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Tschorny Petrograd 2007

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Schwarzer Peter: Anarchie in Russland

St. Petersburg 21.11.2007 12:27

Rund 200 Autonome, Punx, Skins, Antifas, Umweltbewegte und sonstige AnarchistInnen trafen sich vergangenes Wochenende in St. Petersburg zum alljährlichen Festival "Tschorny Petrograd" (Schwarzes Petersburg). Diesmal wurde es eine interessante Mischung aus Chaostagen, Anarchietagen und Vernetzungstreffen.

Aus dem ganzen europäischen Teil Russlands und dem angrenzenden Ausland reisten bereits am Freitag (16.11.) zahlreiche Menschen nach St. Petersburg, kurz "Piter" - viele per Zug oder Autostopp, was schon mal erste Gelegenheiten zur Verbreitung anarchistischen Gedankenguts bot. Die politische Situation Russlands ist ja nicht gerade günstig: viele sehen das Land kurz vor dem Ende der regulären Präsidentschaft Putins an der Schwelle zur Diktatur, weil er offensichtlich die Macht nicht wie vorgeschrieben nach zwei Amtszeiten abgeben möchte und der Verfassung deswegen demnächst irgendeine Vergewaltigung bevorsteht; währenddessen versinkt die Mehrheit der Gesellschaft in Armut; faschistische Ideen greifen um sich, und entsprechende Gewalttaten bis hin zu Morden sind an der Tagesordnung; und in Tschetschenien köchelt immer noch ein Krieg vor sich hin, der zwar offiziell kein Thema (weil längst "gewonnen"), aber dennoch durch die verstümmelten Veteranen und die geheime Angst der jungen Männer vor dem Wehrdienst allgegenwärtig ist.

In dieser Situation lässt sich auch der Mitreisende im Nachtzug auf eine angeregte Diskussion ein und sein Schönheitsschläfchen sausen, wenn Golowa [der Kopf] mit den Worten "Hör mal, Genosse, wir von der anarchistischen Bewegung sehen die Lage folgendermaßen..." zu erzählen beginnt, dass es alles auch ganz anders laufen könnte.

Ab dem frühen Vormittag bereits strömten die schwarz-bunten Scharen in die Petersburger Innenstadt. Wind, Schneefall und zahlreiche Minusgrade ("Piter" liegt mit 60 Grad noch ein ganzes Stück nördlicher als Moskau, und die nahe Ostsee macht das Klima dort nicht angenehmer) konnten die Freude nicht trüben, FreundInnen aus den entferntesten Regionen mal wieder zu sehen, und das wurde ausgiebig in verschiedenen Parks gefeiert (was auch die Temperatur etwas erträglicher machte). Quartiere in den verschiedenen anarchistischen WGs der Stadt wurden abgecheckt, anschließend gaben sich viele noch die kulturelle Breitseite mit den Museen und zaristischen Protzbauten der Innenstadt. Am Abend fand dann das erste kurze Plenum statt; über mehrere Schleusungspunkte wurden die BesucherInnen in einen Hinterhof gelotst, wo die Treffpunkte für die Aktionen des Wochenendes bekanntgegeben wurden.

Nach kurzem gemeinsamem Vorglühen stürzte sich die Meute daraufhin ins Petersburger Nachtleben. Zunächst mal ging's ins "Frikadelki", die russische Version von McDoof. Der gemeine ausländische Beobachter denkt sich vielleicht "uaaahh---", aber es kam ganz anders. Nach der fast ganz regulären Einnahme einer Mahlzeit (nee, das ess ich nicht, das ist ja gar nicht vegan) füllte sich der Laden zusehends mit GenossInnen, ein Workshop kümmerte sich um die Versorgung mit kostenlosen Getränken von der Theke, die härteren Sachen standen sowieso schon unterm Tisch bereit, und die Atmosphäre entsprach spätestens nach einer Stunde eher einem AJZ als einem Fastfoodschuppen. Sozusagen ein McSquat - mensch muss ja nicht immer gleich ein ganzes Haus besetzen. Etwas später wurden verschiedene Konzerte und eine Ska-Disco besucht, was noch sehr lustig war, nur auf dem Rückweg holten sich ein paar Leute eine derbe Erkältung, als sie im Morgengrauen drei Stunden vor einer zwecks Schiffspassage geöffneten Newa-Brücke warten mussten.

