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Ich kann mich nicht erinnern

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Ich konnte mich an nichts erinnern. Der Telefon klingelte, und ich wusste nicht, ob es der, die oder das Telefon heißt. Ich konnte mich nicht erinnern. Am anderen Ende meiner langen Leitung fragte Frau Köchel wo ich bliebe. Wer zum Teufel war das?


„Ich kann mich nicht an Sie erinnern“, sagte ich.


„Sie sind mir ja einer“, sagte sie, „ich finde es richtig gut, dass jetzt ein Mitarbeiter mit Humor bei uns ist.“


Ich angelte in meiner Jackentasche. Es war halb elf, ich lag im Bett telefonierte mit dem Handy und die Jacke hing über der Stuhllehne. Ich fand Papier. Einen Arbeitsvertrag. Von mir unterschrieben. Ach du meine Nase.


„Nun mal im ernst“, wieder Frau Köchel, „ist etwas passiert? Sie sollten seit einer halben Stunde in der Konferenz sein.“


„Ich bin so schnell wie möglich bei Ihnen, dann erkläre ich ihnen alles. Sie werden nicht glauben, was mir passiert ist.“


Was sollte ich ihr erklären? Und wem außer ihr noch? Warum konnte ich mich an nichts erinnern, und woran konnte ich mich nicht erinnern? Wessen Kopfschmerzen waren das? Ach so, das waren meine.


Wasser. Zähneputzen. Thomapyrin. Wasser. Ein Rollmops. Kaffee. Langsam wurde es besser. Es hieß: das Telefon, ganz einfach. Ich musste gestern einen Arbeitsvertrag unterschrieben haben, denn ich hatte einen in meiner Jackentasche gefunden. So was war eigentlich gar nicht mein Stil. Als Berufsbezeichnung stand da nur ein unverständlicher Anglizismus. Ich rief Jens an.


„Klingel mal nicht so schrill“, sagte er, „wer ist da überhaupt?“


„Ich bin's. Sag mal, waren wir gestern einen heben?“


„Jaaa.“


„…“


„...“


„Ich brauche mehr Details.“


„Wir waren gestern im Stübchen, mit den anderen, und Du hast einen ausgegeben, wegen Deinem neuen Job. Es war richtig schön. Wir haben auf den Tischen getanzt und dann hast Du vor dem Stübchen in ein Kabrio gekotzt...“


„Was habe ich über meinen neuen Job erzählt?“


„Na dass Du da gestern gleich alle kennen gelernt hast, und es Dir da ganz gut gefällt...“


„Aber was bin ich?“


„Das weiß ich doch nicht, Du hast immer bloß etwas kompliziertes Englisches gesagt und dann gekichert. Und dann hast Du erzählt, dass sie dich morgen, also heute, gleich mit wichtigen Verhandlungen betraut haben... Sag mal bist Du immer noch zu hause?“


„Ich kann das alles erklären”, sagte ich, “Du wirst nicht glauben, was mir passiert ist.“


„Na Du hast einen über'n Durst getrunken und heute verschlafen. Was soll ich Dir daran nicht glauben?“


Verdammt! Dass war ja ein schöner Einstand. Ich musste los. Wo musste ich überhaupt hin? In der Kopfzeile des Arbeitsvertrages stand eine Adresse. Wenigstens das. Eine Adresse am Potsdamer Platz.


In der U-Bahn überlegte ich. Ich konnte mich an nichts erinnern. Filmriss. Aber ich konnte doch schlecht auf Arbeit sagen, dass ich... Was sollten die denn von mir denken? Nur das Beste sollten die doch von mir denken, nur das Beste durften die doch von mir denken. Ich war ja noch in der Probezeit. Himmel, Arsch und Zwirn, ich wusste immer noch nicht, was das eigentlich für ein Job war. Das musste ich so schonend wie möglich herausfinden. Und ich brauchte eine sehr gute Ausrede.


Als ich die Bürotür öffnete, blickten mich mindestens... also zählen ging auch noch nicht wieder richtig, blickten mich urst viele Augenpaare an. Männer und Frauen, größtenteils leger gekleidet, in so einer Art Vorzimmer verteilt. Sessel, eine große Fensterfront, Hydrokulturen. Ein Typ mit Binder kam auf mich zu.


„Da sind Sie ja endlich“, er schüttelte mir die Hand, „machen Sie sich keine Sorgen, wir haben Herrn Gimpel in die Konferenz geschickt. Darf ich ihnen gleich Frau Schlibrowski vorstellen, Sie kennen sich als einzige noch nicht.“


Ich schüttelte Frau Schlibrowski die Hand. Die anderen kannte ich also alle schon. Soso. Von gestern vermutlich.


