Proletarier auch.
Von Befehl und Willkür Einzelner befreite das Bürgertum. Allein jene Willkür blieb übrig, welche aus der Konjunktur der Verhältnisse entspringt und die Zufälligkeit der Umstände genannt werden kann; es blieben das begünstigende Glück und die »vom Glück Begünstigten« übrig.
Wenn z.B. ein Gewerbszweig zu Grunde geht und Tausende von Arbeitern brotlos werden, so denkt man billig genug, um zu bekennen, dass nicht der Einzelne die Schuld trägt, sondern »das Übel in den Verhältnissen liegt«.
Ändern Wir denn die Verhältnisse, aber ändern Wir sie durchgreifend und so, dass ihre Zufälligkeit ohnmächtig wird und ein Gesetz! Seien Wir nicht länger Sklaven des Zufalls! Schaffen Wir eine neue Ordnung, die den Schwankungen ein Ende macht. Diese Ordnung sei dann heilig!
Früher musste man es den Herren recht machen, um zu etwas zu kommen; nach der Revolution hiess es: Hasche das Glück! Glücksjagd oder Hazardspiel, darin ging das bürgerliche Leben auf. Daneben dann die Forderung, dass, wer etwas erlangt hat, dies nicht leichtsinnig wieder aufs Spiel setze.
Seltsamer und doch höchst natürlicher Widerspruch. Die Konkurrenz, in der allein das bürgerliche oder politische Leben sich abwickelt, ist durch und durch ein Glücksspiel, von den Börsenspekulationen herab bis zur Ämterbewerbung, der Kundenjagd, dem Arbeitsuchen, dem Trachten nach Beförderung und Orden, dem Trödel des Schacherjuden usw. Gelingt es, die Mitbewerber auszustechen und zu überbieten, so ist der »glückliche Wurf« getan; denn für ein Glück muss es schon genommen werden, dass der Sieger mit einer, wenn auch durch den sorgsamsten Fleiss ausgebildeten Begabtheit sich ausgestattet sieht, gegen welche die anderen nicht aufzukommen wissen, also dass sich – keine Begabteren finden. Und die nun mitten in diesem Glückswechsel ihr tägliches Wesen treiben, ohne ein Arg dabei zu haben, geraten in die sittlichste Entrüstung, wenn ihr eigenes Prinzip in nackter Form auftritt und als – Hazardspiel »Unglück anrichtet«. Das Hazardspiel ist ja eine zu deutliche, zu unverhüllte Konkurrenz und verletzt wie jede entschiedene Nacktheit das ehrsame Schamgefühl.
Diesem Treiben des Ungefährs wollen die Sozialen Einhalt tun und eine Gesellschaft bilden, in welcher die Menschen nicht länger vom Glücke abhängig, sondern frei sind.
Auf die natürlichste Weise äusserst sich dies Streben zuerst als Hass der »Unglücklichen« gegen die »Glücklichen«, d.h. derer, für welche das Glück wenig oder nichts getan hat, gegen diejenigen, für die es alles getan hat.
Eigentlich gilt der Unmut aber nicht den Glücklichen, sondern dem Glücke, diesem faulen Fleck des Bürgertums.
Da die Kommunisten erst die freie Tätigkeit für das Wesen des Menschen erklären, bedürfen sie, wie alle werkeltätige Gesinnung, eines Sonntags, wie alles materielle Streben, eines Gottes, einer Erhebung und Erbauung neben ihrer geistlosen »Arbeit«.
Dass der Kommunist in Dir den Menschen, den Bruder erblickt, das ist nur die sonntägliche Seite des Kommunismus. Nach der werkeltätigen nimmt er Dich keineswegs als Menschen schlechthin, sondern als menschlichen Arbeiter oder arbeitenden Menschen. Das liberale Prinzip steckt in der ersteren Anschauung, in die zweite verbirgt sich die Illiberalität. Wärest du ein »Faulenzer«, so würde er zwar den Menschen in Dir nicht verkennen, aber als einen »faulen Menschen« ihn von der Faulheit zu reinigen und Dich zu dem Glauben zu bekehren streben, dass das Arbeiten des Menschen »Bestimmung und Beruf« sei.
Darum zeigt er ein doppeltes Gesicht: mit dem einen hat er darauf Acht, dass der geistige Mensch befriedigt werde, mit dem andern schaut er sich nach Mitteln für den materiellen oder leiblichen um. Er gibt dem Menschen eine zwiefache Anstellung, ein Amt des materiellen Erwerbs und eines des geistigen.
Das Bürgertum hatte geistige und materielle Güter frei hingestellt und jedem anheim gegeben, danach zu langen, wenn ihn gelüste.
Der Kommunismus verschafft sie wirklich jedem, dringt sie ihm auf und zwingt ihn, sie zu erwerben. Er macht Ernst damit, dass Wir, weil nur geistige und materielle Güter Uns zu Menschen machen, diese Güter ohne Widerrede erwerben müssen, um Mensch zu sein. Das Bürgertum machte den Erwerb frei, der Kommunismus zwingt zum Erwerb, und erkennt nur den Erwerbenden an, den Gewerbtreibenden. Es ist nicht genug, dass das Gewerbe frei ist, sondern Du musst es ergreifen.
So bleibt der Kritik nur übrig zu beweisen, der Erwerb dieser Güter mache Uns noch keineswegs zu Menschen.
Mit dem liberalen Gebote, dass jeder aus sich einen Menschen oder jeder sich zum Menschen machen soll, war die Notwendigkeit gesetzt, dass jeder zu dieser Arbeit der Vermenschlichung Zeit gewinnen müsse, d.h. dass jedem möglich werde, an sich zu arbeiten.
Das Bürgertum glaubte dies vermittelt zu haben, wenn es alles Menschliche der Konkurrenz übergebe, den Einzelnen aber zu jeglichem Menschlichen berechtige. »Es darf jeder nach allem streben!«
Der soziale Liberalismus findet, dass die Sache mit dem »Dürfen« nicht abgetan sei, weil dürfen nur heißt, es ist keinem verboten, aber nicht, es ist jedem möglich gemacht. Er behauptet daher, das Bürgertum sei nur mit dem Munde und in Worten liberal, in der Tat höchst illiberal. Er seinerseits will Uns allen die Mittel geben, an Uns arbeiten zu können.
Durch das Prinzip der Arbeit wird allerdings das des Glückes oder der Konkurrenz überboten. Zugleich aber hält sich der Arbeiter in seinem Bewusstsein, dass das Wesentliche an ihm »der Arbeiter« sei, vom Egoismus fern und unterwirft sich der Oberhoheit einer Arbeitergesellschaft, wie der Bürger mit Hingebung am Konkurrenz-Staate hing. Der schöne Traum von einer »Sozialpflicht« wird noch fortgeträumt. Man meint wieder, die Gesellschaft gebe, was Wir brauchen, und Wir seien ihr deshalb verpflichtet, seien ihr alles schuldig. (34) Man bleibt dabei, einem »höchsten Geber alles Guten« dienen zu wollen. Dass die Gesellschaft gar kein Ich ist, das geben, verleihen oder gewähren könnte, sondern ein Instrument oder Mittel, aus dem Wir Nutzen ziehen mögen, dass Wir keine gesellschaftlichen Pflichten, sondern lediglich Interessen haben, zu deren Verfolgung Uns die Gesellschaft dienen müsse, dass Wir der Gesellschaft kein Opfer schuldig sind, sondern, opfern Wir etwas, es Uns opfern: daran denken die Sozialen nicht, weil sie – als Liberale – im religiösen Prinzip gefangen sitzen und eifrig trachten nach einer, wie es der Staat bisher war, – heiligen Gesellschaft!
Die Gesellschaft, von der Wir alles haben, ist eine neue Herrin, ein neuer Spuk, ein neues »höchstes Wesen«, das Uns »in Dienst und Pflicht nimmt!«
Die nähere Würdigung des politischen sowohl als des sozialen Liberalismus kann ihre Stelle erst weiter unten finden. Wir gehen für jetzt dazu über, sie vor den Richterstuhl des humanen oder kritischen Liberalismus zu stellen.
§ 3. Der humane Liberalismus
Da in dem sich kritisierenden, dem »kritischen« Liberalismus, wobei der Kritiker ein Liberaler bleibt und über das Prinzip des Liberalismus, den Menschen, nicht hinausgeht, der Liberalismus sich vollendet, so mag er vorzugsweise nach dem Menschen benannt werden und der »humane« heißen.
Der Arbeiter gilt für den materiellsten und egoistischsten Menschen. Er leistet für die Menschheit gar nichts, tut alles für sich, zu seiner Wohlfahrt.
Das Bürgertum hat, weil es den Menschen nur seiner Geburt nach für frei ausgab, ihn im Übrigen in den Klauen des Unmenschen (Egoisten) lassen müssen. Daher hat der Egoismus unter dem Regiment des politischen Liberalismus ein ungeheures Feld zu freier Benutzung.
Wie der Bürger den Staat, so wird der Arbeiter die Gesellschaft benutzen für seine egoistischen Zwecke. Du hast doch nur einen egoistischen Zweck, deine Wohlfahrt! wirft der Humane dem Sozialen vor. Fasse ein rein menschliches Interesse, dann will Ich dein Gefährte sein. »Dazu gehört aber ein stärkeres, ein umfassenderes, als ein Arbeiterbewusstsein.« »Der Arbeiter macht Nichts, drum hat er Nichts: er macht aber Nichts, weil seine Arbeit stets eine einzeln bleibende, auf sein eigenstes Bedürfnis berechnete, tägliche ist.« (35) Man kann sich dem entgegen etwa Folgendes denken: die Arbeit Gutenbergs blieb nicht einzeln, sondern erzeugte unzählige Kinder und lebt heute noch, sie war auf das Bedürfnis der Menschheit berechnet, und war eine ewige, unvergängliche.
