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Wer hat Angst vor der freien Zeit?

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Im November 1998 wurde ich von der Heinrich-Böll-Stiftung eingeladen, an einer Tagung zur "Zukunft der Arbeit" teilzunehmen. Mein Aufsatz dazu erschien in der Zeitschrift KOMMUNE (4/99)), allerdings in einer stark kastrierten Fassung:

Erwartungsgemäß wurden sämtliche Stellen amputiert, wo über alternative Ökonomen und Spezialisten gespottet wird. Es folgt die unkastrierte Fassung:

Es könnte ein Märchen sein: Einst ging den Bauern von Eurodorf die Arbeit aus. Saat und Ernte erledigten sich von alleine und die Speicher füllten sich ohne ihr Zutun an. Doch statt sich zu freuen und ihr neues Dasein zu genießen, wurden die Bauern sehr traurig, nicht mehr ackern zu können. Verzweifelt baten sie den weißbärtigen Weisen vom Dorf um Rat. "Alles kommt auf die Definition an", antwortete er. "Wenn es keine Arbeit im bisherigen Sinne mehr gibt, dann braucht Ihr nur all jene kleinen Tätigkeiten, die Ihr bislang einfach so ausübtet, für Arbeit zu erklären. Dann wird jeder seinen Arbeitsstolz wiedergewinnen (und außerdem kostet es den Gutsherrn keinen Pfennig)." Und so taten sie. Wenn ein Bauer zum Beispiel nach wie vor seinen Nachbarn besuchte, stellte er nun eine Rechnung aus und bekam eine kleine Belohnung für seine "Dienstleistung". Durch die allgegenwärtige Rechnerei wurde zwar das Alltagsleben erheblich erschwert, doch konnten alle wieder behaupten, sie arbeiteten. Und wenn sie nicht vor Langeweile gestorben sind, dann leben sie noch heute.

In Ermangelung von Arbeitsbeschaffung hat heute die Arbeitsbenamung Konjunktur. Eine Tagung zur "Zukunft der Arbeit" gleicht einer Orgie der Definitionen. Nebst der knappgewordenen Erwerbsarbeit werden uns (so die Tagungsmappe) "schillernde Begriffe" wie "New Work", "bürgerschaftliches Engagement", "Bürgerarbeit" und "informelle Arbeit" serviert. Wenn ich ein Buch lese, wird mir nun erklärt, ich leiste "Eigenarbeit" (was ich zusätzlich davon habe, ist mir nicht klar geworden). Sogar Monstren wie "Beziehungsarbeit" bleiben uns nicht erspart (so tolerant ich auch bin, ich würde keine Beziehungsarbeiterin als Freundin schätzen!). Möge sich Heinrich Böll, Verfasser einer "Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral", in seinem Grab umdrehen: Seine Erben sind arbeitswahnsinnig geworden!

In einer solchen Debatte fühle ich mich etwas deplaziert. Die Glücklichen Arbeitslosen haben kein Zukunftsmodell zu bieten; besser gesagt, sie verzichten auf vorgefertigte Denkgebäude, in denen sich die Menschen erwartungsgemäß wohl oder übel niederlassen werden. Uns geht es darum, unsere Gegenwart neu zu bewerten und möglichst zu ändern. Zu der Frage "Was tun?" kann ich nur vorschlagen: Erstmal aufhören, mit den Wölfen zu heulen, um die Gedanken von der Wirtschaftspropaganda freizumachen.

Als gesamtgesellschaftlich relevant betrachte ich nur die Vorstellung, einen freien Raum zu schaffen, in dem alle möglichen Handlungen und Experimente ermöglicht werden können. Um sich "verwirklichen" zu können - was das auch immer heißen soll - brauchen manche eine Arbeitsstruktur, andere eher Dilettantismus und Muße. Schließlich darf man auch diejenigen nicht vergessen, die einfach eine Pause brauchen und in Ruhe gelassen werden möchten. Also werde ich mich hier darauf beschränken, von der Gegenwart ausgehend negative Bemerkungen zu den gängigen Zukunftsvorstellungen der Arbeit zu machen. Meiner Meinung nach wird das Positive nicht von Spezialisten, sondern von sozialen Bewegungen, Bürgerinitiativen oder Sowjets bestimmt werden können - oder auch nicht.

