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Die Demokratie (griechisch δημοκÏατία "Mehrheitsherrschaft" [russisch: Bolschinstwo = Bolschewismus] = von δήμος démos "Volk, viele oder Mehrheit" + κÏατία, kratÃa "Macht, Herrschaft, Kraft, Stärke") bezeichnete zunächst im antiken Griechenland die direkte Herrschaft eines Teils der Bevölkerung, d.h. der freien, männlichen Bürger, während die Bevölkerungsmehrheit ― Frauen, Sklaven, Kinder u.a. ― weitgehend rechtlos blieb. Heute wird Demokratie zumeist als allgemeinerer Sammelbegriff für Regierungsformen gebraucht, deren Herrschaftsgrundlage aus dem Volk abgeleitet wird. Da Anarchisten jede Form der Herrschaft ablehnen, lehnen sie auch die Herrschaft des Volkes ab (genau wie die "Diktatur des Proletariats"). Auffällig ist dabei, daß die Hinterfragung dieses Zustandsbegriffes in der Öffentlichkeit nicht stattfindet, ja de facto unter Strafe gestellt wird, während das zugeordnete Bewegungswort Populismus in der öffentlichen Wahrnehmung durchaus kritisch gesehen wird.
Demokratie ist nichts anderes
als das Niederknüppeln des Volkes
durch das Volk für das Volk.
Oscar Wilde
Contents
- 1 Demokratie-Kritik allgemein
- 2 Die anarchistische Demokratie-Kritik
- 3 Demokratie löst keine Probleme
- 4 Wahlen ohne Alternative?
- 5 Was ist schlecht an Hierarchie?
- 6 Kritik an Parlamentarismus / autoritärem Sozialismus (Marxismus)
- 7 Warum gründen AnarchistInnen keine Partei?
- 8 Literatur:
- 9 Siehe auch
- 10 Weblinks
Demokratie-Kritik allgemein
Ein wesentliches Verfahren zur Herstellung von Legitimation wie auch eines kapitalismuskonformen Konsenses sind allgemeine, geheime und freie Wahlen. Damit wird es der Bevölkerungsmehrheit möglich, missliebige Politiker oder Parteien abzuwählen und durch andere zu ersetzen. Die neue Regierung, egal ob sich ihre Politik von derjenigen der alten Regierung unterscheidet oder nicht, kann sich gegenüber Kritikern darauf berufen, dass sie „gewählt“ und somit von der Mehrheit der Bevölkerung auch „gewollt“ sei. Diese „Legitimität durch Verfahren“ steht in der politikwissenschaftlichen Behandlung der Demokratie im Vordergrund - bei weitgehender Ausblendung des kapitalistischen Kontextes. Dem Unmut der Bevölkerung über die Zumutungen der Politik wird durch die Möglichkeit von regelmäßigen Wahlen nicht nur ein frühzeitiges Ventil geboten, er wird auch kanalisiert, indem er sich gegen einzelne Politiker und Parteien richtet und nicht gegen das politische und ökonomische System, das hinter deren Politik steht. Dementsprechend gilt in der bürgerlichen Öffentlichkeit ein politisches System dann als demokratisch, wenn es die effektive Möglichkeit zur Abwahl der Regierung bietet.
Die in Teilen der Linken anzutreffende Idealisierung der Demokratie, welche die real existierenden demokratischen Institutionen am Ideal eines Staatsbürgers misst, der über möglichst viele Sachverhalte durch Abstimmungen selbst entscheiden sollte, sieht genauso vom sozialen und ökonomischen Kontext der Demokratie ab wie der oben erwähnte politikwissenschaftliche Mainstream. Neben den unterschiedlichen Varianten demokratischer Systeme (mit starkem Präsidenten, mit starkem Parlament etc.) gibt es keine „wirkliche“ Demokratie, die man endlich mal einführen müsste; unter kapitalistischen Verhältnissen sind die existierenden demokratischen Systeme bereits die „wirkliche“ Demokratie (wer die „wirkliche“ Demokratie in möglichst vielen und einfach einzuleitenden Volksabstimmungen erblickt, möge sich z.B. in der Schweiz umschauen, ob dies zu großen Veränderungen führt).
