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Aussteigen für Einsteiger

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Eine Einführung[edit]

Es gibt zwei Lesarten, die folgenden Texte nicht zu verstehen. Man kann - das Buch scheint sich ja mit Arbeitslosigkeit zu befassen - seine soziologische Brille oder sein ökonomisches Monokel aufsetzen, um mit gerunzelter Stirn nach statistisch belegten Analysen und wissenschaftlich erarbeiteten Alternativmodellen zu suchen. Schnell wird sich dann erweisen, daß hier ein solch betonierter Ernst völlig fehlt. Der enttäuschte Leser wird folgern, daß das Ganze bloß aus belanglosen Possen und anarchischen Infantilismen besteht, um sich sogleich wieder Oskar Negt oder Pierre Bourdieu zuzuwenden. Man kann aber auch dieses Buch als weiteres Erzeugnis der sogenannten Spaßkultur ansehen. In der allgegenwärtigen Kabarettisierung der Politik, wird danach gestrebt, den Elenden, Verwundeten und Sterbenden dieser Erde eine Clownsnase aufzusetzen, um sie entzückend und fernsehtauglich zu machen. Der Spaßkulturist, der nur fortdauernd aktualisierte Versionen von viel Lärm um nichts konsumiert, wird hier enttäuscht. Ein paar Scherze mag er zwar entdecken, aber auch zuviel intellektuellen Kram, der keinen Spaß macht, wie er wahrscheinlich sagen wird.

Im übrigen widersprechen sich diese beiden Lesarten nicht, im Gegenteil, sie ergänzen sich. Ernst und Spaß stehen sich gegenüber wie Arbeit und Freizeit. Das eine ist die Bedingung des anderen. Wer mit der Trennungslinie spielt, vermag eine gewisse Verwirrung zu verursachen. Nach einem Vortrag kam ein Jungunternehmer zu mir. Er hätte herzlich gelacht, meinte er, und schätze die Ironie solcher Thesen sehr, dann aber: »Die Gefahr ist, daß manche Leute sie mißverstehen können.« Â»Wie meinen Sie das?« Â»Naja. Sie könnten sich einbilden, diese Ideen seien ernst gemeint.« Als ich erwiderte, daß sie verdammt ernst gemeint sind, lief er davon.

Damit soll gesagt werden, daß es im folgenden hauptsächlich um die Suche nach der geeigneten Haltung geht, um den Scheingegensatz zwischen Glück und Arbeitslosigkeit zu versöhnen. Man kann nicht den Wert und den Vorrang der Arbeit in Frage stellen, ohne deren Sprache und Kategorien zu verlassen.

Wir ham unser Sach' auf fast nichts gestellt, nämlich die eigene Empfindung. Eines nachts Mitte der neunziger Jahre - es mag in einem Club oder auf einer Fete gewesen sein - rief Holger Castritius vor einigen Freunden aus: »Eigentlich haben wir es gut. Wir sind die glücklichen Arbeitslosen!« Das Wort war gefallen und sollte uns nicht mehr loslassen. Dabei sind Ort und Zeitpunkt nicht gleichgültig. 1995 ließ es sich in Berlin relativ einfach und gut ohne Arbeit leben. Mieten waren bezahlbar, Hausbesetzungen noch toleriert. Verwaltungen und Firmenhauptsitze aus Westdeutschland waren noch nicht eingetroffen, Brachen und leere Räume ließen sich ephemer zu allen Zwecken umfunktionieren.

Das dominante Stadtbild war noch nicht von gestreßten Leistungsträgern und Arbeitstieren der new economy, sondern von herumhängenden Ewigstudenten und gelassenen Gelegenheitsjobbern geprägt. Das alte Subventionsmanna der westlichen Frontstadt war noch nicht ausgetrocknet, während dem Reserveheer im Osten mit Extrageldern ein Sonderweg zum Kapitalismus gebahnt wurde. Von Subkultur zu alternativen Lebensformen, von den ersten Internet-Communities zu Lebensmittelkooperativen, die Stadt bot ausreichend Gelegenheit, ein spannendes, arbeitsfreies Dasein zu führen, dazu noch in einer Stimmung provinzieller Gelassenheit.

Wir lebten in einem Umfeld, wo mehr Zeit als Geld zur Verfügung stand, wobei Geld auch nicht ganz abwesend war - dieses Verhältnis ist in der Regel die Voraussetzung für ein behagliches soziales Leben. Da die wenigen festen Stellen, die es gab, von Menschen begehrt wurden, die partout arbeiten wollten, betrachteten wir es als unsere altruistische Pflicht, sie ihnen zu überlassen und selbst auf die Mangelware Arbeit zu verzichten. Die finanzielle Stütze nahmen wir bedenkenlos als willkommene Subventionierung unseres gemeinnützigen Daseins an. Das war eine Selbstverständlichkeit für viele, doch sprach es keiner aus. Die Entscheidung, sich öffentlich darüber zu äußern, war der Einsatz für ein neues Spiel.

Ab und zu trafen wir uns, Holger, Mila Zoufall, Søren Jansen, ich und gelegentliche Komplizen, in der Absicht, irgend etwas aus der Idee zu machen, wobei die Vorstellungen eher vage waren. Was tun? Was nicht tun? Mal wurde die Errichtung eines Kiosks erwogen, wo unvermarktbare Produkte von Glücklichen Arbeitslosen angeboten würden, mal ein Schneckenwettrennen auf dem Alex, oder auch die feierliche Einweihung eines Denkmals des Glücklichen Arbeitslosen. So vergingen einige Monate.

