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Bau auf, bau auf!
Früher erwartete man von mir, den Kommunismus aufzubauen. Ich gebe zu, dass der Kommunismus etwas Verlockendes hatte. Er war immerhin die Startrampe in den Weltall. Praktischerweise wurde die DDR schon von einer revolutionären Partei regiert, so dass ich nicht selbst bei einer Revolution mitzumachen brauchte. Das kam mir als Pazifist sehr entgegen, allerdings hieß das damals noch nicht Pazifist, sondern Schwächling. Da die Partei die Avantgarde der Arbeiterklasse war, brauchte ich nur zu tun, was sie sich für mich ausgedacht hatte. Dummerweise hatte sie sich für mich ausgedacht, dass ich arbeiten gehen sollte.
Wie gesagt, als Kämpfer habe ich mich nie gesehen – als einer der unrasiert und mit einem Billiggewehr eine Telegrafenstation erstürmt, um dann im Kugelhagel der Konterrevolution zu verbluten –, aber das mit dem Arbeitengehen gefiel mir auch nicht. 47 Jahre lang gesicherter Arbeitsplätze mit 42,5 Stunden in der Woche und 18 Tagen Jahresurlaub in irgendeiner zugigen Fabrikhalle – verdammt, es musste doch noch andere Wege geben, glücklich zu werden. Nicht einmal unglücklich sein wollte ich auf diese Art. Meine Vorstellung von mir als Kommunist war mehr die eines Streikposten. Wäre ich in den 20er Jahren Kommunist gewesen, ich hätte gestreikt. Aber ich war Kommunist in der DDR und ich arbeitete. Ich lebte entweder zur falschen Zeit oder am falschen Ort oder beides.
Vielleicht hätte sich die SED die Herzen ihrer Untertanen erobern können, wenn sie regelmäßig Streiks organisiert hätte und nicht Arbeitseinsätze, Subbotniks und Sonderschichten. Nostalgiestreiks. Der Produktionsausfall wäre locker dadurch kompensiert worden, dass in dieser Zeit nichts aus den Betrieben hätte geklaut werden können. Aber die SED war ja lieber scharf auf Arbeit.
Vor der Arbeit kam die Lehre. Bei der Prüfung fragte mich ein Lehrmeister, ob ich denn überhaupt Ehrgeiz hätte. Er klang so, als sei Ehrgeiz ein positiver menschlicher Charakterzug. Es gab schon komische Käuze bei der Lehre.
Vor der Lehre kam die Schule. In der Schule wurden wir langsam auf die lebenslange Zwangsarbeit vorbereitet. Wären wir plötzlich von ihr überrascht worden, hätten wir uns womöglich gefragt, welches Gericht uns dazu verurteilt hatte und warum. Vielleicht wären wir dann ausgebrochen. So durften wir ab der 7. Klasse schon mal Neonlampen für den Westexport zusammenschrauben. Produktive Arbeit hieß dieses groteske Schulfach.
In der Schule gab es lauter groteske Fächer. Schon in der ersten Klasse. Ich meine nicht nur Heimatkunde und Sport, sondern auch Schulgarten, Nadelarbeit und Werken.
Schulgarten hatten wir bei einer senilen ehemaligen Trümmerfrau. Sie vergaß jede Woche, was wir in der Woche davor gemacht hatten, nämlich die Beete umgraben. Darum gruben wir die Beete jede Woche noch mal um. In der Woche danach auch und eine Woche später auch noch mal. Falls wir ausnahmsweise doch einmal Pflanzen einsetzten, wurden die eine Woche später wieder untergegraben. Einmal allerdings, ein einziges Mal, , muss sie etwas anderes vorgehabt haben. Ein Einziger von uns hätte ein einziges Mal etwas anderes tun sollen als umzugraben und derjenige war ausgerechnet ich. Wir erfuhren nie, was es war. Sie gab jedem, außer mir, einen Spaten und schickte alle zum Umgraben. Mir befahl sie, im Geräteschuppen auf sie zu warten. Sie schloss ihn von außen ab und hatte mich im selben Moment vergessen. Als sie mich nach zwei Stunden wiederfand, gab sie mir eine Fünf, weil ich nicht ordentlich umgegraben hatte.
Werken war auch ein langweiliges Fach. Die elektrischen Werkzeuge durfte bloß der Werklehrer bedienen. Wir mussten mit der Feile kämpfen. An zwei Schraubstockbacken alle acht Ecken abzurunden, konnte schon mal ein Schulhalbjahr dauern.
Der interessanteste Tag beim Werkunterricht war der, als sich unser Werklehrer an der Kreissäge den Daumen absägte. Er tanzte im Werkraum herum, bespritzte uns großzügig mit Blut und rief all die schlimmen Wörter, die für uns verboten waren, zum Beispiel: scheiß Osten. Der Daumen konnte nicht wieder angenäht werden, weil ihn schon irgendein Souvenirjäger eingesteckt hatte. Damals wurde in der Schule alles geklaut, was nicht niet- und nagelfest war. Kleine, grüne und braune aus Keramik gebrannte Häuserruinen, Souvenirs, die eine Russischlehrerin aus Wolgograd mitgebracht hatte, Musikinstrumente, Werkzeuge, die Schrauben aus den Schulbänken, Klinken, Klosteine. Kinder, die noch nie eine Hausaufgabe gemacht hatten, stahlen Wörterbücher. Mädchen steckten Rechenschieber ein. Die Fußballer klauten der Schach-AG die Schachuhren. Das kam, weil die Kinder sich das Klauen bei ihren Eltern abgeguckt hatten. Hatte Erich Honecker nicht gefordert, aus den Betrieben sei noch viel mehr herauszuholen? Man nahm, was man kriegen konnte. Ich erinnere mich noch genau daran, wie mein Vater 1981 meiner Mutter eine Betonmischmaschine zum Geburtstag schenkte, die dann den ganzen Platz auf unserem Balkon einnahm und die meine Mutter schließlich mit Tomaten bepflanzte. Einmal im Jahr musste ich umgraben.
Jedenfalls blieb der Daumen unseres Werklehrers verschollen. Nach diesem Vorfall war er nicht mehr der alte. Er schlich um die Wohnblöcke und ein Gerücht schlich ihm hinterher. Das Gerücht, er habe einmal versucht einem Kind den Daumen abzuschneiden. Er war zum Kinderschreck geworden. Für den Rest seines Lebens war er auf der Suche nach seinem verschwundenen Daumen. Ich habe ihn erst bei meinem letzten Umzug weggeworfen.
Ebenfalls weggeworfen, aber schon viel früher, habe ich meine kommunistische Weltanschauung. Aber es half nichts. Man erwartete trotzdem von mir, den Kommunismus aufzubauen. Und sie meinten damit, wie schon gesagt, leider nicht, dass ich streiken sollte. Auch wenn man kein Kommunist war, lebte man in der DDR entweder zur falschen Zeit oder am falschen Ort oder beides.
Jaja, so war sie, die entwickelte sozialistische Gesellschaft, der Mensch stand im Mittelpunkt, aber im Vordergrund stand die Produktion. Da hat sie den Menschen zwangsläufig verdeckt.
[Dieser Text hat seinen Ursprung hier: Spider - Im Arbeitslosenpark]