Das humane Bewusstsein verachtet sowohl das Bürger- als das Arbeiter-Bewusstsein: denn der Bürger ist nur »entrüstet« über den Vagabunden (über alle, welche »keine bestimmte Beschäftigung« haben) und deren »Immoralität«; den Arbeiter »empört« der Faulenzer (»Faulpelz«) und dessen »unsittliche«, weil aussaugende und ungesellschaftliche, Grundsätze. Dagegen erwidert der Humane: Die Unsesshaftigkeit Vieler ist nur dein Produkt, Philister! Dass Du aber, Proletarier, allen das Büffeln zumutest, und die Plackerei zu einer allgemeinen machen willst, das hängt Dir noch von deiner seitherigen Packeselei an. Du willst freilich dadurch, dass alle sich gleichsehr placken müssen, die Plackerei selbst erleichtern, jedoch nur aus dem Grunde, damit alle gleichviel Muße gewinnen. Was aber sollen sie mit ihrer Muße anfangen? Was tut deine »Gesellschaft«, damit diese Muße menschlich verbracht werde? Sie muss wieder die gewonnene Muße dem egoistischen Belieben überlassen und gerade der Gewinn, den deine Gesellschaft fördert, fällt dem Egoisten zu, wie der Gewinn des Bürgertums, die Herrenlosigkeit des Menschen, vom Staate nicht mit einem menschlichen Inhalt erfüllt werden konnte und deshalb der Willkür überlassen wurde. Allerdings ist notwendig, dass der Mensch herrenlos sei, aber darum soll auch nicht wieder der Egoist über den Menschen, sondern der Mensch über den Egoisten Herr werden. Allerdings muss der Mensch Muße finden, aber wenn der Egoist sich dieselbe zu Nutze macht, so entgeht sie dem Menschen; darum müsstet Ihr der Muße eine menschliche Bedeutung geben. Aber auch eure Arbeit unternehmt Ihr Arbeiter aus egoistischem Antriebe, weil Ihr essen, trinken, leben wollt; wie solltet Ihr bei der Muße weniger Egoisten sein? Ihr arbeitet nur, weil nach getaner Arbeit gut feiern (faulenzen) ist, und womit Ihr eure Mußezeit hinbringt, das bleibt dem Zufall überlassen.
Soll aber dem Egoismus jede Tür verriegelt werden, so müsste ein völlig »uninteressiertes« Handeln erstrebt werden, die gänzliche Uninteressiertheit. Dies ist allein menschlich, weil nur der Mensch uninteressiert ist; der Egoist immer interessiert.
Lassen Wir einstweilen die Uninteressiertheit gelten, so fragen Wir: Willst Du an nichts Interesse nehmen, für nichts begeistert sein, nicht für die Freiheit, Menschheit usw.? »O ja, das ist aber kein egoistisches Interesse, keine Interessiertheit, sondern ein menschliches, d.h. ein – theoretisches, nämlich ein Interesse nicht für einen Einzelnen oder die Einzelnen (»alle«), sondern für die Idee, für den Menschen!«
Und Du merkst nicht, dass Du auch nur begeistert bist für deine Idee, deine Freiheitsidee?
Und ferner merkst Du nicht, dass deine Uninteressiertheit wieder, wie die religiöse, eine himmlische Interessiertheit ist? Der Nutzen der Einzelnen lässt Dich allerdings kalt, und Du könntest abstrakt ausrufen: fiat libertas, pereat mundus! Du sorgest auch nicht für den andern Tag und hast überhaupt keine ernstliche Sorge für die Bedürfnisse des Einzelnen, nicht für dein eigenes Wohlleben, noch das der anderen; aber Du machst Dir eben aus alledem nichts, weil Du ein – Schwärmer bist.
Wird etwa der Humane so liberal sein, alles Menschenmögliche für menschlich auszugeben? Im Gegenteil! Über die Hure teilt er zwar das moralische Vorurteil des Philisters nicht, aber »dass dies Weib ihren Körper zur Geld- erwerb-Maschine macht« (36) das macht sie ihm als »Menschen« verächtlich. Er urteilt: Die Hure ist nicht Mensch, oder: so weit ein Weib Hure ist, so weit ist sie unmenschlich, entmenscht. Ferner: der Jude, der Christ, der Privilegierte, der Theologe usw. ist nicht Mensch; soweit Du Jude usw. bist, bist Du nicht Mensch. Wiederum das imperatorische Postulat: Wirf alles Aparte von Dir, kritisiere es weg! Sei nicht Jude, nicht Christ usw., sondern sei Mensch, nichts als Mensch! Mach deine Menschlichkeit gegen jede beschränkende Bestimmung geltend, mach Dich mittels ihrer zum Menschen und von jenen Schranken frei, mach Dich zum »freien Menschen«, d.h. erkenne die Menschlichkeit als dein alles bestimmendes Wesen.
Ich sage: Du bist zwar mehr als Jude, mehr als Christ usw., aber Du bist auch mehr als Mensch. Das sind alles Ideen, Du aber bist leibhaftig. Meinst Du denn, jemals »Mensch als solcher« werden zu können? Meinst Du, unsere Nachkommen werden keine Vorurteile und Schranken wegzuschaffen finden, für die unsere Kräfte nicht hinreichten? Oder glaubst Du etwa in deinem 40sten oder 50sten Jahre so weit gekommen zu sein, dass die folgenden Tage nichts mehr an Dir aufzulösen hätten, und dass Du Mensch wärest? Die Menschen der Nachwelt werden noch manche Freiheit erkämpfen, die Wir nicht einmal entbehren. Wozu brauchst Du jene spätere Freiheit? Wolltest Du Dich für nichts achten, bevor Du Mensch geworden, so müsstest Du bis zum »jüngsten Gericht« warten, bis zu dem Tage, wo der Mensch oder die Menschheit die Vollkommenheit erlangt haben soll. Da Du aber sicherlich vorher stirbst, wo bleibt dein Siegespreis?
Drum kehre Du Dir die Sache lieber um und sage Dir: Ich bin Mensch! Ich brauche den Menschen nicht erst in Mir herzustellen, denn er gehört Mir schon, wie alle meine Eigenschaften.
Wie kann man aber, fragt der Kritiker, zugleich Jude und Mensch sein? Erstens, antworte Ich, kann man überhaupt weder Jude noch Mensch sein, wenn »man« und Jude oder Mensch dasselbe bedeuten sollen; »man« greift immer über jene Bestimmungen hinaus, und Schmul sei noch so jüdisch, Jude, nichts als Jude, vermag er nicht zu sein, schon weil er dieser Jude ist. Zweitens kann man allerdings als Jude nicht Mensch sein, wenn Mensch sein heißt, nicht Besonderes sein. Drittens aber – und darauf kommt es an – kann Ich als Jude ganz sein, was ich eben sein – kann. Von Samuel oder Moses und andern erwartet Ihr schwerlich, dass sie über das Judentum sich hätten erheben sollen, obgleich Ihr sagen müsst, dass sie noch keine »Menschen« waren. Sie waren eben, was sie sein konnten. Ist’s mit den heutigen Juden anders? Weil Ihr die Idee der Menschheit entdeckt habt, folgt daraus, dass jeder Jude sich zu ihr bekehren könne? Wenn er es kann, so unterlässt er’s nicht, und unterlässt er es, so – kann er’s nicht. Was geht ihn eure Zumutung an, was der Beruf, Mensch zu sein, den Ihr an ihn ergehen lasset? »
In der »menschlichen Gesellschaft«, welche der Humane verheißt, soll überhaupt nichts Anerkennung finden, was Einer oder der Andere »Besonderes« hat, nichts Wert haben, was den Charakter des »Privaten« trägt. Auf diese Weise rundet sich der Kreis des Liberalismus, der an dem Menschen und der menschlichen Freiheit sein gutes, an dem Egoisten und allem Privaten sein böses Prinzip, an jenem seinen Gott, an diesem seinen Teufel hat, vollständig ab, und verlor im »Staate« die besondere oder private Person ihren Wert (kein persönliches Vorrecht), büsst in der »Arbeiter- oder Lumpen-Gesellschaft« das besondere (private) Eigentum seine Anerkennung ein, so wird in der »menschlichen Gesellschaft« alles Besondere oder Private ausser Betracht kommen, und wenn die »reine Kritik« ihre schwere Arbeit vollführt haben wird, dann wird man wissen, was alles privat ist, und was man »in seines Nichts durchbohrendem Gefühle« wird – stehen lassen müssen.
Weil dem humanen Liberalismus Staat und Gesellschaft nicht genügt, negiert er beide und behält sie zugleich. So heißt es einmal, die Aufgabe der Zeit sei »keine politische, sondern eine soziale«, und dann wird wieder für die Zukunft der »freie Staat« verheißen. In Wahrheit ist die »menschliche Gesellschaft« eben beides, der allgemeinste Staat und die allgemeinste Gesellschaft. Nur gegen den beschränkten Staat wird behauptet, er mache zuviel Aufhebens von geistigen Privatinteressen (z.B. dem religiösen Glauben der Leute), und gegen die beschränkte Gesellschaft, sie mache zuviel aus den materiellen Privatinteressen. Beide sollen die Privatinteressen den Privatleuten überlassen, und sich als menschliche Gesellschaft allein um die allgemein menschlichen Interessen bekümmern.
Indem die Politiker den eigenen Willen, Eigenwillen oder Willkür abzuschaffen gedachten, bemerkten sie nicht, dass durch das Eigentum der Eigenwille eine sichere Zufluchtstätte erhielt.
Indem die Sozialisten auch das Eigentum wegnehmen, beachten sie nicht, dass dieses sich in der Eigenheit eine Fortdauer sichert. Ist denn bloß Geld und Gut ein Eigentum, oder ist jede Meinung ein Mein, ein Eigenes?
Es muss also jede Meinung aufgehoben oder unpersönlich gemacht werden. Der Person gebührt keine Meinung, sondern wie der Eigenwille auf den Staat, das Eigentum auf die Gesellschaft übertragen wurde, so muss die Meinung auch auf ein Allgemeines, »den Menschen«, übertragen und dadurch allgemein menschliche Meinung werden.