Schließlich fand die Gründungsveranstaltung am 14. August 1996 im Berliner Prater statt, in der Baracke, die damals unter dem Schild »SKLAVENmarkt« als Treffpunkt des lokalen Querulantentums diente. Dort wurden die Tauglichkeitstests verteilt (siehe S. 74), unser Sekt »Chmeur Brut« feierlich getrunken, Faulenzerlieder gesungen und nebenbei der Text »Auf der Suche nach unklaren Ressourcen« vorgetragen, der später als »Manifest der Glücklichen Arbeitslosen« berühmt werden sollte. Dabei ging es uns bloß darum, ein Statement abzugeben. »Der Glückliche Arbeitslose«, der in dem Text auftaucht, war eher als literarische Figur ï‚´ la Candide gemeint, denn als reales Subjekt. Natürlich war das Publikum, das aus Gleichgesinnten bestand, begeistert von der Idee, dann ging es nach Hause, und das Leben setzte seinen dilettantischen Gang fort.

In den folgenden Jahren sollte uns einiges vorgeworfen werden, doch die häufigste und heftigste Kritik berührte gerade diesen subjektiven Ausgangspunkt. »Ihr denkt nur an das eigene Vergnügen, statt etwas für die Allgemeinheit zu leisten!« riefen die Konservativen. Und die linke Variante davon: »Ihr sucht nur eine Privatnische, statt den Kapitalismus zu bekämpfen!« Arbeitsverweigerung mag ja noch toleriert werden, solange sie sich bedeckt hält (denn bekanntlich bemühen sich selbst die virulentesten Arbeitspropheten zum Eigenbedarf um die bequemste Nische). Unannehmbar hingegen ist eine erklärte Abkehr von den großen, ernsten Werten. Seltsamerweise wird denjenigen Zynismus vorgeworfen, die versuchen, ihren Diskurs mit der eigenen Erfahrung in Einklang zu bringen. Dabei bedienten wir uns einfach der Sprache der Werbung. »Sorge dich nicht, lebe«, »Nimm dein Vergnügen ernst«, »Sei individualistisch« und sonstige »Carpe diem«-Weisungen, das sind ja die kategorischen Imperative der Supermarktgesellschaft. Wer ist da der Zyniker?

Daß wir häufig als »zu unpolitisch« eingestuft wurden, läßt sich leicht erklären. Oft wird politisches Bewußtsein mit dem Aufsetzen einer mitleidenden Miene verwechselt. Der Berufsbetroffene trägt das Elend der Welt auf dem Rücken, um es über dem Kopf desjenigen auszuschütten, der Skepsis gegenüber dieser Betroffenheitsschau zeigt. Ebenso wie Regierende sich auf eine hypothetische »schweigsame Mehrheit« berufen, geben sie auch vor, Bescheid zu wissen, was »die Allgemeinheit« oder »die Arbeitslosen« denken und fühlen. Da wir uns davor hüten, im Namen des großen Arbeitslosenvolkes zu sprechen, wird uns vorgeworfen, wir kultivierten eine Szenementalität. Und woher kommt der Vorwurf? Aus der Soziologenszene, der Journalistenszene oder der Szene der Arbeitloseninitiativen.[Nicht selten besteht der Erfolg von Arbeitsloseninitiativen ausschließlich darin, für sich selbst Stellen geschaffen zu haben, die sie dann gegen »unverantwortliche« Arbeitslose verteidigen müssen.] »Wir haben Krieg, Menschenmassen sterben verfrüht, weil ihnen die Arbeit weggenommen wurde, und Ihr sagt bloß: ist doch nicht schlimm, Hauptsache wir haben Spaß im Bunker«, so einmal Jürgen Kuttner in radiowirksamer Manier. Deserteuren wurde immer schon vorgeworfen, die Kameraden im Stich zu lassen, feige und faul zu sein und sich nur um das eigene Ãœberleben zu sorgen. Außerdem hätten sie nicht einmal Clausewitz studiert und daher kein Recht, über Krieg zu sprechen. Und was würde aus dem Vaterland werden, wenn sich alle wie sie benehmen würden? Gute Frage.

Selbstverständlich haben wir uns nicht darauf beschränkt, die eigenen Erlebnisse zu schildern, sondern stellten darüber hinaus generelle Überlegungen an. Allein die Behauptung, es sei möglich, ohne Arbeit glücklich zu leben, steht im vollkommenen Widerspruch zum herrschenden Weltbild, so läßt sich gleich eine lange Fragenkette entrollen - schließlich sind Muße und Philosophie enge Verwandte. Man mag uns als Spinner und Witzbolde abtun, doch das, was wir zu sagen haben, wurde auf- und sogar ernst genommen. Der Grund ist einfach, daß keine Argumentation unrealistischer und verschrobener sein kann, als der offizielle Diskurs zur Arbeitslosigkeit. Pausenlos wird eine Wiederherstellung der Vollbeschäftigung beschworen, und jede Woche werden mehr Arbeitsplätze »wegrationalisiert«. Immer lauter wird über die Notwendigkeit der Arbeit für die freie Entfaltung des Menschen doziert, und gleichzeitig müssen immer neue Zwangsmaßnahmen erfunden werden, um Menschen in Pseudojobs zu schieben, die sie nicht wollen. Nicht die Brisanz unserer Argumente, sondern die Schwäche der Gegenargumente ist unsere Stärke.