Mein erster Einwand heißt schlicht und einfach: Lohndumping. Ich weiß, dass heutzutage das Wagnis, in einer wissenschaftlichen Diskussion zu erwähnen, dass Menschen, wenn sie schon entfremdete Arbeit leisten, dies in der Erwartung tun, zumindest genügend Geld zu verdienen, beinahe ordinär erscheint (schon das Wort "Entfremdung" zu benutzen, gilt als Zeichen des Rückschritts). In der Tat sind viele Tätigkeiten, die dem "dritten Sektor" zugeordnet werden, keineswegs neu. Notwendige, doch nicht gerade angenehme Arbeit wie z.B. Müllabfuhr, Straßenreinigung oder Altenpflege existierte schon immer, war aber bislang, meist im öffentlichen Sektor als Erwerbsarbeit, wenn auch schlecht, doch immerhin tariflich bezahlt. Heute aber werden Sozialhilfeempfänger gezwungen, solche Jobs als "gemeinnützige Arbeit" für 3 Mark pro Stunde anzunehmen. Diese neuen Zustände sind eindeutig Teil des gegenwärtigen Klassenkampfes von oben, der die Löhne in dem Maße senkt, wie er die Gewinne maximiert. Und alles deutet darauf hin, dass wir erst am Anfang dieses Prozesses stehen: Da jetzt Krankenhäuser unter dem Vorwand geschlossen werden, sie seien "nicht rentabel", könnte man sich vorstellen, dass selbst ein Chirurg künftig im "Nicht-Profit-Sektor" arbeiten und entsprechend "belohnt" werden wird. Angesichts dieser Entwicklung sind wohl Begriffe wie "Bürgerarbeit" verdächtig, der blanken Legitimierung der erzwungenen Verelendung eines erheblichen Teils der Bevölkerung zu dienen. Wie üblich werden sich die Untertanen mit "immerhin besser als nichts" und "es gibt sowieso keine Alternative" zufrieden geben müssen. Wenn aber gemeinnützige Tätigkeiten nur mit Peanuts bezahlt werden sollen, wieso sollte denn die nichtgemeinnützige Prostitution, die nur dazu dient, die Gewinne einer Firma zu erhöhen (man denke z.B. an die Werbungsindustrie), mit fettem Geld entlohnt werden? Derartige Theorien sind umso unverschämter, da sie von Sozialwissenschaftlern stammen und propagiert werden, die dafür, meistens als Beamte oder höhere Angestellte, das Fünffache der Sozialhilfe oder mehr verdienen. (Besonders pikant ist das "wir" in Herrn Liedtkes Buchtitel: "Wie wir arbeiten werden" 1.) All diese Apostel der sozialen Gerechtigkeit werden sich erst glaubwürdig machen, wenn sie selbst auf die Hälfte ihres Lohnes verzichten, um für 3 Mark pro Stunde Hundescheiße zu entfernen.

