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Errico Malatesta/Revolutionärer Terror
Errico Malatesta - Revolutionärer Terror
(Pensiero e Volonta, l. Oktober 1924)
Es gibt ein allgemeines Problem revolutionärer Taktik, das man ständig neu diskutieren muß, weil von seiner Lösung das Schicksal der kommenden Revolution abhängen kann.
Ich möchte nicht davon sprechen, auf welche Weise die Gewaltherrschaft, die heute manches Volk besonders stark unterdrückt, bekämpft und niedergeworfen werden kann. Unsere Rolle besteht darin, für die Klärung der Ideen und die moralische Vorbereitung im Hinblick auf eine nahe oder ferne Zukunft zu arbeiten weil wir etwas anderes nicht tun können. Und hielten wir im übrigen den Zeitpunkt effektiven Handelns für gekommen, so sprächen wir umso weniger darüber.
Ich werde mich daher nur - rein hypothetisch - mit der Zeit nach der siegreichen Insurrektion und mit den Gewaltmaßnahmen befassen, die einige gerne anwenden würden, um „der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen“, und andere für notwendig halten, um die Revolution vor den Angriffen ihrer Feinde zu schützen.
Lassen wir den allzu relativen Begriff „Gerechtigkeit“ beiseite: er diente stets allen Formen der Unterdrückung und Ungerechtigkeit als Vorwand und bedeutet oft nichts anderes als Rache. Haß- und Rachsucht sind unbezähmbare Gefühle die natürlich durch Unterdrückung geweckt und genährt werden; aber mögen sie auch eine nützliche Kraft darstellen, um das Joch abzuschütteln, so sind sie doch eine negative Kraft, wenn es gilt, Unterdrückung nicht durch eine neue Unterdrückung, sondern durch Freiheit und Brüderlichkeit unter den Menschen zu ersetzen. Und daher müssen wir uns bemühen jene höheren Gefühle zu wecken, die ihre Kraft aus der leidenschaftlichen Liebe zum Guten schöpfen, wobei wir uns jedoch gleichzeitig davor hüten müssen, das Ungestüm zu unterbinden, das zwar aus guten und auch aus schlechten Elementen besteht, aber für den Sieg erforderlich ist. Sollte es nötig sein, der Masse - um sie besser lenken zu können - Zügel in Gestalt einer neuen Gewaltherrschaft anzulegen, so lassen wir lieber zu, daß sie ihrem leidenschaftlichen Gefühl folgt, aber vergessen wir nie, daß wir Anarchisten weder Rächende noch Richtende sein können. Wir wollen Befreier sein und als solche muß unsere Aktion in Aufklärungsarbeit und beispielhaften Taten bestehen.
Befassen wir uns also hier mit der wichtigsten Frage: der Verteidigung der Revolution.
Es gibt noch immer Menschen, die von der Idee des Terrors fasziniert sind, denen Guillotine, Erschießungskommandos, Massaker, Deportationen, Galeeren (Galgen und Galeeren, wie mir kürzlich einer der bekanntesten Kommunisten sagte) machtvolle, unerläßliche Waffen der Revolution zu sein scheinen und nach deren Auffassung viele Revolutionen deshalb niedergeschlagen wurden und nicht zum erwarteten Ergebnis führten, weil die Revolutionäre in ihrer Güte und Schwäche die Gegner nicht genügend verfolgt, unterdrückt, massakriert haben.
Dies ist ein in gewissen revolutionären Kreisen verbreiteter Irrglaube, der seinen Ursprung in der Rhetorik und den Geschichtsfälschungen der Apologeten der Französischen Revolution hat und in der letzten Zeit von der bolschewistischen Propaganda verstärkt wurde. Aber das genaue Gegenteil ist wahr: Terror war stets Werkzeug der Gewaltherrschaft. In Frankreich diente er der finsteren Herrschaft Robespierres. Er ebnete Napoleon und der nachfolgenden Reaktion den Weg. In Rußland verfolgte und tötete er Anarchisten und Sozialisten, massakrierte er rebellische Arbeiter und Bauern und bremste letzten Endes das Ungestüm einer Revolution, die doch für die Menschheit ein neues Zeitalter hätte bedeuten können.