Im übrigen: Neu sind unsere Ideen und selbst die Namensgebung nicht.[Peter-Paul Zahl veröffentlichte 1973 in West-Berlin eine Zeitschrift mit dem Titel »Der glückliche Arbeitslose«, in der er das Motto »Berufsverbot für alle« propagierte. Das erfuhren wir erst nach unserem ersten Auftritt; es handelt sich also nicht um einen direkten Einfluß, sondern um einen glücklichen Zufall.] Neu ist nur der zeitliche Kontext. Vor einem Vierteljahrhundert war praktische Arbeitsverweigerung einfacher und verbreiteter als heute. Dabei entstand eine Menge an anarchistisch bzw. situationistisch geprägter Literatur. Aber das Motto »Arbeitet nie!« wurde gemeinhin als extremistische Ãœbertreibung verstanden. Die glücklichen Arbeitslosen von damals waren Menschen, die freiwillig am Rand der Vollbeschäftigungsgesellschaft standen. Hingegen steht heute ein Menschenheer im Zentrum der Gesellschaft, das die Abschaffung der Arbeit selbst erlebt, aber unfreiwillig. Darum ist die Perspektive eine völlig andere. Nicht mehr die Erweiterung einer marginalen Position, sondern die Verringerung der allgemeinen Verzweiflung ist das Ziel. Vor fünfundzwanzig Jahren war die Vorstellung vom glücklichen Arbeitslosen eine echte Provokation. Das Neue ist heute, daß sie die meisten nicht mehr schockiert, sondern Sehnsucht erweckt. In einer als ausweglos empfundenen Situation wird plötzlich ein Fenster zu einer virtuellen Welt aufgemacht, die vielversprechender ist, als das Internet.

Seit einiger Zeit melden die Wetterberichte nebst der gemessenen auch die »gefühlte Temperatur«. Und mit dem Euro wurde auch eine »gefühlte Inflation« eingeführt. So eben könnten wir vielleicht die »gefühlte Realität« bemessen und erforschen. Zweifelsohne würde sie sich stark von der offiziellen Realität unterscheiden.

Man stelle sich vor: Dornröschen wird heute nach einem dreißigjährigen Schlaf wach. Sie will zum Bäcker, findet aber eine Kunstgalerie. Beim ehemaligen Fleischer sitzt irgendein Kommunikationsprojekt. Das Industriegelände ist ein Freizeitpark geworden, wo Ex-Baggerfahrer auf hypothetische Touristen warten. Arbeiterkinder sind zu angestellten Bettlern avanciert - in »call center« müssen sie mit einem Lächeln auf den Lippen potentielle Kunden telefonisch belästigen. Endlich trifft sie auf jemand, der sich noch handwerklich zu betätigen scheint, doch dieser erzählt ihr, daß er seinen Tisch nicht fertig bauen kann; am nächsten Tag sei er vom Arbeitsamt zum Bewerbungstraining bestellt. Dornröschen reibt sich die Augen und beschließt, wieder schlafen zu gehen. Die gefühlte Irrealität ist unsere engste Verbündete.

Sobald sich unsere Thesen aus dem vertrauten Spektrum heraus in die breite Öffentlichkeit verbreiteten, bekamen sie einen erstaunlich positiven Widerhall. So schrieb Mark Siemons in der FAZ: »Die Glücklichen Arbeitslosen wollen nichts weniger als das Fröhlichkeitsmonopol des >Dienstleistungsproletariats< brechen. (...) Als froh und frei gilt ja nach wie vor nur, wer in die Strukturen eines Unternehmens eingebunden ist, als kleinster Teil des globalen Mobilisierungsrauschs soll er zugleich dessen Held sein und die Verantwortung für den Standort selbst tragen. (...) Angesichts solcher Verwicklungen taugen offenbar nur noch dadaistische Maßnahmen. Das Manifest ist einer der bislang raren Versuche, für das Arbeitslosigkeitsdilemma einen kulturellen Ausdruck zu finden.« (FAZ vom 5.3.1998)

Im Tagesspiegel fügte Harald Martenstein hinzu: »Wahrscheinlich stammt dieses dadaistisch angehauchte Manifest aus der A-Klasse der Arbeitslosigkeit. Und es ist wahr: Arbeitslosigkeit ist in einer Gesellschaft mit funktionierendem Sozialsystem nicht für alle ein Unglück. Unter anderem hat man dazu das Sozialsystem geschaffen. (...) Es stimmt ja auch, daß viele durch ihre Arbeitslosigkeit den Boden unter den Füßen verlieren. Ich wundere mich nur, wenn ich in den Buchhandlungen die reichhaltige Beraterliteratur zum Thema >Krankheit als Chance< oder >Endlich über 40< sehe. Wenn sogar der Krebs und das Altern ihre positiven Selten haben, wieso soll es dann ein Tabu sein, die Arbeitslosigkeit zu loben? Wieso gibt es keine Bücher unter dem Motto >Endlich arbeitslos<?« (Tagesspiegel vom 13.3.1998) [Zu dem häufigen Verweis auf die Dadaisten: Schließlich hatte bereits 1919 der Dadaistische Revolutionäre Zentralrat Berlins »die Einführung der progressiven Arbeitslosigkeit durch umfassende Mechanisierung jeder Tätigkeit« gefordert, mit der Begründung: »Nur durch Arbeitslosigkeit gewinnt der Mensch die Möglichkeit, über die Wahrheit des Lebens sich zu vergewissern und endlich an das Erleben sich zu gewöhnen.« Eine geistige Verwandtschaft ist da unbestreitbar...]

Seinerseits kommentierte der Soziologe Ulrich Beck in der Süddeutschen Zeitung: »Gegen die Ideologie der späten Arbeitsgesellschaft, die Arbeit mit Glück, Arbeitslosigkeit mit Unglück gleichsetzt, verweisen die Glücklichen Arbeitslosen darauf, daß die wesentlichen Fragen der Gesellschaft von falschen Antworten verstellt sind, also gegen die Schwerkraft des scheinbar Bekannten neu aufgeworfen werden müssen.« (SZ vom 19.6.1998)

Eine solche Medienanerkennung mag natürlich als Beweis für Harmlosigkeit, Resignation und Oberflächlichkeit unsererseits interpretiert werden, und genau so sahen es fundamentalistische Widersacher aus dem linken Spektrum. Prompt wurden unsere Aussagen als »Hype«, »halbe Kritik« oder auch »esoterischer Quark« abgetan. Es mangele uns an Radikalität, wir seien ökonomisch unqualifiziert, dienten nur dazu, die Armut zu verharmlosen und zu verniedlichen. Gerade deswegen seien wir die Lieblinge der Feuilletons geworden.