Staat und Öffentlichkeit stellen, wie oft hervorgehoben wird, einen Kampfplatz unterschiedlicher Interessen dar; in einem demokratischen System ist dies besonders deutlich zu sehen. Allerdings ist dieser Kampfplatz kein neutrales Spielfeld. Vielmehr wirkt sich dieses Spielfeld strukturierend auf die Auseinandersetzungen und die aus ihnen resultierende politische Praxis aus. Die staatliche Politik ist zwar keineswegs durch die ökonomische Situation vollständig determiniert, bei ihr handelt es sich aber auch nicht um einen offenen Prozess, bei dem alles möglich wäre. Einerseits spielen etwa Auseinandersetzungen innerhalb und zwischen den Klassen sowie die relative Stärke und Konfliktfähigkeit einzelner Gruppen etc. eine wichtige Rolle, so dass unterschiedliche Entwicklungen stets möglich sind. Andererseits muss die Politik aber immer auch dem kapitalistischen Gesamtinteresse an einer gelingenden Kapitalakkumulation Rechnung tragen. Parteien und Politiker mögen von ihrer Herkunft und ihren Werthaltungen her durchaus unterschiedlich sein; in ihrer Politik, insbesondere wenn sie an der Regierung sind, orientieren sie sich in der Regel an diesem Gesamtinteresse. Dies liegt nicht daran, dass sie von der Kapitalseite „bestochen“ oder sonst irgendwie abhängig wären (obwohl dies auch vorkommen kann), sondern an der Art und Weise, wie sich Parteien durchsetzen, und an den Arbeitsbedingungen der Regierung - Prozesse und Bedingungen, denen sich auch linke Parteien, die auf Regierungsbeteiligung abzielen, nicht entziehen können.
Um als Präsident gewählt zu werden oder als Partei eine Mehrheit zu erhalten, müssen unterschiedliche Interessen und Werthaltungen angesprochen werden. Um in den Medien ernst genommen zu werden (eine wesentliche Voraussetzung dafür, um überhaupt bekannt zu werden), müssen „realistische“, „umsetzbare“ Vorschläge gemacht werden. Bevor es einer Partei gelingt, auch nur in die Nähe der Regierungsbeteiligung zu kommen, durchläuft sie in der Regel einen langjährigen Erziehungsprozess, in welchem sie sich an die „Notwendigkeiten“, d.h. an die Verfolgung des kapitalistischen Gesamtinteresses immer weiter anpasst, einfach um einen größeren Wahlerfolg zu haben. Ist eine Partei dann endlich an der Regierung, muss sie dafür Sorge tragen, dass sie die erreichte Zustimmung behält. Hier wird nun insbesondere wichtig, dass ihr „politischer Gestaltungsspielraum“ ganz entscheidend von ihren finanziellen Möglichkeiten abhängt: diese werden einerseits von der Höhe der Steuereinnahmen bestimmt und andererseits von der Höhe der Ausgaben, zu denen als größter Posten die sozialen Leistungen gehören. Bei einer erfolgreichen Kapitalakkumulation ist das Steueraufkommen hoch und die Sozialausgaben für Arbeitslose und Arme sind relativ gering. In Krisenphasen geht dagegen das Steueraufkommen zurück und gleichzeitig steigen die Sozialausgaben. Die materielle Grundlage des Staates ist somit unmittelbar mit der Kapitalakkumulation verknüpft; keine Regierung kommt an dieser Abhängigkeit vorbei. Zwar kann eine Regierung ihren finanziellen Spielraum mittels Verschuldung etwas erhöhen, doch wachsen damit auch die zukünftigen Finanzlasten. Zudem erhält ein Staat nur solange problemlos Kredit, wie die zukünftigen Steuereinnahmen, aus denen der Kredit zurückgezahlt werden soll, gesichert sind, was wiederum eine gelingende Kapitalakkumulation voraussetzt.
Die anarchistische Demokratie-Kritik
«Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber.» ("Volksweisheit")
Eigentlich ist schon das Wort DEMOKRATIE eine Zumutung. "Demokratie" heißt "Volksherrschaft". Herrscht irgendwo "das Volk"? Natürlich nicht, bestenfalls darf das Volk Menschen wählen, von denen es sich beherrschen läßt. Und selbst die bekommt es vorsortiert angeboten.
