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ethischer anarchismus

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"Wo Geist ist, da ist Gesellschaft. Wo Geistlosigkeit ist, ist Staat. Der Staat ist das Surrogat des Geistes." Gustav Landauer


Gustav Landauer / Ethischer Anarchismus als "Utopie der Echtzeit".

Paul Feyerabend, ein anarchistischer Theoretiker der Wissenschaftsgeschichte schrieb gegen den begrenzten Horizont in den Naturwissenschaften. Wichtiger als das unbedingte Festhalten an praktizierten Wissenschaftsregeln ist die Berücksichtigung der vom Wissenschaftsbetrieb experimentell nicht bewiesenen Theorien. Nicht das starre Festhalten an bewährten Wissenschaftsregeln; das Ignorieren dogmatischen Denkens bringt Fortschritt der Wissenschaften. Für den anarchistischen Theoretiker der Naturwissenschaft ist ein Merkmal dieses wissenschaftlichen Fortschritts ein veränderter Sprachgebrauch: Die herrschende Rhetorik, d.h. die leicht ins dogmatische abdriftende Theoriesprache wurde mit einer neuen, der Beobachtersprache, konfrontiert. Die Beobachtersprache ist die verständliche Alltagssprache, die nicht weiter definiert werden muss, da sie sich auf direkt Beobachtbares bezieht. Auch die Beobachtersprache ist keine in sich abgeschlossene dogmatische Sprache. In die Alltagsprache können neue Theorieelemente vordringen, mit denen "Wahrnehmungsverschiebungen" (Thomas S. Kuhn) erzeugt werden.

Warum nicht mal davon ausgehen, dass, wenn in die Alltagssprache des Politischen ebenfalls neue Theorieelemente eindringen, dass dann Wahrnehmungsverschiebungen beginnen, mit denen neue Möglichkeiten der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung gegeben sind? Ich möchte dieses im folgenden Text ausführen. Gedanken des anarchistischen Sozialisten Gustav Landauer werden im Vordergrund stehen. 1870 als Sohn jüdischer Eltern geboren, ist Landauer aktiver Teilnehmer der Münchener Räteregierung gewesen. Nach der blutigen Niederschlagung Münchener Räterepublikaner wurde Gustav Landauer am 2. Mai 1919 im Zuchthaus Stadelheim von Freikorpssoldaten ermordet. Die Nazis zerstörten sein Grab.


AnarchistInnen setzen auf Freiheit, d.h. auf Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung. Freiheit wird von Unterdrückung verhindert. Abgelehnt wird die Herrschaft von Menschen über Menschen. Diese Herrschaft sehen AnarchistInnen mit den Staat gegeben, der entsprechend, eben als Zwangsinstrument behandelt wird. Der Staat steht der Freiheit, der Selbstbestimmung und der Selbstverwirklichung der Individuen äusserlich entgegen. Zerstört werden muss der Staat, da dieser der grosse Freiheitsberauber sei. Dass Staat überwunden werden muss, ist eine Grundannahme der AnarchistInnen. Der Weg Staat zu überwunden, da jedoch unterscheiden sich AnarchistInnen. Gustav Landauer schreibt: "Der Staat ist ein Verhältnis, ist eine Beziehung zwischen den Menschen, eine Art, wie die Menschen sich zueinander verhalten; und man zerstört ihn, indem man andere Beziehungen eingeht, indem man sich anders zueinander verhält." Nach Gustav Landauer ist die Macht des Staates mit den täglichen Verhalten der Menschen zueinander gegeben. Der Staat ist das herrschaftlich organisierte Übel und diese Herrschaft steht in Macht, soweit das tägliche Verhalten der Menschen Unterdrückungsverhältnisse angenommen. Nach Landauer ist das Verhalten der Menschen zueinander ein Verhältniss der Dynamik. Da menschliches Verhalten kein für alle Zeiten konserviertes Gleichgewicht darstellt, besteht die Möglichkeit, dass die Herrschaftsverhältnisse von Menschen über Menschen gebrochen werden, was nach Landauer notwendigerweise dazu führt, dass Staat zerstört wird. Die tägliche Gewalt als Verhinderung der Freiheit erkennen ist nach Landauer Voraussetzung der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, mit der die Überwindung des Staates beginnt. Mit herrschaftslosen Verhalten der Menschen zueinander manifestiert sich die antistaatliche Grundlegung.

