Still working to recover. Please don't edit quite yet.

Ralf Reinders Vielleicht wär’ ich Profifußballer geworden

Aus <a href="http://deu.anarchopedia.org/Ralf_Reinders_Vielleicht_w%C3%83%C2%A4r%C3%A2%E2%82%AC%E2%84%A2_ich_Profifu%C3%83%C5%B8baller_geworden">Anarchopedia</a>, dem offenen Wissensportal für und von AnarchistInnen
Jump to: navigation, search

Der einstige Stadtguerillero Ralf Reinders saß wegen der Lorenz-Entführung 15 Jahre im Knast und nimmt heute ab und zu an der Stadtführung »Kreuzberg radikal« teil


»Hier unten im Keller«, sagt die Stadtführerin und zeigt auf eine Ladenfront mit grünen Fensterläden, »ist das Foto aufgenommen worden«. Sie hält die Extraausgabe der BZ vom 1. März 1975 hoch. Auf dem Titelbild sieht man einen derangiert wirkenden Peter Lorenz, der keine Anstalten macht, das Schild vor die Brust zu halten mit der Aufschrift: »Gefangener der Bewegung 2. Juni«. Fünf Tage lang wurde der damalige Chef der Berliner CDU im Keller unter einem Trödelladen in der Kreuzberger Schenkendorfstraße 7 festgehalten, bis er nach Erfüllung der Forderungen seiner Entführer in einem Wilmersdorfer Stadtpark freigelassen wurde. Die kleine Teilnehmerschar der Stadtführung »Kreuzberg radikal«, veranstaltet vom Kreuzbergmuseum, ist an ihrer letzten Station angekommen. Kaum einer von ihnen wusste bislang, dass sich eine der spektakulärsten militanten Aktionen vor mehr als dreißig Jahren mitten im beschaulichen Bergmankiez ereignete. In dem einstigen Trödelladen, der kurzfristig vom Umfeld des 2. Juni angemietet wurde, um den Eingang zum Kellerverlies zu verschleiern, sitzt heute eine Sozialberatungsstelle der Diakonie.


Vor zweieinhalb Jahren bot Katja Roeckner, die eigentlich an einer Doktorarbeit über Industriemuseen schreibt, zum ersten Mal die Führung an. Anfangs lief sogar ein ehemaliger Aktivist der Bewegung 2. Juni als Zeitzeuge mit. Ralf Reinders, heute 58, hatte Banken ausgeraubt, an der Lorenz-Entführung mitgewirkt und dafür fünfzehn Jahre in Moabit abgesessen. In der ersten Zeit seien zu den Führungen bis zu dreißig Leute gekommen, die manchmal auch aus ihren eigenen Biographien einiges beizutragen hatten, erzählt Reinders. Später erlebte er ganze Schülergruppen, die noch nie von der RAF gehört hatten, geschweige denn wussten, wer vor Schröder Kanzler war. »Wenn die Lehrer die politisch informiertesten Leute bei so einer Führung sind, dann finde ich, dass die Gesellschaft sehr unpolitisch geworden ist«, sagt Reinders und lacht, »früher war das umgekehrt.«


Die langen dunklen Haare sind grau geworden, Reinders trägt sie schlicht als Zopf. Er ist ein ruhiger Typ. Fast wirkt er ein bisschen gemütlich, früher wurde er »Bär« genannt. Zum Gespräch im Café bringt er seine junge Freundin mit. Mit ihr und ihren zwei Kindern wohnt er inzwischen in Neukölln und arbeitet als Erzieher in einem Kinderladen. Vor 32 Jahren war er stadtbekannt. Auf den alten Fahndungsfotos sieht man einen langhaarigen jungen Man mit Madonnenscheitel und kleinem Spitzbart, manchmal auch mit Hippie-Stirnband. Hinter den scheinbar harmlosen Charakterzügen – »Fußball-Fan, Biertrinker, Langschläfer und ›sanftmütig‹ (so die Mutter)« â€“ vermutet BILD umso größere Gewaltbereitschaft: »Er schießt sofort.« Per Ferndiagnose wusste das Blatt über den 26-jährigen zu berichten, er sei ein »Schwächling«, »von Baader-Meinhof erst verlacht« gewesen und »die Stufen zum Terrorismus mühsam hochgeklettert.« Auf einem Foto kurz nach seiner Festnahme streckt ein gar nicht mehr mädchenhafter Reinders die Zunge raus, trägt jetzt Pony, Koteletten und einen Schnauzer, der Madonnenlook ist weg. Zum Zeitpunkt seiner Festnahme lebte er seit fünf Jahren in der Illegalität, was den Ermittlern einen gewissen Respekt abnötigte.