Es gibt auch keine â€wirkliche†Demokratie, die noch auf ihre Einführung wartet. Auch Plebiszite (Volksabstimmungen) wie in der Schweiz wird erkennen müssen, das diese keineswegs demokratischer sind oder zu mehr Gleichheit führen. Das Ideal des gut informierten und politische interessierten Staatsbürgers (das selbst von großen Teilen der Linken geteilt wird) ist eine Illusion und geht nicht auf den sozialen und ökonomischen Kontextes der Demokratien im Kapitalismus ein.
Staat und Öffentlichkeit stellen, wie man es besonders in einem demokratischen System erkennen kann einen Kampfplatz unterschiedlicher Interessen dar. Dieser Kampfplatz ist kein neutrales Spielfeld, kein Kampfplatz unter Gleichen. Die Bedingungen werden durch verschiedene Faktoren festgelegt, wie die ökonomische Situation oder die Stärke der Interessengruppe. Die Politik in einer Demokratie muss immer dem kapitalistischen Interesse an einer Gewinnmaximierung und Kapitalakkumulation Rechnung tragen.
Das Spielfeld wirkt sich auch strukturierend auf die Auseinandersetzungen und die aus ihnen resultierende politische Praxis aus. Die Demokratie vermasst Politik und Ideen. Der Zwang gewählt zu werden zwingt sie sich immer in erster Linie für Interessen einzusetzen, die in der Gesellschaft eine entsprechende Unterstützung findet. Dies ist nicht gleichbedeutend mit der Mehrheit der Bevölkerung. Reformen greifen z.B. auch oft das, wo es keine Lobby gibt und nicht dort, wo sie am sinnvollsten wären. Prozesse und Bedingungen, denen sich auch linke Parteien, die auf Regierungsbeteiligung abzielen, nicht entziehen können. Bevor es einer Partei gelingt, auch nur in die Nähe der Regierungsbeteiligung zu kommen, durchläuft sie in der Regel einen langjährigen Erziehungsprozess, in welchem sie sich an die â€Notwendigkeitenâ€, d.h. an die Verfolgung des kapitalistischen Gesamtinteresses immer weiter anpasst, einfach um einen größeren Wahlerfolg zu haben.
Ist eine Partei dann endlich an der Regierung, muss sie dafür Sorge tragen, dass sie die erreichte Zustimmung behält. Hier wird nun insbesondere wichtig, dass ihr â€politischer Gestaltungsspielraum†ganz entscheidend von ihren finanziellen Möglichkeiten abhängt: diese werden einerseits von der Höhe der Steuereinnahmen bestimmt und andererseits von der Höhe der Ausgaben, zu denen als größter Posten die sozialen Leistungen gehören. Bei einer erfolgreichen Kapitalakkumulation ist das Steueraufkommen hoch und die Sozialausgaben für Arbeitslose und Arme sind relativ gering. In Krisenphasen geht dagegen das Steueraufkommen zurück und gleichzeitig steigen die Sozialausgaben. Die materielle Grundlage des Staates ist somit unmittelbar mit der Kapitalakkumulation verknüpft; keine Regierung kommt an dieser Abhängigkeit vorbei. Zwar kann eine Regierung ihren finanziellen Spielraum mittels Verschuldung etwas erhöhen, doch wachsen damit auch die zukünftigen Finanzlasten. Zudem erhält ein Staat nur solange problemlos Kredit, wie die zukünftigen Steuereinnahmen, aus denen der Kredit zurückgezahlt werden soll, gesichert sind, was wiederum eine gelingende Kapitalakkumulation voraussetzt.
Eine wirkliche Demokratie wäre, wenn das ganze Volk über das ganze Volk herrschte, also jeder Mensch jedem anderen genausoviel zu sagen hätte, wie er sich von anderen zu sagen lassen hat. Das ist entweder Unsinn oder das Ende der Herrschaft von Menschen über Menschen. Denn wenn jeder jeden beherrscht, ist das genau dasselbe, wie wenn niemand herrscht. Da Menschen aber unterschiedliche Meinungen haben, kann solch eine Demokratie in einem Staat nicht funktionieren, es sei denn, eine Meinung setzte sich durch und unterdrückte viele andere. Genau das aber ist in unseren "Demokratien" der Fall. Der Unterschied zwischen Diktaturen und Demokratien besteht genau gesehen darin, daß in ersteren eine Minderheit die Mehrheit und in letzteren eine Mehrheit zahlreiche Minderheiten unterdrückt. Beides aber ist eine Herrschaft einiger über viele, also eine Oligarchie und keine Demokratie - auch, wenn sich die Herrschenden ihre Herrschaft von einer Mehrheit legitimieren lassen.
