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Für die Entökonomisierung des Alltags
Die Einladung, im Rahmen dieser Veranstaltung [Vortrag, gehalten auf dem Kölner Festival "Theater der Welt im Juni 2002] zu sprechen, ist für mich eine Herausforderung. Das merkte ich bei der Vorbereitung dieses Vortrages, als ich gleich auf drei Schwierigkeiten stieß. Die erste Schwierigkeit: Das Leitmotiv der Reihe heißt "Der Süden der Welt", mit Argentinien als Schwerpunkt. In diesem Bereich habe ich aber keine besondere Kompetenz vorzuweisen, in Argentinien war ich nie und im Süden der Welt nur wenig. Also ist die Gefahr groß, mich in Vorurteilen und abstrakten Verallgemeinerungen zu verfangen. So gern ich auch mit Gedanken spiele, ich versuche üblicherweise von der eigenen Erfahrung auszugehen, und damit bin ich schon bei der zweiten Schwierigkeit. Aus eigener Praxis unterrichtet, plädiere ich seit Jahren mit den Glücklichen Arbeitslosen für die Anerkennung und die angemessene Entlohnung der Nicht-Arbeit. Dafür wurde ich öfter dem Vorwurf ausgesetzt, einen elitären, gar zynischen, jedenfalls eurozentrischen Standpunkt zu vertreten, der keinen Rückbezug auf Ausbeutung und Armut des Südens nähme. Was dieses Thema betrifft, befinde ich mich sozusagen in der Defensive. Ich werde also einen ziemlich weiten Bogen schlagen müssen, um zum tatsächlichen Thema kommen zu können.
Es gibt noch ein drittes Problem, und mit dem möchte ich anfangen. Denn nicht nur bin ich selbst in diesem Feld unzureichend qualifiziert, ich neige auch dazu, die Befähigung vieler Experten anzuzweifeln, uns ein wahrheitsgetreues Bild des Lebens in armen Ländern zu liefern. Nicht ohne Vorbehalt nehme ich manche kritischen Berichte und politischen Analysen auf, die, obgleich sie von afrikanischen oder südamerikanischen Akademikern stammen, ausgerechnet in der Sprache und dem Argumentationsmodus der Monde Diplomatique verfaßt sind. Da muß ich immer denken, daß ich mit jemandem zu tun habe, der eben dem akademischen Umfeld angehört, also einer (besonders in armen Ländern) abgeschotteten und protegierten Minderheit, die den Fachkollegen im Norden näher steht, als den Landsleuten, die in Elendsvierteln leben. Der Verlauf mancher Nord-Süd-Diskussionen kommt einem Ritual der gegenseitigen Bestätigung gleich, in dem das schlechte Gewissen des nördlichen Akademikers gegen das Anerkennungsbestreben des südlichen symbolisch getauscht wird. Das Ganze bleibt aber in dem dominanten Code verfangen.
Mit dieser Bemerkung will ich keine anti-intellektuelle Keule zücken, noch möchte ich einen Klassenvorwurf nach bolschewistischer Art erheben. Aber der Import westlicher Ideologie in die sogenannte dritte Welt hatte bereits schlimme Konsequenzen. Man denke nur an den Entwicklungsmythos. Jahrzehntelang wurde ehemaligen Kolonien weisgemacht, sie stünden mit den Industrieländern auf einer gemeinsamen Treppe, bloß einige Stufen tiefer, und daß sie, vorausgesetzt sie seien fleißig und fügsam genug, allmählich hinaufsteigen könnten. Dieser Glaube wurde von den einheimischen Eliten aus der Metropole, wo sie studiert hatten, zurückgebracht und im eigenen Volk verbreitet, manche mit den besten Absichten. Nicht selten waren es ja Marxisten, die das Prinzip Ökonomie als allgemeingültige Wissenschaft in Ländern einführten, die bislang in ganz anderen Traditionen und Vorstellungen gelebt hatten. Das ökonomische Entwicklungsmodell war die Begleitideologie des Neokolonialismus, der Vorwand für die Vernichtung lokaler Tauschverhältnisse zugunsten von Weltmarktdominanz. Heute, nach Jahren der kontinuierlichen Zerstörung und strukturellen Verarmung, wagt sich kaum noch jemand, von "Entwicklungsländern" zu sprechen. Es ist eh nicht mehr nötig.
