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Situationistische Internationale

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Die Situationistische Internationale (S.I.) war eine 1957 gegründete, linksradikal orientierte Gruppe europäischer Künstler und Intellektueller (darunter politische Theoretiker, Architekten, freischaffende Künstler u.a.), die vor allem in den 1960er Jahren aktiv war. Die Situationisten übten dabei sowohl Einfluss auf die politische Linke aus (v.a. im Umfeld des Pariser Mai ’68 sowie in der Entwicklung der Methoden der Kommunikationsguerilla) wie auch auf die internationale Kunstszene sowie insbesondere auf die Popkultur. Die Zahl der Mitglieder schwankte zwischen zehn und über 40, über die Zeit waren insgesamt ca. 70 Personen beteiligt. 1972 gab die Gruppe ihre Selbstauflösung bekannt.

Konzept

Die Situationisten operierten an der Schnittstelle von Kunst und Politik, Architektur und Wirklichkeit und setzten sich für die Realisierung der Versprechungen der Kunst im Alltagsleben ein. Sie forderten unter anderem die Abschaffung der Ware, der Arbeit, der Technokratie und der Hierarchien, und entwickelten ein Konzept der „theoretischen und praktischen Herstellung von Situationen“, in denen das Leben selbst zum Kunstwerk werden sollte. Einige Situationisten waren in den Ausbruch der Studentenunruhen vom Mai 1968 verwickelt, die auf ganz Frankreich übergriffen und dort, anders als in Deutschland, auch weite Teile der Arbeiterklasse erfassten. Situationistische Ideen waren in den folgenden Jahren sehr verbreitet und haben international in Kunst, Politik, Architektur und vor allem im Pop Spuren hinterlassen, die sich bis in die Gegenwart ziehen. Ihre Aktionsformen wurden unter anderem im Fluxus und der Performancekunst aufgegriffen.

Der S.I. werden einige bekannte Slogans der Zeit zugeschrieben:

  • „Verbieten ist verboten!“ (Il est interdit d’interdire, stammt in Wirklichkeit aber von Jean Yanne)
  • „Unter dem Pflaster, der Strand.“ (Sous les pavés, la plage)
  • „Arbeit? Niemals.“ (Ne travaillez jamais)

Geschichte

Vorgeschichte

Die Geschichte der situationistischen Bewegung beginnt Anfang der 1950er Jahre im Frankreich von Sartre oder Camus, sie ist eng verbunden mit der Person von Guy Debord. Debord war die zentrale Figur in der Entwicklung der situationistischen Theorie und so etwas wie die graue Eminenz der Gruppe. Mit 19 Jahren fallen ihm 1951 beim Cannes Film Festival zunächst die avantgardistischen Lettristen auf, eine Künstlergruppe in der Tradition der Surrealisten, die man sonst spät nachts in heruntergekommenen Pariser Cafes antraf. Sie nahmen wegen der Uraufführung eines Filmes von Isidore Isou am Festival teil. Als sehr junge Vertreter eines radikal romantischen Bohème-Lebensstils verursachten sie durch ihr Auftreten und der Film wegen der postulierten und eindrücklich zelebrierten Zerstörung des herkömmlichen Kinos in Cannes einen Skandal. Debord war fasziniert und schloss sich ihnen bald danach an.

Die Lettristen gaben eine Zeitschrift namens Potlach heraus (benannt nach dem Gabenritual in archaischen Gesellschaften), in der sich spätere Thesen und Ideen der Situationisten bereits abzeichneten. Einige Lettristen, u.a. Debord, schlossen sich nach einer Spaltung der Gruppe zur politischeren „Lettristischen Internationale“ zusammen, dem Vorläufer der S.I. Legendär waren öffentliche Provokationen der Lettristen wie beim Ostergottesdienst 1950, als ein falscher Mönch in der Kathedrale Notre Dame den Tod Gottes verkündete, und dafür von der Menge der Gottesdienstbesucher fast gelyncht wurde. Yves Klein kannte die Lettristen seit dem Beginn der 50er, René Magritte korrespondierte mit ihnen.