Weil aber Menschen verschiedene Meinungen haben, die sich eben nicht in einer Gesellschaft unter einen Hut bringen lassen, ist Demokratie - die Herrschaft aller über alle - entweder nur in kleineren Gruppen möglich oder gar nicht. Ein Netz kleiner Gruppen, eine Föderation verschiedener Gesellschaften aber ist nichts anderes als Anarchie. Wirkliche Demokratie ist also entweder anarchisch oder unsinnig.
Nun wissen wir ja alle, daß man bei uns unter "Demokratie" etwas ganz anderes versteht, nämlich das parlamentarische System. Viele Menschen halten es für das beste aller Systeme. Zugegeben, es gibt schlechtere. Aber hier geht es nicht um die Frage, wie viele Menschen sich in der "parlamentarischen Demokratie" ziemlich wohl fühlen weil nichts besseres zur Hand ist, sondern darum, ob der Parlamentarismus überhaupt eine Demokratie ist.
Natürlich gibt es auch hier einen Herrscher - statt des Königs, Kaisers oder Diktators eben einen Präsidenten, Kanzler oder Premierminister. Sie alle - die "Diktatoren" wie die "Demokraten" - sind Repräsentanten jener grundlegenden staatlich wirtschaftlichen Interessen, die wir bereits betrachtet haben. Deshalb macht es für AnarchistInnen keinen Unterschied, ob sie diesen oder jenen wählen oder ob sie überhaupt wählen, denn ihrer Meinung nach unterscheiden sie sich nur in ziemlich unwesentlichen Punkten. Im wesentlichen, in ihrer Einstellung zum Staat und dessen Interessen, sind sie sich gleich. Der Anarchismus geht davon aus, daß Staatlichkeit im Grunde immer anti-freiheitlich eingestellt sein muß. Durch die Verlockungen der ihr eigenen Hierarchie wird sie immer einen Repräsentanten finden, der ihre Interessen vertritt. Egal, ob ein bißchen linker oder rechter, Hauptsache, es geht nicht ans Eingemachte - und dafür sorgen Grundgesetz und "parlamentarische Spielregeln". Schlußendlich ist es auch egal, ob gewählt oder nicht; aber gewählt ist im Zweifelsfalle besser, denn jede Unterdrückung legitimiert sich am liebsten dadurch, daß die Unterdrückten sich ihre Unterdrücker selbst ausgesucht haben: die Regierung. Die wahren Mächtigen bleiben dezent im Hintergrund. Aber haben wir eigentlich eine Wahl?
Demokratie löst keine Probleme
Wer die Tagespolitik verfolgt, gelangt zu der Einsicht, dass die staatliche Demokratie den Problemen immer nur hinterher läuft. Es werden Gesetze eingebracht, von Lobbyisten bis zur Unkenntlichkeit verändert und kaum sind sie verabschiedet kommen weitere Gesetze mit Ausnahmeregelungen oder gar die Rücknahme des Gesetzes. Die parlamentarische Demokratie ist zunehemnd nicht mehr imstande auf Probleme adäquat zu reagieren. In Deutschland führten z.B. die Hartz-Arbeitsmarkt-Reformen, die die Effizienz der Arbeitsmarktpolitik erhöhen sollten, zu einer Explosion der Kosten. Somit konnte die Politik nicht einmal ihre eigenen Ziel erfüllen. Brachte die Demokratie im Zuge der französischen Revolution noch einige neue Freiheiten und Rechte, so stagniert zur Zeit die Weiterentwicklung - und auch die Bürokratie ist nicht zuletzt ein Ergebnis dieses hierarchischen politischen Systems. Probleme werden eben nicht an Ort und Stelle und unmittelbar gelöst, sonder durch Politikberater, Kommissionen, Lobby-Verbände und andere Interessengruppen. Auf diese Art kann es keine menschengerechten Lösungen geben. Hinzu kommt das der Versuch Gleichheit über einen "Rechtsstaat" zu erzwingen ebenso zum Scheitern verurteilt ist. Gleichheit kann man nicht durch Zwang herbeiführen - schon gar nicht dann, wenn man einige Tabus aufstellt, das Eigentum heilig spricht aber dafür gerne bei denjenigen anfängt den Wohlstand einzuschränken, die sich in dem System wenigsten wehren können. Ebenso erfordert die Verabschiedung von "Gesetzen" auch deren Durchsetzung, im Zweifelsfalle mit Zwangsmaßnahmen um den Willen des Gesetzgebers Nachdruck zu verleihen. Auch hier kommt es zur Herrschaft mit all ihren negativen Auswirkungen. Eine Demokratie muss sich in erheblichen Umfang mit sich selbst beschäftigen und verliert dabei immer weitgehender die Lösung der eigentlichen Problemstellung aus den Augen.