Zugegeben: Selbst uns kam manch ein Lob aus der etablierten Ecke eher verdächtig vor, doch wir wußten, wie damit umzugehen war. Auf beschämende Kompromisse gingen wir nicht ein (siehe »Die Zukunft des Ulrich Beck«, S. 115). Andererseits war es uns klar, daß wir einen »missing link« der Kulturkritik füllten. Im Gegensatz zu den meisten Autoren, die über Arbeitslose glossieren, sind wir selber welche. [Was »A-Klasse« betrifft: Sozial und kulturell gesehen haben wir gewiß eine günstigere Position als die meisten Arbeitslosen (schon in Berlin zu leben, und nicht in Verden oder Memmingen macht viel aus), aber finanziell nicht: Unsere Stütze ist durchschnittlich knapp...] Wir sprechen aus eigener Erfahrung, wie untypisch auch immer diese sein und das ist selten genug, um Aufsehen zu erregen. Der Grund unseres (relativen) Erfolgs ist eher in der skandalösen Abwesenheit ähnlicher Positionen zu suchen - obgleich es überall großkotzig von »Subversion«, »Medienguerilla« und »Strategie des Widerstands« wimmelt. Uns wurde das Kommunikationstalent geneidet, weil mit minimalem Aufwand einen Aufmerksamkeitsgrad erreichten, nach dem viele vergeblich mit großer Mühe streben. Aber vor lauter Beachtung für Form und Mittel, die gewiß ihre Rolle gespielt haben, sollte der Inhalt nicht vernachlässigt werden. Außerdem haben wir mehr Angebote abgelehnt als angenommen und das Bemühen der Medien, aus uns Arbeitslosenstars zu machen, regelrecht sabotiert (siehe »Grenzen der Ausstrahlung«, S. 121). Aber natürlich kann gerade diese Sabotage als optimale Medientaktik verstanden werden: Wer sich heute weigert, in Fernsehstudios aufzutreten oder für Glanzzeitschriften fotografiert zu werden, wird zum Unikat und entsprechend begehrt.

Wie dem auch sei, schnell erhielt unsere Sache eine neue und konkretere Qualität. Um eventuelle Rückmeldungen zu ermöglichen, hatten wir die Journalisten stets darum gebeten, unsere Kontaktadresse abzudrucken, und das taten die meisten auch. So wurden wir binnen Wochen mit Zustimmungsbriefen aus allen Ecken der Republik überschüttet. Die Existenz einer Bewegung von Glücklichen Arbeitslosen hatten wir bloß postuliert, jetzt meldeten sich tatsächlich Hunderte zu Wort! Die am häufigsten verwendete Botschaft war: »Endlich ein Text, der mir aus der Seele spricht.« Menschen, die seit Monaten oder Jahren dieselbe Erfahrung machten, ohne es zu wagen, sie in ihrem Bekanntenkreis zu propagieren, sahen sich bestätigt und wollten die wohltuende Wirkung mitteilen. Einige hatten schon von einer ähnlichen Initiative geträumt: »Seit Jahren erwäge ich, ein Bündnis gegen Arbeit zu schmieden, war aber immer zu faul dazu.« Es waren persönliche, oft rührende Zeugnisse. Viele bezeichneten sich selbst als nicht ganz glücklich bis unglücklich, doch um gleich zu betonen, daß die Ursache nicht im Arbeitsmangel lag. Häufigste Beschwerden waren die Schikanen der Ämter und natürlich die finanzielle Knappheit, aber auch der Blick der anderen; »Man hat voll den Stempel aufgedrückt: A – arbeitslos. Dann wird man entweder bedauert, oh je, arme Sau, oder man wird beschimpft als Schmarotzer. Also das passiert nicht nur in den Medien, sondern ich erlebe das tatsächlich auch mit nahen Bekannten und Verwandten. Es ist echt schwer, dann nicht depressiv zu werden oder anderweitig auszurasten.«

Beim Durchblättern dieser heterogenen Briefesammlung treffe ich auf einen Arbeitslosen vom Lande (»Hier im Dorf und sowieso im direkten Lebensumfeld hat's auch noch ein gehöriges Potential an mehr oder weniger offensiv glücklichen Arbeitslosen«), einen Rentner (»Darf ich mich trotzdem zu Euch zählen?«), einen »Schüler, der zur Zeit arbeitslos auf Probe ist«, eine behinderte Frau (»nicht restlos glücklich, weil ziemlich allein gelassen«), ein Häftling (der »aus politischen Gründen Zwangsarbeit im Knast verweigert«), einen depressiven Arbeitnehmer (»Ich spüre, daß der Job mich so langsam psychisch und physisch kaputtmacht«), eine »nicht Arbeitslose sondern Geldlose« (»Ich arbeite gerne, aber nicht um jeden Preis und schon gar nicht, um meine Freiheit mitzugeben«), eine »Freigängerin« (»nicht gelangweilt, aber etwas in Sorge wegen der vielen Leute, denen es viel schlechter geht als mir, obwohl sie arbeiten«), einen »glücklichen Hausmann mit zwei Kindern«, einen experimentierfreudigen Forscher (»Ich habe Arbeitslosigkeit an mir ausprobiert und dabei keinen unangenehmen Nebeneffekt gespürt«) usw. usf.