Bleibt die Meinung bestehen, so habe Ich meinen Gott (Gott ist ja nur als »mein Gott«, ist eine Meinung oder mein »Glaube«); also meinen Glauben, meine Religion, meine Gedanken, meine Ideale. Darum muss ein allgemein menschlicher Glaube entstehen, der »Fanatismus der Freiheit«. Dies wäre nämlich ein Glaube, welcher mit dem »Wesen des Menschen« übereinstimmte, und weil nur »der Mensch« vernünftig ist (Ich und Du könnten sehr unvernünftig sein!), ein vernünftiger Glaube.
Wie Eigenwille und Eigentum machtlos werden, so muss die Eigenheit oder der Egoismus überhaupt es werden.
In dieser höchsten Entwicklung »des freien Menschen« wird der Egoismus, die Eigenheit, prinzipiell bekämpft, und so untergeordnete Zwecke, wie die soziale »Wohlfahrt« der Sozialisten usw. verschwinden gegen die erhabene »Idee der Menschheit«. Alles, was nicht ein »allgemein Menschliches« ist, ist etwas Apartes, befriedigt nur Einige oder Einen, oder wenn es alle befriedigt, so tut es dies an ihnen nur als Einzelnen, nicht als Menschen, und heißt deshalb ein »Egoistisches«.
Den Sozialisten ist noch die Wohlfahrt das höchste Ziel, wie den politischen Liberalen der freie Wettstreit das Genehme war; die Wohlfahrt ist nun auch frei, und was sie haben will, mag sie sich verschaffen, wie, wer in den Wettstreit (Konkurrenz) sich einlassen wollte, ihn erwählen konnte.
Allein an dem Wettstreit Teil zu nehmen, braucht Ihr nur Bürger, an der Wohlfahrt Teil zu nehmen, nur Arbeiter zu sein. Beides ist noch nicht gleichbedeutend mit »Mensch«. Dem Menschen ist erst »wahrhaft wohl«, wenn er auch »geistig frei« ist! Denn der Mensch ist Geist, darum müssen alle Mächte, die ihm, dem Geiste, fremd sind, alle übermenschlichen, himmlischen, unmenschlichen Mächte müssen gestürzt werden, und der Name »Mensch« muss über alle Namen sein.
So kehrt in diesem Ende der Neuzeit (Zeit der Neuen) als Hauptsache wieder, was im Anfange derselben Hauptsache gewesen war: die »geistige Freiheit«.
Dem Kommunisten insbesondere sagt der humane Liberale: Schreibt Dir die Gesellschaft Deine Tätigkeit vor, so ist diese zwar vom Einfluss der Einzelnen, d.h. der Egoisten frei, aber es braucht darum noch keine rein menschliche Tätigkeit, und Du noch nicht ein völliges Organ der Menschheit zu sein. Welcherlei Tätigkeit die Gesellschaft von Dir fordert, das bleibt ja noch zufällig: sie könnte Dich bei einem Tempelbau u. dergl. anstellen, oder, wenn auch das nicht, so könntest Du doch aus eigenem Antrieb für eine Narrheit, also Unmenschlichkeit tätig sein; ja noch mehr, Du arbeitest wirklich nur, um Dich zu nähren, überhaupt, um zu leben, um des lieben Lebens willen, nicht zur Verherrlichung der Menschheit. Mithin ist die freie Tätigkeit erst dann erreicht, wenn Du Dich von allen Dummheiten frei machst, von allem Nichtmenschlichen, d.h. Egoistischen (nur dem Einzelnen, nicht dem Menschen im Einzelnen Angehörigen) Dich befreist, alle den Menschen oder die Menschheits-Idee verdunkelnden, unwahren Gedanken auflösest, kurz, wenn Du nicht bloß ungehemmt bist in Deiner Tätigkeit, sondern auch der Inhalt Deiner Tätigkeit nur Menschliches ist, und Du nur für die Menschheit lebst und wirkst. Das ist aber nicht der Fall, solange das Ziel deines Strebens nur deine und aller Wohlfahrt ist: was Du für die Lumpengesellschaft tust, das ist für die »menschliche Gesellschaft« noch nichts getan.
Das Arbeiten allein macht Dich nicht zum Menschen, weil es etwas Formelles und sein Gegenstand zufällig ist, sondern es kommt darauf an, wer Du, der Arbeitende, bist. Arbeiten überhaupt kannst Du aus egoistischem (materiellem) Antrieb, bloß um Dir Nahrung u. dergl. zu verschaffen: es muss eine die Menschheit fördernde, auf das Wohl der Menschheit berechnete, der geschichtlichen, d.h. menschlichen Entwicklung dienende, kurz eine humane Arbeit sein. Dazu gehört zweierlei, einmal dass sie der Menschheit zu Gute komme, zum anderen, dass sie von einem »Menschen« ausgehe. Das Erstere allein kann bei jeder Arbeit der Fall sein, da auch die Arbeiten der Natur, z.B. der Tiere, von der Menschheit zur Förderung der Wissenschaft u.s.f. benutzt werden; das Zweite erfordert, dass der Arbeitende den menschlichen Zweck seiner Arbeit wisse, und da er dies Bewusstsein nur haben kann, wenn er sich als Mensch weiß, so ist die entscheidende Bedingung das – Selbstbewusstsein.
Gewiss ist schon viel erreicht, wenn Du aufhörst ein »Stückarbeiter« zu sein, aber Du übersiehst damit doch nur das Ganze deiner Arbeit, und erwirbst ein Bewusstsein über dieselbe, was von einem Selbstbewusstsein, einem Bewusstsein über dein wahres »Selbst« oder »Wesen«, den Menschen, noch weit entfernt ist. Dem Arbeiter bleibt noch das Verlangen nach einem »höheren Bewusstsein«, das er, weil die Arbeitstätigkeit es nicht zu stillen vermag, in einer Feierstunde befriedigt. Daher steht seiner Arbeit das Feiern zur Seite, und er sieht sich gezwungen, in einem Atem das Arbeiten und das Faulenzen für menschlich auszugeben, ja dem Faulenzer, dem Feiernden, die wahre Erhebung beizumessen. Er arbeitet nur, um von der Arbeit loszukommen: er will die Arbeit nur frei machen, um von der Arbeit frei zu werden.
Genug, seine Arbeit hat keinen befriedigenden Gehalt, weil sie nur von der Gesellschaft aufgetragen, nur ein Pensum, eine Aufgabe, ein Beruf ist, und umgekehrt, seine Gesellschaft befriedigt nicht, weil sie nur zu arbeiten gibt.
Die Arbeit müsste ihn als Menschen befriedigen: statt dessen befriedigt sie die Gesellschaft; die Gesellschaft müsste ihn als Menschen behandeln, und sie behandelt ihn als – lumpigen Arbeiter oder arbeitenden Lump.
Arbeit und Gesellschaft sind ihm nur nütze, nicht wie er als Mensch, sondern wie er als »Egoist« ihrer bedarf.
So die Kritik gegen das Arbeitertum. Sie weist auf den »Geist« hin, führt den Kampf des »Geistes mit der Masse« (37) und erklärt die kommunistische Arbeit für geistlose Massenarbeit. Arbeitsscheu, wie sie ist, liebt es die Masse, sich die Arbeit leicht zu machen. In der Literatur, die heute massenweise geliefert wird, erzeugt jene Arbeitsscheu die allbekannte Oberflächlichkeit, welche »die Mühe der Forschung« von sich weist. (38) Darum sagt der humane Liberalismus: Ihr wollt die Arbeit; wohlan, Wir wollen sie gleichfalls, aber Wir wollen sie in vollstem Masse. Wir wollen sie nicht, um Muße zu gewinnen, sondern um in ihr selber alle Genugtuung zu finden. Wir wollen die Arbeit, weil sie unsere Selbstentwicklung ist.
Aber die Arbeit muss dann auch darnach sein! Es ehrt den Menschen nur die menschliche, die selbstbewusste Arbeit, nur die Arbeit, welche keine »egoistische« Absicht, sondern den Menschen zum Zwecke hat, und die Selbstoffenbarung des Menschen ist, so dass es heißen muss: laboro, ergo sum, Ich arbeite, d.h. Ich bin Mensch. Der Humane will die alle Materie verarbeitende Arbeit des Geistes, den Geist, der kein Ding in Ruhe oder in seinem Bestande lässt, der sich bei nichts beruhigt, alles auflöst, jedes gewonnene Resultat von neuem kritisiert. Dieser ruhelose Geist ist der wahre Arbeiter, er vertilgt die Vorurteile, zerschmettert die Schranken und Beschränktheiten, und erhebt den Menschen über alles, was ihn beherrschen möchte, indes der Kommunist nur für sich, und nicht einmal frei, sondern aus Not arbeitet, kurz einen Zwangsarbeiter vorstellt.
Der Arbeiter solchen Schlages ist nicht »egoistisch«, weil er nicht für Einzelne, weder für sich noch für andere Einzelne, also nicht für private Menschen arbeitet, sondern für die Menschheit und den Fortschritt derselben: er lindert nicht einzelne Schmerzen, sorgt nicht für einzelne Bedürfnisse, sondern hebt Schranken hinweg, in denen die Menschheit eingepresst ist, zerstreut Vorurteile, die eine ganze Zeit beherrschen, überwindet Hemmnisse, die allen den Weg verlegen, beseitigt Irrtümer, in denen sich die Menschen verfangen, entdeckt Wahrheiten, welche für alle und alle Zeit durch ihn gefunden werden, kurz – er lebt und arbeitet für die Menschheit.
Für’s Erste nun weiß der Entdecker einer großen Wahrheit wohl, dass sie den andern Menschen nützlich sein könne, und da ihm ein neidisches Vorenthalten keinen Genuss verschafft, so teilt er sie mit; aber wenn er auch das Bewusstsein hat, dass seine Mitteilung für die anderen höchst wertvoll sei, so hat er doch seine Wahrheit keinesfalls um der anderen willen gedacht und gefunden, sondern um seinetwillen, weil ihn selbst danach verlangte, weil ihm das Dunkel und der Wahn keine Ruhe liess, bis er nach seinen besten Kräften sich Licht und Aufklärung verschafft hatte.