Wahlen ohne Alternative?
Ein wesentliches Verfahren zur Herstellung von Legitimation wie auch eines kapitalismus-konformen Konsenses sind (angeblich) "allgemeine, geheime und freie Wahlen". Damit wird es der Bevölkerungsmehrheit möglich, missliebige Politiker oder Parteien abzuwählen und durch andere zu ersetzen. Die neue Regierung, egal ob sich ihre Politik von derjenigen der alten Regierung unterscheidet oder nicht, kann sich gegenüber Kritikern darauf berufen, dass sie â€gewählt†und somit von der Mehrheit der Bevölkerung auch â€gewollt†sei. Diese â€Legitimität durch Verfahren†steht in der politikwissenschaftlichen Behandlung der Demokratie im Vordergrund – bei weitgehender Ausblendung des kapitalistischen Kontextes. Dem Unmut der Bevölkerung über die Zumutungen der Politik wird durch die Möglichkeit von regelmäßigen Wahlen nicht nur ein frühzeitiges Ventil geboten, er wird auch kanalisiert, indem er sich gegen einzelne Politiker und Parteien richtet und nicht gegen das politische und ökonomische System, das hinter deren Politik steht. Dementsprechend gilt in der bürgerlichen Öffentlichkeit ein politisches System dann als demokratisch, wenn es die effektive Möglichkeit zur Abwahl der Regierung bietet.
Eine Wahl ist eine Entscheidung zwischen zwei oder mehreren Alternativen. Nehmen wir einmal an, Sie gingen in einen Supermarkt, in der Absicht, Schokolade zu kaufen und dort fänden Sie sich vor der Möglichkeit, zwischen einundzwanzig verschiedenen Waschmitteln "wählen" zu dürfen - und sonst nichts. Sie könnten sicher eine "Wahl" treffen, aber nicht das wählen, was Sie wollen. Es wäre keine Wahl zwischen wirklichen Alternativen.
Natürlich kann man sagen, die Partei X ist ein wenig liberaler, sozialer und freiheitlicher als die Partei Y. Wenn aber das Ziel Freiheit ist, und Freiheit nur ohne Staat und Regierung geht, alle Parteien aber Staat und Regierung sind, so kann ich eben nicht das wählen, was ich will. Ich muß es schon selber herstellen, erreichen, aufbauen. Wenn ich ein Leben ohne Regierung will, ist es absurd, mir die Leute auszuwählen, die mich regieren sollen.
AnarchistInnen sehen dies alles aus einer sehr radikalen Perspektive: Wenn ich Gefängnisinsasse/in bin und freikommen möchte - so argumentieren sie -, werde ich diese Freiheit nicht erreichen, indem mir die Gefängnisverwaltung die Wahl des Wachpersonals ermöglicht. Da mag es zwar Wärter geben, die nicht prügeln und mir den Alltag erträglicher machen. Vielleicht ist es gut, wenn ich die wähle, dann geht es mir besser. Aber im Gefängnis sitze ich nach wie vor. Womöglich gewöhne ich mich sogar an den Knast, ebenso wie meine MitgefangenInnen: wir lassen uns in das System einspannen, genießen kleine Verbesserungen und vergessen das Ziel. Am Ende beteiligen wir uns gar an einer Häftlingsselbstverwaltung und bewachen uns selbst.