Meine Befürchtung ist, daß die heutige Neoliberalismus-Kritik eine ähnliche Bahn einschlagen wird. Es ist schon bedenklich, wie häufig sich Globalisierungsgegner und -befürworter derselben Denkkategorie bedienen. Es scheint, als ob Begriffe wie Markt, Geld oder Ware Selbstverständlichkeiten wären, die nicht mehr hinterfragt zu werden bräuchten. Schlimmer noch: Der Einheitswelt der Ware wird ein theoretisches Einheitsbild gegenübergestellt, das genauso vereinfachend, vereinnahmend, ja globalisierend zu werden droht, wie der darin kritisierte Prozeß. Eine Karikatur davon liefert "Empire", das Neue Testament der verwaisten Weltlinken [Für eine ausführliche Kritik vgl. Anselm Jappe, "Des Proletariats neue Kleider", in Krisis Nr. 25, Bad Honnef 2002]. Für die Professoren Negri und Hardt bildet die Deterritorialisierung der Macht eine "tatsächliche Bedingung der Befreiung". Wie die global players betrachten sie kulturelle und lokale Identitäten als Überbleibsel, deren Vernichtung lobenswert ist. Je einheitlicher die Menge wird, meinen sie, desto größer die Chancen einer politischen Kontrolle der weltweiten Austauschverhältnisse. Diese mechanistische Fortschrittslehre kulminiert in dem Satz: "Der Globalisierung muß mit Gegen-Globalisierung begegnet werden, dem Empire mit einem Gegen-Empire."
Eine solche imperiale Vorstellung ist typisch für die abstrakte und arrogante Denkweise, die politische Ideologen aller Couleur mit dem tatsächlichen Fortgang des Kapitals verbindet. Dagegen möchte ich Naima Benabdelali, eine marokkanische Wirtschaftshistorikerin, zitieren: "Die Denkmethode des Westens besteht in Auslichten und Ausschneiden. Sie ist eine herbstliche Analyse: Sie vergeistigt, sie entblößt und entblättert, um an die wesentliche Struktur zu gelangen. Erst vor dem kahlen Stamm glaubt sie, das Wesen eines Volkes zu erblicken. Womöglich ist aber eher der eigentliche Sinn des Baumes sein Laub." (N. Benabdelali, "Le don et l'anti-conoique dans la societ arabo-musulmane", Casablanca 1999)
Sowohl auf die Theorie als auch auf die Praxis hat Kapitalismus eine austrocknende Wirkung. Aber die ideologische Brille einmal abgesetzt, mag – selbst heute – die Welt buntgescheckt, üppig, ja frühlingshaft aussehen. Überall versuchen Menschen, sich aus Bruchstücken der eigenen Tradition, greifbaren Elementen der technologischen Modernität, gemischten Wünschen nach Veränderung und Erhaltung einen eigenen Lebensweg zu bahnen. Theoretiker sollten damit anfangen, solchen Versuchen Aufmerksamkeit zu schenken, ehe sie verallgemeinernde Modelle anwenden. Statt abstrakten Universalismus, diesen Schrittmacher der Globalisierung, erneut aufzuwärmen, wäre eher konkreter Pluriversalismus vonnöten.
In diesem Sinne möchte ich nun eine periphere Geschichte erzählen. Um ein bißchen mehr über Argentinien zu erfahren, habe ich mich im Internet kundig gemacht. So bin ich auf die aufschlußreiche Domäne der "Piqueteros" gestoßen – es sind politisch aktive Arbeitslose, die mit Straßenblockaden protestieren – und dort fand ich den Bericht eines gewissen Francisco Jos Pestanha, der eine nicht repräsentative, doch wissenswerte Facette der argentinischen Gegenwart zeigt[F.J. Pestanha, El Trueque: simple estrategia de supervivencia o gnesis de un nuevo orden social?, www.piketes.org.ar]: "Vor kurzem, als ich ein Weilchen vor der Unruhe meiner Mitbürger fliehen wollte, ging ich auf Reisen in einen abgelegenen Teil des argentinischen Patagoniens. Dort konnte ich ein äußerst interessantes Experiment beobachten und stellte fest, daß es viele Landsleute gibt, die trotz der tiefen ökonomischen, ethischen und symbolischen Krise, in der unser Land steckt, sich um den Wiederaufbau eines individuellen und kollektiven Lebenswegs bemühen." Gemeint ist ein Netzwerk des Tauschhandels, an dem sich in den Provinzen Rio Negro und Chubut mehr als 40% der Bevölkerung beteiligen. Die Dörfler schließen sich in sogenannten "nodos" zusammen. Diese ähneln Marktplätzen, wo Einzelne oder Familien verschiedene Produkte, Leistungen und Gefallen anbieten und unter festgesetzten Regeln ohne Geld auszutauschen. Es gebe zur Zeit mehr als 5000 solcher "nodos". Laut Pestanha erlebe dadurch die Region eine Art Aufschwung. Die Notwendigkeit, Schulden auszugleichen habe den Einfallsreichtum stimuliert, viele Erzeugnisse seien aufgetaucht, die es früher nicht gab. Doch mehr als das kleine Wirtschaftswunder scheint den Autor die soziale Komponente des Phänomens beeindruckt zu haben. Um den Tauschhandel effektiv organisieren zu können, sind kollektive Vereinbarungen nötig. Wertmaßstäbe und Verhaltensregeln müssen abgestimmt werden. Durch diese normative Aktivität seien neuartige soziale Bande und ethische Regeln entstanden. Auf Gleichberechtigung und Vertrauen würde besonders Wert gelegt. Es würden sowohl Verantwortung als auch unangenehme Tätigkeiten nach dem Rotationsprinzip übernommen usw. Von diesen Erlebnissen angeregt, fragt sich Pestanha gar, ob das, was gewiß als bloße Überlebensstrategie entstand, nicht die embryonale Form einer neuen gesellschaftlichen Ordnung in sich bergen könnte.