Die Lorenz-Entführung war laut Reinders gedacht als ein Akt, die Stimmung in der durch viele Niederlagen tief deprimierten Linken zu heben und musste unbedingt erfolgreich sein. Auch sollte die staatliche Allmacht durch eine gelungene Gefangenenbefreiung ein wenig angekratzt werden.


Der Zeitpunkt der Entführung war, 71 Stunden vor der Wahl, präzise kalkuliert: Als Chef der Berliner CDU schickte sich Peter Lorenz an, in wenigen Tagen die Wahl zu gewinnen. Das Kalkül, »dass der Regierende Bürgermeister nicht seinen Nachfolger opfern kann«, so Reinders, ging auf. Auch erlaubte die Auswahl der freigepressten Gefangenen, denen bis dato kein Mordanschlag zur Last gelegt worden war, dem Staat, nachzugeben. Als Peter Lorenz am Morgen des 27. Februar mit seinen eigenen Dienstwagen auf dem Weg zur Geschäftsstelle gekidnappt wurde, war der Schock groß, die Boulevardmedien überschlugen sich. »Jetzt sind alle einig: Lorenz muss wieder her« (Volksblatt), »Blut, Schreie, Tränen« (BILD) lauteten die Schlagzeilen und die BZ lichtete, das Schlimmste befürchtend, schon den leeren Schreibtisch von Lorenz ab. Bei BILD meinte man genau zu wissen, dass die Volksgefängnisse, die »auf Befehl von Baader-Meinhof« in ganz Deutschland errichtet worden seien, im obersten Stockwerk eines Wohnhauses lägen. Sie enthielten: Käfig für den Entführten, Bombenwerkstatt, Diskussionsraum für Selbstkritik und Gemeinschaftsküche, wo die Frauen mit »Konserven für ein halbes Jahr« für Verpflegung sorgten. Tatsächlich saß Lorenz auf engstem Raum in einem dreimeterhohen Keller in Kreuzberg und bekam bürgerliche Küche serviert: Schweinebraten, Rührei, Bohneneintopf. Nach seiner Entlassung erzählte er Journalisten, dass er, von Maschinengewehren bedroht, als »Bonze« und »Faschist«  beschimpft worden sei, später seien aus den Verhören aber Gespräche geworden. Nach seiner Aufforderung, zu lüften, was in dem fensterlosen Keller nicht möglich war, hätten die Entführer ein Raumspray besorgt. Später spielten seine Bewacher mit ihm Schach und schauten sich sogar das Ohnesorgtheater im Fernsehen an, das Maschinengewehr immer am Schoß. [Fußnote: Während Lorenz im »Volksgefängnis« sitzt, gewinnt er die Wahl: Mit 43,9 Prozent wird die CDU zum ersten Mal seit Kriegsende stärkste Partei in Berlin.] Die Stimmung war angespannt, erinnert sich Reinders. Doch nachdem die ersten Forderungen erfüllt wurden, »war und klar, dass der Gang der Dinge sehr flüssig vonstatten gehen wird.«