Gründung

Die eigentliche Situationistische Internationale wurde dann am 28. Juli 1957 in Cosio d'Arroscia in Norditalien gegründet. Es vereinigten sich dabei die vom Maler Asger Jorn gegründete „Bewegung für ein Imaginäres Bauhaus. Mouvement pour un Bauhaus Imaginiste“ (die die Rolle des Künstlers in der Industriegesellschaft erforschte), die „Londoner Psychogeographische Gesellschaft“ von Ralph Rumney und die zuvor genannte „Lettristische Internationale“, mit dem Ziel der Schaffung einer Organisation zur praktischen Aufhebung der Trennung zwischen Kunst und Leben.

Mitglieder der S.I. waren Künstler und Künstlerinnen aus 10 Ländern wie etwa der Ungar Attila Kotányi, Jacqueline de Jong, Hans Platschek, Ivan Chtcheglov, Raoul Vaneigem, Alexander Trocchi, Uwe Lausen, Dieter Kunzelmann (Kommune 1) sowie die Mitglieder der Münchner Künstlergruppe SPUR (die in München 1959 nach erbitterten Diskussionen über die Rolle der Malerei mit der S.I. fusionierten, aber 1961 wieder ausgeschlossen wurden), oder Michèle Bernstein, Mustapha Khayati aus Tunesien, Abdelhafid Khatib aus Algerien, Rene Vienet und Gretel Stadler.

Aktivitäten

Die S.I. beschäftigte sich mit Malerei, Theorie, Geschichte, Stadtplanung.

Bei ihrer traditionelleren künstlerischen Arbeit nutzten Situationisten neben der Malerei (Tachismus, Informel) häufig auch das Mittel der Collage, arbeiten viel mit vorgefundenem Material, das sie leicht abänderten, übermalten oder neu kombinierten. Bilder wie die „Lockung“ von Asger Jorn (ein „umgestaltetes“ romantisches Landschaftsbild, in das Jorn grobe, angedeutete, freundliche Figuren in den Farbtönen der Landschaft hineinmalte), erzielen heute Preise bis zu 800.000 Euro. Debord erstellte avantgardistische Filmcollagen und Filme wie „Durchgang einiger Personen durch eine kürzere Zeiteinheit“.

In der Zeit ihres Bestehens wanderte der Fokus der Arbeit immer mehr von der Kunst zur Politik, künstlerische Arbeiten verstanden sich mehr und mehr als Visualisierungen geschichtlicher und kultureller Prozesse. Immer wieder kam es zu Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Gruppe, die zu Austritten, Ausschlüssen, Abgrenzungen und Abspaltungen führten: Jede Konzession an herrschende Normen, jedes Zurücktreten hinter die revolutionären Maximalforderungen galt als Verrat. Das Verhältnis von Kunst und Politik, die Rolle der Malerei wurden immer wieder diskutiert.

Constant

Es wurden von 1957 an verschiedene Aktionen und Ausstellungen geplant und teils realisiert, von denen z.B. „New Babylon“ von Constant (mit vollem Namen Constant Nieuwenhuys) große Aufmerksamkeit erregte: Er konzipierte eine Stadt für einen „spielerischen“, mobilen Menschen, den die Automatisierung aus seiner geregelten Berufswelt geworfen hat, und der nun seine Kreativität entfalten kann, Constant entwarf damit eine moderne Gegenwelt zu den Konzepten von Le Corbusier. 1959 bereits schlug er vor, die Börse von Amsterdam niederzureißen, um an ihrer Stelle einen Spielplatz zu errichten. Für eine befreundete Gruppe von Sinti und Roma entwarf er moderne mobile Gebäude für ihr Camp. Constants Arbeiten bewegten sich zwischen Malerei und Architektur. Seine sehr konkreten Vorschläge, und sein Konzept, nur neue Gebäude zu verwenden, stießen in der Gruppe auch auf Kritik. Debord war beispielsweise eher an den Ablagerungsspuren der Zeit in der Stadt, an den Schichten von Erinnerung interessiert. Es kam daraufhin zum Bruch mit der Gruppe, Constant wurde sein künstlerischer Erfolg zum Vorwurf gemacht, ihm wurden egoistische Strategien unterstellt.

Die Welt als Labyrinth

Über ein Projekt in den Niederlanden 1960 („Die Welt als Labyrinth“), ein Labyrinth im Auftrag des Amsterdamer Stedelijk Museums, entstand ebenfalls eine Kontroverse. Das Labyrinth war geplant als „kombinierte, noch nie gesehene Umwelt durch Verquickung innerer und äußerer Züge…“, wohnlicher Innenraum und städtischer Außenraum gingen ineinander über. Nebel, Regen oder Wind würden künstlich erzeugt, Klänge von Tonbändern, Türen sollten Gelegenheiten zum Verirren vermehren. Das Projekt scheiterte schließlich an den Sicherheitsbedingungen des Museums – nur ein Vorwand nach Ansicht der Situationisten, die bereits Aktionen im Rahmen des Labyrinths geplant hatten, die die Ausstellungsbedingungen selbst thematisieren sollten.