Er arbeitete also um seinetwillen und zur Befriedigung seines Bedürfnisses. Dass er damit auch anderen, ja der Nachwelt nützlich war, nimmt seiner Arbeit den egoistischen Charakter nicht. Fürs Andere, wenn doch auch er nur seinetwegen arbeitete, warum wäre seine Tat menschlich, die der anderen unmenschlich, d.h. egoistisch? Etwa darum, weil dieses Buch, Gemälde, Symphonie usw. die Arbeit seines ganzen Wesens ist, weil er sein Bestes dabei getan, sich ganz hin[ein]gelegt hat und ganz daraus zu erkennen ist, während das Werk eines Handwerkers nur den Handwerker, d.h. die Handwerksfertigkeit, nicht »den Menschen« abspiegelt? In seinen Dichtungen haben Wir den ganzen Schiller, in so und so viel hundert Öfen haben Wir dagegen nur den Ofensetzer vor Uns, nicht »den Menschen«.
Heisst dies aber mehr als: in dem einen Werke seht Ihr Mich möglichst vollständig, in dem andern nur meine Fertigkeit? Bin Ich es nicht wiederum, den die Tat ausdrückt? Und ist es nicht egoistischer, sich der Welt in einem Werke darzubieten, sich auszuarbeiten und zu gestalten, als hinter seiner Arbeit versteckt zu bleiben? Du sagst freilich, Du offenbarest den Menschen. Allein der Mensch, den Du offenbarst, bist Du; Du offenbarst nur Dich, jedoch mit dem Unterschiede vom Handwerker, dass dieser sich nicht in eine Arbeit zusammenzupressen versteht, sondern, um als er selbst erkannt zu werden, in seinen sonstigen Lebensbeziehungen aufgesucht werden muss, und dass dein Bedürfnis, durch dessen Befriedigung jenes Werk zu Stande kam, ein – theoretisches war.
Aber Du wirst erwidern, dass Du einen ganz andern, einen würdigern, höheren, grösseren Menschen offenbarest, einen Menschen, der mehr Mensch sei, als jener Andere. Ich will annehmen, dass Du das Menschenmögliche vollführest, dass du zu Stande bringest, was keinem anderen gelingt. Worin besteht denn Deine Grösse? Gerade darin, dass Du mehr bist als andere Menschen (die »Masse«), mehr bist, als Menschen gewöhnlich sind, mehr als »gewöhnliche Menschen«, gerade in Deiner Erhabenheit über den Menschen. Vor andern Menschen zeichnest Du Dich nicht dadurch aus, dass Du Mensch bist, sondern weil Du ein »einziger« Mensch bist. Du zeigst wohl, was ein Mensch leisten kann, aber weil Du, ein Mensch, das leistest, darum können Andere, auch Menschen, es noch keineswegs leisten: Du hast es nur als einziger Mensch verrichtet und bist darin einzig.
Nicht der Mensch macht deine Grösse aus, sondern Du erschaffst sie, weil Du mehr bist, als Mensch, und gewaltiger, als andere – Menschen.
Man glaubt nicht mehr sein zu können, als Mensch. Vielmehr kann man nicht weniger sein!
Man glaubt ferner, was man immer auch erreiche, das komme dem Menschen zu Gute. Insofern Ich jederzeit Mensch bleibe, oder, wie Schiller, Schwabe, wie Kant, Preusse, wie Gustav Adolf, Kurzsichtiger, so werde Ich durch meine Vorzüge freilich ein ausgezeichneter Mensch, Schwabe, Preusse oder Kurzsichtiger. Aber damit steht’s nicht viel besser, wie mit Friedrich des Grossen Krückstock, der um Friedrichs willen berühmt wurde.
Dem »Gebt Gott die Ehre« entspricht das Moderne: »Gebt dem Menschen die Ehre«. Ich aber denke sie für Mich zu behalten.
Indem die Kritik an den Menschen die Aufforderung ergehen lässt, »menschlich« zu sein, spricht sie die notwendige Bedingung der Geselligkeit aus; denn nur als Mensch unter Menschen ist man umgänglich. Hiermit gibt sie ihren sozialen Zweck kund, die Herstellung der »menschlichen Gesellschaft«.
Unter den Sozialtheorien ist unstreitig die Kritik die vollendetste, weil sie alles entfernt und entwertet, was den Menschen vom Menschen trennt: alle Vorrechte bis auf das Vorrecht des Glaubens. In ihr kommt das Liebesprinzip des Christentums, das wahre Sozialprinzip, zum reinsten Vollzug, und wird das letzte mögliche Experiment gemacht, die Ausschliesslichkeit und das Abstossen den Menschen zu benehmen: ein Kampf gegen den Egoismus in seiner einfachsten und darum härtesten Form, in der Form der Einzigkeit, der Ausschliesslichkeit, selber.
»Wie könnt Ihr wahrhaft gesellschaftlich leben, solange auch nur eine Ausschliesslichkeit zwischen Euch noch besteht?«
Ich frage umgekehrt: Wie könnt Ihr wahrhaft einzig sein, solange auch nur Ein Zusammenhang zwischen Euch noch besteht? Hängt Ihr zusammen, so könnt Ihr nicht voneinander, umschliesst Euch ein »Band«, so seid Ihr nur selbander etwas, und Euer Zwölf machen ein Dutzend, Euer Tausende ein Volk, Euer Millionen die Menschheit.
»Nur wenn Ihr menschlich seid, könnt Ihr als Menschen miteinander umgehen, wie Ihr nur, wenn Ihr patriotisch seid, als Patrioten Euch verstehen könnt!«
Wohlan, so entgegne Ich: Nur wenn Ihr einzig seid, könnt Ihr als das, was Ihr seid, miteinander verkehren.
Gerade der schärfste Kritiker wird am schwersten von dem Fluche seines Prinzips getroffen werden. Indem er ein Ausschliessliches nach dem andern von sich tut, Kirchlichkeit, Patriotismus usw. abschüttelt, löst er ein Band nach dem andern auf und sondert sich vom Kirchlichen, vom Patrioten usw. ab, bis er zuletzt, nachdem alle Bande gesprengt sind, – allein steht. Er gerade muss alle ausschließen, die etwas Ausschliessliches oder Privates haben, und was kann am Ende ausschliesslicher sein, als die ausschliessliche, einzige Person selber!
Oder meint er etwa, dass es besser stände, wenn alle »Menschen« würden und die Ausschliesslichkeit aufgäben? Eben darum, weil »alle« bedeutet »jeder Einzelne«, bleibt ja der grellste Widerspruch erhalten, denn der »Einzelne« ist die Ausschliesslichkeit selber. Lässt der Humane dem Einzelnen nichts Privates oder Ausschliessliches, keinen Privatgedanken, keine Privatnarrheit mehr gelten, kritisiert er ihm alles vor der Nase weg, da sein Hass gegen das Private ein absoluter und ein fanatischer ist, kennt er keine Toleranz gegen Privates, weil alles Private unmenschlich ist: so kann er doch die Privatperson selbst nicht wegkritisieren, da die Härte der einzelnen Person seiner Kritik widersteht, und er muss sich damit begnügen, diese Person für eine »Privatperson« zu erklären, und ihr wirklich alles Private wieder überlassen.
Was wird die Gesellschaft, die sich um nichts Privates mehr bekümmert, tun? Das Private unmöglich machen? Nein, sondern es dem »Gesellschaftsinteresse unterordnen und z.B. dem Privatwillen überlassen, Feiertage, so viel wie er will, zu setzen, wenn er nur nicht mit dem allgemeinen Interesse in Kollision tritt«. (39) Alles Private wird freigelassen, d.h. es hat für die Gesellschaft kein Interesse. »Durch ihre Absperrung gegen die Wissenschaft haben die Kirche und Religiosität ausgesprochen, dass sie sind, was sie immer waren, was sich aber unter einem andern Scheine verbarg, wenn sie für die Basis und notwendige Begründung des Staats ausgegeben wurden – - eine reine Privatangelegenheit. Auch damals, als sie mit dem Staate zusammenhingen und diesen zum christlichen machten, waren sie nur der Beweis, das der Staat noch nicht seine allgemeine politische Idee entwickelt habe, dass er nur Privatrechte setze – - sie waren nur der höchste Ausdruck dafür, dass der Staat eine Privatsache sei und nur mit Privatsachen zu tun habe. Wenn der Staat endlich den Mut und die Kraft haben wird, seine allgemeine Bestimmung zu erfüllen und frei zu sein, wenn er also auch im Stande ist, den besondern Interessen und Privatangelegenheiten ihre wahre Stellung zu geben – dann werden Religion und Kirche frei sein, wie sie es bisher noch nie gewesen. Als die reinste Privatangelegenheit und Befriedigung des rein persönlichen Bedürfnisses werden sie sich selbst überlassen sein, und jeder Einzelne, jede Gemeinde und Kirchengemeinschaft werden für die Seligkeit der Seele sorgen können, wie sie wollen und wie sie es für nötig halten. Für seiner Seele Seligkeit wird jeder sorgen, soweit es ihm persönliches Bedürfnis ist und als Seelsorger denjenigen annehmen und besolden, der ihm die Befriedigung seines Bedürfnisses am besten zu garantieren scheint. Die Wissenschaft wird endlich ganz aus dem Spiel gelassen.« (40) Was soll jedoch werden? Soll das gesellschaftliche Leben ein Ende haben und alle Umgänglichkeit, alle Verbrüderung, alles, was durch das Liebes- oder Sozietätsprinzip geschaffen wird, verschwinden?
