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Mao Meyer Kreuzberger sein ist eine Lebensform

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Mao Meyer zog mit vierzehn in eine besetztes Haus, machte »Unterhaltungspolitik« mit der KPD/RZ und ist auch als dreifacher Vater Punk geblieben


Mit 18 Jahren wollte Mao Meyer eine besonders peinliche Tätowierung haben. In einem französischen No-Future-Comic fand er die Zeile »Alles Fotzen außer Mutti«. Seitdem prangt der Spruch auf seinem linken Oberarm. Dass die Wenigsten darin einen guten Witz sahen, merkte er bald. Doch inzwischen hält er es für noch peinlicher, die Tätowierung wieder wegzulasern. Lieber trägt er sie mit Würde bis ins Altersheim.


Die Tätowierung ist wahrscheinlich das Auffälligste an ihm. Mao Meyer zählt sich zum »humoristischen Flügel der Autonomen«. Wie ein Autonomer aus dem schwarzen Block sieht er aber gar nicht aus. Baskenmütze, angegrauter Bart, bisschen füllig, wie viele andere, die auf die vierzig zugehn. Das Outfit ist proletarisch, wie er sich selbst auch gern stilisiert. Er sieht sich als Teil einer »bildungsnahen Unterschicht«, strebt maximale Unabhängigkeit und minimale Mittel zum Lebensunterhalt an.


Helmut Höge schrieb: »Als Westberlin noch eine Insel der Seligen war, ging man als Kreuzberger mit seinen theoretischen Problemen zu Mao Meyer, dem Aushilfshausmeister und Kopiergerätewart der Amerika-Gedenk-Bibliothek (AGB).« [Fußnote: Hier spreicht der Aushilfshausmeister! Alles wird urban. Von Helmut Höge. Hausmeisterblog, 19.07.2006, www.taz.de/blogs] Meyer ist zwar nicht mehr in der AGB beschäftigt, aber dennoch in der Lage, einen gut sortierten Ãœberblick über die militante Kreuzberger Geschichte zu geben. Er vertritt einen klaren Standpunkt bezüglich Freund und Feind. Und er kennt die Höhepunkte aus der Chronik der Kreuzberger Autonomen.


Sein schönster Tag in Kreuzberg war der 1. Mai 198. Mit »Wehmut und Freude« erinnert er sich an den »Jahrhundertkrawall«. Zwar hatte es seit Anfang der 80er Jahre eine Tradition kleinerer Straßenschlachten gegeben. Doch an diesem Abend überließ die zahlenmäßig unterlegene Polizei den Bezirk stundenlang sich selbst. »Die Polizei hatte sich zurückgezogen, man hätte weit laufen müssen, um sie zu finden und sich mit ihr anzulegen«, entsinnt sich Mao Meyer. Ãœber den »befreiten Moment« eines Kreuzbergs ohne Polizei kommt er noch zwanzig Jahre später ins Schwärmen: »Die Leute lächelten sich an, da werden Zigarettenautomaten aufgemacht, man reicht sich beim plündern die Sachen weiter, es war eine schöne, friedliche, euphorische Stimmung.« Ein Jahr später hatte die Polizei aufgerüstet. Die »Einheit für besondere Lagen und einsatzbezogenes Training« (EbLT) hat Meyer in unguter Erinnerung. »Jeder, der auf der Straße war, hat was auf die Fresse gekriegt, einfach weil er Kreuzberger ist.« Beim nachfolgenden 1. Mai 1989 versuchten dann wiederum die Autonomen zurückzuschlagen, es gab einen Rekord an verletzten Polizisten.


Soziologen, Politologen und linksliberale Moralisten haben seitdem viel räsoniert über die Dynamik des jährlichen Mai-Rituals. Seit es das Myfest gibt, veranstaltet von Bezirk und Anwohnern, gab es nur noch kleinere Scharmützel. Die eigentlich verbotene Autonomendemonstration zog gleichwohl durch die Oranienstraße. Meyer sieht darin den größten Erfolg. Man sollte nicht glauben, die Autonomen seien zu schwach, um das fest zu sprengen. »Das lass ich mir als Kreuzberger nicht bieten, dass man mir sagt, wann ich auf die Straße gehe und wann nicht.«