Galerie Van de Loo

Die Münchner Galerie „van de Loo“ organisierte Ausstellungen von einigen Situationisten. Dabei wurden Vorwürfe gegenüber dem Galeristen laut, er versuche die Gruppe in „wirkliche Künstler“ und „Theoretiker“ zu spalten, indem er individuelle Künstlerkarrieren förderte und die dahinterstehende Theorie ignoriere.

Finanzierung

Finanziert wurden die Situationisten über lange Zeit hauptsächlich über den Verkauf der Arbeiten von Asger Jorn und anderen Künstlern; des Weiteren waren viele unter ihnen nebenerwerbstätig.

Theorie

Es wurden von der Gruppe regelmäßig internationale Konferenzen abgehalten, Theorien wurden dabei ausgearbeitet, diskutiert und ausprobiert.

In ihrer Zeitschrift „internationale situationniste“ präsentierte die S.I. ihre Ideen, kommentierte die Weltlage und persönliche Affären, und beschimpfte und verhöhnte die gesamte politische und kulturelle Elite der Zeit, darunter oftmals besonders diejenigen, die öffentlich mit ihnen sympathisierten oder scheinbar ähnliche Ideale hatten wie etwa den Regisseur Godard. Die Zeitschrift wurde 1961 in Deutschland beschlagnahmt, Mitglieder wurden verhaftet. Intimfeinde der Situationisten waren Soziologen und Kybernetiker wie Abraham Moles, aber auch die vielen dogmatischen, teils stalinistischen kommunistischen Gruppierungen der Zeit.

Guy Debord verfasste 1957 den „Rapport über die Konstruktion von Situationen und die Organisations- und Aktionsbedingungen der Internationalen Situatonistischen Tendenz.“ und die „Vorschläge für ein Aktionsprogramm der SI“. Als sein Hauptwerk und eines der ersten Werke der Postmoderne gilt „Die Gesellschaft des Spektakels“ (1967). Die Erlebnisse und Diskussionen mit den Lettristen in Paris sind Thema von Debords „Mémoires“, einem Künstler-Buch, dessen erste Auflage nach Debords Anweisungen in Sandpapier gebunden werden sollte.

Raoul Vaneigem betonte in seinem „Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen“ von 1967 besonders die Wichtigkeit der Gabe, der Subjektivität, der Poesie und des Spiels. Für ihn bot die Moderne nur noch eine würdelose rationalisierte Form des „Überlebens“, kein wirkliches „Leben“.

Asger Jorn verfasste u.a. das Buch „Open Creation and its Enemies“ (in Anlehnung an Poppers „The Open Society and its Enemies“), in dem er ein Ideal freier menschlicher schöpferischer Tätigkeit und Gestaltung entwickelte, und untersuchte, was dieser heute entgegensteht.

Der „Straßburg-Skandal“

1966 erschien in Straßburg ein Pamphlet namens „Über das Elend im Studentenmilieu, betrachtet in seinen ökonomischen, politischen, psychologischen, sexuellen, und vor allem intellektuellen Aspekten, und einige Mittel zur Abhilfe“, das Studenten vom lokalen Büro der „UNEF“ auf Kosten der Universität Straßburg in einer 10000er-Auflage gedruckt hatten. Darin übten Situationisten eine fundamentale Kritik am Studenten als unmündig und abhängig gehaltenem Mitglied der Gesellschaft, am Studentenstatus, an der Selbstherrlichkeit einer studentisch-alternativen Subkultur, an Religion, und am ganzen Wirtschaftssystem. Sie verspotteten die Blindheit gegenüber der Ökonomisierung der Bildung in der Broschüre, für die eine angebliche „Gesellschaft zur Würdigung des Anarchismus“ als Herausgeber fungierte:

„Dem Studenten wird nicht einmal bewußt, daß die Geschichte auch seine lächerliche ‚abgeschlossene‘ Welt verändert. Die berühmte ‚Universitätskrise‘, Detail einer allgemeineren Krise des modernen Kapitalismus, bleibt Gegenstand eines tauben Dialogs zwischen verschiedenen Spezialisten. In ihr kommen ganz einfach die Schwierigkeiten einer verspäteten Anpassung dieses besonderen Produktionssektors an die Umwandlung des gesamten Produktionsapparates zum Ausdruck. Die Überreste der alten Ideologie einer liberal-bürgerlichen Universität werden in dem Augenblick nichtssagend, wo ihre gesellschaftliche Basis verschwindet. Die Universität konnte sich in der Epoche des Freihandelskapitalismus und seines liberalen Staates als autonome Macht verstehen, da er ihr eine gewisse marginale Freiheit gewährte. Sie hing in Wirklichkeit eng von den Bedürfnissen dieser Art von Gesellschaft ab: der privilegierten studierenden Minderheit eine angemessene Allgemeinbildung zu vermitteln, bevor sie sich wieder in die herrschende Klasse einreiht, die sie kaum verlassen hatte.“

Die für den Druck verantwortlichen Studenten wurden daraufhin von der Hochschule exmatrikuliert, die Broschüre aber fand weite Verbreitung unter den 1968 revoltierenden Studenten, und wurde auch in andere Sprachen übersetzt, obwohl der Rektor der Straßburger Universität ihren Verfassern empört noch eine psychiatrische Behandlung nahegelegt hatte.

Mai 1968

„Eine neue Studentenideologie verbreitet sich in der Welt - es ist die entwässerte Version des jungen Marx, die sich ‚Situationismus‘ nennt.“

– Daily Telegraph vom 22. April 1967

Im Frühling 1968 kam es in Frankreich zu den Mai-Unruhen. Aus einer Besetzung der Pariser Universität Sorbonne entwickelt sich am Ende ein Generalstreik.

Rene Vienet, der wie 2 weitere Mitglieder der S.I. direkt an den Besetzungen an der Sorbonne beteiligt war, schreibt über diese Zeit:

„Die kapitalisierte Zeit stand still. Ohne Zug, ohne Metro, ohne Auto, ohne Arbeit holten die Streikenden die Zeit nach, die sie auf so triste Weise in den Fabriken, auf den Straßen, vor dem Fernseher verloren hatten. Man bummelte herum, man träumte, man lernte zu leben.“

Von der Verwicklung in die Studentenunruhen, und ein paar Kunstskandalen abgesehen blieben die weitaus radikaleren Forderungen der Situationistischen Internationalen allerdings größtenteils Theorie.

Ende

1972 löste sich die Gruppe auf, nach eigenen Angaben, um nicht zu erstarren und selbst zum Klischee zu werden, nicht zuletzt aber wohl auch aus Enttäuschung über die internationale Studentenbewegung und das von ihr Erreichte. Zu dieser Zeit bestand die Gruppe nur noch aus einem kleinen Kreis um Debord.

Im angelsächsischen Raum existierten noch längere Zeit situationistische Gruppen wie King Mob oder das Bureau of Public Secrets von Ken Knabb. Bekannt sind Aktionen wie der falsche Weihnachtsmann von King Mob, der zur Weihnachtszeit in Kaufhäuser ging und dort das Spielzeug aus den Regalen direkt an Kinder verschenkte. Die herbeigerufene Polizei musste den Kindern die Waren wieder abnehmen, die dann ungläubig dabei zusahen, wie der Weihnachtsmann verhaftet wurde.

Ziele

Kunst und Leben

Die Situationisten versuchten, ästhetische Konzepte auf die Gesellschaft zu übertragen, ähnlich wie z.B. auch Joseph Beuys, Fluxus, Konzeptkunst und andere zeitgenössische Strömungen in der Kunst: „Schön“, „ästhetisch“ interessant waren, bezogen auf ihren Kunstbegriff, Situationen, in denen sich Menschen unmittelbar frei und gleichberechtigt begegnen, austauschen, sich selbst verwalten, kreativ sein, sich ihren Leidenschaften hingeben, keinerlei unnötigen Zwängen mehr unterliegen würden.