Die Freiheit, die autonome Selbstbestimmung ist bereits, so Landauer, in der, von der täglichen Gewaltherrschaft durchwebten Gesellschaft möglich. Der Sozialismus bezw. der libertäre Anarchismus beginnt immer dann, wenn Menschen mir ihrer antistaatlichen Emanzipation beginnen. Gustav Landauer ist jedoch kein Individualanarchist. Von Max Stirner, dem Begründer des Individualanarchismus, unterscheidet sich Landauer, da er das Individuum in seiner gesellschaftlichen Vereinzelung nicht lässt. Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung der Individuen somit Herrschaftslosigkeit vollzieht sich in Gemeinschaften. Gemeinschaft ist keine natürliche oder soziale Gegebenheit, sondern ein Zusammenschluss von Individuen, die sich der "Atomisierung" des Individuums in der kapitalistischen Gesellschaft ausdrücklich verweigern. Herrschaftslosigkeit vollzieht sich in Gemeinschaften deren Merkmal die Freiwilligkeit, die Abwesenheit von Zwang ist. Landauer schreibt: "Sozialismus ist die Willenstendenz geeinter Menschen, um eines Ideals willen Neues zu schaffen. ... Nicht das Ideal wird Wirklichkeit; aber durch das Ideal, nur durch das Ideal wird in diesen unseren Zeiten unsere Wirklichkeit."

Mit diesen antistaatlichen Ansatz gelingt Landauer auch die Abgrenzung zu der marxistischen Geschichtsauffassung. Diese Abgrenzung ist zugleich, da zu seiner Lebenszeit die SPD Marxismus auf ihre Fahne geschrieben, die Abgrenzung zur SPD, die als Reformpartei sich erwiessen. Die marxistische Lehre postuliert, dass der bürgerliche Staat erst überwunden werden muss, bevor das Vermögen der Menschen gegeben, herrschaftsfreies Leben somit Sozialismus zu verwirklichen. Nach Landauer zielen Klassenkämpfe nicht auf Freiheit. Der Staat ist ihm kein Mittel, der zwecks Sozialismus, d.h. zwecks herrschaftsfreien Leben zunächst erobert werden muss. Landauer setzt nicht auf marxistische Theorie, setzt nicht auf Parteiprogramme, setzt nicht auf Eroberung des Staates. Er geht davon aus, dass Marxismus, dass materialistische Geschichtsauffassung und Anarchismus unvereinbar sind, dass der Sozialismus bereits in der Gegenwart, eben mit emanzipatorischen Beziehungen der Herrschaftslosigkeit beginnt. Kennzeichen dieses Anarchismus ist also, dass herschaftsfreies Leben in der Gegenwart beginnt.