Ersetzt man die Begriffe "Gefängnis" durch "Kapitalismus" und "Bewacher" durch "Staat", so wird dieser Vergleich zum drastischen Gleichnis der jüngeren politischen Geschichte: AnarchistInnen haben seit jeher dafür plädiert, das Gefängnis niederzureißen und ein neues Leben zu beginnen. KommunistInnen haben ein Loch in die Mauer gesprengt, sind ausgebrochen und haben an anderer Stelle ein noch größeres Gefängnis gebaut. SozialdemokratInnen haben gemeint, man könne der Gefangenschaft auch entrinnen, indem man zunächst die netteren Bewacher wählt und sich dann selber wählen läßt. Heute sind sie ab und zu GefängnisdirektorInnen und mühen sich nach Kräften, daß es den Insassen dann etwas besser geht.
Betrachten wir statt des Zielbegriffs "Freiheit" einmal das reale Problem der Umweltzerstörung, so wird die Absurdität parlamentarischer Wahlen noch augenfälliger: Stellen wir uns die Gesellschaft als einen Zug vor, der auf den Abgrund einer ökologischen Katastrophe zufährt. Ein Gleis zweigt rechts ab und führt direkt ins Verderben, die mittlere Schiene ist etwas länger, und der linke Abzweig fährt noch einen kleinen Umweg, landet am Ende aber auch im selben Loch. Wahlen zwischen diesen drei Weichenstellungen sind keine Wahlen zwischen wirklichen Alternativen. Die wirkliche Alternative wäre, eine neue Gleisanlage zu bauen. Dafür sind die AnarchistInnen und dafür waren vor nicht allzulanger Zeit auch noch die Grünen. Inzwischen haben sie sich für das linke Gleis entschieden, unter der Bedingung, während der Fahrt ein bißchen an der Bremse ziehen zu dürfen.
So stellt sich den LibertärInnen die Spielwiese der parlamentarischen Demokratie dar: sie läßt den Menschen die Illusion, etwas zu entscheiden, wo doch längst alles Wesentliche entschieden ist und von uns gar nicht entschieden werden darf. Genau das ist der Grund, warum sich AnarchistInnen in der Regel nicht an Wahlen beteiligen.
Die meisten Menschen glauben an Wahlen oder meinen zumindest, die Unterschiede zwischen den einzelnen Parteien seien Grund genug, wenigstens das kleinere Übel zu wählen. Die Frage aber bleibt, ob sie dabei wirklich wählen. Zum Beispiel den Bundeskanzler. Wählen wir ihn? Stellen wir die Kandidaten auf? Wir wählen allenfalls zwischen zwei längst gewählten Ähnlichkeiten. In Wahrheit hat kein einfacher Bürger einen tatsächlichen Einfluß auf das politische Geschehen seines Landes - das Vorrecht, das uns die parlamentarische Demokratie gewährt, ist, alle vier Jahre ein Kreuz auf einer Liste schon lange zuvor ausgewählter Menschen zu machen. Sind diese erst einmal gewählt, haben wir keinerlei Einfluß mehr auf ihr Handeln. Im Prinzip können sie machen, was ihnen beliebt. Viele PolitikerInnen scheren sich schon am Tag nach der Wahl nicht mehr um ihre Zusagen und den Willen ihrer Wähler. Das steht, etwas feiner ausgedrückt, auch im Grundgesetz: PolitikerInnen sind nur ihrem Gewissen verantwortlich.
Was ist schlecht an Hierarchie?
Hierarchie entfremdet. Eigentlich wird ein Mensch ja in ein Amt berufen, um dort den Willen derer zu vertreten, die ihn gewählt haben und ihn für diese Arbeit bezahlen. Keiner Firma würde es einfallen, eine/n Prokuristen/in einzustellen und ihm dann zu überlassen, was er auf diesem Posten tun will. In der Politik aber verstößt die Bindung an ein Mandat gegen die Eigeninteressen der PolitikerInnen. Sie dürfen das Prinzip des Regierens niemals zugunsten einer direkten Demokratie oder gar der Selbstverwaltung in Frage stellen. Warum wohl wehren sich unsere Politiker so wortreich gegen die einfachsten Formen unmittelbarer Demokratie wie Volksbegehren oder Volksentscheid? Vor allem, weil der Staat ein Selbstzweck ist und seine Existenz gegen jede Konkurrenz verteidigen muß.