„Wir meinen zunächst, daß die Welt verändert werden muß. Wir wollen die am weitesten emanzipierende Veränderung von der Gesellschaft und dem Leben, in die wir eingeschlossen sind. Wir wissen, daß es möglich ist, diese Veränderung durch geeignete Aktionen durchzusetzen. Es ist gerade unsere Angelegenheit, bestimmte Aktionsmittel anzuwenden und neue zu erfinden, die auf dem Gebiet der Kultur und der Lebensweise leichter zu erkennen sind, aber mit der Perspektive einer gegenseitigen Beeinflussung aller revolutionären Veränderungen angewandt werden.“

– Rapport über die Konstruktion von Situationen

Die Situationisten agierten somit in der Tradition von Dada und dem Surrealismus: „Der neue Künstler protestiert“, schrieb Tristan Tzara 1919, „er malt nicht mehr symbolistische und illusionistische Reproduktion, sondern handelt unmittelbar schöpferisch“. Der situationistische Slogan „Nimm deine Wünsche für Wirklichkeit“ verweist direkt auf die Beschäftigung der Surrealisten mit der Psyche und wurde später von Deleuze und Guattari im Begriff der „Wunschmaschine“ weiterentwickelt. Ein weiterer Slogan lautete: „Leben ohne tote Zeit!“

Geprägt sind ihre Anfänge aber auch von der Philosophie des Existentialismus der 1950er Jahre. Und auch wenn sich Situationisten nicht ausdrücklich auf ihn bezogen, hatte bereits Friedrich Schiller in seiner Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen moralphilosphische Überlegungen angestellt, nach denen etwa der Zustand der Freiheit, verbunden mit ästhetischer Erziehung, den Menschen dazu bringe, aus eigenem Antrieb in „edler“ Weise moralisch zu handeln (23. Brief). Solche humanistischen Ideen lassen sich weiter bis in die antike Philosophie zurückverfolgen.

Die Kunst selbst sollte nun durch ihre Verwirklichung im Leben „aufgehoben“ werden, was bedeutete, dass Poesie oder künstlerisches Denken und Handeln nicht mehr nur auf Leinwänden, sondern in der Gestaltung der alltäglichen Lebenswelt Aller stattfinden sollte. Dies bedeutete dann das „Ende der Kunst“ - als Kategorie wäre der Begriff dann sinnlos, denn er würde keinen speziellen Ort für etwas bezeichnen, das anderswo nicht stattfände, sondern „alles“ wäre (auch) Kunst.

Ähnlich beabsichtigten sie mit der Grenze zwischen Arbeit und Freizeit zu verfahren. Arbeit als Mühsal, Fron, „entfremdete“ Lohnarbeit wurde als unnötig und dem menschlichen Wesen nicht gemäß empfunden, das Umhervagabundieren oder sich Verlaufen, sich Betrinken dagegen wurde mit dem Ernst von Wissenschaftlern künstlerisch erforscht und dokumentiert.

Die Gesellschaft des Spektakels

Bekanntestes literarisches Werk aus dem Umfeld der S.I. ist Debords Buch „Die Gesellschaft des Spektakels“, eine radikale Abrechnung mit dem Kapitalismus und dem Ostblock-Sozialismus zugleich. Dabei nimmt Debord u.a. Bezug auf die Geschichte des Anarchismus, aber auch auf Motive von Hegel und auf Texte von Karl Marx, sowie Georg Lukács. Es zeigt aber auch den Blick der Situationisten auf die Welt: Seit den 20er-Jahren habe sich in Ost und West gleichermaßen die Wirtschaft verselbstständigt, sei zu einer autonomen Macht geworden, die mit ihren Gesetzen das Leben der Menschen beherrsche. Das Spektakel transportiere verschiedene Ideologien, denen aber allen die Entfremdung des Menschen gemeinsam sei (siehe Haupt-Artikel Die Gesellschaft des Spektakels).

„Sei realistisch, verlange das Unmögliche“

Aus dem Widerspruch zwischen eigenen Idealen und der vorgefundenen Realität entstand die situationistische Kritik.

Die Situationisten waren allerdings nie an einem Zurück zu vermeintlich besseren alten Zuständen oder Mythen wie Religion, Ideologie oder „Natürlichkeit“ interessiert. Sie vertrauten u.a. auf die befreienden Wirkungen von Technik und hatten die Zweckentfremdung und Umgestaltung der modernen Industriegesellschaft durch Liebe, Subjektivität, Kunst und Fantasie zu einem Ort, an dem Genuss, Zufall und Menschlichkeit wieder ihren rechtmäßigen Platz bekämen, vor Augen. Sie sahen ihre Revolte gegen die Technokratie und die erhoffte Revolution als ein Fest an. Eine ihrer Strategien war, den Kapitalismus mit seinen Glücksversprechen einfach beim Wort zu nehmen, dieses versprochene Glück also ganz real und sofort einzufordern, wodurch sich dann eine Diskrepanz zwischen Versprechen und Realität auftäte, die eine Überwindung des Kapitalismus befördern würde. Ihre politischen Vorstellungen für ein Danach sahen vage eine Rätedemokratie vor.