Zusammengenommen bilden all diese Zeugnisse ein Mosaik, das prächtiger und verheißungsvoller ist, als der graue Einheitston üblicher Berichterstattungen. Man wird uns wohl erwidern, daß diese Stimmen eine unbedeutende Minderheit der Arbeitslosen darstellen, und das stimmt auch. Doch selbst als Minderheit widerlegen sie die These, Arbeit sei für die Entfaltung des Menschen eine absolute Notwendigkeit. Im übrigen ist der Arbeitslose als hilfloser, brutaler und faschistoider Säufer auch eine Minderheitserscheinung, und doch wird dieses Bild stets zur Schau gestellt. Wäre es nicht sinnvoller, angesichts der strukturellen Arbeitsvernichtung, danach zu streben, die Minderheit glücklicher Arbeitsloser zu vergrößern, anstatt sie zu bekämpfen? Gewiß ist es nicht für jeden einfach, dem Wertekanon der Arbeit zu entgehen und für sich selbst eine befriedigende Tätigkeit zu finden. Dafür muß die entsprechende Umgebung geschaffen werden. Wir haben uns nie als Fürsprecher einer bereits existierenden Kategorie dargestellt, sondern als Vorboten einer möglichen Entwicklung.

Mit der überraschenden Zustimmungswelle von der Basis wurden wir erst recht herausgefordert. Allein die Aufgabe, die vielfältigen Erwartungen und Fragen einzeln zu beantworten, wäre in mühselige Arbeit ausgeartet, wovor wir uns natürlich hüteten! So kam die Idee auf, einen Rundbrief zu verteilen. Außerdem wollten wir, daß die Empfänger zu Sendern werden, um uns selbst schleunigst als Zentrum des Netzes abschaffen zu können. Dies erschien uns um so wichtiger, da sich viele Leute aus einer Stadt an uns wandten, offensichtlich ohne einander zu kennen. »Sei wachsam, Dein Nachbar könnte auch einer sein!« So entstand im Juni 1998 die Nullnummer des müßiggangster mit dem Untertitel: Kontemplationsblatt der Glücklichen Arbeitslosen. Die Zeitschrift erschien dann (sehr) unregelmäßig, die bis dato letzte Ausgabe kam im Sommer 2001 heraus. Spenden von Sympathisanten reichten immer aus, um den müßiggangster kostenlos zu verteilen und zu verschicken. Trotz des konfidentiellen Vertriebs blieben die Inhalte von der Öffentlichkeit nicht unbemerkt, wie manche Texte (s.u.) es belegen. Eine Ente hatte dazu verholfen. In der FAZ vom 1.7.98 war zu lesen: »Die in Berlin entstandene Bewegung der Glücklichen Arbeitslosen ist offenbar weiter verbreitet, als man bisher glaubte. Das Manifest der Bewegung soll 150.000 mal nachgefragt worden sein, wie jetzt der müßiggangster mitteilt.« [Eigentlich bezog sich diese Zahl auf den Gesamtnachdruck des Textes in verschiedenen Zeitungen (tageszeitung, Scheinschlag, Jungle World usw.).] Auf einmal stürzten sich Meinungsmacher und Politiker auf uns, in der Furcht, einen wichtigen Wandel im Volke verpaßt zu haben! Wiederum dank der erneuten Aufregung wendeten sich weitere Arbeitslose an uns. Das Wechselspiel zwischen medialer Blase und realer Verknüpfung steigerte sich.

Mittlerweile hatten sich Arbeitslosenproteste in Deutschland entfaltet, von Gewerkschaften und (damaligen) Oppositionsparteien mehr vereinnahmt als unterstützt (wir hatten ja Wahljahr). Beim unabhängigen »Aktionsbündnis« in Berlin hatten wir Sympathisanten getroffen. Es war eine gute Gelegenheit, statt des verdummenden Mottos »Arbeit, Arbeit, Arbeit!« vernünftige Töne verlauten zu lassen. Unsere Kampfparolen lauteten: »Gleiche Ausbeutung für alle!«, »Mehr Zuckerbrot, weniger Peitsche« oder auch »Wer seinen Arsch selber abwischt, vernichtet Arbeitsplätze«. Statt ewig auf langweilige Demos zu latschen, und von der französischen Arbeitslosenbewegung inspiriert, initiierten wir »Spaziergänge«, also kollektives Herumstreifen durch die Stadt mit kurzen Stationen in Ämtern, Restaurants und sonstigen öffentlichen Einrichtungen. Eine berühmte Episode war die feierliche Ãœbernahme von Schlingensiefs Eintrittskasse im Wahlkampf-Zirkus (siehe »Spazierengehen mit Freunden und Gedanken«, S. 89). Wir haben immer Wert darauf gelegt, Form mit Inhalt übereinstimmen zu lassen, also Protestaktionen zugleich als Beweise für, sagen wir mal, schöpferische Tätigkeit und Lust zu gestalten. (Ich weigere mich, die verschmutzten »Kreativität und Spaß« zu verwenden.) Selbst Teilnehmer, deren Alltag aus Unglück und Elend besteht, wurden von der Stimmung angesteckt. Eine gelungene Situation ist mehr wert als tausend Argumente.

Die Proteste waren auch ein Anlaß zu zeigen, daß wir uns keineswegs von den unglücklichen Jobsuchenden abspalten wollten. Schließlich hatten wir gemeinsame Beschwerden: Schikanen, Simulationsmaßnahmen und unterbezahlte Zwangsarbeit. Die Möglichkeit, eine dezent bezahlte Stelle zu bekommen, ist eng mit der Möglichkeit verknüpft, ohne Stelle dezent auszukommen. Es gibt keinen Interessenkonflikt, auch keine klar differenzierten Gruppen: Wenn Glückliche Arbeitslose notgedrungen einen Job annehmen, dann wollen sie natürlich annehmbare Verhältnisse haben, und der Lohn muß auch einigermaßen stimmen. Ihnen kann die Lage der Arbeiterschaft nicht gleichgültig sein. Andererseits kann heute kaum ein Beschäftigter sicher sein, daß er niemals arbeitslos wird. Also ist das Wohlergehen der Arbeitslosen eine gemeinnützige Frage. Sollte es sein, zumindest. Allerdings löste sich die Arbeitslosenbewegung noch schneller ins Nichts auf als ein Wahlversprechen. Mit ihr verschwand die Opportunität einer direkten Debatte auf der Straße. Wir organisierten noch einige öffentliche Treffen in Städten, wo wir Gleichgesinnte haben, das gelungenste davon in Hamburg, wo wir eine Einkaufszone unter Freitagsstreß in eine friedfertige Wiese mit plaudernden Picknickern verwandelten (siehe »Gemeine Plätze schaffen«, S. 101).