Auf eine solche Spekulation werde ich mich nicht einlassen. Zumindest unter den bestehenden Zuständen können Experimente dieser Art nur marginal bleiben, und freilich würde ihre hypothetische Verbreitung mehr Fragen als Lösungen mit sich bringen. Diese kleine Geschichte habe ich deswegen erwähnt, weil sie einige Vermutungen zu bestätigen scheint, nicht zuletzt die bekannte These von Marx, wonach die wesentliche Produktion der Menschen, nicht eine bestimmte Anzahl von Gegenständen, sondern die Produktion ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse selbst sei. Sobald Menschen sich freiwillig oder unfreiwillig außerhalb der Marktzwänge bewegen, treten nicht-ökonomische Parameter und Werte in den Vordergrund. Ihre Beziehungen, ihre Tätigkeiten werden nicht mehr von der abstrakten Logik des Geldes vorbestimmt, also müssen sie konkretisiert und zunächst neudefiniert werden und dieser Moment der Kommunikation wird zum Hauptaspekt des ganzen Geschehens.
Ein Satz von Pestanhas ist mir besonders aufgefallen: "Denken Sie daran, daß dieses System sich im Grunde auf das Einhalten des Ehrenwortes stützt." Dies ist in der Tat für die freien Konsumenten der freien Marktwirtschaft ein kaum vorstellbarer Gedanke. Das Einhalten des Ehrenwortes! Allein die Vokabel erinnert an germanische Sagen und barbarische Sitten. Hinter dieser Begriffsanwendung werden aufgeklärte Linke gewiß rechtsradikale Tendenzen wittern! Wer redet noch von Ehre hier, außer Skinhead-Kameradschaften? In der sich auf Habgier und Betrug stützenden Marktgesellschaft ist bekanntlich der Ehrliche der Dumme.
Tauschsysteme sind immer Vertrauenssysteme gewesen. Im Tausch, und nicht in der Produktion, spielt sich der wesentliche und gefährliche Teil der Zwischenmenschlichkeit ab. Folgerichtig wurde der kapitalistische Handel als Entfremdung des Vertrauens charakterisiert, indem nicht mehr das Ehrenwort, sondern eine personenunabhängige Institution für das Einhalten des Versprechens bürgt. Banken sind Institute des exilierten Vertrauens – man denke nur an die Herkunft von Kredit, Schulden oder Treuhand, man denke an die Dollardevise: "In God we trust, all the others pay cash." Gerade in diesem Zusammenhang bezieht sich das patagonische Tauschhandelsexperiment kontrapunktisch auf den Aufstand des argentinischen Mittelstandes. Die massive Empörung der Kontenbesitzer, als ihre Ersparnisse ohne Vorwarnung eingefroren wurden, war eine Empörung des verletzten Vertrauens, die schmerzhafte Bestätigung, daß das Ehrenwort eines Bankiers wertlos ist. Und da diese Krise offensichtlich kein Nebenumstand, sondern die logische Folge einer allgemeinen Entwicklung war, dehnte sich das öffentliche Mißtrauen auf die gesamte politische Klasse des Landes aus. Erstaunlich ist nicht, daß ein solcher Aufstand ausbrach, erstaunlich ist nur, daß in der übrigen Welt Tag für Tag einer Institution vertrauen geschenkt wird, die im Gegenzug teure Rechnungen stellt.
Mir ist bewußt, daß im satten, blasierten Europa Tauschhandelsgeschichten nur schlecht ankommen. Sie rufen frühchristliche Sitten und kollektivistische Moral wach, sind also mit dem allgegenwärtigen Nihilismus, der sich für Individualismus ausgeben will, nicht kompatibel. Außerdem würden sie unseren hoch entwickelten Bedürfnissen keine glaubhafte Chance offerieren. Man beschaue sich nur die Tauschringe in Deutschland, wo gelangweilte Hausfrauen Yogakurse gegen selbstgemachte Pralinen anbieten. Zumindest wird solchen Experimenten Eskapismus vorgeworfen, sie suchten ihr Heil außerhalb der Gesellschaft, anstatt nach realistischen Möglichkeiten und immanenten Alternativen zu streben. Schließlich bringt eine Krise immer auch neue Chancen mit sich.