Die politischen Gruppen ihrer Zeit sahen sie als engstirnig, dogmatisch und ungebildet an, und teilten ihnen dies auch immer wieder mit. Ideelle Verbündete waren die Zengakuren-Bewegung in Japan, oder die Rocker, denen sie jedoch ein mangelndes Bewusstsein attestierten, durch das sie am Ende doch nur zu bloßen Konsumenten in einem rebellischen Outfit würden.

Titel eines späteren Films von Debord ist das lateinische Palindrom „In girum imus nocte et consumimur igni“ („Wir gehen des Nachts im Kreise und werden vom Feuer verzehrt“). Hier findet sich die Gruppe vielleicht in ihrer Grundstimmung auch zutreffend beschrieben, sie ahnten immer die Aussichtslosigkeit ihres Unterfangens. Sie betrachteten es (auch) als Spiel.

Sie verehrten Baltasar Gracián, alte Anarchisten, Charles Fourier, den jungen Marx und die Pariser Kommune, lehnten aber den Ostblock-Sozialismus genauso ab wie den westlichen Kapitalismus. Ihnen zufolge war es egal, ob man in der kapitalistischen oder kommunistischen Fabrik monotone Arbeit verrichtete oder sich in der standardisierten modernen Wohnung beim Fernsehen langweilte, ob marxistische Führer und Parolen oder Werbung für Produkte auf den Werbetafeln erschienen, sie betonten die Ähnlichkeiten der beiden damals maßgeblichen Systeme im Alltagsleben des Einzelnen, und waren immer mehr an Subversion, Metaebenen und Verwirklichung von Leidenschaften interessiert als an der Tagespolitik, den Ideologien, Moden oder Parteien, die sie alle als Teil des Spektakels ablehnten. Nicht nur in den Befürwortern und Vertretern der bestehenden Ordnung, sondern besonders in einer verwässerten, konsumierbaren (Schein-)Kritik am Bestehenden, die letztlich nur sein Fortbestehen ermöglicht, sahen sie ihre Opponenten.

Dem Menschenbild Homo oeconomicus stellten die Situationisten das des Homo ludens gegenüber. Sie wandten sich somit gegen jede Verfestigung, Erstarrung, Absolutierung. Dabei betonten sie immer wieder, dass es keinen „Situationismus“ als „-ismus“, als starre Ideologie gebe: Sie behaupteten, der Begriff Situationismus sei eine Erfindung ihrer Gegner. Sie wendeten sich auch gegen ihre eigenen Fans und Bewunderer, denen sie vorwarfen, ihre Bewunderung stelle nur eine Form von Konsum und Mystifikation dar, keine „aktive“ Teilnahme an ihrem Projekt.

„Die kapitalistische bzw. angeblich antikapitalistische Welt organisiert das Leben spektakulär … Es kommt nicht darauf an, das Spektakel der Verweigerung auszuarbeiten, sondern das Spektakel selbst abzulehnen. Die Elemente der Zerstörung des Spektakels müssen gerade aufhören, Kunstwerke zu sein, damit ihre Ausarbeitung KÜNSTLERISCH im neuen und authentischen von der S.I. definierten Sinne ist. Es gibt weder einen ‚SITUATIONISMUS‘, ein situationistisches Kunstwerk noch einen spektakulären Situationisten. Ein für allemal.“

– Raoul Vaneigem

Zeitgenossen äußerten sich über so viel Radikalität teils spöttisch, teils hysterisch. Situationistische Ideen wurden aber populär, Autoren wie Henri Lefebvre sympathisierten in Blättern wie Arguments offen mit ihnen.

Arbeitsweise

Situationisten gingen immer vom subjektiven Erleben des Einzelnen, seinen Wünschen und Begierden aus. Dies war für sie der Angelpunkt jeder politischen Forderung.