Je höher die Ebene politischer Macht angesiedelt ist, desto größer ist dieser Grad der politischen Entfremdung zwischen Wähler und Gewähltem. Gibt es in der Lokalpolitik bisweilen noch Möglichkeiten direkten Kontaktes, persönlicher Einflußnahme und unmittelbarer Kontrolle, so sind diese Möglichkeiten in der Landespolitik schon bedeutend eingeengt. Wer aber jemals versucht hat, an "seinen/r" Bundestagsabgeordneten/in ein Problem heranzutragen und sich davon eine Lösung erhoffte, weiß, wie aussichtslos solch ein Anliegen ist. Dies mag eine Erklärung dafür sein, daß manche AnarchistInnen an Kommunalwahlen teilnehmen, während sie die Landtags- oder Bundestagswahl boykottieren.
Kritik an Parlamentarismus / autoritärem Sozialismus (Marxismus)
Dieser Abschnitt ist bearbeitungswürdig. Bitte hilf Anarchopedia und überarbeite ihn.
Europa wurde in den letzten Jahrzehnten Zeuge zahlreicher Regierungswechsel, die SozialistInnen oder SozialdemokratInnen an die Macht brachten: In Griechenland und Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Spanien, Italien, Portugal oder Schweden gaben sie mehr oder weniger lange "Gastspiele". Schon kleinste soziale Eingriffe führten sofort zu Reaktionen: Börseneinbrüche, Kapitalflucht, Unternehmerstreiks und -boykotte, Verweigerung und passiver Widerstand bis hin zu Verleumdungen und Verschwörungen. Am Ende reduzierte sich der Unterschied zwischen "sozialistischer" und "konservativer" Politik auf die Frage, ob die Mehrwertsteuer oder die Sozialhilfe um ein Prozent verschoben wird oder nicht. Setzen wir gegen alle Zweifel einmal voraus, daß diese Parteien tatsächlich eine sozialere und freiere Gesellschaft wollten, so muß man die Bilanz all dieser Regierungen ganz nüchtern so interpretieren:
Im Rahmen staatlicher Gesetze und kapitalistischer Normen ist selbst die zaghafteste Veränderung, die die Privilegien von Staat und Kapital gefährdet, nicht möglich. Entweder schickt man Panzer oder entzieht das Geld. Mitterand als "Sozialist" mußte sich genauso an die Gesetze halten wie Kohl als Konservativer, und beide taten es vermutlich mit derselben inneren Überzeugung, weil SozialistInnen heute zu ebenso zuverlässigen Säulen staatlich-kapitalistischer Ordnung geworden sind wie KonservativInnen.
Nach Meinung der AnarchistInnen kommt das daher, daß sie sich vor mehr als hundert Jahren auf das Spiel des Parlamentarismus eingelassen haben. Sie hatten geglaubt, sie könnten die Spielleitung austricksen, aber die Spielregeln sind klug ausgedacht. Sein Räderwerk mahlt stetig, arbeitet zäh und hat eine ungeahnte Kraft, Menschen in seinen Bann zu ziehen, zu korrumpieren und zu integrieren. Auch die nobelste Idee, jede noch so integre Persönlichkeit bleibt da am Ende auf der Strecke.
In der Parlamentarischen Demokratie nimmt der einzelne Mensch dadurch "Einfluss" auf politische Entscheidungen indem er bei regelmäßig stattfindenden Wahlen seine Simme einem Vertreter überlässt, der für ihn die politischen Entscheidungen versucht herbei zu führen. Allerdings unterliegt der Vertreter nicht der Kontrolle seiner Wähler. Diese haben bis zur erneuten Wahl keine Einflussnahme mehr auf Zusammensetzung oder Entscheidungen des von ihnen bestimmten Parlaments.
Die politische Entscheidungsgewalt wird für eine gewisse Zeit an eine kleine Personengruppe, das Parlament zusammen mit der Regierung, delegiert. Einflußnahme auf die eigentlichen politischen Entscheidungen findet (in der Reinform) nur durch regelmäßig abgehaltene Wahlen statt. Daher wird der Parlamentarismus nicht von allen politischen Theorien als Demokratie anerkannt, sondern als Wahl-Oligarchie betrachtet. Zwischen den Wahlen sind die politischen Entscheidungsträger vom direkten Einfluß ihrer Basis weitgehend abgekoppelt, während auch die Basis nicht die Motivationen und Folgen der politischen Entscheidungen vollständig überblicken kann.
Die Wahlen selbst können nur aufgrund einer verzerrten Darstellung der politischen Arbeit der verschiedenen Kräfte getroffen werden: Die Regierungsmehrheit ist die einzige wirklich entscheidende Kraft innerhalb des Parlaments, während die Opposition mit schönen Programmen locken kann, ohne wirklich Konsequenzen tragen zu müssen.