Wer an die revolutionäre, befreiende Kraft von Repression und Grausamkeit glaubt, hat die gleiche rückschrittliche Mentalität wie die Juristen, die glauben, daß man Verbrechen durch harte Strafen verhindern und die Welt moralisch bessern könne.
Ebenso wie der Krieg erweckt Terror atavistische, tierische, noch nicht völlig vom Firnis der Zivilisation zugedeckte Gefühle zu neuem Leben und trägt auf seiner Woge die schlimmsten Elemente der Bevölkerung an die höchsten Stellen. Und anstatt zur Verteidigung der Revolution zu dienen, bringt er sie in Verruf, macht sie in den Augen der Massen verhaßt und leitet zwangsläufig das ein, was man heute „Normalisierung“ nennen würde, das heißt Legalisierung und Verewigung der Gewaltherrschaft. Ob nun die eine oder die andere Seite siegt, es kommt in jedem Fall zur Bildung einer starken Regierung, die den einen Frieden auf Kosten der Freiheit und den anderen Herrschaft ohne allzu viele Gefahren sichert.
Ich weiß genau, daß diejenigen Anarchisten, die für Terror sind (so gering ihre Zahl auch sein mag), jeglichen organisierten, auf Befehl einer Regierung und durch bezahlte Agenten durchgeführten Terror ablehnen: sie möchten, dass die Masse selbst ihre Feinde direkt angreift. Doch würde dies die Situation nur noch verschlimmern. Terror mag Fanatikern gefallen, doch steht er vor allem den wahrhaft Bösen an, denen es nach Geld und Blut gelüstet. Man darf die Masse nicht idealisieren und sie sich einzig aus guten Menschen bestehend vorstellen, die zwar Ausschreitungen begehen können, doch sich dabei stets von guten Absichten leiten lassen. Polizeischergen und Faschisten sind Diener der Bourgeoisie, doch kommen sie aus der Masse!
In Italien nahm der Faschismus zahlreiche Verbrecher in sich auf und reinigte so bis zu einem gewissen Grad vorsorglich das Milieu, in dem die Revolution stattfinden wird. Doch darf man nicht glauben, daß alle Duminis und Cesarino Rossis Faschisten sind. Unter ihnen gibt es welche, die aus irgendeinem Grund nicht zu Faschisten werden wollten oder konnten, doch bereit sind, im Namen der „Revolution“ das zu tun, was die Faschisten im Namen des „Vaterlandes“ tun. Und so wie die Strauchdiebe aller Regimes immer bereit waren, sich in den Dienst der neuen Regimes zu stellen und deren eifrigste Werkzeuge zu werden, so werden die Faschisten von heute morgen bereit sein, sich zu Anarchisten oder Kommunisten oder was auch immer zu erklären, nur um weiterhin die Rolle der Herrschenden spielen und ihre schlechten Instinkte befriedigen zu können. Können sie dies nicht im eigenen Lande, weil sie bekannt und bloßgestellt sind, so werden sie anderswo nach Gelegenheiten suchen, sich gewalttätiger, „energischer“ als die anderen zu zeigen und alle, die die Revolution als ein großes Werk der Güte und Liebe begreifen, als Gemäßigte, Feiglinge und Konterrevolutionäre behandeln.
Sicher muß sich die Revolution verteidigen und mit unerbittlicher Logik entwickeln, doch darf und kann man sie nicht mit Mitteln verteidigen, die im Widerspruch zu ihren Zielen stehen.
Das Hauptmittel zur Verteidigung der Revolution besteht nach wie vor darin, der Bourgeoisie die ökonomischen Mittel der Herrschaft zu nehmen, alle zu bewaffnen (bis man alle dazu bringen kann, die Waffen fortzuwerfen, so wie man unnütze, gefährliche Gegenstände wegwirft) und die gesamte Masse der Bevölkerung am Sieg zu beteiligen.
Müßte man, um zu siegen, auf öffentlichen Plätzen Galgen errichten, so will ich lieber untergehen.
Errico Malatesta - Gesammelte Schriften, Band 2