Mit der Lohnfrage erschöpft sich aber nicht die Kritik. Immer wieder berührt die Diskussion zur Zukunft der Arbeit die alte Weisheit, das menschliche Leben teile sich in ein "Reich der Notwendigkeit" (der Arbeit) und ein "Reich der Freiheit" (der sog. Freizeit), welches sich ideell ausdehnen sollte. Dabei wird ein immerwachsendes, drittes Reich ignoriert: das Reich der Simulation. Es wird in der Arbeitswelt heftig simuliert! Um an Geld ran zu kommen (der eigentliche Zweck) wird der Einzelne immer öfter dazu genötigt, irgendeine fiktive Notwendigkeit vorzutäuschen. Oder gibt es eine reale Notwendigkeit, etwa holländische Tomaten nach Italien zu transportieren und dort zu vermarkten? Besonders prägnant ist aber das Simulationsgeschäft für die heutigen Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger. Immer wieder werden wir gezwungen, in einer aussichtslosen Umschulung oder einer "Arbeitsbeschaffungsmaßnahme", die keine Arbeit beschafft, eine temporäre Nische zu finden. Mittlerweile sind manche unter uns schlau genug geworden, irgendein "Projekt" beschreiben zu können und ihm jeden Anschein der Dringlichkeit zu verleihen. Wie einst im Sozialismus lautet da der Kompromiss: Ihr tut als ob Ihr Arbeitsplätze schafft, wir tun als ob wir arbeiten. Da diese institutionalisierte Fiktion nicht radikal in Frage gestellt wird, erscheint es zweifelhaft, ob die Einführung eines dritten, Nicht-Profit-Sektors oder was auch immer, etwas ändern würde. Diejenigen, die mit Projektschreiberei, Buchhaltungstricks und Behörden umgehen können, werden sich nach wie vor als inoffizielle Simulanten zu "integrieren" wissen (übrigens eine Situation, die nicht gerade befriedigend ist). Nur Pech für die, die es nicht können. In früheren Zeiten ließ sich die Arbeit einerseits dadurch legitimieren, dass die Herstellung einer bestimmten Anzahl von Produkten lebensnotwendig war (man muss wohl essen, wohnen, fahren usw.) und andererseits, dass sein Lohn dem Arbeiter ermöglichte, immer mehr Wohlstand (sprich: Waren) zu genießen. Durch die oben erwähnten Faktoren - Simulation und Lohnsenkung - sind beide Argumente weitgehend überholt worden. Wo weder die Notwendigkeit der Produktion noch der wachsende Genus des Konsums hervorgerufen werden können, entsteht ein tendenzieller Fall der Sinnrate, der mittels einer Ersatzlegitimation kompensiert wird: Arbeit bilde, so wird uns nun erzählt, den einzigen Zugang zu sozialer Integration. Egal, ob ich eine sinnlose "Trainings-Maßnahme" für einen Appel und ein Ei ausübe, wichtig ist dabei, dass ich mich in die Gesellschaft wieder eingliedere. Man bewundere das Bestreben, so eine verschrobene Idee glaubhaft zu machen.

Neben der Lohnsenkung von bereits existierenden Jobs und der Vermehrung von fiktiven Beschäftigungen droht die "neue Arbeit" eine weitere negative Tendenz zu untermauern, nämlich die Ausdehnung der ökonomischen Logik in Bereiche des sozialen Lebens, die bislang noch davon verschont blieben. Man mag sich stundenlang über die Definition der Arbeit zanken, doch eines bleibt unstreitbar: Bezieht man eine bestimmte Tätigkeit in die ökonomische Sphäre ein, unterwirft man sie gewissen Regeln: Dazu gehören die Abkopplung von anderen Handlungen, die Zumutung von quantifizierbaren Ergebnissen, die Messung der Arbeitszeit, die hierarchische Kontrolle und gegebenenfalls die Bestrafung von als deviant angesehenem Verhalten. Fraglich ist, ob solche Merkmale für sämtliche Bereiche des menschlichen Lebens geeignet sind. Das Wachstum des Dienstleistungssektors verdeutlichte zu Genüge, dass die Ökonomie sich auf die Zerstörung von sozialen Zusammenhängen stützt. Atomisierte, gestresste Arbeitnehmer haben keine Zeit für ihre Nachbarn übrig, also gibt es eine Nachfrage für Jobs wie "Nachbarschaftshilfe". Ein amüsantes, negatives Beispiel davon lieferte Herr Liedtke in seinem Vortag als ernst gemeintes Argument gegen die Arbeitszeitverkürzung: "Bedauerlicherweise" sagte er, hätten die Arbeiter, die weniger arbeiten, mehr Zeit um Dinge selbst zu machen, was wiederum die Arbeit von Anderen überflüssig machen würde. Freizeit vernichtet Arbeitsplätze, also ist Freizeit schädlich. So denkt ein Ökonom! Hingegen plädieren die Glücklichen Arbeitslosen für die Entökonomisierung des Alltags. Vielsagend ist, dass die "neue" Arbeit nur negativ, nicht-profiterzeugend und informell, definiert wird - ein leerer Raum, der dann durch den subjektiven Impetus des "Engagements" gefüllt werden sollte. Im Übrigen ist der sogenannte informelle Sektor in Afrika, Indien und anderswo vollkommen formalisiert, nur ist er von sozialen Traditionen strukturiert, die mit ökonomischen Kategorien nicht begriffen werden können. Und diese Traditionen wurden immer von der Ökonomie als hinderlich bekämpft. Es fragt sich auch, weshalb gemeinnützigen Tätigkeiten ein Profitverbot anhängen sollte? Gerade die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass der "informelle" Sektor eher eine Art Reservekasten darstellt, dessen erfolgreicher Teil ständig "abgeschöpft" wird, um wieder in die "normale" Marktwirtschaft in Umlauf gebracht zu werden, so dass jegliche Chance, eine andere Logik als die Marktlogik entwickeln zu können, verloren geht. Eine Koexistenz der unberührten, sich selbst fressenden, globalen Wirtschaft mit Nesten des mittellosen Gemeinwohls würde eine Art soziale Schizophrenie produzieren, die auch noch verinnerlicht werden sollte: Die Vorstellung eines Teilzeitbürger- / Teilzeiterwerbsarbeiters gleicht einem modernen Sisyphos, der die Hälfte seines Lebens damit verbringt, die ökologischen, psychologischen und sozialen Schäden zu reparieren, die er während der anderen Hälfte verursacht.