„Aber nun erzählen Sie doch, was passiert ist“, sagte eine blonde Frau, „Sie haben uns vorhin am Telefon so neugierig gemacht.“ Aha, das war wohl Frau Gimpel.


„Ja“, sagte der Chef, „wenn Sie gestern nicht erzählt hätten, das sie Abstinenzler sind, würde ich ja denken, sie haben gestern ihre Anstellung begossen.“


„Ich kann mich an nichts erinnern“, verdammt, das war mir nur so rausgerutscht.


„Wie bitte?”


„Ich... ich kann mich an nichts erinnern. Ich leide unter Gedächtnisschwund.“ Was redete ich da? „Jawohl, ich habe da diese Krankheit, nichts ernstes, das kommt alle Jubeljahre mal und geht nach ein paar Tagen wieder weg. Ich vergesse dann jeden Tag alles. Ich fahre nachher zu meinem Arzt und lasse mir Tabletten geben, die wirken immer sehr gut. Ich kann auch weiterarbeiten, ich lasse mich gar nicht krankschreiben. Die regelmäßige Arbeit wird mir sogar gut tun...“ Was quatschte ich da für einen Blödsinn zusammen? Ich brauchte wohl wirklich Tabletten.


„Sie Ärmster“, sagte Frau Köchel.


„Na Kopf hoch“, sagte der Chef, „das wird schon wieder. Machen Sie sich keine Sorgen. Wir stehen alle hinter ihnen. Lassen Sie's ruhig angehen und werden Sie gesund! Schön, dass sie bei uns arbeiten. Wir werden Sie unterstützen, wo wir können. Haben Sie keine Hemmungen, um Hilfe zu bitten.“


Da hatte ich mir ja was Schönes eingebröckelt. Andererseits immer noch besser, als wie als Suffkopp dazustehen. Ich musste bloß eine Weile lang mitspielen und den Patienten geben. Das machte ich schließlich nicht zum ersten Mal. Ein gelernter Ostler weiß, wie man krankfeiert.


Allerdings feierte ich krank und arbeitete trotzdem. Ich war wahrscheinlich der dümmste Simulant der Welt. Andererseits stellten mir die Sekretärinnen immer frische Blumen auf den Schreibtisch. Ganz ehrlich, ich freute mich jeden Tag wieder darüber, und das machte es mir leichter, so zu tun, als sei alles jeden Tag für mich neu. Ich behauptete, mir jeden morgen einen kurzen Brief an mich selber durchzulesen, in dem ich mich „briefte“. Auf Grund meiner angeblichen Vergesslichkeit, begannen die Kollegen mir von privaten, ja von intimen Problemen, Erfahrungen und Erlebnissen zu erzählen. Ich bekam jeden Tag die unglaublichsten Geschichten serviert, außer von Herrn Gimpel, der erzählte bloß immer von seiner Operation. Aber ansonsten hörte ich Dinge, die ich mir nicht im Traum hätte vorstellen können.


Irgendwann hätte ich eigentlich auch meine Heilung simulieren müssen. Plötzlich nicht mehr alles vergessen. Das Erinnerungsvermögen ist wieder da. Glückwunsch. Aber ich hatte mich so daran gewöhnt. Alles was ich tat und sagte, hatte so eine angenehme Unverbindlichkeit. Und wenn ich, was immer öfter geschah, abends einen zu viel trank und einen Filmriss hatte, was auch immer öfter passierte, und dann morgens verschlief, dann hatte ich praktischerweise schon eine passende Ausrede.


Vor ungefähr einem Monat dann, geschah etwas Unglaubliches. Frau Schlibrowski bat mich, in der Mittagspause dringend in ihr Büro zu kommen. Als ich dort eintrat, knöpfte sie sich wortlos die Bluse auf. Dann hob sie ihren Rock hoch. Den Rest kann man sich denken. Wer weiß, was sie dazu trieb? Ich war inzwischen genügend trainiert darin, am nächsten Tag sogar davon nichts mehr zu wissen. Sie kann zufrieden mit mir sein. Sie bittet mich jetzt immer öfter in der Pause zu sich. Und nicht nur sie. Ja, ich werde richtiggehend durchgereicht, beim weiblichen Personal unserer Firma. Und neuerdings nehmen mich auch die Jungs vom Außendienst immer öfter mit auf Tour.


Die Arbeitsstelle hat sich mittlerweile, dank meiner psychischen Erkrankung, zum Mittelpunkt meines Lebens entwickelt. Materiell, ideell und sexuell. Ich glaube nicht, dass es mir je zuvor im Leben so gut ging, wie jetzt. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern.




[Dieser Text hat seinen Ursprung hier: Spider - Im Arbeitslosenpark]