Unlängst war in der Internetzeitschrift Telepolis eine hoch exemplarische Nachricht zu lesen, mit dem amüsanten Titel: "Argentinische Straßenräuber in der Krise." Da wurde erzählt, daß mit der finanziellen Pleite des Landes selbst Kriminelle beinahe arbeitslos geworden wären. Bislang war eine beliebte Geldbeschaffungsmaßnahme gewesen, Passanten zu überfallen und zu zwingen Banknoten am Automaten abzuheben. Nun sind die Bankkonten eingefroren, die Geldautomaten leer und der Peso völlig entwertet. Das Gewerbe ist undankbar geworden, also mußte sich die Branche eiligst umstellen. Darum zeigen zur Zeit sogenannte Blitzentführungen eine deutliche Zunahme. Eine wohlhabend aussehende Person wird ausgewählt, mit der Knarre genötigt, in ein gestohlenes Auto einzusteigen und ihre Familie per Mobiltelefon anzurufen. Das verlangte Lösegeld hält sich im realistischen Rahmen, notfalls werden auch Fernseher oder Videorecorder akzeptiert (da sind wir wieder beim Tauschhandel), die ganze Operation soll so schnell wie möglich erledigt werden, denn für den Entführten ist kein Versteck vorgesehen. Nun, Blitzentführungen sind keine neue Erfindung, in anderen Ländern Lateinamerikas sind sie schon längst gang und gäbe. Neuartig und überaus modern hingegen sind die dank dieser Situation blühenden Serviceunternehmen, die Vorbereitungskurse und Seminare für potentielle Gekidnappte anbieten. Dort lernt man sich entsprechend zu verhalten, Ruhe zu bewahren, die passenden Sätze zu verwenden und gar das Lösegeld herunterzuhandeln. Die eigene Entführung wird wie ein ganz normales Geschäft gemanagt, das so kompetent, schnell und günstig abgeschlossen werden soll. Einer dieser Kurse wird mit dem einleuchtenden Titel angeboten: "Das professionelle Opfer."
Dieser Vorfall liefert das perfekte Sinnbild einer weltweiten Entwicklung, nämlich die Ausdehnung des ökonomischen Denkens auf sämtliche Aspekte des Lebens. Der integrierte Mittelstandsweltbürger darf nicht mehr seine bloßen acht Stunden malochen und dann Feierabend machen. Rund um die Uhr wird er dazu aufgefordert, "an sich selbst" zu arbeiten und Selbstbewußtsein durch integrale Vermarktung zu beweisen. Professionalität soll er nicht nur in seiner Arbeit, sondern ebenso bei seiner Ernährung und Wellness, seiner Affektbewältigung und seiner Gesundheit, seinen intimen Beziehungen und seiner Gruppenfähigkeit zeigen. Für all diese Eigenschaften gibt es einen jeweiligen Markt: Produkte, Programme und Projekte. Es war also höchste Zeit, den Opferstatus selbst in eine Arbeit zu verwandeln. Das Prinzip, das über das professionelle Opfer siegt, ist das positive Denken, die Ausmerzung der Negativität aus dem Bewußtsein. Demütigung und Wut werden unterdrückt, über die Ursachen der Gewalt wird nicht nachgedacht. Statt dessen wird die Aggression als weitere Herausforderung umgedeutet, sich möglichst schlau und cool zu zeigen. Wird trotz alledem ein Entführungsopfer umgebracht, dann sind sicherlich dessen persönliches Versagen und mangelnde Anpassungsfähigkeit verantwortlich. Hier zeigt sich wieder die ungeheure Fähigkeit des Kapitalismus, aus dem Schaden, den er selbst verursacht, neue Märkte zu erschließen. Hier zeigt sich außerdem, daß die doppelte Auslieferung des Warenmenschen (erst brutal als Beute, dann raffiniert als Kunde) als Zeichen, nicht der eigenen Machtlosigkeit, sondern der gesteigerten Individualität gelten darf. Von dem argentinischen Beispiel ausgehend, fällt einem die passende Definition leicht: Dienstleistung ist die Fortsetzung des Kidnappings mit anderen Mitteln. Es gibt aber einen Unterschied. Das Lösegeld kann man herunterhandeln, den Preis eines Opferkurses dagegen sicherlich nicht.