Gustav Landauer grenzt sich jedoch nicht nur von der SPD, Marxismus und Individualanarchismus ab. Er beließ es nicht dabei, dass das Individuum in Solidargemeinschaften sich verwirklicht. Vielmehr geht er davon aus, dass Sozialismus nicht nur mit der Autonomie des Individuums und seinen freiwilligen Assoziationen gegeben ist. Voraussetzung des beginnenden Sozialismus sei auch, dass Mensch erkennt, dass er in Zusammenhänge eingebunden ist, die von ihm nicht hergestellt. Diese Zusammenhänge sind bereits gegeben bevor Mensch in gesellschaftlichen Unfreiheit sich findet. Befreiung von staatlicher, kirchlicher oder sonstiger gesellschaftlicher Herrschaft und Verknechtung ist nach Landauer anarchistisch, wenn Mensch gelingt, im Ich völlig zu versinken. Mit dieser Versenkung wird eine Bewusstwerdung beginnen, so Landauer, mit der das Individuum seine Selbstherrlichkeit, dass er der Mittelpunkt der Welt ist, aufgeben wird. Mensch wird sein herrschaftsfreies Verhalten, seine herrschaftsfreien Verhältnisse leben, wenn er gewahr geworden, "was uns mit der gesamten all-einen Welt verbinde." Landauer geht also davon aus, dass Mensch, um den Weg der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung zu gehen, die Erfahrung der "Absonderung" von der Welt, die "innere Abgeschiedenheit" kennenlernt und pflegt. Auch mit dieser "Absonderung" löst er sich von der atomisiert-gesellschaftlichen Vereinzelung somit seiner vom Kapitalismus bedingten Isolierung. Aus der "inneren Abgeschiedenheit" kehrt Mensch als ein, vom "Geist" Gewandelter in die Gesellschaft zurück. Gesellschaftliche Vereinzelung, Pessimismus und Weltverneinung ist nun nicht mehr möglich. Mit der "inneren" Erfahrung der "gesamten all-einen Welt" ist die Haltung der Menschwerdung gefunden, die wir den ethischen Anarchismus bezeichnen möchten. Von diesem ethischen Anarchismus wird die Herrschaftslosigkeit des bereits verwirklichten Sozialismus, d.h. die Befreiung von staatlicher, kirchlicher und sonstiger gesellschaftlicher Bevormundung getragen. Die Freiheit, die bereits mit der individuellen Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung und den frei assoziierenden Gemeinschaften gegeben ist, wollen wir Sozialismus bezeichnen.

Bietet der ethische Anarchismus und der libertäre Sozialismus Gustav Landauers ein Bestand, der aktuell ist? Die politische Theorie betreffend könnten wir berücksichtigen: Staat wird heute nicht nur als äußerliches Zwangsinstrument erfahren, der unvermittelt den Individuen und der Gesellschaft gegenübersteht. Ausgegangen wird beispielsweise davon, dass der Staat, wenn dieser nur erst basisdemokratisch ausgestaltet ist, unmittelbarer Ausdruck der Freiheit der Individuen ist. Nach Landauer jedoch steht Staat den Individuen überhaupt nicht äusserlich, d.h. unvermittelt gegenüber. Der Staat ist ihm nicht das Instrumentarium einer irgendwie ausgerichteten Politik, mit der irgendeinen als allgemeingültiger ausgegebener Sinn, etwa den der Ökologie, den der Zivilgesellschaft, verwirklicht werden soll. Ihm ist der Staat anderes nicht als verstaatlichte Gesellschaft, d.h. das allgemeine Verhalten der Individuen zueinander, welches Verhalten die Form der Herrschaft und der Unterdrückung somit der Knechtschaft angenommen. Dass Staat die Manifestation der Emanzipation ist, bezw. werden kann, dass Staat Mittel ist, Freiheit zu verwirklichen: Diese Annahme ist für Gustav Landauer völlig unsinnig. Dass der Ausgangspunkt der Freiheit die basisdemokratisch Staatsorganisierung sei, diese Annahme steht seiner Auffassung von Sozialismus völlig entgegen. Jeder Ansatz, Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung somit freie Kooperationen über den Staat zu verwirklichen, ist für Landauer also nicht akzeptabel. Er würde, etwa den basisdemokratischen Ansatz als Aufrechterhaltung des Staates somit als Verhinderung der Freiheit, da diese antistaatlich sich vollzieht, kennzeichnen. Landauer bezieht sich auf Etienne de la Boetie und dessen Buch "Über die freiwillige Knechtschaft". Boetie stellt die These auf, dass die Erhaltung des Staates nicht nur darauf beruht, dass dieser als Zwangsstaat der Gesellschaft äußerlich gegenübersteht. Dass der Staat nicht nur von den Parteien, sondern auch von den nicht in Parteien organisierten Massen getragen wird. Die Macht des Staates gründet nach Landauer nicht nur auf der äusserlich auftretenden Unterdrückung. Diese vollzieht sich auch mit der freiwilligen Unterwerfung. Bei Gustav Landauer ist also Kritik des Staates zu finden, die von der Annahme getragen ist, dass mit Sozialismus, d.h. dass mit herrschaftslosen Leben bereits in der von Gewaltherrschaft durchwebten Gegenwart begonnen werden kann. Dass die gegebenen staatlichen sowie gesellschaftlichen Verhältnisse Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung verhindern, dass ist nach Gustav Landauer der Stachel verfehltes Leben zu beenden.