Als ob nicht immer einer den anderen suchen wird, weil er ihn braucht, als ob nicht einer in den anderen sich fügen muss, wenn er ihn braucht. Der Unterschied ist aber der, dass dann wirklich der Einzelne sich mit dem Einzelnen vereinigt, indes er früher durch ein Band mit ihnen verbunden war: Sohn und Vater umfängt vor der Mündigkeit ein Band, nach derselben können sie selbständig zusammentreten, vor ihr gehörten sie als Familienglieder zusammen (waren die »Hörigen« der Familie), nach ihr vereinigen sie sich als Egoisten, Sohnschaft und Vaterschaft bleiben, aber Sohn und Vater binden sich nicht mehr daran. Das letzte Privilegium ist in Wahrheit »der Mensch«; mit ihm sind alle privilegiert oder belehnt. Denn, wie Bruno Bauer selbst sagt: »Das Privilegium bleibt, wenn es auch auf alle ausgedehnt wird.«
So verläuft der Liberalismus in folgenden Wandlungen:
Erstens: Der Einzelne ist nicht der Mensch, darum gilt seine einzelne Persönlichkeit nichts: kein persönlicher Wille, keine Willkür, kein Befehl oder Ordonnanz!
Zweitens: Der Einzelne hat nichts Menschliches, darum gilt kein Mein und Dein oder Eigentum.
Drittens: Da der Einzelne weder Mensch ist noch Menschliches hat, so soll er überhaupt nicht sein, soll als ein Egoist mit seinem Egoistischen durch die Kritik vernichtet werden, um dem Menschen, »dem jetzt erst gefundenen Menschen« Platz zu machen.
Obgleich aber der Einzelne nicht Mensch ist, so ist der Mensch in dem Einzelnen doch vorhanden und hat, wie jeder Spuk und alles Göttliche, an ihm seine Existenz. Daher spricht der politische Liberalismus dem Einzelnen alles zu, was ihm als »Menschen von Geburt«, als geborenem Menschen zukommt, wohin denn Gewissensfreiheit, Besitz usw., kurz die »Menschenrechte« gerechnet werden; der Sozialismus vergönnt dem Einzelnen, was ihm als tätigem Menschen, als »arbeitendem« Menschen zukommt; endlich der humane Liberalismus gibt dem Einzelnen, was er als »Mensch« hat, d.h. alles, was der Menschheit gehört. Mithin hat der Einzige gar nichts, die Menschheit alles, und es wird die Notwendigkeit der im Christentum gepredigten »Wiedergeburt« unzweideutig und im vollkommensten Masse gefordert. Werde eine neue Kreatur, werde »Mensch«!
Sogar an den Schluss des Vaterunsers könnte man sich erinnert glauben. Dem Menschen gehört die Herrschaft (die »Kraft« oder Dynamis); darum darf kein Einzelner Herr sein, sondern der Mensch ist der Herr der Einzelnen „ ; des Menschen ist das Reich, d.h. die Welt, deshalb soll der Einzelne nicht Eigentümer sein, sondern der Mensch, »alle«, gebietet über die Welt als Eigentum „ ; dem Menschen gebührt von Allem der Ruhm, die Verherrlichung oder »Herrlichkeit« (Doxa), denn der Mensch oder die Menschheit ist der Zweck des Einzelnen, für den er arbeitet, denkt, lebt, und zu dessen Verherrlichung er »Mensch« werden muss.
Die Menschen haben bisher immer gestrebt, eine Gemeinschaft ausfindig zu machen, worin ihre sonstigen Ungleichheiten »unwesentlich« würden; sie strebten nach Ausgleichung, mithin nach Gleichheit, und wollten Alle unter einen Hut kommen, was nichts Geringeres bedeutet, als dass sie einen Herrn suchten, Ein Band, einen Glauben (»Wir glauben all’ an einen Gott«). Etwas Gemeinschaftlicheres oder
Gleicheres kann es für die Menschen nicht geben, als den Menschen selbst, und in dieser Gemeinschaft hat der Liebesdrang seine Befriedigung gefunden: er rastete nicht, bis er diese letzte Ausgleichung herbeigeführt, alle Ungleichheit geebnet, den Menschen dem Menschen an die Brust gelegt hatte. Gerade unter dieser Gemeinschaft aber wird der Verfall und das Zerfallen am schreiendsten. Bei einer beschränkteren Gemeinschaft stand noch der Franzose gegen den Deutschen, der Christ gegen Mohammedaner usw. Jetzt hingegen steht der Mensch gegen die Menschen, oder, da die Menschen nicht der Mensch sind, so steht der Mensch gegen den Unmenschen.
Dem Satze: »Gott ist Mensch geworden« folgt nun der andere: »Der Mensch ist Ich geworden.« Dies ist das menschliche Ich. Wir aber kehren’s um und sagen: Ich habe Mich nicht finden können, solange Ich Mich als Menschen suchte. Nun sich aber zeigt, dass der Mensch darnach trachtet, Ich zu werden und in Mir eine Leibhaftigkeit zu gewinnen, merke Ich wohl, dass doch Alles auf Mich ankommt, und der Mensch ohne Mich verloren ist. Ich mag aber nicht zum Schrein dieses Allerheiligsten Mich hingeben und werde hinfort nicht fragen, ob Ich in Meiner Betätigung Mensch oder Unmensch sei: es bleibe mir dieser Geist vom Halse!
Der humane Liberalismus geht radikal zu Werke. Wenn Du auch nur in einem Punkte etwas Besonderes sein oder haben willst, wenn Du auch nur Ein Vorrecht vor anderen Dir bewahren, nur Ein Recht in Anspruch nehmen willst, das nicht ein »allgemeines Menschenrecht« ist, so bist Du ein Egoist.
Recht so! Ich will nichts Besonderes von anderen haben oder sein, Ich will kein Vorrecht gegen sie beanspruchen, aber – Ich messe Mich auch nicht an anderen, und will überhaupt kein Recht haben. Ich will Alles sein und Alles haben, was ich sein und haben kann. Ob Andere Ähnliches sind und haben, was kümmert’s Mich? Das Gleiche, dasselbe können sie weder sein, noch haben. Ich tue Ihnen keinen Abbruch, wie Ich dem Felsen dadurch keinen Abbruch tue, dass Ich die Bewegung vor ihm »voraushabe«. Wenn sie es haben könnten, so hätten sie’s.
Den andern Menschen keinen Abbruch zu tun, darauf kommt die Forderung hinaus, kein Vorrecht zu besitzen. Allem »Voraushaben« zu entsagen, die strengste Entsagungs-Theorie. Man soll sich nicht für »etwas Besonderes« halten, wie z.B. Jude oder Christ. Nun, Ich halte Mich nicht für etwas Besonderes, sondern für einzig. Ich habe wohl Ähnlichkeit mit anderen; das gilt jedoch nur für die Vergleichung oder Reflexion; in der Tat bin Ich unvergleichlich, einzig. Mein Fleisch ist nicht ihr Fleisch, mein Geist ist nicht ihr Geist. Bringt Ihr sie unter die Allgemeinheiten »Fleisch, Geist«, so sind das eure Gedanken, die mit meinem Fleische, meinem Geiste nichts zu schaffen haben, und am wenigsten an das Meinige einen »Beruf« ergehen lassen können.
Ich will an Dir nichts anerkennen oder respektieren, weder den Eigentümer, noch den Lump, noch auch nur den Menschen, sondern Dich verbrauchen. Am Salze finde Ich, dass es die Speisen Mir schmackhaft macht, darum lasse Ich’s zergehen; im Fische erkenne Ich ein Nahrungsmittel, darum verspeise Ich ihn; an Dir entdecke Ich die Gabe, Mir das Leben zu erheitern, daher wähle Ich Dich zum Gefährten. Oder am Salze studiere Ich die Kristallisation, am Fische die Animalität, an Dir die Menschen usw. Mir bist Du nur dasjenige, Du für Mich bist, nämlich mein Gegenstand, und weil mein Gegenstand, darum mein Eigentum.
Im humanen Liberalismus vollendet sich die Lumperei, Wir müssen erst auf das Lumpigste, Armseligste herunterkommen, wenn Wir zur Eigenheit gelangen wollen, denn Wir müssen alles Fremde ausziehen. Lumpiger aber scheint nichts, als der nackte – Mensch.
Mehr als Lumperei ist es indessen, wenn Ich auch den Menschen wegwerfe, weil ich fühle, dass auch er Mir fremd ist und dass Ich Mir darauf nichts einbilden darf. Es ist das nicht mehr bloß Lumperei: weil auch der letzte Lumpen abgefallen ist; so steht die wirkliche Nacktheit, die Entblößung
von allem Fremden da. Der Lump hat die Lumperei selbst ausgezogen und damit aufgehört zu sein, was er war, ein Lump.
Ich bin nicht mehr Lump, sondern bin’s gewesen.
Bis zur Stunde konnte die Zwietracht deshalb nicht zum Ausbruch kommen, weil eigentlich nur ein Streit neuer Liberaler mit veralteten Liberalen vorhanden ist, ein Streit derer, welche die »Freiheit« in kleinem Masse verstehen, und derer, welche das »volle Mass« der Freiheit wollen, also der Gemäßigten und Masslosen. Alles dreht sich um die Frage: Wie frei muss der Mensch sein? Dass der Mensch frei sein müsse, daran glauben Alle; darum sind auch Alle liberal. Aber der Unmensch, der doch in jedem Einzelnen steckt, wie dämmt man den? Wie stellt man’s an, dass man nicht mit dem Menschen zugleich den Unmenschen frei lässt?
Der gesamte Liberalismus hat einen Todfeind, einen unüberwindlichen Gegensatz, wie Gott den Teufel: dem Menschen steht der Unmensch, der Einzelne, der Egoist stets zur Seite. Staat, Gesellschaft, Menschheit bewältigen diesen Teufel nicht.
Der humane Liberalismus verfolgt die Aufgabe, den andern Liberalen zu zeigen, dass sie immer noch nicht die »Freiheit« wollen.