Doch zurück zur Entökonomisierung. Ein anderes Vorkommnis erzählte in einem Vortrag der russische Wirtschaftswissenschaftler Theodor Shanin [Theodor Shanin, "Informal economies and explory structures in contemporary Russia", Moskau 1999]. Zwar befindet sich Rußland entschieden in der nordischen Hemisphäre, doch wissenschaftlich gesehen hängt es mehr mit dem Süden der Welt als mit Westeuropa oder Nordamerika zusammen, was wieder die Relativität der Nord/Süd-Gegenüberstellung zeigt.
Wie man weiß, brach in Rußland im August 1998 eine akute Währungskrise aus, der Rubel wurde dramatisch entwertet und wieder einmal zitterte die Welt vor dem so oft beschworenen globalen Zusammenbruch. Kurz danach streifte Shanin durch die Dörfer der russischen Provinz und sah, daß von dem angekündigten Schrecken nichts zu spüren war. Die Märkte waren gut versorgt, die Schulen und öffentlichen Einrichtungen funktionierten, weder Strom noch Heizmaterial waren rationiert. Alles sah so aus, als ob die Krise eine Medienerfindung gewesen sei. Das war sie ganz gewiß nicht. Der Währungszusammenbruch war ein realer Alptraum für städtische Angestellte, die Ersparnisse oder Aktien besaßen und deren Stelle in direkter Abhängigkeit vom Weltmarkt stand. Aber in Rußland ist diese Bevölkerungsgruppe in der Minderheit. In den Dörfern und abgelegenen Kleinstädten hingegen, wo die Mehrheit lebt, verfügen die Menschen über zu wenig Rubel, um deren Entwertung deutlich zu spüren. Und vor allem: Weil es nicht mehr möglich war, ausländische Waren zu importieren, gab es wieder eine Nachfrage für Binnenprodukte. Auf einmal war die unhaltbare Konkurrenz mit den reichen Ländern ausgeschaltet, deswegen konnten lokale Produzenten gar eine zeitweilige Besserung erleben.
Nach diesem Fall könnte man also annehmen, Rußland teile sich in zwei parallele Welten, eine städtisch-integrierte, die im Lichte steht, und eine ländlich-exzentrierte, die im Dunkel bleibt. Das offizielle Wirtschaftsbild würde dann ungefähr so weit mit den realen Verhältnissen übereinstimmen, wie einst die sowjetische Propaganda. Nach langwierigen Feldanalysen schreibt Shanin außerdem: "Wir haben festgestellt, daß die informelle Wirtschaft auf dem Land und in armen Stadtvierteln eine zunehmende Rolle spielt. Sollte man sich auf die Statistik und die analytischen Kriterien der formalen Wirtschaft verlassen, dann müßte ein Drittel der Russen, wenn nicht die Hälfte, am Verhungern sein. Es ist aber nicht so. Den Menschen geht es besser als von westlichen Experten angenommen. (...) Die Mehrheit der Russen lebt und überlebt, nicht außerhalb des Marktes, sondern außerhalb der offiziellen Definition des Marktes."
Eine ähnliche Feststellung wurde übrigens auch von Ethnologen über Afrika gemacht. [Siehe Serge Latouche, "L'autre Afrique entre don et march", Paris 1998, (dtsch.: "Die Verwestlichung der Welt", Ffm 1978.)] Laut statistischer Berechnungen nach westlichen Kriterien, hätte die Mehrheit der Bevölkerung dort schon längst verhungern müssen. Es gibt aber eine weite Sphäre, die von Ökonomie nicht erfaßt werden kann, doch viel stabiler und effektiver zu sein scheint, als die offiziellen Einkommensquellen. Ich möchte betonen, daß ich dabei keineswegs eine karge Lebensweise und die traditionellen Bande der Familie und der Sippe idealisieren will. Ich meine nur, daß die ökonomische Sichtweise mit ihren offiziellen Definitionen ein Trugbild liefert, das die tatsächliche soziale Umwelt stets deformiert und mißverstanden läßt. Außerdem ist es gewiß lehrreicher, um sich eine Überwindung der Marktgesellschaft vorstellen zu können, solchen existierenden Strukturen Aufmerksamkeit zu schenken, als Luftschlösser zu konstruieren. Dabei erklärt sich Shanin selbst zu den Chancen einer solchen Überwindung eher pessimistisch. Niemand kann völlig vom Markt abgekoppelt leben. Russische Bauern, so autark sie auch sind brauchen Strom, Benzin, Maschinen. Und vor allem, sie brauchen die Möglichkeit, den Tauschverkehr ungehindert am Laufen zu halten. Nicht von ungefähr erweisen sich alternative Strukturen vorerst in Krisensituationen erfolgreich, das heißt, wenn die Macht momentan geschwächt ist. Zudem hätten wir, wenn die Annahme stimmen würde, eine Umwälzung der herrschenden Verhältnisse setze Katastrophen voraus, Grund für Optimismus, denn aller Wahrscheinlichkeit nach werden uns in der kommenden Zeit Katastrophen nicht erspart bleiben.