Zunächst gewannen die Entführer den Nervenkrieg. Fünf Gefangene wurden in den Jemen ausgeflogen. Die Bundesregierung hatte sich zur Erfüllung der Forderungen durchgerungen. Nur hinter den Kulissen gab es Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Berliner Bürgermeister Schütz und Kanzler Schmidt. Schmidt hat das Nachgeben später als schweren politischen Fehler bezeichnet. Peter Lorenz wurde im Volkspark Wilmersdorf freigelassen. Auf einer Pressekonferenz dreizehn Stunden danach sagte er, die Entführer hätten sich ihm gegenüber verhältnismäßig korrekt verhalten. Er hielt seine ehemaligen Bewacher für »Idealisten« mit einem »eigenen Ehrenkodex«, denen er, so abstrus es auch erschien, doch irgendwie abnahm, dass sie das ihm gegebene »Ehrenwort«, ihn nach erfolgreicher Gefangenenbefreiung laufen zu lassen, halten würden. Stellt man Reinders heute die Gretchenfrage, hätte er Lorenz umgebracht, wenn die Bundesregierung die Forderungen nicht erfüllt hätte, sagt er: »Es gibt unterschiedliche Darstellungen von den Beteiligten. Wir könnten heute sagen, um gut dazustehen, wir hatten es nicht vor. Aber es stimmt nicht, wir hatten es noch nicht entschieden.« [Fußnote: Dagegen hatte die andere Seite den Tod der gefangenen inklusive ihrer Begleitperson Albertz einkalkuliert. Laut Pastor Albertz hätten die äthiopischen Behörden bei einer Landung in Addis Abeba Maßnahmen getroffen, die Maschine zu stürmen und alle Insassen zu erschießen. Vgl. Prozessbericht in: Der Abend, 26.03.1979] Laut Reinders hätte die Frage »mit einem Teil der Basis diskutiert werden müssen.« Eine seltsame Vorstellung, doch sie passt in das Konzept der Berliner Stadtguerilla, die sich – anders als die RAF – als bewaffneter Arm einer demokratischen linken Subkultur verstand, deren Kampagnen man unterstützen wollte. Um sich »politisch nicht zu isolieren«, ging man, so Reinders, als Illegaler sogar zu den Debatten der Stadtteilgruppen – sofern der »Sicherheitsstandard« es zuließ auch ohne Waffen.


Hört man Reinders zu, so hat sich sein Weg in die Militanz zwar langsam, aber aus seiner Sicht unvermeidlich entwickelt. Das gesellschaftliche Klima der 60er und 70er Jahre, noch geprägt vom Obrigkeitsstaat und von Autoritäten in Justiz und Polizeiapparat, die nach dem Ende der Nationalsozialismus kontinuierlich weiterregierten, schien genau die rebellische Jugend zu produzieren, die sich später gegen sie wandte. Zwar beendete Reinders noch seine dreijährige Druckerlehre. Doch dann schloss er sich den so genannten »Haschrebellen« an: »1969 hatte ich aufgehört zu arbeiten«. Im Zodiak, dem heutigen Café im HAU am Halleschen Ufer, traf man sich: »Man dachte, in Ruhe kiffen zu können«. Angesichts vieler Razzien und Straßenschlachten war die Ruhe schnell dahin. Stein des Anstoßes war nicht nur der Joint. Beamte drohten damit, auf dem Revier die langen Mähnen abzuschneiden. Reinders und einige andere überlegten sich immer öfter, »was zu machen«. Einmal warfen sie eine Rauchbombe zur Premiere des Musicals »Hair« im Schillertheater, später bauten sie Molotowcocktails und Brandbomben, gerichtet gegen Polizeiautos, amerikanische Einrichtungen und Gerichtsgebäude. Eine Art politische Initialzündung erlebte Reinders als Lehrling bei einem Konzert der Rolling Stones in der Waldbühne, 1965. Die 20 Mark für eine Eintrittskarte hatte er wie viele andere nicht. Als einer von 200 Jugendlichen aus Tegel und Reinickendorf durchbrach er die Polizeisperren. Die Stones spielten nur 25 Minuten, danach sei die Bühne voller Polizisten gewesen, die auf die Mädchen in den ersten Reihen eingeschlagen hätten. Erst daraufhin sei die Waldbühne auseinandergenommen worden. Nach der zweistündigen Randale erlebte Reinders zum ersten Mal »eine kollektive Stärke«.