Hatten die andern Liberalen nur vereinzelten Egoismus vor Augen, und waren sie für den grössten Teil blind, so hat der radikale Liberalismus den Egoismus »in Masse« gegen sich, wirft Alle, die nicht die Sache der Freiheit, wie er, zur eigenen machen, unter die Masse, so dass jetzt Mensch und Unmensch streng geschieden als Feinde gegeneinander stehen, nämlich die »Masse« und die »Kritik«; (42) und zwar die »freie, menschliche Kritik«, wie sie (Judenfrage S. 114) (43) genannt wird, gegenüber der rohen, z.B. religiösen Kritik.
Die Kritik spricht die Hoffnung aus, dass sie über die ganze Masse siegen und ihr »ein allgemeines Armutszeugnis ausstellen werde«. (44) Sie will also zuletzt Recht behalten und allen Streit der »Mutlosen und Zaghaften« als eine egoistische Rechthaberei darstellen, als Kleinlichkeit, Armseligkeit. Aller Hader verliert an Bedeutung und die kleinlichen Zwistigkeiten werden aufgegeben, weil in der Kritik ein gemeinsamer Feind ins Feld rückt. »Ihr seid allesamt Egoisten, einer nicht besser als der andere!« Nun stehen die Egoisten zusammen gegen die Kritik.
Wirklich die Egoisten? Nein, sie kämpfen gerade darum gegen die Kritik, weil diese sie des Egoismus beschuldigt; sie sind des Egoismus nicht geständig. Mithin stehen Kritik und Masse auf derselben Basis: beide kämpfen gegen den Egoismus, beide weisen ihn von sich ab, und schieben ihn einander zu Die Kritik und die Masse verfolgen dasselbe Ziel, Freiheit vom Egoismus, und hadern nur darüber, wer von ihnen dem Ziele sich am meisten nähere oder gar es erreiche.
Die Juden, die Christen, die Absolutisten, die Dunkelmänner und Lichtmänner, Politiker, Kommunisten, kurz Alle halten den Vorwurf des Egoismus von sich fern, und da nun die Kritik diesen Vorwurf ihnen unverblümt und im ausgedehntesten Sinne macht, so rechtfertigen sich Alle gegen die Anschuldigung des Egoismus, und bekämpfen den – Egoismus, denselben Feind, mit welchem die Kritik Krieg führt.
Egoistenfeinde sind beide, Kritik und Masse, und beide suchen sich vom Egoismus zu befreien, sowohl dadurch, dass sie sich reinigen oder reinwaschen, als dadurch, dass sie ihn der Gegenpartei zuschreiben.
Der Kritiker ist der wahre »Wortführer der Masse«, der ihr den »einfachen Begriff und die Redensart« des Egoismus gibt, wogegen die Wortführer, welchen Lit. Ztg. V, 24 der Triumph abgesprochen wird, nur Stümper waren. (45) Er ist ihr Fürst und Feldherr in dem Freiheitskriege gegen den Egoismus; wogegen erkämpft, dagegen kämpft auch sie. Er ist aber zugleich auch ihr Feind, nur nicht der Feind vor ihr, sondern der befreundete Feind, der die Knute hinter den Zaghaften führt, um ihnen [ihren?] Mut zu erzwingen.
Dadurch reduziert sich der Gegensatz der Kritik und der Masse auf folgende Gegenrede: »Ihr seid Egoisten!« – »»Nein, Wir sind’s nicht!«« – »Ich will’s Euch beweisen!« – »»Du sollst unsere Rechtfertigung erfahren!«« –
Nehmen Wir denn beide, wofür sie sich ausgeben, für Nichtegoisten, und wofür sie einander nehmen, für Egoisten. Sie sind Egoisten und sind’s nicht.
Die Kritik sagt eigentlich: Du musst dein Ich so gänzlich von aller Beschränktheit befreien, dass es ein menschliches Ich wird. Ich sage: Befreie Dich so weit Du kannst, so hast Du das Deinige getan; denn nicht jedem ist es gegeben, alle Schranken zu durchbrechen, oder sprechender: Nicht jedem ist das eine Schranke, was für den anderen eine ist. Folglich mühe Dich nicht an den Schranken Anderer ab; genug, wenn Du die deinigen niederreissest. Wem ist es jemals gelungen, auch nur eine Schranke für alle Menschen niederzureissen? Laufen nicht heute wie zu jeder Zeit Unzählige mit allen »Schranken der Menschheit« herum? Wer eine seiner Schranken umwirft, der kann anderen Weg und Mittel gezeigt haben; das Umwerfen ihrer Schranken bleibt ihre Sache. Auch tut keiner etwas Anderes. Den Leuten zumuten, dass sie ganz Menschen werden, heißt sie auffordern, alle menschlichen Schranken zu stürzen. Das ist unmöglich, weil der Mensch keine Schranken hat. Ich habe zwar deren, aber Mich gehen auch nur die meinigen etwas an, und nur sie können von Mir bezwungen werden. Ein menschliches Ich kann Ich nicht werden, weil Ich eben Ich und nicht bloß Mensch bin.
Doch sehen Wir noch, ob die Kritik Uns nicht etwas gelehrt hat, das Wir beherzigen können! Frei bin Ich nicht, wenn Ich nicht interesselos, Mensch nicht, wenn Ich nicht uninteressiert bin? Nun, verschlägt es Mir auch wenig, frei oder Mensch zu sein, so will Ich doch keine Gelegenheit, Mich durchzusetzen oder geltend zu machen, ungenutzt vorbeilassen. Die Kritik bietet Mir diese Gelegenheit durch die Lehre, dass, wenn sich etwas in Mir festsetzt und unauflöslich wird, Ich der Gefangene und Knecht desselben, d.h. ein Besessener, werde. Ein Interesse, es sei wofür es wolle, hat an Mir, wenn Ich nicht davon loskommen kann, einen Sklaven erbeutet, und ist nicht mehr mein Eigentum, sondern Ich bin das seine. Nehmen wir daher die Weisung der Kritik an, keinen Teil unsers Eigentums stabil werden zu lassen, und Uns nur wohl zu fühlen im – Auflösen.
Sagt also die Kritik: Du bist nur Mensch, wenn Du rastlos kritisierst und auflösest! so sagen Wir: Mensch bin Ich ohnehin, und Ich bin Ich ebenfalls; darum will Ich nur Sorge tragen, dass Ich mein Eigentum Mir sichere, und um es zu sichern, nehme Ich’s jederzeit in Mich zurück, vernichte in ihm jede Regung nach Selbständigkeit, und verschlinge es, ehe sich’s fixieren und zu einer »fixen Idee« oder einer »Sucht« werden kann.
Das tue Ich aber nicht um meines »menschlichen Berufes« willen, sondern weil Ich Mich dazu berufe. Ich spreize Mich nicht, Alles aufzulösen, was einem Menschen aufzulösen möglich ist, und solange Ich z.B. noch keine zehn Jahre alt bin, kritisiere Ich den Unsinn der Gebote nicht, bin aber gleichwohl Mensch und handle gerade darin menschlich, dass Ich sie noch unkritisiert lasse. Kurz, Ich habe keinen Beruf, und folge keinem, auch nicht dem, Mensch zu sein.
Weise Ich nun zurück, was der Liberalismus in seinen verschiedenen Anstrengungen errungen hat? Es sei ferne, dass etwas Errungenes verloren gehe! Nur wende Ich, nachdem durch den Liberalismus »der Mensch« frei geworden, den Blick wieder auf Mich zurück und gestehe Mir’s offen: Was der Mensch gewonnen zu haben scheint, das habe nur Ich gewonnen.
Der Mensch ist frei, wenn »der Mensch dem Menschen das höchste Wesen ist«. Also gehört es zur Vollendung des Liberalismus, dass jedes andere höchste Wesen vernichtet, die Theologie durch die Anthropologie umgeworfen, der Gott und seine Gnaden verlacht, der »Atheismus« allgemein werde. Der Egoismus des Eigentums hat sein Letztes eingebüsst, wenn auch das »Mein Gott« sinnlos geworden ist; denn Gott ist nur, wenn ihm das Heil des Einzelnen am Herzen liegt, wie dieser in ihm sein Heil sucht.
Der politische Liberalismus hob die Ungleichheit der Herren und Diener auf, er machte herrenlos, anarchisch. Der Herr wurde nun vom Einzelnen, dem »Egoisten« entfernt, um ein Gespenst zu werden: das Gesetz oder der Staat. Der soziale Liberalismus hebt die Ungleichheit des Besitzes, der Armen und Reichen auf, und macht besitzlos oder eigentumslos. Das Eigentum wird dem Einzelnen entzogen und der gespenstischen Gesellschaft überantwortet. Der humane Liberalismus macht gottlos, atheistisch. Deshalb muss der Gott des Einzelnen, »mein Gott«, abgeschafft werden. Nun ist zwar die Herrenlosigkeit zugleich Dienstlosigkeit, Besitzlosigkeit zugleich Sorglosigkeit, und Gottlosigkeit zugleich Vorurteilslosigkeit, denn mit dem Herrn fällt der Diener weg, mit dem Besitz die Sorge um ihn, mit dem festgewurzelten Gott das Vorurteil; da aber der Herr als Staat wieder aufersteht, so erscheint der Diener als Untertan wieder, da der Besitz zum Eigentum der Gesellschaft wird, so erzeugt sich die Sorge von neuem als Arbeit, und da der Gott als Mensch zum Vorurteil wird, so ersteht ein neuer Glaube, der Glaube an die Menschheit oder Freiheit. Für den Gott des Einzelnen ist nun der Gott Aller, nämlich »der Mensch« erhöht worden: »es ist ja Unser Aller Höchstes, Mensch zu sein.« Da aber Niemand ganz das werden kann, was die Idee »Mensch« besagt, so bleibt der Mensch dem Einzelnen ein erhabenes Jenseits, ein unerreichtes höchstes Wesen, ein Gott. Zugleich aber ist dies der »wahre Gott«, weil er uns völlig adäquat, nämlich unser eigenes »Selbst« ist: Wir selbst, aber von Uns getrennt und über Uns erhaben.