Mao Meyer ist ersten Lokalpatriot, zweitens Anarchist. Beides zusammen ergibt, dass er Polizei nicht nur generell, sondern erst recht in Kreuzberg ablehnt. »Für Kreuzberg ist es eine Erleichterung, nicht eine Verschlechterung, wenn die Polizei nicht da ist.« Im Alltag setzt er auf Zivilcourage. So wie unlängst in der Wrangelstraße, als die Polizei vier Zwölfjährige festnahm, umringt von einer protestierenden Menge. Was von Polizei und Teilen der Presse als »Mob« gegeißelt wurde, idealisiert er als sozialen Zusammenhalt. Kreuzberger gehen dazwischen, wenn ein Unrecht passiert. Jedenfalls macht Meyer das so.


Er hat mit der Staatsmacht seine Erfahrungen gemacht. Festgenommen wurde er mindestens fünfzig Mal, schätzt er grob. Mit sechzehn ein Monat in Jugenduntersuchungshaft, weil er mit einem Molli erwischt wurde. Eine Woche Jugendarrest wegen Schwarzfahren. 800 Mark kostete das Bespucken eines Polizisten. Ebenfalls 800 Mark, einen Polizisten Feigling zu nennen. Schließlich eine Bewährungsstrafe wegen »Körperverletzung zum Nachteil eines Polizeibeamten«. Wegen einer Schlägerei mit Zivilpolizisten, die als Rechte auftraten. Meyer hat keine gute Meinung von der Polizei: »minderbemittelt«, »moralisch verwahrlost«, »Schläger in Uniform« sind für ihn gängige Attribute. Nur einmal hat er einen Polizisten als Mensch erlebt. Während einer Demonstration unterhielt er sich eine halbe Stunde lang mit einem Spalier laufenden Beamten. Der hatte ihn gefragt, ob er wirklich an die Parolen glaube, die aus dem Lautsprecherwagen kämen. Meyer war überrascht: »Das zeugte von Interesse.« Schließlich gab er dem Beamten sogar seine Telefonnummer. Angerufen hat der aber nicht.


Als Anarchist glaubt Mao Meyer an eine Gesellschaft »ohne Polizei, ohne Militär, ohne Gerichte und ohne Geld.« Seitdem er vierzehn ist, lebt er nach dieser Devise. Im Frühjahr 1981 zog er mit seinen Eltern in ein besetztes Haus.


Bald waren ihm die Leute dort zu alt, und er siedelte um in ein »Punkrockjugendhaus« am Leuschnerdamm. M neuen Domizil war nur einer über achtzehn. »Es war kalt, dreckig, wir hatten kaum was zu essen, ein bisschen was zu kiffen, ich war glücklich«, bilanziert er die Zeit. Meyer trug damals noch den Irokesenschnitt. Als die Haare ausfielen, gab er ihn auf. Punksein war immer mehr als eine Kleiderordnung. Es war eine Haltung: »Unabhängigkeit und Geschmackssicherheit. Ein nichtängstliches Verhältnis zu Gewalt, Drogen und Unterschicht«. Das Bekenntnis zur Unterschicht ist ein Lieblingsthema von Mao Meyer. Er hält Blüm, Gysi, Kohl und Bush für gute Politiker, weil sie zum einfachen Volk sprechen können. Wobei er parlamentarische Politik und gesellschaftlichen Aufstieg generell verachtet. So sei es ein Segen, dass die Mitpunks keine Karriere gemacht hätten. »Eigentlich haben wir uns glücklicherweise nicht so entwickelt.« Einige wenige überlebten die harte Zeit nicht, sie hatten die Selbstzerstörung »als gangbare Alternative« gewählt. Ein Kollege von damals wurde tibetanischer Mönch und lebte asketisch. Als er mal auf Besuch kam, war er enttäuscht, dass sich die alte Clique trotz ihres ausschweifenden Lebensstils überwiegend gut gehalten hat. Der größte Teil dieser Punkrockgeneration landete in Heil- und Pflegeberufen, berichtet Meyer. Hatten die 68er noch studiert, um sozialarbeiterisch tätig zu werden, schaffen die Punks das ohne Bildungsmarathon.