In einer Teestube in Charlottenburg hatte er Tommy Weissbecker und Georg von Rauch kennengelernt. »Tommy war eher marxistisch ausgerichtet, Georg eher anarchistisch«, erinnert er sich. Zusammen mit Bommi Baumann waren sie bei der linksradikalen Stadtzeitung 883 aktiv. Den Vertrieb der verbotenen Ausgaben hatten sie perfekt organisiert. Während sich die einen mit Placebo-Paketen festnehmen ließen, schwärmten die anderen mit den echten Stapeln über die Hintertür aus. Was als Räuber- und Gendarm-Spiel begann, wurde mit zunehmender Militanz bitterer Ernst. Als Georg von Rauch auf offener Straße erschossen wurde [Fußnote: Am 04.12.1971 wird Georg von Rauch in der Eisenacher Straße per Kopfschuss von einem Kriminalbeamten erschossen. Zwei Tage danach besetzen Jugendlich das nach ihm benannte »Georg-von-Rauch-Haus« in Kreuzberg. Am 02.03.1972 wird Thomas Weissbecker von einem Kriminalbeamten in Augsburg erschossen.], war Reinders geschockt, aber nicht überrascht, auf Seiten der RAF hatte es auch schon Tote gegeben. Seit über einem Jahr lebte er im Untergrund. Im Frühjahr 1970 hatte er sechs Wochen in Untersuchungshaft gesessen, für einen Bombenanschlag auf das Jüdische Gemeindehaus, den er, wie er sagt, nicht begangen hatte. »Der Knast war für mich endgültig der Auslöser, militantere Sachen zu machen«, sagte Reinders später. [Fußnote: Reinders in einem Interview am 22.11.1992, nachzulesen in: Die Bewegung 2. Juni. Gespräche über Haschrebellen, Lorenz-Entführung, Knast. ID Verlag Berlin 1995] Was als anarchistische Revolte begonnen hatte, verhärtete sich zur politischen Ãœberzeugung: »Letztlich wird dieses Regime nicht abtreten ohne bewaffneten Kampf.« Als er Haftverschonung bekam, lernte er RAF-Leute kennen, die damals planten, Baader zu befreien. Doch die straff organisierten und marxistisch-leninistisch ausgerichteten Genossen in Westdeutschland waren nicht nach seinem Geschmack. Auch störte ihn, dass die RAF aufgrund ihres hohen Verfolgungsdrucks zu wirklichen politischen Aktionen nicht mehr kam. Dagegen versuchten die Berliner Stadtguerillerios solange wie möglich legal zu bleiben, schon weil »die Infrastrukturkosten geringer sind, Illegalität war sauteuer.« Um jedoch der drohenden Haftstrafe zu entgehen, tauchte Reinders unter. Mit einem Friseurbesuch begann sein Dasein in der Illegalität. »Irgendwann hat sich das Leben normalisiert, man hat versucht einen Alltag hinzukriegen«. Techniken wie Kochen, Pässe fälschen, Autos knacken mussten erlernt werden. Billig wohnen konnte er in Kreuzberg: Die zu Wohnungen umfunktionierten Wrangelkasernen mit ihren vielen Ausgängen und die Kreuzberger Hinterhöfe boten Fluchtmöglichkeiten. Im Frühjahr 1972 schlossen sich Reinders und ein Dutzend Mitstreiter zur Bewegung 2. Juni zusammen. Der Name erinnerte an den Tod von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 und daran, so Reinders, »dass die Bullen zuerst geschossen haben.« Er schätzt den damaligen harten Kern auf 10 – 20 Leute. Laut Verfassungsschutz gab es rund 1.500 legale Unterstützer in Berlin, »was ungefähr hinkommt«.