Wo hört die Arbeit auf? 1820, setzte sich Thomas Robert Malthus - es war noch zu der Zeit, als die Ökonomen nicht so selbstsicher und arrogant waren wie heute - mit dieser Frage auseinander: "Wenn die Mühe, die man sich gibt, um ein Lied zu singen, als eine produktive Arbeit betrachtet werden kann, weshalb sollte dann die Anstrengung, eine Konversation unterhaltsam und lehrreich zu gestalten, welche bestimmt ein viel interessanteres Ergebnis verursacht, von der Zahl der tatsächlichen Produktionen ausgeschlossen sein? Warum auch nicht die zweifellos lebenswichtigsten Bemühungen, unsere Leidenschaften in Ordnung zu bringen und den göttlichen und menschlichen Gesetzen zu gehorchen, eingliedern? In einem Wort: Warum sollte irgendeine Aktion, die nach einer Befriedigung oder der Vermeidung eines Leidens trachtet, sei es in der Gegenwart oder der Zukunft, ausgeschlossen werden? Gewiss sollten in dieser Hinsicht alle Tätigkeiten, die der Mensch in jedem Augenblick seines Lebens ausübt, einbezogen werden." 2

Von einer solchen Ausdehnung des Begriffs wich Malthus wieder ab und wand sich der klassisch gewordenen Definition zu: Der Arbeit als ökonomische Kategorie entsprechen ausschließlich die Tätigkeiten, für die man entlohnt wird. Insofern leistet z.B. nur jemand, der einen Lohn bekommt für seine "Anstrengung, eine Konversation unterhaltsam zu gestalten" (etwa als Fernsehhanswurst), eine "produktive Arbeit". Die Trennung zwischen Lohnarbeit und anderen Tätigkeiten ist jedoch aus der umgekehrten Perspektive nicht so abwegig. Sie entspricht der antiken Differenzierung zwischen "Otium" (freie Tätigkeiten, auf deutsch: Muße) und "Negotium" (nicht-freie, also verkäufliche Tätigkeiten). Es gibt einen qualitativen Unterschied, je nachdem ob ich ein und dieselbe Tätigkeit ausübe um Geld zu verdienen oder nicht. Als ich als Übersetzer gejobbt habe, waren meine Übersetzungen bestenfalls mittelmäßig, denn ich musste unter Zeit- und Leistungsdruck arbeiten. Wenn ich hingegen während meiner Arbeitslosenzeit einen Text übersetze, ist das Ergebnis, wenn ich zu einem Ergebnis komme, hervorragend, denn ich nehme mir die nötige Zeit dafür und kann beliebig meinen Entwurf beiseitelegen, wiederaufnehmen oder aufgeben. An diesem Beispiel zeigt sich im Übrigen, wie irrelevant all die neugebastelten Arbeitsbegriffe sind. Was tue ich, wenn ich einen Text übersetze? Es ist vorerst ein Spiel (einem Kreuzworträtsel ähnlich), kann aber, wenn man will, sowohl als "Eigenarbeit" (Bildungsprozess) als auch als "Bürgerarbeit" (wenn ich anderen Menschen von dem Text profitieren lasse) betrachtet werden. Und wenn sich die Gelegenheit ergibt, meine Übersetzung zu verkaufen, wird sie wieder in die Erwerbssphäre integriert werden. Wichtig dabei ist aber die Unverbindlichkeit all dieser Momente. Der Weg ist das Ziel, die Zeit zählt nicht, die Leistung ist sekundär: alle Merkmale, die sich am besten unter dem Begriff "Muße" verstehen lassen. Und dies gilt nicht nur für "geistige" Tätigkeiten, sondern möge auch für Handwerk, technologische Erfindung, Gärtnerei, Pflege von sozialen Kontakten usw. von Relevanz sein.