So wie Mao Meyer. Ohne Schulabschluss, ohne Qualifikation wurde er vom Jobcenter als Hilfserzieher in einer Kreuzberger Schule angestellt. Für 738 Euro ABM-Gehalt im Monat steht er 38,5 Stunden pro Woche im Klassenzimmer. [738 Euro pro Monat geteilt durch 4,33333333333 Wochen pro Monat geteilt durch 38,5 Stunden je Woche ergeben einen Stundenlohn von 4,42 Euro.] Die hauptamtlichen Erzieher müssen tatenlos zusehen, wie das Arbeitsamt die Vollzeitstellen mit billigen Kräften auffüllt [und somit langfristig zum Teil auch ersetzt]. Meyer findet die Lage absurd, nimmt seine Aufgabe aber ernst. Unlängst forderte die Lehrerin die Kinder auf, den Hilfserzieher mit »Guten Morgen, Mao« zu begrüßen. Da fühle sich Mao Meyer unangenehm in die Zeit der Kulturrevolution versetzt. Auch wenn er gern eine Akademikerfeindlichkeit zur Schau trägt, hält er viel davon, dass die Kinder »ihr Leben in die Hand nehmen«. Mao haben ihn die Eltern genannt, weil ein Mao-Plakat über seinem Kinderbett hing. Im Pass ließen sie einen anderen Namen eintragen, um dem Kind nicht die Zukunft zu verbauen. Mit seinem Vater, der die Uni-Karriere schmiss und Taxi-Kollektivist wurde, traf sich Meyer früher auf den Besetzerplenen. »Oft war ich der Jüngste und er der Älteste im Besetzerrat.« Meyer wohnte in vielen besetzten Häusern, auch im Rauch-Haus am Mariannenplatz und im berüchtigten »Besetzer-Eck« am Heinrichplatz. Natürlich gehörte er zu den »Nichtverhandlern«, die sich lieber räumen ließen als Kompromisse zu machen. An einer festen Wohnung lag ihm nichts. Schließlich stand die Weltrevolution auf der Tagesordnung, mehr aber noch die dringende Frage: »Gestern hab ich nichts zu fressen gekriegt, krieg ich heute was?« Die ersten Jahre lebte Mao Meyer von monatlich 100 Mark Unterstützung durch die Eltern. Er arbeitete auf dem Bau, vertrieb T-Shirts und bekam für autonome Kolumnen in der taz Zeilengeld. Viel Energie verwendete er auch für die KPD/RZ, den Aufbau der Spaßpartei Kreuzberger Patriotische Demokraten / Realistisches Zentrum.


Es war eine »Kifferidee«, entstanden während der Besetzung des »Kubat-Dreiecks« [Fußnote: Eigentlich »Lenné-Dreieck«. Kleiner Streifen Land zwischen Lennéstraße, Bellevuestraße und Ebertstraße, der ursprünglich zur DDR gehörte, im Juli 1988 aber an Westberlin übergeben werden sollte. Er wurde im Mai 1988 besetzt und nach Norbert Kubat, der sich nach dem 1. Mai 1987 in seiner Zelle erhängt hatte, umbenannt.]. Im politischen Programm wurden die Entwicklung der Kreuzberger Zeppelin-Industrie, eine Zuzugssperre für Schwaben und Mietpatenschaften für Besserverdienende gefordert. Die KPD/RZ, die mit jährlichen Straßenschlachten an der Oberbaumbrücke bekannt wurde, war eine radikal lokalpatriotische Partei. 1993 bekämpfte sie die Einführung der neuen Postleitzahlen. Gegen das Verschwinden der »36« in der Kreuzberger Postanschrift protestierten die Aktivisten vor der Post am Halleschen Tor im benachbarten Viertel 61. Zwei ketteten sich an Briefkästen an, die anderen betrieben »Stafettenhungerstreiks« â€“ alle drei Minuten wurden sie abgelöst. Leider blieb die Aktion völlig wirkungslos. Passanten gingen achtlos vorbei. »Wir waren in einer Raumzeitblase«, stellte Meyer fest. »Die Leute in 61 sind doch anders. In 36 hätten sich Leute dazugesetzt, gelacht, eigene Ideen gehabt oder einen wenigstens beschimpft.«