Psychogeographie

Ziel war die Auflösung der Grenze zwischen Kunst und Leben ebenso wie eine grundlegende Umgestaltung der Stadtstrukturen und der gesellschaftlichen Normen. Die S.I. agierte sowohl mittels künstlerischer Aktionen als auch politisch und „psychogeographisch“. Der Begriff „Psychogeographie“ bezog sich auf Bewegung und Leben in Städten, aber auch auf Stadtplanung und Organisation der psychischen Potentiale. Es ging den Situationisten um die Erfindung neuer Bedingungen des Lebens, die neue Möglichkeiten menschlichen Verhaltens („Abenteuer“) bieten würden, jenseits von wirtschaftlichen Sachzwängen.

Medien

Mit umgestalteten Comics, in denen die Texte ausgetauscht und mit situationistischen Ideen ersetzt wurden, mit ihren Postern, Grafiken, Publikationen und Aktionen stellten sie auch eine frühe Form der Kommunikationsguerilla dar. Sie arbeiteten zugleich auf theoretischer, symbolischer und praktischer Ebene. Interessiert verfolgten sie die Berichterstattung über sich selbst in den Medien und druckten gerne Verrisse ihrer Gruppe in ihrer eigenen Zeitung ab. Sie waren sich immer über das Bild bewusst, das sie vermittelten, und spielten damit.

Stil

Entscheidend waren für Situationisten immer auch die Fragen des Stils, von ähnlichen politischen Bestrebungen grenzten sie sich u.a. auch durch ihre zelebrierte Eleganz ab, die z.B. in ihrer Sprache, den Inszenierungen ihrer Konferenzen oder der klaren und minimalen Ästhetik ihrer Publikationen Ausdruck fand. Die Ästhetik der Hippie-Bewegung wiesen sie zurück.

Wichtige Begriffe

Die Situationisten führten Begriffe ein wie:

  • „Trennung“ (die Atomisierung der menschlichen Beziehungen unter den Bedingungen des „Spektakels“
  • „Situation“
  • „Dérive“ (das Erkunden einer Stadt durch zielloses Umherschweifen)
  • „Détournement“ (die Zweckentfremdung von beispielsweise Filmsequenzen, Fotos, Comicbildern, Gebäuden durch veränderten Text/Kommentar/Schnitt/Gebrauch)
  • „Negation“
  • „Rekuperation“ (die jedes Mal stattfindende Vereinnahmung oder Simulation von Rebellion, Rebellion als Ware)

Zitate

„Sobald ein mythisches Gebäude in Widerspruch zu der sozioökonomischen Wirklichkeit tritt, öffnet sich ein leerer Raum zwischen der Lebensweise der Menschen und der herrschenden Erklärung der Welt, die plötzlich unangemessen wird, auf dem Rückzug ist.“

„Die Liebe ist niemals von einem gewissen heimlichen Widerstand abgerückt, den man Intimität getauft hat. Sie wurde von dem Begriff des Privatlebens geschützt, aus dem hellen Tag vertrieben (der der Arbeit und dem Konsum vorbehalten ist) und in die verborgenen Winkel der Nacht, in das gedämpfte Licht verdrängt. Auf diese Weise ist sie der großen Integrierung der Aktivitäten des Tages entgangen“

– aus dem Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen

„Der Dadaismus wollte die Kunst aufheben, ohne sie zu verwirklichen; und der Surrealismus wollte die Kunst verwirklichen, ohne sie aufzuheben. Die seitdem von den Situationisten erarbeitete kritische Position hat gezeigt, daß die Aufhebung und die Verwirklichung der Kunst die unzertrennlichen Aspekte ein und derselben Überwindung der Kunst sind.“

„Mit der Automation, die der fortgeschrittenste Bereich der modernen Industrie und zugleich das Modell ist, in dem sich deren Praxis vollkommen zusammenfaßt, muß die Warenwelt den folgenden Widerspruch überwinden: die technische Instrumentierung, die objektiv die Arbeit abschafft, muß gleichzeitig die Arbeit als Ware und als einzigen Geburtsort der Ware erhalten. Damit die Automation oder jede andere weniger extreme Form der Produktivitätssteigerung der Arbeit, die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit wirklich nicht verkürzt, müssen neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Der Tertiärsektor, die Dienstleistungen sind das ungeheure Ausdehnungsfeld für die Etappenlinien der Distributions- und Lobpreisungsarmee der heutigen Waren; gerade in der Künstlichkeit der Bedürfnisse nach solchen Waren findet diese Mobilisierung von Ergänzungskräften glücklich die Notwendigkeit einer solchen Organisation der Nachhut-Arbeit vor.“