Die Zunahme an Aktivität erzeugte interessante Widersprüche. Wir hatten ja behauptet, daß die positive Seite von Arbeitslosigkeit die Möglichkeit einer »Zurückeroberung der Zeit« sei, um das zu tun, was einem vorschwebt. Dies galt natürlich auch für uns selbst. Nun aber drohte die befreite Zeit knapp zu werden. Und wir entfernten uns von unserem eigentlichen Interesse. Die ständige Auseinandersetzung mit der Arbeitsmarktpolitik zählte nie zu unseren Leidenschaften. Eine klassische Arbeitslosengruppe, eine Beratungs- und Hilfsstelle wollten wir nie werden. Die gibt es schon, und es ist gut, daß es sie gibt, doch dafür waren wir nicht die Richtigen. Eigentlich hätten wir uns gern ganz überflüssig gemacht. Die Vorstellung war, ein funktionierendes Netzwerk zustande zu bringen, um dann etwas ganz anderes anfangen zu können. Aber die Sache schien sich nicht so entwickeln zu wollen, nämlich aufgrund eines zweiten Widerspruchs, der alten Diskrepanz zwischen Organisatoren und Mitläufern. Immer öfter kamen Leute zu uns und fragten: »Was macht ihr als nächstens?« Worauf wir antworteten: »Mach du doch einen Vorschlag. Organisiere dich selbst.« Eine pyramidale Lobby von arbeitsunwilligen Arbeitslosen hätten wir wahrscheinlich leicht aufbauen können, doch so wäre die ursprüngliche Idee abhanden gekommen. Wir waren eine »Organisation der sonst nur notdürftig Organisierten«. Diejenigen, die immer einsatzbereit waren, mochten schon ideell sympathisieren, doch tatsächlich suchten sie nur eine beliebige Beschäftigung (wenn nicht gar eine Stelle!). Es fehlte ihnen die innere Kraft der Muße. Ob diese sich vermitteln läßt, weiß ich nicht. Pädagoge ist keiner von uns. Eigentlich waren unsere richtigen Ansprechpartner Menschen, die keine feste Gruppe brauchten. Sie hatten signalisiert, gelegentlich etwas in diese Richtung unternehmen zu wollen, aber zuviel Energie dürfte dafür nicht verwendet werden. Sie sind faul, und das ist auch gut so. Deswegen können wir die einfallsreiche Journalistenfrage: »Wieviel seid Ihr denn?« nicht beantworten. Wir wollen es nicht einmal wissen! Die schönste Ãœberraschung war immer, zufällig zu erfahren, daß sich uns völlig unbekannte Leute in Halle, Göttingen, Paris, Valencia oder sonstwo zu Glücklichen Arbeitslosen erklärt oder gar zusammengeschlossen hatten. Der Umkreis bleibt unfaßbar und nebulös.

Allein von Aktivitäten der Glücklichen Arbeitslosen zu sprechen ist paradox und muß es bleiben. Wir setzen uns ja für den Wert der Pause, der Muße und der schöpferischen Ruhe ein. Entsprechend sollten wir in Erscheinung treten. Sowohl Künstler- als auch Politgruppen reproduzieren meistens die Mentalität und die Organitionsformen der Arbeit. (Die Software-Ingenieurin Ellen Ullmann hat in »Close to the Machine« schön eruiert, wie ihre linksradikale Vergangenheit samt Kategorien wie »Programm« und »System« die beste Einführungen in die Computerbranche war.) Wir aber durften keineswegs einem Aktivismus verfallen. Bloß, wie sieht Passivismus aus? Es ging darum, eine Abwesenheit sichtbar zu machen, ein Jenseits der Arbeitswelt flüchtig zu vergegenwärtigen (vgl. dazu »Wir bleiben liegen«, S. 79 und »Das latente Manifest«, S. 56). Da wird selbst Wiederholung zum Verhängnis. Unser Beruf ist es, keinen zu haben - um diese Idee zu verdeutlichen, versuchten wir immer, wider allen Erwartens aufzutauchen. Entsprechend heterogen sehen die Stationen der Glücklichen Arbeitslosen aus: eine Kunstausstellung im Berliner Marstall, das Sozialamt Prenzlauer Berg, das Hamburger Thalia Theater, eine landwirtschaftliche Kooperative in Brandenburg, die Tutzinger evangelische Akademie, ein besetztes Haus in Sevilla, die internationale Frauenuniversität in Hannover, heute verstorbene Berliner Kneipen wie der »Sportlertreff« oder das »Siemeck«, ein Psychiaterkongreß in Rendsburg, eine (heute zugebaute) Wiese an der Friedrichstraße, das Verdener Landgericht usw. usf. So konnten wir unsere Ansichten von verschiedenen Standpunkten aus prüfen und die offene Diskussion fortsetzen. Ein anderer Vorteil dieses steten Szenenwechsels lag darin, daß vermieden werden konnte, in einem Bereich überpräsent zu werden. So viel zum Thema glückliche Arbeitslosigkeit läßt sich auch nicht sagen, und wir wollen nicht langweilig werden.