Wie auch immer: Einst den Zaun der Erwerbsarbeit überschritten, öffnet sich das weite Feld sämtlicher "Tätigkeiten, die der Mensch in jedem Augenblick seines Lebens ausübt", und der Versuch, eine neue Grenze zu ziehen, kann nur in Willkür ausarten. Mir sind von vornherein sämtliche Modelle verdächtig, die, obgleich sie aus einem spezialisierten Sektor stammen, behaupten, für "die Allgemeinheit" zu gelten. Vielsagend war die Aussage einer Frau während eines Plenums der Böll-Stiftung, die lamentierte, "die unteren Schichten" (sic!) zeigten wenig Interesse an "Bürgerarbeit". Meiner Meinung nach liegt es daran, dass die "Bürgerarbeit" ihrer Herkunft, in dem Fall also der Vorstellungswelt, den Gewohnheiten und Bedürfnissen von mittelständischen Grün-Wählern und Taz-Lesern mit Uni-Abschluss entspricht. Islamische Händlerfamilien aus Kreuzberg, Arbeitslose aus einer seligen Industriestadt der seligen DDR oder obdachlose Punks werden jeweils eine andere Auffassung des sozialen Lebens vertreten. Vor allem verbirgt sich immer hinter solchen Denkkonstruktionen eine autoritäre Anschauung. Integration ist so wichtig, dass der Mensch auch gegen seinen Willen integriert werden muss. Selbstbestimmung ist eine feine Sache, doch letztendlich muss die Obrigkeit die Grenzen der Selbstbestimmung überwachen. Bei der Böll-Stiftung werden wohl Ausdrücke wie "Schmarotzer" oder "soziale Hängematte" nicht ausgesprochen, doch liegen sie in der Luft. Man bewundere Ralf Fücks' Definition des Bürgergehalts "dessen Höhe über die heutige Sozialhilfe hinausgeht, mit der Verpflichtung zu einem bestimmten Kontingent von selbst gewählter Bürgerarbeit" (hervorgehoben von mir) 3 . Selbstgewählte Pflicht bzw. Zwang zur Selbstwahl kennen wir bereits: Beim Sozialamt heißt das nazistisch "IdA" (Integration durch Arbeit): Sozialhilfeempfängern wird angeboten, sich etwa zwischen "leichter Reinigungsarbeit" und "Müllbeseitigung" zu entscheiden. Soweit mit der Selbstwahl, jetzt kommt die Pflicht, denn dem, der sich weigert, eine dieser Stellen anzunehmen, wird die Sozialhilfe sofort gestrichen.