Um in der Gegenwart zu bleiben: Wenn die offizielle Definition des Marktes, also heute die offizielle Definition des Weltgeschehens, die Mehrheit der Menschen ausschließt, dann könnte es lehrreich sein, die Perspektive umzudrehen, und das Marginale, die Summe der Nebensachen und Randerscheinungen, all die im Schatten stehenden Aktivitäten, als wesentlichen Teil des gesellschaftlichen Lebens anzusehen. Das offizielle Zentrum bestünde nur aus kleinen Inseln und Streifen intensiver Ausbeutung und Mehrwertschaffung. Von da an sind zwei Szenarien vorstellbar: Entweder strebt die Peripherie nach einer Ausweitung des Zentrums, oder sie kommt zu sich selbst, begreift sich als Hauptschauplatz des möglichen Geschehens und hört somit auf, peripher zu sein.
Autoren, die sich mit dem sogenannten informellen Sektor beschäftigen, berufen sich häufig auf Karl Polanyis Vorstellung, die verselbständigte Ökonomie müsse wieder in die soziale Ganzheit "eingebettet" werden. [K. Polanyi, "The Great Transformation", Frankfurt 1978] Ebenso meinen Globalisierungskritiker, die Märkte sollten durch politische Institutionen gegängelt werden, oder wie es die Attac-Bewegung formuliert, die Ökonomie sollte "zu Diensten der Bürger" eingesetzt werden.
Das Problem ist, daß die verselbständigte Ökonomie eine Sinnentleerung der Begriffe hervorgebracht hat, die sie in Anspruch nimmt. Wir befinden uns in einer Welt der totalen Abstraktion, wo Wörter stets auf ihr Gegenteil verweisen, und dies mit einer solchen Hartnäckigkeit, daß eine Rückaneignung kaum möglich ist. Um frei von der Marktlogik zu denken, müssen neue Begriffe entworfen werden. Denken Sie nur an die Assoziationen, die seit jeher mit dem Markt verbunden waren. Ein konkreter Markt war ein Ort der Vielfalt und des sinnlichen Genusses, es waren Farben, Schreie und Düfte, es waren vor allem Begegnungen. Dort bestand der Handel in einer persönlichen Beziehung, es konnte eben gehandelt werden. Und wer vom Händler betrogen wurde, der konnte wenigstens versuchen, sich zur Wehr und den Ruf des Marktschreiers aufs Spiel zu setzen. Am Rande des Marktes, das Geschäft ist bereits erledigt, trafen Menschen zusammen, sie tranken und diskutierten. Die Politik, als diese noch das Leben der Stadt zum Inhalte hatte, spielte sich auf dem Markt ab. In Rom war das Forum ein Marktplatz. Es gab aber auch etliche Tabus und Verbote, die den Marktverlauf gängelten. Es sieht so aus, als ob die Menschen damals schon geahnt hätten, mit welchen gefährlichen Kräften sie da zu tun hatten, und daß diese stets drohten, selbständig zu werden und gegen sie zurückschlagen. Was letztendlich geschah. Der Einheitsmarkt, der heute einen totalitären Anspruch auf das gesamte Weltgeschehen erhebt, hat sich längst allerlei konkreter Eigenschaften entledigt. Selbst die Märkte entschwinden aus der Marktgesellschaft. Statt dessen blühen Einkaufszentren, die überall die selben Handelsketten beherbergen und deren standardisierte Produkte anbieten. Keine Vielfalt, kein sinnlicher Genuß, vor allem keine soziale Beziehung. Der Ausscheidung ähnlich will das Einkaufen so schnell, privat und stillschweigend wie es geht erledigt werden. Daher ist das online shopping die logische Vervollkommnung des abstrakten Marktes. Man braucht nicht mehr von Zuhause wegzugehen und vor allem nicht mehr mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, um seine minimalistische Funktion zu erfüllen. Selbstverständlich ist dieser von modernen Autisten als bequem empfundener Zustand einer der völligen Auslieferungen an Willkür und Bestimmungsmacht der Händler. In "Das Kapital" konnte Marx noch schreiben: "Die Waren können nicht selbst zu Markte gehen und sich nicht selbst austauschen." Jetzt können sie es.