ANMERKUNG
Vorstehende Beurteilung der »freien menschlichen Kritik« war, wie auch dasjenige, was anderwärts noch sich auf Schriften dieser Richtung bezieht, unmittelbar nach dem Erscheinen der betreffenden Bücher bruchstückweise niedergeschrieben worden, und Ich tat wenig mehr, als dass Ich die Fragmente zusammentrug. Die Kritik dringt aber rastlos vorwärts und macht es dadurch notwendig, dass Ich jetzt, nachdem mein Buch zu Ende geschrieben ist, noch einmal auf sie zurückkommen und diese Schlussanmerkung einschieben muss.
Ich habe das neueste, das achte Heft der Allgemeinen Literaturzeitung von Bruno Bauer vor Mir. (46) Obenan stehen da wieder »die allgemeinen Interessen der Gesellschaft«. Allein die Kritik hat sich besonnen und dieser »Gesellschaft« eine Bestimmung gegeben, wodurch sie von einer vorher damit noch verwechselten Form abgesondert wird: der »Staat«, in früheren Stellen noch als »freier Staat« gefeiert, wird völlig aufgegeben, weil er in keiner Weise die Aufgabe der »menschlichen Gesellschaft« erfüllen kann. Die Kritik hat nur 1842 sich »gezwungen gesehen, für einen Augenblick das menschliche und das politische Wesen zu identifizieren«; jetzt aber hat sie gefunden, dass der Staat, selbst als »freier Staat« nicht die menschliche Gesellschaft, oder, wie sie ebenfalls sagen könnte, dass das Volk nicht »der Mensch« ist. Wir sahen, wie sie mit der Theologie fertig wurde und klar bewies, dass vor dem Menschen der Gott zusammensinkt; Wir sehen sie nun in derselben Weise mit der Politik ins Reine kommen und zeigen, dass vor dem Menschen die Völker und Nationalitäten fallen: Wir sehen also, wie sie mit Kirche und Staat sich auseinandersetzt, indem sie beide für unmenschlich erklärt, und Wir werden es sehen – denn sie verrät es Uns bereits », wie sie auch den Beweis zu führen vermag, dass vor dem Menschen die »Masse«, die sie sogar selbst ein »geistiges Wesen« nennt, wertlos erscheint. Wie sollten sich auch vor dem höchsten Geiste die kleineren »geistigen Wesen« halten können! »Der Mensch« wirft die falschen Götzen nieder.
Was der Kritiker also für jetzt beabsichtigt, das ist die Betrachtung der »Masse«, die er vor »den Menschen« hinstellen wird, um sie von diesem aus zu bekämpfen. »Was ist jetzt der Gegenstand der Kritik?« – »Die Masse, ein geistiges Wesen!« Sie wird der Kritiker »kennen lernen« und finden, dass sie mit dem Menschen in Widerspruch stehe, es wird dartun, dass sie unmenschlich sei, und dieser Beweis wird ihm eben so wohl gelingen als die früheren, dass das Göttliche und das Nationale, oder das Kirchliche und Staatliche, das Unmenschliche sei.
Die Masse wird definiert als »das bedeutendste Erzeugnis der Revolution, als die getäuschte Menge, welche die Illusionen der politischen Aufklärung, überhaupt der ganzen Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts einer grenzenlosen Verstimmung übergeben haben«. Die Revolution befriedigte durch ihr Resultat die Einen und liess Andere unbefriedigt; der befriedigte Teil ist das Bürgertum (Bourgeoisie, Philister usw.), der unbefriedigte ist die – Masse. Gehört der Kritiker, so gestellt, nicht selbst zur »Masse«? Aber die Unbefriedigten befinden sich noch in großer Unklarheit, und ihre Unzufriedenheit äussert sich erst in einer »grenzenlosen Verstimmung«. Deren will nun der gleichfalls, unbefriedigte Kritiker Meister werden: er kann nicht mehr wollen und erreichen, als jenes »geistige Wesen«, die Masse, aus ihrer Verstimmung herausbringen, und die nur Verstimmten »heben«, d.h. ihnen die richtige Stellung zu den zu überwindenden Revolutionsresultaten geben, – er kann das Haupt der Masse werden, ihr entschiedener Wortführer. Darum will er auch »die tiefe Kluft, welche ihn von der Menge scheidet, aufheben«. Von denen, welche »die unteren Volksklassen heben wollen«, unterscheidet er sich dadurch, dass er nicht bloß diese, sondern auch sich selbst aus der »Verstimmung« erlösen will.
Aber allerdings trügt ihn auch sein Bewusstsein nicht, wenn er die Masse für den »natürlichen Gegner der Theorie« hält und voraussieht, dass, »je mehr sich diese Theorie entwickeln wird, um so mehr sie die Masse zu einer kompakten machen wird«. Denn der Kritiker kann mit seiner Voraussetzung, dem Menschen, die Masse nicht aufklären noch befriedigen. Ist sie, gegenüber dem Bürgertum, nur »untere Volksklasse«, eine politisch unbedeutende Masse, so muss sie noch mehr gegenüber »dem Menschen« eine bloße »Masse«, eine menschlich unbedeutende, ja eine unmenschliche Masse oder eine Menge von Unmenschen sein. Der Kritiker räumt mit allem Menschlichen auf, und von der Voraussetzung ausgehend, dass das Menschliche das Wahre sei, arbeitet er sich selbst entgegen, indem er dasselbe überall, wo es bisher gefunden wurde, bestreitet. Er beweist nur, dass das Menschliche nirgends als in seinem Kopfe, das Unmenschliche aber überall zu finden sei. Das Unmenschliche ist das Wirkliche, das allerwärts Vorhandene, und der Kritiker spricht durch den Beweis, dass es »nicht menschlich« sei, nur deutlich den tautologischen Satz aus, dass es eben das Unmenschliche sei.
Wie aber, wenn das Unmenschliche, indem es entschlossenen Mutes sich selbst den Rücken kehrte, auch von dem beunruhigenden Kritiker sich abwendete und ihn, von seiner Einrede unberührt und ungetroffen, stehen liesse? »Du nennst Mich das Unmenschliche, könnte es zu ihm sagen, und Ich bin es wirklich – für Dich; aber Ich bin es nur, weil Du Mich zum Menschlichen in Gegensatz bringst, und Ich konnte Mich selbst nur so lange verachten, als Ich Mich an diesen Gegensatz bannen liess. Ich war verächtlich, weil Ich mein »besseres Selbst« ausser Mir suchte; Ich war das Unmenschliche, weil Ich vom »Menschlichen« träumte; Ich glich den Frommen, die nach ihrem »wahren Ich« hungern und immer »arme Sünder« bleiben; Ich dachte Mich nur im Vergleich zu einem anderen; genug Ich war nicht Alles in Allem, war nicht – einzig. Jetzt aber höre Ich auf, Mir selbst als das Unmenschliche vorzukommen, höre auf, Mich am Menschen zu messen und messen zu lassen, höre auf, etwas über Mir anzuerkennen, und somit – Gott befohlen, humaner Kritiker! Ich bin das Unmenschliche nur gewesen, bin es jetzt nicht mehr, sondern bin das Einzige, ja Dir zum Abscheu das Egoistische, aber das Egoistische nicht, wie es am Menschlichen, Humanen und Uneigennützigen sich messen lässt, sondern das Egoistische als das – Einzige.«
Noch auf einen andern Satz desselben Heftes haben Wir zu achten. »Die Kritik stellt keine Dogmen auf und will nichts als die Dinge kennenlernen.« (47) Der Kritiker fürchtet sich »dogmatisch« zu werden oder Dogmen aufzustellen. Natürlich, er würde dadurch ja zum Gegensatz des Kritikers, zum Dogmatiker, er würde, wie er als Kritiker gut ist, nun böse, oder würde aus einem Uneigennützigen ein Egoist usw. »Nur kein Dogma!« das ist sein – Dogma. Denn es bleibt der Kritiker mit dem Dogmatiker auf ein und demselben Boden, dem der Gedanken. Gleich dem letzteren geht er stets von einem Gedanken aus, aber darin weicht er ab, dass er’s nicht aufgibt, den Prinzipiellen Gedanken im Denkprozesse zu erhalten, ihn also nicht stabil werden lässt. Er macht nur den Denkprozess gegen die Denkgläubigkeit, den Fortschritt im Denken gegen den Stillstand in demselben geltend. Vor der Kritik ist kein Gedanke sicher, da sie das Denken oder der denkende Geist selber ist.
Deshalb wiederhole Ich’s, dass die religiöse Welt – und diese ist eben die Welt der Gedanken – in der Kritik ihre Vollendung erreicht, indem das Denken über jeden Gedanken übergreift, deren keiner sich »egoistisch« festsetzen darf. Wo bliebe die »Reinheit der Kritik«, die Reinheit des Denkens, wenn auch nur Ein Gedanke sich dem Denkprozesse entzöge? Daraus erklärt sich’s, dass der Kritiker sogar hie und da schon über den Gedanken des Menschen, der Menschheit und Humanität leise spöttelt, weil er ahnt, dass hier ein Gedanke sich dogmatischer Festigkeit nähere. Aber er kann diesen Gedanken doch eher nicht auflösen, bis er einen – »höheren« gefunden hat, in welchem jener zergehe; denn er bewegt sich eben nur – in Gedanken. Dieser höhere Gedanke könnte als der der Denkbewegung oder des Denkprozesses selbst, d.h. als der Gedanke des Denkens oder der Kritik ausgesprochen werden.
Die Denkfreiheit ist hierdurch in der Tat vollkommen geworden, die Geistesfreiheit feiert ihren Triumph: denn die einzelnen, die »egoistischen« Gedanken verloren ihre dogmatische Gewalttätigkeit. Es ist nichts übrig geblieben, als das – Dogma des freien Denkens oder der Kritik.