Da man aber dabei ist, sich Gedanken über eine bessere Zukunft zu machen: Warum könnte die Einführung eines Bürgergehalts bzw. Sozialeinkommens nicht ohne bürokratisch verordnete Bedingungen auskommen? Wie wäre es, wenn alle Geringverdienenden eine Existenzsicherung automatisch erhielten? Gewiss würde eine solche Maßnahme nicht alle Probleme lösen, doch sie würde vielleicht ein Experimentierfeld eröffnen, wo musterhafte Initiativen eine Art Entziehungskur anbieten könnten. Bürgergehalt als Methadon für Arbeitssüchtige! Hunderte von Zeugnissen, die wir Glücklichen Arbeitslosen gesammelt haben, zeigen, dass es bereits viele Menschen gibt, die jenseits von Arbeit ihre freie Zeit zu gestalten wissen. Nur werden sie durch Schikanen der Arbeits- und Sozialämter daran gehindert. Selbst wenn sie noch in der Minderheit sind, sollten sie nichtsdestotrotz als Gegenpol anerkannt werden, der eine Anziehungskraft auf desorientierte Erwerbslose ausüben würde. Auch biersaufende und fernsehglotzende Langzeitarbeitslose mit Nullbock auf Eigeninitiative und einem angeblichen Herz für Rechtsradikale sind eine Minderheit, doch dieses Schreckbild wird stets als Vorwand für Zwangsmaßnahmen gezückt. Jedoch, da können Sozialarbeiter machen was sie wollen, "asozial" gestempelte Menschen werden sich - zum Glück auch - nicht umerziehen lassen. Man kann die Penner entweder aus der Öffentlichkeit vertreiben, um den Schein zu wahren, oder sie in Ruhe lassen. Übrigens: Was ist für diejenigen vorgesehen, die wegen mangelnden Engagements keinen Anspruch auf Bürgergehalt haben werden? Geht es darum, kolumbianische Zustände zu erreichen - eine eher wilde Art der Umverteilung - und Arbeitsplätze im Justizvollzug zu schaffen? Merkwürdig: Wenn es um langfristige soziale Kosten geht, hören plötzlich die Ökonomen auf zu rechnen.

Die Frage der Finanzierbarkeit halte ich für zweitrangig, sie ist einzig und allein eine Frage der zu setzenden Prioritäten. Die Kassen sind nicht leer, wenn es darum geht, die Fiktion der Arbeit zu alimentieren, z.B. im Kohlebergbau, wo jeder Arbeitsplatz jährlich mit 120000 Mark subventioniert wird. Die Kassen waren nicht leer für "Jäger 90", der 30 Milliarden Mark gekostet hat, eine Staatsinvestition, die sich mit dem Argument begründen ließ, sie hätte 10000 Arbeitsplätze gesichert. Wenn ich mich nicht verrechne, hätte diese Summe aber auch 30000 arbeitslose Millionäre machen können! Und dass die Staatskassen doch nicht mehr so voll sind, ist allein die Folge von politischen Entscheidungen. Automaten, die Arbeitnehmer, also Lohnsteuerzahler, ersetzen, werden nicht besteuert. Kein Anteil der durch die Wegrationalisierung von Arbeitsplätzen geschafften Gewinne, wird umverteilt. Nicht das Geld fehlt, sondern die Bereitschaft, diese unvernünftige Situation zu ändern. Vermutlich wird manch ein Leser denken, all diese Bemerkungen seien zwar sympathisch und irgendwie berechtigt, doch in der heutigen Situation ganz und gar nicht umsetzbar und daher irrelevant. Aber den Versuch, die Regierungspolitik durch mäßigere Vorschläge umzulenken, betrachte ich als genauso unrealistisch. Die rotgrüne Regierung hat bereits ausreichend ihre Tapferkeit und Reformbereitschaft unter Beweis gestellt. Gefragt sind keine Reformtröpfchen auf den heißen Stein der Wirtschaftspolitik, sondern einerseits praktische Initiativen von den Betroffenen selbst (und da wird keine Tagung von Spezialisten helfen) und andererseits ein gesamtkulturelles Umdenken. Wir werden schon etwas erreicht haben, wenn dem Propagandaapparat der Ökonomie öffentlich mit einer allgemeinen Misstrauenserklärung begegnet wird. Daran arbeiten die Glücklichen Arbeitslosen.

Guillaume Paoli, April 1999

Die Glücklichen Arbeitslosen / Berlin

1 Patrick Liedtke, Mitglied des Club of Rome, war auch Teilnehmer dieser Tagung.

2 Grundsätze der politischen Ökonomie

3 Ralf Fücks (Grünen) ist Vorsitzender der Böll-Stiftung.





[Dieser Text gehört zu dieser Text-Sammlung der Glücklichen Arbeitslosen.]