Außerdem gibt es noch einen Grund für unsere gesteigerte Enthaltung. Noch 1998 hatten wir im müßiggangster ein »Festival der Glücklichen Arbeitslosen« angekündigt, auf dem arbeitslose Köche, Handwerker, Spinner usw. ihre Talente öffentlich vorgezeigt hätten. Dafür hatten wir uns von der Schwulenbewegung die Idee des »coming out« geborgt. Ein geldfreies Umfeld sollte geschaffen werden, wofür wir gewiß problemlos Gelder bekommen hätten. Doch zum Glück gaben wir die Idee rechtzeitig auf. Denn zu dieser Zeit schössen Festivals, Paraden, Politkarnevals und sonstige Events wie Pilze aus dem Boden. Die Spaßguerilla wurde rasch zum Spaßterror, Aktionismus zum Selbstzweck, nach dem Motto: Wer keine Inhalte mehr zu vermitteln hat, der kann immer eine »bunte, laute und kreative« Veranstaltung machen. So wurden die Gegensätze zwischen Arbeit und Freizeit einerseits, der Agora und Disneyland andererseits, feierlich abgeschafft. Doch diese Art der Versöhnung zog uns so wenig an wie die klassischere »Integration durch Arbeit«. Fortan verzichteten wir auf spektakuläre Aktionen.


Zurück zur Politik. Gewiß war Arbeitskritik längst vor unserer Erscheinung bereits ein heftiges Kampfthema unter der deutschen Linken gewesen. Zu diesem Zeitpunkt sah es aber so aus, als ob die argumentative Munition schon verschossen wäre. Den Schlagabtausch hatte ein Schützengrabenkrieg ersetzt, nur noch sporadisch wurde das feindliche Lager über die Frontlinie hinweg beschimpft. Die Lage sah ungefähr so aus:

Auf der einen Seite hatte sich die Existenzgeld-Fraktion postiert, also Leute, die ein staatlich gesichertes Einkommen für alle, ob Arbeitende oder nicht, forderten. Diese Truppe war aber selbst gespalten: Die einen nannten eine hohe Existenzgeldsumme, die ihrer Meinung rein antikapitalistisch, weil absolut unannehmbar war. Die anderen lehnten einen solchen Irrealismus ab und verlangten ein niedrigeres Grundeinkommen, in der (stets enttäuschten) Hoffnung, Regierungsparteien tatsächlich zum Einlenken zu bringen. Folglich waren sie bei den ersten als Kapitalistensubventionierer und Lohndrücker verschrien.

Allen Befürwortern des Existenzgeldes, Radikalen wie Realos, wurde ihrerseits von der anarchistischen Fraktion Staatsgläubigkeit und Reformismus vorgeworfen. Denn es ginge nicht darum, vom Staat mehr Geld zu verlangen, sondern ohne Staat und Kapital zu leben. Nichts fordern, sondern unabhängige Lebensformen wie Kooperativen, Tauschringe oder Selbstversorgung selbst organisieren. Natürlich war auch dieses Lager gespalten, und zwar in Praktiker (die eigentlich öfter Praktikerinnen waren), die mit täglichen Aufgaben überfordert waren, und Denker, die sich in alternative Wirtschaftstheorien vertieften. Wie auch immer, allen wurde von ihren Gegnern Eskapismus, Kommunitarismus und kleinbürgerliche Ideale vorgeworfen.

Dann gab es noch die geschrumpfte Fraktion der Klassenkämpfer. Nur innerhalb der Produktion sahen sie die Möglichkeit, gegen die Arbeit effektiv zu agieren. Arbeitslose seien Arbeiter ohne Arbeit, darum ohne Möglichkeit, sich von der Arbeit zu befreien. Randständige Initiativen hätten keine Chance, die Verhältnisse umzustürzen. Darum gelte es, gefälligst einen miesen Job anzunehmen, um von dort aus Unmut, Streiks und Sabotagen zu provozieren. Doch die Gelegenheiten, sich dem kämpfenden Proletariat anzuschließen, sind rar geworden. Außerdem wird Selbstaufopferung heute nicht mehr so geschätzt, so blieb die ersehnte Radikalisierung aus.

Schließlich schwebte über dem Schlachtfeld die Gruppe der Systemkritiker. Sie mahnten: Erst kommt die richtige Theorie, dann die Praxis. Allen anderen Fraktionen warfen sie vor, Abwehrkämpfe zu führen, die mangels klar durchdachter Ziele »systemimmanent« (das heißt so gut wie Scheiße) und voller theoretischer Löcher seien. Folglich zogen sie sich zurück und schrieben lange, nicht-immanente Aufsätze. Wer nach der praktischen Umsetzung solch kluger Theorien fragte, wurde zum nächsten Seminar eingeladen, bei dem Begriffe nach-, ver- und umgearbeitet wurden, bis sie als weitere arbeitskritische Texte herauskamen.


Wenn wir all diese Positionen genauer anschauen, dann finden wir, daß jede eine eigene Berechtigung hat. Diese Auffassungen schließen sich nicht unbedingt aus, sondern sind eher komplementär (z.B. eine Grundsicherung plus Staats- und geldfreie Organisation) oder gar unvergleichbar (theoretische Wertekritik mit Gemüseanbau). Das Problem fängt erst an, wenn eine Auffassung sich als einzig gültige begreift, die andere ausschließt und die dogmatische Trennung zwischen diesseits und jenseits, individuellem Überleben und kollektiver Zukunft, Reform und Revolution fortführt.