Samstag mittag begann dann das offizielle Programm. Auf dem Senny-Platz war um halb drei der erste Treffpunkt angesagt. Vor den Augen einiger etwas ratloser Milizionäre breitete sich zunächst so eine Art Chaostage-Szenerie aus; etwa 60 Tschorny[schwarze]-Piter-Fans trafen sich, wobei teils recht aufwändig gestylte Punks das Bild prägten. Auch die verschiedenen Skin-Fraktionen (RASH, SHARP und Oi!, wobei zu erwähnen ist, dass Oi! in Russland immer eine deutliche Positionierung gegen Nazis, vor allem "Bonchedi" - Boneheads, Naziglatzen - bedeutet und "a-politisch" hier mit 'nem grossen A im Kreis geschrieben wird) waren sichtbar präsent. Das Wetter war deutlich schöner als gestern, es wurde viel getrunken und gelacht, ehe dann auf ein verabredetes Signal hin die Metro gestürmt wurde. Der Drehkreuzwächter und die Alarmanlage waren zwar der Meinung, dass 10 Jetons ein bisschen wenig für uns alle sind, wurden aber demokratisch überstimmt (ausnahmsweise kein Konsensentscheid, aber gegen die versuchte Verhaftung eines Genossen gab es noch viel mehr Vetos). Was auffiel, war, dass es nach der Schleusung über zwei weitere Treffpunkte schließlich deutlich mehr Leute waren; in Deutschland ist ja bei ähnlichen Aktionen eher die Tendenz, dass unterwegs die Hälfte verlorengeht. So aber trafen sich am Ende der Stadtrundfahrt an die 150 Leute in einem Kino in der Vorstadt.

Nach kurzer Beratung war das Programm festgelegt. Zu Beginn wurde "i - der Film" gezeigt, der indymedia-Werbetrailer, und ein paar Clips von Aktionen in Russland. Anschließend wurde im Plenum über die Organisation der anarchistischen Bewegung in Russland diskutiert. Nach einer kleinen leckeren Werbeunterbrechung durch Food Not Bombs ging es in die Workshops. Beraten wurde über die verschiedenen laufenden und anstehenden Kampagnen wie Kämpfe am Arbeitsplatz und an den Unis, Aktionen gegen die 3. Amtszeit Putins (und was zu tun ist, wenn es dazu kommt), die Aktionscamps im Sommer (vor allem zu Umweltthemen) und allgemein über mögliche Aktionsformen und anarchistische Selbstorganisation.

Letzterer Workshop drehte sich zunächst (bevor in der letzten Viertelstunde noch schnell Nägel mit Köpfen gemacht wurden) vor allem um das Thema Alkoholismus und Drogen; während einige TeilnehmerInnen das Saufen als Grundlage russischer Geselligkeit und damit als unabdingbare Voraussetzung jeder kollektiven Organisation sahen, waren andere der Meinung, der Konsum solcher Mittel zerstöre jeglichen Aktivismus. Dagegen wurde das Beispiel von Frontaids gebracht, einer der aktivsten politischen Organisationen, die jede Menge auf die Beine stellt, obwohl sie von Haus aus zum großen Teil aus Junkies besteht - andererseits waren viele von ihnen an diesem Abend in der Stadt, schafften es aber nicht aufs Treffen, weil sie sich in irgendwelchen Squats die Rübe wegballern mussten. Heroin gibt's zur Zeit in Russland viel und billig und es geht das Gerücht um, dass das kein Zufall ist, sondern dass staatliche Stellen dabei ihre Finger im Spiel haben und so gezielt versuchen, jetzt kurz vor den Wahlen den Widerstand zu schwächen. Die SE-Debatte spielte auch zwischen den Workshops eine Rolle, da ein paar Obermacker nicht ganz damit klarkamen, dass es für viele der Anwesenden eben dazugehört, zwischendurch vor dem Haus ein paar Wodka Bull oder andere Leckereien zu kippen.