Einer weiteren Sinnverdrehung fiel die Rationalisierung zum Opfer, jenes angeblich oberste Gesetz, wodurch alles und sein Gegenteil gerechtfertigt werden soll. Mit gediegener Brutalität wird im Deutschen das Wort nur noch mit dem Präfix "weg-" verwendet. Als ich einmal beim Ausflug im Grünen mit meiner Freundin einen Einheimischen fragte, ob in der Nähe eine Gaststätte zu finden sei, antwortete er finster: "Nee, allet wegrationalisiert hier!" So wird der Irrweg eines Begriffs verdeutlicht, der ursprünglich nichts weniger als die Entfaltung der Vernunft bedeuten sollte, sich jedoch als Vernichtung des Gemeinwohls verwirklicht hat. In Japan werden psychische und physische Überarbeitungsstörungen, die zuweilen bis zum Tod führen, unter dem Sammelbegriff gourika-byou erfaßt, das heißt wörtlich übersetzt: "Rationalisierungskrankheiten". Nichtsdestotrotz ist es legitim, Rationalisierung weiterhin als Oberbegriff der Ökonomie zu verwenden, jedoch in rein psychoanalytischem Sinne, nämlich als "Rechtfertigung einer Tätigkeit, deren tatsächliche Motive nicht eingestanden werden."
Nun können wir vielleicht langsam zum angekündigten Thema dieses Vortrages kommen, nämlich zu der Frage, ob Arbeitslosigkeit wirklich ein Problem sei. Mir ist schon bewußt, daß eine solche Fragestellung auf dem ersten Blick bloß als sinnlose Provokation aufgenommen werden wird. Schließlich sind alle, Regierungspolitiker wie Globalisierungsgegner, Soziologen wie Arbeitslosenverbände der festen Überzeugung, daß Arbeitslosigkeit, nicht nur ein, sondern das große Problem für die ganze Welt überhaupt sei. Seit einem Vierteljahrhundert wird diese Meinung tagtäglich eingebleut, eine ganze Generation ist mit der Angst im Mark aufgewachsen, irgendwann arbeitslos zu werden. In allen Ländern werden Politiker dank des Versprechens gewählt, Arbeitslosigkeit zu verringern, um beim nächsten Termin abgewählt zu werden, weil sie es nicht taten. Arbeitslosigkeit muß doch ein wichtiges Problem sein!
Und doch, wird auf die Frage mit ja geantwortet, dann werden gewisse Voraussetzungen postuliert, die alles andere als zweifelsfrei sind. Zum einen wird dann Arbeitslosigkeit (wie auf einem anderen Gebiet Terrorismus), nicht als Symptom, sondern als Ursache angenommen. Sie wird als eine Art selbständiger Drache dargestellt, der ausgemerzt werden muß, koste es, was es wolle. Wenn wir aber erfahren, daß infolge von Chinas Beitritt in die Welthandelsorganisation geschätzte 200 Millionen chinesische Bauern (ja, wirklich 200 Millionen!) keine Überlebensmöglichkeit auf dem Land mehr haben werden und vorweg zum Vagabundieren und Betteln verurteilt sind, da darf man sich fragen, ob das Problem nicht Arbeitslosigkeit, sondern eher die Welthandelsorganisation sei.
Die zweite implizite Annahme ist, daß die Lösung des Problems in der Arbeitsbeschaffung liege. Doch, um beim chinesischen Beispiel zu bleiben, eine Eingliederung dieses 200 Millionen starken Überangebots auf dem modernisierten Arbeitsmarkt, abgesehen von der Frage, ob dies für die Betroffenen wünschenswert sei, ist schlichtweg unmöglich. Denn die Löhne sind zu niedrig, um den Binnenkonsum entsprechend zu steigern, und außerdem könnten weder Umwelt noch Ressourcen eine solche produktive Explosion vertragen. Sowohl im Süden als auch im Norden ist und bleibt Vollbeschäftigung eine Utopie.
Eine weitere Frage, der durch die einseitigen Betrachtungen der Arbeitslosigkeit ausgewichen wird, ist die der Geldlosigkeit. Angedeutet wird da, daß ein Hungerlohn besser als kein Lohn sei. Selbst wenn das Problem Arbeitslosigkeit beseitigt werden könnte, würde das Problem Geldlosigkeit bestehen. An dieser Stelle kommen wir um die Definition der Arbeit nicht herum. Es ist nämlich ein Schwindel, in der aktuellen Debatte sich auf Arbeit im anthropologischen oder philosophischen Sinne zu beziehen. Die Erhaltung der Grundlage des Lebens, die Notwendigkeit, sich schöpferisch zu betätigen, der Wunsch nach sozialer Anerkennung, die Sicherung der Zukunft, der Aufstieg nach mehr Lebensqualität und Gesundheit, all das sind schöne und berechtigte existentielle Ziele; nur sind sie aber nicht mittels der herrschenden Form des Jobbings oder der intensiven Ausbeutung zu erreichen. Im Gegenteil. Wenn wir sagen, daß die Arbeit ausgeht, meinen wir nicht nur, daß immer mehr Menschen zwangsläufig arbeitslos werden, sondern auch, daß die Arbeit als anthropologische Kategorie – einmal abgesehen davon, ob wir die Gültigkeit einer solchen Kategorie anerkennen oder nicht – der realexistierenden Arbeitsgesellschaft längst abhanden gekommen ist.