Eine zusätzliche Position aufzubauen hätte das Problem nicht gelöst, sondern nur vergrößert. Statt dessen entschieden wir uns, auf die Segelflug-Taktik zu setzen. Beim Segelflug wird die Kunst angewandt, aufsteigende Strömungen zum Höhengewinn auszunutzen. Man bewegt sich auf der Suche nach potentiellen Wärmequellen; wird eine entdeckt und überflogen, dann steigt man hoch und wieder abwärts bis zur nächsten Quelle. Da haben wir die passende Metapher für einen gesunden Opportunismus in der sozialen Praxis. Statt sich verkrampft auf einen Schwerpunkt zu fixieren, werden je Gelegenheit behebige soziale Aufwinde gesucht. Entscheidend dabei ist nicht der Gegenstand der Aktivität (es können also gleichwohl Festessen, Tauschringe, Gruppensex, Gesprächssalons, Krawalle oder Gartenpflege sein), sondern ob dadurch ein Gewinn an Kommunikation ermöglicht wird oder nicht.

Aber wo bleibt da der Kampf, fragt sich der Aktivist? Ja, wo? Irrtümlich wird heute kämpferischer Geist mit Stumpfheit, Hektik und hysterischem Geschrei verbunden. Die asiatischen Kampfkünste lehren anderes. Nur wer äußerst sanft ist, kann die nötige Härte erzeugen. Nur wer sich im Gegner vollständig aufzulösen vermag, kennt dessen Schwäche und kann ihn entsprechend zerschlagen. Gelassenheit macht unerschütterlich. Es ist für Glückliche Arbeitslose nur logisch, sich von solchen Weisheiten – und sei es nur metaphorisch – inspirieren zu lassen.[Ich denke, die westliche Denk- und Lebensweise ist es, die Ihre jetzige Gesellschaft hervorgebracht hat, in der arbeitslose Menschen als wertlos angesehen werden. Ich habe den Eindruck, ein arbeitsloser Tibeter wäre nicht so schwermütig wie ein westlicher Arbeitsloser. Vorausgesetzt, er oder sie hätte genug zu essen und verfügte über ein Dach, dann wäre das Leben wunderbar. Solche Leute wären einfach glücklich, den ganzen Tag herumzuliegen und mit Freunden zu plaudern! (...) Nun, der heutige Stand der Arbeitslosigkeit in Industrieländern scheint sehr unangenehm zu sein; und doch: Schuld daran sind meiner Meinung nach die Begriffe, die sich Ihre Gesellschaft gebildet hat.« (»Image All The People, Conversations with the Dalal Lama«, Wisdom Publications).] Zum Beispiel von der chinesischen Kampfart Neijia, der »inneren Richtung«, die ausschließlich auf zwei Prinzipien beruht: dem Nicht-Tun und der Ausnutzung der Fehler des Gegners. »Das Nicht-Tun«, so Lie-Zi, »hat keine Kenntnisse, es hat keine Fähigkeiten, doch es gibt nichts, was es nicht wüßte, und es gibt nichts, was es nicht könnte.« Das zweite taktische Prinzip wird auch im Aikido angewandt: Ausweichen und ausweichen, bis der Angreifer in die Position gerät, in der sein Gleichgewicht mit minimalem Aufwand geschickt gebrochen wird. Ebenso wird im geistigen Aikido nicht versucht, mit zweifelhaft vorgefertigten »Zukunftsmodellen« oder »Systemkritik« anzugreifen, sondern die Ideen des Gegners umzudrehen, ihn beim Wort zu nehmen, seine Widersprüche zu nutzen, mit dem Ziel, sein ideologisches Gleichgewicht zu brechen. In dieser Zeit der praktischen Lähmung und der theoretischen Abrüstung ist eine solche Taktik empfehlenswert. Unser bescheidenes Ziel ist, Fragenschutzgebiete einzurichten. Wir haben keine Lösung, damit aber auch kein Problem.

Die Auswahl, die für dieses Buch getroffen wurde, versucht, die verschiedenen Facetten und Interventionen der Glücklichen Arbeitslosen widerzuspiegeln. Im ersten Teil werden Aufrufe nachgedruckt, vom »Gründungsmanifest« bis zur jüngsten Mißtrauenserklärung gegen die Arbeitsmarktreform. Das zweite Kapitel geht ins Praktische und dokumentiert sowohl direkte Maßnahmen als auch kleine Experimente und Erlebnisse der letzten Jahre. Im dritten Abschnitt werden »Helden des Alltags« präsentiert, Probestücke eines zeitgemäßen Genres, das womöglich in die Geschichte als »Arbeitslosenliteratur« eingehen wird. Schließlich werden »ernstere« Aufsätze nachgedruckt, um die Auseinandersetzung auf der theoretischen Ebene wiederzugeben.

Als ich dabei war, dieses Vorwort zu beschließen, stieß eine beunruhigend wirkende Schlagzeile der Wochenzeitung Jungle World: »Angriff auf die Müßiggangster - Was wird aus den glücklichen Arbeitslosen?« Gemeint sind natürlich die Pläne, Dauer und Höhe der Arbeitslosenunterstützung drastisch zu kürzen. Womöglich werden in einigen Jahren oder gar Monaten die beiliegenden Schriften als Zeugnis einer besseren Vergangenheit gelesen werden, als Mangel und Druck nicht so harsch waren. Dennoch ist eines sicher: Selbst wenn wir alle der Reihe nach aus dem »sozialen Netz« rausfliegen und in zermürbender Unsicherheit leben müßten, der Grundwiderspruch einer arbeitsvernichtenden Arbeitsgesellschaft wird nicht gelöst werden. Unsere Kritik wird weiterhin gelten und das glückliche Bild, das wir projiziert haben, dürfte um so mehr Sehnsucht erregen. Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst. Es gibt ein Leben nach der Arbeit.

Guillaume Paoli

Kurhaus-Hotel Masserberg im Juli 2002



[Dieser Text gehört zu dieser Text-Sammlung der Glücklichen Arbeitslosen.]