Auch die Referendumsdemokratie wird als direkte Demokratie bezeichnet. Oftmals ist sie als Ergänzung zum Parlamentarismus zu finden. Einem Bürgerbegehren folgt hier der Volksentscheid als bindender Beschluss aller wahlberechtigten BürgerInnen.
Warum gründen AnarchistInnen keine Partei?
Weil Anarchie nicht wählbar ist! Sie könnten ihre Ziele doch in ein Programm schreiben, sich wählen lassen und, falls eine Mehrheit hinter ihnen steht, die Anarchie einführen.
Die Gründe, das nicht zu tun, lassen sich in einem Satz zusammenfassen: Anarchie läßt sich nicht "einführen". Man kann sie nicht einfach wählen - an einer solchen Gesellschaftsform muß man teilnehmen. Sie braucht Menschen, die selbst mitdenken und mithandeln sowie eine Struktur, in der Macht nicht mehr delegiert, sondern selbst ausgeübt wird. Selbstverständlich kennt auch das anarchistische System die Delegierung von Entscheidung, Ausführung und Funktion. Sie beruht jedoch auf Vertrauen - Macht verbleibt beim einzelnen Menschen, der sich nach wie vor selbst "regiert". Eine Regierung wählen, die mich nicht regiert, ist indes ein Unding und in Wahlen werden nun einmal Regierungen gewählt. Anarchie ist nicht Politik, sondern das gesamte Leben. Und damit eine an-archische Gesellschaft funktioniert, müssen sich viele Dinge ändern, und die ändern sich nicht, indem man eine politische Elite wählt, sondern indem sich die Menschen mit ihrer Gesellschaft verändern.
Jede Wahl aber trägt dazu bei, Illusionen zu festigen. Die Illusion etwa, wir würden tatsachlich über unser Leben bestimmen, unser Schicksal aktiv gestalten. Die Illusion, wir hätten unsere Herrschaft selbst legitimiert, und die Herrscher handelten in unserem Sinne. Vor allem aber die Illusion, daß über den Weg parlamentarischer Wahlen wirkliche, grundlegende Änderungen möglich seien. Das ist jedoch so gut wie unmöglich. Wir brauchen uns nur anzuschauen was passiert, wenn Menschen, die tiefgreifende Änderungen durchsetzen wollen, durch Wahlen an die Macht kommen. In Chile siegte 1972 eine linke Volksfront. Ihr Präsident Salvador Allende, ein Marxist, wollte soziale Gleichheit durchsetzen, aber das ist verboten. Gesetze und Verfassungen geben nur einen sehr engen Rahmen vor, in dem Änderungen erlaubt sind. Dieselben Gesetze schützen genau die Dinge, die zu verändern wären, allem voran die Fragen von Eigentum, Hierarchie, Ungleichheit und Macht. Das Tragische an dem chilenischen Beispiel war, daß der biedere Allende von den Mächtigen nach nur einem Jahr durch einen Militärputsch gestürzt und getötet wurde, obwohl er, einmal an der Macht, gar keine radikalen Veränderungen mehr versuchte, sondern sich strikt an die Gesetze hielt. Die Lehre hieraus ist einfach: Selbst wenn eine Mehrheit den radikalen Wandel wählt, werden die wirklich Mächtigen keine Veränderung tolerieren und notfalls ihre eigenen Gesetze mit Füßen treten. Radikaler Wandel muß in der Wirklichkeit wachsen. Je breiter, stabiler und vernetzter dies geschieht, desto schwerer ist er aufzuhalten.
Literatur:
- Gerhard Senf: Essenz der Anarchie. Die Parlaemntarismuskritik des libertären Sozialismus, Wien 2006m 176 S.
- Errico Malatesta: In Wahlzeiten Meppen 1988, Ems Kopp, 30 S.
- Rudolf Rocker: Wozu noch in die Parlamente? Reutlingen 1987, Trotzdem, 82 S.
- Roben P. Wolff: Eine Verteidigung des Anarchismus Wetzlar 1979, Büchse der Pandora, 88 S.
- ders.: Das Elend des Liberalismus Frankfurt 1969, Edition Suhrkamp, 261 S.
Siehe auch
Weblinks
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