Sofort nach der Freilassung von Peter Lorenz startete die größte Fahndungsaktion der Nachkriegszeit, die aufgrund ihrer Erfolglosigkeit als »Aktion Wasserschlag« in die Geschichte einging. Mehr als 180 Personen wurden festgenommen, 100 Wohnungen durchsucht und 4.000 Fahrzeuge kontrolliert. Ende März brüskierte die Bewegung 2. Juni erneut die Polizei, als tausend Exemplare einer Erklärung in Telefonzellen und Hausbriefkästen auftauchten. Bei Banküberfällen verteilte der 2. Juni »revolutionäre Negerküsse« [heute korrekt »Schaumküsse« genannt]. Laut Reinders ein »gezielter propagandistischer Akt«, um zu signalisieren, dass sich die Aktionen nicht gegen die kleinen Leute richteten, die RAF kritisierte die Aktion als »populistisch«. Auch im Nachhinein legt Reinders Wert auf handwerkliche Perfektion, mit der eine Gefahr für Unbeteiligte gering gehalten werden sollte. »Wir haben immer nur gute Noten von den Ãœberfallenen gekriegt.« Bei einem Bankraub, erinnert er sich, rutschte eine Genossin auf einem Papierschnipsel aus, reflexartig wollte sie ein Kunde auffangen, entschied sich aber dagegen – es hätte als Angriff gewertet werden können. Reinders erkannte den Mann: Es war der Kreuzberger Mieterberater und spätere AL-Baustadtrat Werner Orlowsky: »So schließen sich die kreise in Kreuzberg immer wieder.« Die Polizei suchte derweil fieberhaft nach dem Lorenz-Versteck, Mitte März vermutete man es in Kreuzberg. Innerhalb weniger Monate wurden fast alle Mitglieder des 2. Juni festgenommen, am 10. September 1975 Ralf Reinders, Inge Viett und Juliane Plambeck in einer Steglitzer Ladenwohnung. Keiner machte Anstalten zu schießen. »Die Ãœbermacht war zu groß. Wir hatten uns nur kurz angekuckt, da war klar, dass wir nicht mehr rauskommen«, sagt Reinders. In der Wohnung fanden sich Lorenz` Brieftasche, sein Terminkalender, Druckmaschinen und eine Fotowerkstatt.


Die Nachbarn vermuteten »harmlose Künstler«, vor dem Haus hatte Reinders sogar Blumen gepflanzt. »Zu mir waren die immer furchtbar nett«, erzählte die 81-jährige Nachbarin der Presse. Im November wurde das Versteck in der Kreuzberger Schenkendorfstraße entdeckt. Reinders kam nach Moabit in Untersuchungshaft. Fünf Jahre später, am 13. Oktober 1980, nach insgesamt 206 Verhandlungstagen und dem Auftritt von 368 Zeugen und 22 Sachverständigen, wurden im Lorenz-Drenkmann-Prozess gegen fünf Angeklagte die Urteile gefällt. Reinders, der zur Urteilsverkündung mit Zöpfchen und roten Schleifen im Haar erschienen war, wurde wegen Beteiligung an der Lorenzentführung sowie an zwei Bankrauben zu 15 Jahren Haft verurteilt.


»Als wir einfuhren«, erzählt Reinders über den ersten Tag im Knast, »war die Stimmung gut, wir haben von den Gefangenen Schokolade und Tabak zugeworfen gekriegt.« In Moabit traf er Schulkameraden und einstige Haschrebellen wieder, so war es leicht, »Strukturen aufzubauen«. Zusammen mit den anderen Häftlingen organisierten die 2.-Juni-Gefangenen einen Hungerstreik für bessere Haftbedingungen. Die erste Zeit war von Umstellungen geprägt: »die körperliche Enge, der schlechte Fraß.« Reinders erzählt, einige Schließer hätten ihn und die anderen vom 2. Juni systematisch schikaniert. Auch habe es ein Rollkommando gegeben, das zum Prügeln vorgschickt wurde. Gerichtsbeschlüsse wie ein längerer Hofgang wurden nicht umgesetzt, und als die Gefangenen sich weigerten, den Hof zu verlassen, kam es zur Schlägerei zwischen sechs Gefangenen und dreißig Vollzugsbeamten: »Wir sahen ziemlich grün und blau aus, hatten aber auch große Erfolge, weil die sahen auch nicht gut aus«, erinnert er sich. Erst in den letzten Jahren normalisierte sich der Knastalltag. »Nach zehn Jahren war es so, dass wir mit den Schließern alt geworden sind«, meint Reinders. »Die sagten, die ganzen Kinderficker kommen raus nach Zweidrittel Verbüßung ihrer Haft, und ihr habt ja eigentlich nichts getan...«, da muss er selber lachen. »Für einige Bullen war das nicht begreifbar.«