Nun noch etwas zum ethischen Anarchismus. Mit der Versenkung ins Ich geht Mensch auf, dass er in Zusammenhänge eingebunden ist, die von ihm nicht hergestellt wurden. Mit dieser Versenkung zerfällt die abendländische Selbstherrlichkeit des "Ich", dass Mensch das absolute Subjekt der Vernunft sei, deren Regeln sich alles unterzuordnen hat. Gustav Landauer bietet anarchistische Kritik des absoluten Subjektes und seiner selbstherrlichen Vernunft, wie diese in der Philosophie des Abendlandes, in Frankreich beginnend mit Rene Descartes und in Deutschland beginnend mit Immanuel Kant seitdem vertreten wird. Landauers Verabschiedung der absoluten Vernunft somit des verabsolutierten Subjektes führt dazu, dass Mensch seine gesellschaftliche Vereinzelung, dass Mensch sein selbstherrlich-herrschaftliches Verhalten als verkehrt Gelebtes aufgeht. Die menschliche Knechtschaft wird beendet, wenn Individuen solidarisch leben. Mit dieser ethisch motivierten Aufhebung seiner gesellschaftlichen Isolierung, eben mit seinem herrschaftsfreien Verhalten verändert Mensch sein Verhältnis nicht nur zum Staat.

Nicht mehr aus der selbstherrlichen Perspektive der verabsolutierten Vernunft des neuzeitlich-verabsolutierten Subjektes Staat sowie Gesellschaft wahrnehmend, kommt auch die nicht-menschliche Natur, bezw. ihre tierische Individuation nicht mehr als Objekt der Ausbeutung ins Blickfeld. Die individualisierte Vielfalt der Mensch- und Tierwelt gibt ethischen Anarchismus kein Anlass zur Ausbeutung, die theoretisch verklärt wird. (Nicht nur die gesellschaftliche Vielfalt der Individueen geht dem ethischen Anarchismus graduell, eben in seiner Relativität auf. Die Vielfalt individualisierter Natur und Kultur nicht graduell "nehmen"; Welt aus der abendländisch isolierten "Ich"-Perspektive des verabsolutierten Subjektes wahrnehmen und, um des "Ich" willen interpretieren ist Reduzierung natürlicher sowie kultureller Vielfalt auf Einfalt, die sich mit Ausgrenzung, mit Ausbeutung, mit Rassismus äussert. Auch wenn strategisch nicht auf Biologie rekuriert wird, ist Rassismus vorhanden, eben kulturell bedingte Ausgrenzung.) Kennzeichen gottloser Mystik, der Ich-Versenkung somit des ethischen Anarchismus ist also die Zurücknahme des verabsolutierten Subjektes und seiner absolut gesetzten Vernunft, mit welcher Zurückweisung die anarchistische Einübung gefunden, mit der respektvoller Umgang sowohl mit Mitmenschen wie auch nicht-menschlichen Lebewesen gepflegt wird. Hier sind theoretische Ansätze der Selbstbestimmung zu finden; beispielsweise eines ethisch fundierten Vegetarismus.

Landauer zeigt Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, die bereits in der Gegenwart beginnt. Die Orientierung die Landauer zeigt, dass Mensch sein alltäglich-herrschaftliches Verhalten reflektiert, dass sein Denken sowie sein Verhalten sich dahingehend ändert, selbstbestimmtes Leben in freiwilligen Zusammenschlüssen zu verwirklichen, ist bereits hoch gesteckt. Dass antistaatliche Selbstbestimmung auch mit dem Rückzug aus der Welt, in der Ich-Versenkung und mit der gewandelten Hinkehr zur Welt beginnt, Landauer seine Aufforderung auf ethischer Grundlage bereits in der von Gewalt durchwebten Gegenwart zu handeln, diese seine Auffassung neue "Wirklichkeit" zu schaffen, kann wohl nur Wenigen wichtig werden.