Gegen alles, was der Welt des Denkens angehört, ist die Kritik im Rechte, d.h. in der Gewalt; sie ist die Siegerin. Die Kritik, und allein die Kritik »steht auf der Höhe der Zeit«. Vom Standpunkte des Gedankens aus gibt es keine Macht, die der ihrigen überlegen zu sein vermöchte, und es ist eine Lust, zu sehen, wie leicht und spielend dieser Drache alles andere Gedankengewürm verschlingt. Es windet sich freilich jeder Wurm, sie aber zermalmt ihn in allen »Wendungen«.
Ich bin kein Gegner der Kritik, d.h. Ich bin kein Dogmatiker, und fühle Mich von dem Zahne des Kritikers, womit er den Dogmatiker zerfleischt, nicht getroffen. Wäre Ich ein »Dogmatiker«, so stellte Ich ein Dogma, d.h. einen Gedanken, eine Idee, ein Prinzip obenan, und vollendete dies als »Systematiker«, indem Ich’s zu einem System, d.h. einem Gedankenbau ausspönne. Wäre Ich umgekehrt ein Kritiker, nämlich ein Gegner des Dogmatikers, so führte Ich den Kampf des freien Denkens gegen den knechtenden Gedanken, verteidigte das Denken gegen das Gedachte. Ich bin aber weder der Champion eines Gedankens, noch der des Denkens; denn »Ich«, von dem Ich ausgehe, bin weder ein Gedanke, noch bestehe Ich im Denken. An Mir, dem Unnennbaren, zersplittert das Reich der Gedanken, des Denkens und des Geistes.
Die Kritik ist der Kampf des Besessenen gegen die Besessenheit als solche, gegen alle Besessenheit, ein Kampf, der in dem Bewusstsein begründet ist, dass überall Besessenheit oder, wie es der Kritiker nennt, religiöses und theologisches Verhältnis vorhanden ist. Er weiß, dass man nicht bloß gegen Gott, sondern ebenso gegen andere Ideen, wie Recht, Staat, Gesetz usw. sich religiös oder gläubig verhält, d.h. er erkennt die Besessenheit allerorten. So will er durch das Denken die Gedanken auflösen, Ich aber sage, nur die Gedankenlosigkeit rettet Mich wirklich vor dem Gedanken. Nicht das Denken, sondern meine Gedankenlosigkeit oder Ich, der Undenkbare, Unbegreifliche befreie Mich aus der Besessenheit.
Ein Ruck tut Mir die Dienste des sorglichsten Denkens, ein Recken der Glieder schüttelt die Qual der Gedanken ab, ein Aufspringen schleudert den Alp der religiösen Welt von der Brust, ein aufjauchzendes Juchhe wirft jahrelange Lasten ab. Aber die ungeheure Bedeutung des gedankenlosen Jauchzens konnte in der langen Nacht des Denkens und Glaubens nicht erkannt werden.
»Welche Plumpheit und Frivolität, durch ein Abbrechen die schwierigsten Probleme lösen, die umfassendsten Aufgaben erledigen zu wollen!«
Hast Du aber Aufgaben, wenn Du sie Dir nicht stellst? So lange Du sie stellst, wirst Du nicht von ihnen lassen, und Ich habe ja nichts dagegen, dass Du denkst und denkend tausend Gedanken erschaffest. Aber Du, der Du die Aufgaben gestellt hast, sollst Du sie nicht wieder umwerfen können?
Musst Du an diese Aufgaben gebunden sein, und müssen sie zu absoluten Aufgaben werden?
Um nur eines anzuführen, so hat man die Regierung darum herabgesetzt, dass sie gegen Gedanken Mittel der Gewalt ergreift, gegen die Presse mittels der Polizeigewalt der Zensur einschreitet und aus einem literarischen Kampfe einen persönlichen macht. Als ob es sich lediglich um Gedanken handelte, und als ob man gegen Gedanken uneigennützig, selbstverleugnend und aufopfernd sich verhalten müsste! Greifen jene Gedanken nicht die Regierenden selbst an und fordern so den Egoismus heraus? Und stellen die Denkenden nicht an die Angegriffenen die religiöse Forderung, die Macht des Denkens, der Ideen, zu verehren? Sie sollen freiwillig und hingebend erliegen, weil die göttliche Macht des Denkens, die Minerva, auf Seiten ihrer Feinde kämpft. Das wäre ja ein Akt der Besessenheit, ein religiöses Opfer. Freilich stecken die Regierenden selbst in religiöser Befangenheit und folgen der leitenden Macht einer Idee oder eines Glaubens; aber sie sind zugleich ungeständige Egoisten, und gerade gegen die Feinde bricht der zurückgehaltene Egoismus los: Besessene in ihrem Glauben sind sie zugleich unbesessen von dem Glauben der Gegner, d.h. sie sind gegen diesen Egoisten. Will man ihnen einen Vorwurf machen, so könnte es nur der umgekehrte sein, nämlich der, dass sie von ihren Ideen besessen sind.
Gegen die Gedanken soll keine egoistische Gewalt auftreten, keine Polizeigewalt u. dergl. So glauben die Denkgläubigen. Aber das Denken und seine Gedanken sind Mir nicht heilig, und Ich wehre Mich auch gegen sie meiner Haut. Das mag ein unvernünftiges Wehren sein; bin Ich aber der Vernunft verpflichtet, so muss Ich, wie Abraham, ihr das Liebste opfern!
Im Reiche des Denkens, welches gleich dem des Glaubens das Himmelreich ist, hat allerdings jeder Unrecht, der gedankenlose Gewalt braucht, gerade so, wie jeder Unrecht hat, der im Reiche der Liebe lieblos verfährt, oder, obgleich er ein Christ ist, also im Reiche der Liebe lebt, doch unchristlich handelt: er ist in diesen Reichen, denen er anzugehören meint und gleichwohl ihren Gesetzen sich entzieht, ein »Sünder« oder »Egoist«. Aber er kann auch der Herrschaft dieser Reiche sich nur entziehen, wenn er an ihnen zum Verbrecher wird.
Das Resultat ist auch hier dies, dass der Kampf der Denkenden gegen die Regierung zwar soweit im Rechte, nämlich in der Gewalt ist, als er gegen die Gedanken derselben geführt wird (die Regierung verstummt und weiß literarisch nichts Erhebliches einzuwenden), dagegen im Unrechte, nämlich in der Ohnmacht, sich befindet, soweit er nichts als Gedanken gegen eine persönliche Macht ins Feld zu führen weiß (die egoistische Macht stopft den Denkenden den Mund). Der theoretische Kampf kann nicht den Sieg vollenden und die heilige Macht des Gedankens unterliegt der Gewalt des Egoismus. Nur der egoistische Kampf, der Kampf von Egoisten auf beiden Seiten, bringt Alles ins Klare.
Dies Letzte nun, das Denken selbst zu einer Sache des egoistischen Beliebens, einer Sache des Einzigen, gleichsam zu einer bloßen Kurzweil oder Liebhaberei zu machen und ihm die Bedeutung, »letzte entscheidende Macht zu sein«, abzunehmen, diese Herabsetzung und Entheiligung des Denkens, diese Gleichstellung des gedankenlosen und gedankenvollen Ich’s, diese plumpe, aber wirkliche »Gleichheit« – vermag die Kritik nicht herzustellen, weil sie selbst nur Priesterin des Denkens ist und über das Denken hinaus nichts sieht als – die Sündflut.
Die Kritik behauptet z.B. zwar, dass die freie Kritik über den Staat siegen dürfe, aber sie wahrt sich zugleich gegen den Vorwurf, welcher ihr von der Staatsregierung gemacht wird, dass sie »Willkür und Frechheit« sei; sie meint also, »Willkür und Frechheit« dürfen nicht siegen, nur sie dürfe es. Es ist vielmehr umgekehrt: der Staat kann nur von frecher Willkür wirklich besiegt werden. Es kann nun, um hiermit zu schließen, einleuchten, dass der Kritiker in seiner neuen Wendung sich selber nicht umgewandelt, sondern nur »ein Versehen gut gemacht« hat, »mit einem Gegenstande ins Reine gekommen« ist und zu viel sagt, wenn er davon spricht, dass die »Kritik sich selbst kritisiere«; sie oder vielmehr er hat nur ihr »Versehen« kritisiert und sie von ihren »Inkonsequenzen« geläutert. Wollte er die Kritik kritisieren, so musste er zusehen, ob an der Voraussetzung derselben etwas sei.
Ich Meinesteils gehe von einer Voraussetzung aus, indem Ich Mich voraussetze; aber meine Voraussetzung ringt nicht nach ihrer Vollendung, wie der »nach seiner Vollendung ringende Mensch«, sondern dient Mir nur dazu, sie zu genießen und zu verzehren. Ich zehre gerade an meiner Voraussetzung allein und bin nur, indem Ich sie verzehre. Darum aber ist jene Voraussetzung gar keine; denn da Ich der Einzige bin, so weiß Ich nichts von der Zweiheit eines voraussetzenden und vorausgesetzten Ich’s (eines »unvollkommenen« und »vollkommenen« Ich’s oder Menschen), sondern, dass Ich Mich verzehre, heißt nur, dass Ich bin. Ich setze Mich nicht voraus, weil Ich Mich jeden Augenblick überhaupt erst setze oder schaffe, und nur dadurch Ich bin, dass Ich nicht vorausgesetzt, sondern gesetzt bin, und wiederum nur in dem Moment gesetzt, wo Ich Mich setze, d.h. Ich bin Schöpfer und Geschöpf in einem.
Sollen die bisherigen Voraussetzungen in einer völligen Auflösung zergehen, so dürfen sie nicht wieder in eine höhere Voraussetzung, d.h. einen Gedanken oder das Denken selbst, die Kritik, aufgelöst werden. Es soll ja jene Auflösung Mir zu Gute kommen, sonst gehörte sie nur in die Reihe der unzähligen Auflösungen, welche zu Gunsten Anderer, z.B. eben des Menschen, Gottes, des Staates, der reinen Moral usw., alte Wahrheiten für Unwahrheiten erklärten und lang genährte Voraussetzungen abschafften.