Der Mann, der laut BILD mit der Bewegung 2. Juni einst »Kreuzberg erobern« wollte, wurde 1990 in ein Kreuzberg ohne Mauern entlassen. »Kreuzberg sah schöner aus als früher, nicht mehr so dunkel und dreckig«, erinnert er sich an seine ersten Eindrücke. Die orientalischen Gerüche des inzwischen multikulturellen Bezirks waren neu für ihn. Die ersten Monate wohnte er in der Wiener Straße, später am Bethaniendamm. Bald bewegte er sich wieder in linken Strukturen oder was von ihnen übrig war. Eigentlich war er gut orientiert, was in der Welt, in Berlin und in Kreuzberg passiert war. Nur bei politischen Diskussionen merkte er jetzt manchmal, dass ihm wichtige Informationen fehlten: »Ich kannte die Geschichte der Leute nicht mehr, man diskutiert ja aus einer individuellen Erfahrung heraus.« Auch stellte er fest, dass er mit dem Lokalpatriotismus einiger autonomer Kreuzberger nicht viel anfangen konnte. »Einmal wollte ich nach Wedding ziehen, das löste totales Entsetzen in der Kreuzberger Szene aus.« Zwar zollt er einem Bezirk, »in dem die Leute den Bullen gegenüber immer noch relativ feindlich eingestellt sind«, immer noch besonderen Respekt. Zugleich war und ist Kreuzberg für den geborenen Reinickendorfer immer eher ein politischer Aktionsraum als eine Kuschelecke.


Nach seiner Entlassung beteiligte sich Reinders an Anti-Kriegs-Demonstrationen und arbeitete in einem Gegeninformationsbüro mit. In der ersten Zeit wurde er zusammen mit seinem alten Knastkollegen überwacht. Als er joggen ging, »standen sie im Park verteilt mit den grünweißen Turnschuhen, die das SEK hatte. Es war ganz offensichtlich nach dem Motto: Wir haben euch unter Kontrolle.« Nichtsdestotrotz läuft Reinders am 1. Mai bei der verbotenen Demonstration in der Oranienstraße mit. Er lehnt das Myfest ab, weil es eine Initiative von Politikern und Polizeistrategen sei, den Bezirk zu befrieden. Für Kreuzbergs Zukunft sieht er eher schwarz: Die Oranienstraße werde immer touristenfreundlicher, die Mietstruktur ändere sich: »Das Geld rückt allmählich in den Bezirk.«


Ralf Reinders` Leben ist dreigeteilt. Seit er fünfzehn war, änderte sich sein Leben alle fünfzehn Jahre radikal. Auch wenn er heute mit leiser Selbstironie auf die vergangenen Taten blickt, Zweifel, ob alles richtig war, hat er nie gehabt. »Wenn ich gesagt hätte, das war völlig falsch, hätte ich abgeschworen, dann wär ich drei, vier, fünf Jahre früher rausgekommen.« Mit der Entscheidung für den bewaffneten Kampf war ihm klar, dass er im Falle einer Festnahme lange sitzen würde. Die Gewissheit empfand er als Vorteil im Knast: »Wenn man weiß, dass man lange drin bleibt, kann man locker rangehen. Man hat eine andere Einstellung.« Zeitweise musste er sogar seine Besucher aufbauen: »Denen ging´s draußen auch dreckig.« Reinders ist überzeugt, dass er selbst in der Haft viel von seinem Leben bestimmen konnte. Manches hat er sogar in der Abgeschlossenheit konservieren können. »Die Leute sind heute viel kälter zueinander, früher war man offener.« Andere Dinge empfindet er als Macke, wie zum Beispiel sein mangelndes Zeitgefühl: »Vier, fünf Stunden können so vorbeigehen, ohne dass ich das registriere.« Und wenn alles ganz anders gekommen wäre? Reinders überlegt und lacht. »Vielleicht wäre ich Profifußballer geworden.«




Dieser Text stammt von Kreuzberg Keine Atempause