Ein Workshop des Anarchist Black Cross vermittelte außerdem ein paar Grundlagen über Gesetze, Rechte und ihre Durchsetzbarkeit im Umgang mit der Staatsmacht. Dieser Workshop fand anschließend auf der Straße gleich eine praktische Fortsetzung: eine Miliz-Streife war der Meinung, dass die Papiere eines auswärtigen Genossen nicht in Ordnung seien, und wollte ihn mitnehmen. Dazu muss man sagen, dass das Leben in Russland ziemlich gut überwacht wird und die Bewegung von A nach B an sich schon einen kriminellen Beigeschmack hat. Deswegen muss man beim Fahrkartenkauf auch einen Perso vorlegen, der Name wird auf dem Ticket notiert, und das gilt als Registrierung am Zielort. Besagter Genosse war aber mit dem Auto angereist und daher auch in St. Petersburg nicht registriert, was im Gesetz irgendwie nicht so richtig vorgesehen ist; und wenn es keine Regelung gibt, kann man ja mal davon ausgehen, dass irgendwas daran illegal ist und auf blöd für eine Verhaftung ausreicht. Nun, im konkreten Fall dann doch nicht, denn es entwickelte sich ein größerer Wickel mit dieser und einer weiteren hinzugekommenen Milizwannenbesatzung, zwischendurch ging mal der größte Teil der Anwesenden auf dem gefrorenen Gehsteig zu Boden, und als sich das Chaos etwas beruhigt hatte, war der "Illegale" verschwunden.

Auch in der folgenden Nacht mieden viele Schwarzer-Peter-Fans den Schlaf. Trotzdem fanden am Sonntag ab dem frühen Morgen Aktionen statt, z. B. am Grab von Timur (der sich bei Food not Bombs und in der Flüchtlingshilfe engagiert hatte und vor zwei Jahren - ebenfalls auf dem "Tschorny Piter" - von Nazis erstochen worden war), von Frontaids und gegen die anstehenden Wahlen.

Um halb drei war dann wieder - diesmal bei strahlendem Sonnenschein - Treffen auf dem Senny-Platz, anschließend ging es in die Vorstadt. Offenbar weil es gestern so locker gelaufen war, waren ein paar GenossInnen beim Metro-Eingang nicht ganz so auf Zack: der Drehkreuzmann konnte zwei Leute herausgreifen und hinter die Barriere ziehen, von denen auch nur einer schnell genug war, um durch den Hinterausgang zu flitzen. Der andere war allerdings nach einer Stunde auch wieder draußen.

Nach einigem Hin und Her fuhr die versammelte Mannschaft mit dem Bus in das Kulturhaus eines nahegelegenen Dorfes, wo ein Konzert mit fünf Bands aus Piter und Moskau stattfand. Das Programm reichte von anarchistischem Liedermaching über Ska, Oi! und HC-Punk bis Crust, dazu wurde ausgiebig getanzt und gefeiert. Den Tanz könnt Ihr Euch so ähnlich vorstellen wie den Pogo auf einem gewöhnlichen Deutschpunkkonzi, vielleicht ein bisschen gröber und mit mehr kollektiven Spielchen; z. B. klumpt sich der Mob gelegentlich zu teils mehrstöckigen Gebilden zusammen, die dann aufeinander losgehen. Rund um das Konzert war wieder jede Menge anarchistisches Infomaterial geboten, ein paar Distros vertickten Buttons etc., Aktionen und Treffen wurden abgecheckt, und schließlich ging es mit den letzten Bussen zurück in die Stadt, wo die Leute teils auf die Nachtzüge gingen, teils in den WGs und Treffpunkten weiterfeierten.

Insgesamt wird "Tschorny Petrograd 2007" allgemein als voller Erfolg gewertet, es hat organisatorisch viel mehr geklappt als in den vergangenen Jahren, es waren mehr Leute da und es war nicht nur ein Massenbesäufnis, es gab wenig Nazistress, fast keine Verhaftungen und nur zwei Leichtverletzte (einen durch nazibedingten Kontakt mit Pfefferspray und einen durch alkoholbedingten Kontakt mit einer Rolltreppe). Ist also sicher kein Fehler, für November 2008 schon mal eine Reise an die Newa einzuplanen...

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