Die Ursache davon erkannte selbst Wolfgang Reinger, CDU-Oberbürgermeister von Essen: "Seien wir ehrlich", sagte er in einer Rede, " Vollbeschäftigung, wie wir sie einmal kannten, wird es in absehbarer Zukunft nicht mehr geben. (...) Steckt nicht eine ganze Menge an Wahrheit dahinter, wenn im Manifest der Glücklichen Arbeitslosen der Satz zu finden ist: 'Gerade weil Geld das Ziel der Arbeit ist und nicht ihr gesellschaftlicher Nutzen, existiert Arbeitslosigkeit'." (www.essen.de/Deutsch/Rathaus/Oberbuergermeister)
Mit anderen Worten: Nicht Arbeitslosigkeit ist das Problem, sondern daß Arbeit in der Weltmarktgesellschaft eine beliebige Ware ist. Es gibt sogar Menschen, die nicht erschrecken, wenn sie das Wort "Arbeitsmarkt" hören. Noch vor sechzig Jahren wagte sich Karl Polanyi nicht, die von ihm beschriebene "Warenfiktion" als vollendete Tatsache hinzustellen. Noch im Konjunktiv schrieb er: "Das System, das über die Arbeitskraft eines Menschen verfügt, würde über die physische, psychologische und moralische Ganzheit 'Mensch' verfügen, der mit dem Etikett 'Arbeitskraft' versehen ist." Sieht man die totale Mobilmachung der Energien, die den heutigen Angestellten zugemutet wird, kann man nicht mehr an der zerstörerischen Wirkung der Ware Arbeit zweifeln.
Schauen wir uns die bereits erwähnten Beispiele unter diesem Aspekt an. Die Bewohner Patagoniens, die durch Tauschhandel überleben, sind laut der offiziellen Definition trotz lebenssichernder Beschäftigung arbeitslos, sie verkaufen ihre Arbeitskraft nicht. Von den Kleinkriminellen, die Menschen gegen Lösegeld entführen, wird niemand behaupten, sie leisten da eine ehrliche Arbeit. Dennoch tragen sie zum Aufschwung eines marktfähigen Dienstleistungsschwindels bei. Die Lage der von Shanin erwähnten Russen ist differenzierter, denn formell haben die meisten eine Arbeit, doch nicht diese sichert ihren Lebensunterhalt, sondern die Tätigkeiten, die sie außerhalb des Marktes ausüben. Angesichts all dieser Beispiele können wir André Gorz zustimmen, wenn er meint: "Die Sorge nach Alternativen zur Arbeitsgesellschaft ist kein Luxus dekadenter Intellektueller aus den reichen Ländern." (André Gorz, "Arbeiten zwischen Misere und Utopie", Frankfurt 2000)
Unter diesen Umständen ist ein Nord-Süd-Dialog wohl vorstellbar. Es ginge dabei um einen Vergleich der jeweiligen Situationen im Verhältnis zur abstrakten Warenwelt. Gewiß genießen wir, Bewohner des Nordens, relative Vorteile, die uns den Zugang zu den Ressourcen erleichtern. Selbst wenn nichts anderes ginge, könnten wir immer noch Supermärkte plündern, wie es in Argentinien geschah, das ja auch zu den reichen Ländern zählte. Das können Schwarzafrikaner nicht. Außerdem genießen wir mehr individuellen Spielraum in der Lebensgestaltung, während viele Bewohner des Südens den Entscheidungen der Familie oder der Sippe völlig ausgesetzt sind. Hingegen haben wir auch relative Nachteile, vor allem die fortgeschrittene Atomisierung der Gesellschaft, die dem Einzelnen kaum Widerstandspotential übrig läßt. Protest in einer abstrakten Umwelt beschränkt sich meistens auf symbolische Handlungen. Einen Sinn für Alltagspraxis wie in armen Ländern üblich könnten wir gut gebrauchen. Wie auch immer, inmitten der allgemeinen Verwirrung ist mindestens eines sicher: Wenn jemals eine Rettung kommen sollte, dann nicht von professionellen Opfern, sondern von dilettantischen Tätern.
Guillaume Paoli
(Erstdruck in Theater heute August-September 2002)
[Dieser Text gehört zu dieser Text-Sammlung der Glücklichen Arbeitslosen.]