Im April 1999, anlässlich des Kriegs auf dem Balkan, rief die KPD/RZ im Gewand einer »Kreuzberger Landwehr« zur Generalmobilmachung auf. »Blut muss fließen, Tot machen.«, »Opfer müssen verzichten können«, lauteten die Parolen. In der Presse fanden die Spaßguerilleros freundliche Beachtung. 1999 zog die Kiezpartei unter dem Slogan »Kreuzberg zuerst« mit einem Abgeordneten ins Bezirksparlament. Die rotierenden KPD/RZ-ler saßen mit einer blauen Dienstperücke in der BVV und hatten bei Abstimmungen die Wahl, zu würfeln oder sich bestechen zu lassen. Meyer legt Wert darauf, dass die KPD/RZ keine politische Arbeit machte, vielmehr wollte sie die BVV als sinnlose Einrichtung vorführen: »Politik ist zu wichtig, um sie dem Parlamentarismus zu überlassen. Deswegen machten wir Unterhaltungspolitik.« Kurz vor dem 1. Mai 2000 gab man sich erneut lokalpatriotisch in einem Aufruf an die »lieben linksradikalen, jugendlichen Gewalttäter/Innen und Polizisten«: »Gemeinsam können wir dafür sorgen, dass der kommende 1. Mai ein Höchstmaß an Erfolgserlebnissen bei minimaler finanzieller Belastung des als Gastgeber fungierenden Bezirks bietet.« Die spätere »Zwangsfusion« mit Friedrichshainer Genossen zur SED und die Mitarbeit in der Partei brachten nur noch wenig Aufmerksamkeit. Eine der letzten Aktionen der mittlerweile parteilosen Patrioten war die Anbringung eines Sitzbretts an einer Blumenrotunde am Heinrichplatz.


»Kreuzberg ist für mich Heimat«, stellt Mao Meyer fest. Eine Heimat, die nicht ethnisch definiert sei. Türken, Deutsche, Araber, alle hätten die Möglichkeit einer gemeinsamen Identität. »Kreuzberger sein ist eine Lebensform«. Meyer lobt die geringe Kriminalität, die sozialen Strukturen, aber auch die Schattenökonomie Kreuzbergs, wo man Rat fände, wenn man legal an Grenzen stößt. Und überhaupt, welche Bezirke wären schon bundesweit bekannt. Die Krawalle hätten den Leuten einen Stolz vermittelt, meint Meyer. »Du wohnst in einem Bezirk, der in der Presse erwähnt wird. Ich bin aus Kreuzberg, da kann du schon auf dicke Hose machen.«


Auch wenn Meyer seinen Iro längst rasiert hat, als Punk fühlt er sich auch heute noch. Bei seiner Reise durch Besetzerhäuser sammelte er eine Menge sozialer Kompetenzen. Dabei könnte er es mit jedem mittleren Management aufnehmen, ist er überzeugt. Mit Frau und zwei Kindern (eins ist schon erwachsen) wohnt er jetzt in einem ehemals besetzten Haus nahe dem Kottbusser Tor. Die Hausgemeinschaft pflegt die alte »Punkrockerselbstverständlichkeit, dass man sich gegenseitig in Ruhe lässt«. Meyer kann mit der »Regelwut der Hippiekultur« nicht viel anfangen, mit ihren Einkaufs- und Essensnormen. Die eigene Wohnstatt ist »schön rott, eine echte Bruchbude, mit selbsteingebauten Bädern«. Jeden Monat überweist er brav seine Monatsmiete an den Eigentümer. Der hat kürzlich gewechselt und will die alten Öfen rausreißen. Was Meyer ärgert, der aufs Gas gern verzichtet und lieber »putinfrei« heizt. Haben die Leute gar kein Krisenbewusstsein?


Meyer ist immer mit wenig Geld ausgekommen. Seine Zukunft sieht er »in Kreuzberg, gern am unteren Rand der Gesellschaft, auch finanziell«. Er reist aus Prinzip nicht in fremde Länder, wo er reicher wäre als die Gastgeber.


Er hat wenig Ansprüche, aber feste Grundsätze. Ein Lottogewinn wäre kein Glück für ihn. Denn natürlich könnte er, aufgrund seiner Überzeugung, das Geld nicht einfach verprassen. Er würde sich überlegen, welches Projekt, welche Idee er damit unterstützen könnte. Keine einfache Aufgabe: »Für mich wäre das Stress«.


Dieser Text stammt von Kreuzberg Keine Atempause