– Guy Debord in Die Gesellschaft des Spektakels

„Nachdem man die Produkte der Avantgarde ästhetisch neutralisiert auf den Markt gebracht hat, will man nun ihre Forderungen, die nach wie vor auf eine Verwirklichung im gesamten Bereich des Lebens abzielen, aufteilen, zerreden und auf tote Gleise abschieben. Im Namen der früheren und jetzigen Avantgarde und aller vereinzelten, unzufriedenen Künstler protestieren wir gegen diese kulturelle Leichenfledderei und rufen alle schöpferischen Kräfte zum Boykott solcher Diskussionen auf. (…) Wir, die neue Werte schaffen, werden von den Hütern der Kultur nicht mehr nur lauthals bekämpft, sondern auf spezialisierte Bereiche festgelegt, und unsere Forderungen werden lächerlich gemacht.“

– aus einem Flugblatt der Gruppe SPUR vom Januar 1961 [1]

„Dieser Ausbruch ist hervorgerufen worden von einigen Gruppen, die sich gegen die moderne Gesellschaft auflehnen, gegen die Konsumgesellschaft, gegen die mechanische Gesellschaft, sei sie nun kommunistisch im Osten oder kapitalistisch im Westen. Gruppen, die (…) sich an der Negation, der Zerstörung, der Gewalt, der Anarchie ergötzen, die schwarze Fahne schwingen.“

– De Gaulle am 7. Juni 1968 in einer Fernsehansprache über die Studentenunruhen und den Generalstreik

„Alle in der SITUATIONISTISCHEN INTERNATIONALE veröffentlichten Texte dürfen frei und auch ohne Herkunftsangabe abgedruckt, übersetzt oder bearbeitet werden.“

– Text auf der ersten Innenseite jeder Ausgabe der „internationale situationniste“

Folgen bis heute

Die Einordnung in die Kunstgeschichte, und das Heraustreten aus ihr

Die Situationisten stellen eine der letzten klassischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts dar, ihr Ende markiert für manche Betrachter auch den Übergang zur Postmoderne. In Amerika etwa waren Künstler wie Andy Warhol schon längst dabei, mit einer seriellen Ästhetik der Ware zu arbeiten, oder ihre eigene Entfremdung zu genießen und somit zu negieren. Mit der Postmoderne kamen auch andere Arten des Sprechens auf, Strategien wie Ironie oder scheinbarer oder wirklicher Affirmation. Aus Sicht Debords bestand die Notwendigkeit einer radikalen Negation der bestehenden Verhältnisse jedoch fort. Pop-Art und andere Spielarten des Kunstbetriebs widerlegen aus situationistischer Sicht nicht das Ende der Kunst.

Heutige Rezeption

Die Rezeption der situationistischen Bewegung heute ist sehr unterschiedlich, und auch kontrovers: Die Spannbreite reicht von einer Wahrnehmung der Situationisten als rein avantgardistischer oder architekturtheoretischer Künstlergruppe mit (wort)radikalem Gestus, über verklärend-verharmlosende affirmative Aneignungen im Kunstbereich oder sogar in der Werbung, über Weiterentwicklungen und Hybridisierungen ihrer Theorie in Kunst wie in Politik, bis hin zu Darstellungen der S.I. als rein politischer linksradikaler Gruppierung, die die Kunst nur noch überwinden, und real ausschließlich eine politische Revolution verursachen wollte. Dabei werden häufig innere Heterogenität und Diskussionen der Gruppe übersehen. Die Situationisten selbst verstanden ihre Forderungen nachweislich von Anfang an auch politisch, das Verhältnis zur Kunst und Künstlerrolle wandelte sich dabei über die Zeit mit der Struktur der Mitglieder.

Viele ursprünglich situationistische Forderungen sind heute längst Allgemeingut geworden (etwa die Aufhebung der Trennung von Arbeit und Freizeit), oder werden heute diffus „den 68ern“ zugeschrieben. Andere gerieten wieder in Vergessenheit. Im Zuge etwa von Arbeitslosigkeit und der aktuellen Diskussion um eine „Neue Bürgerlichkeit“ haben Forderungen wie die nach radikaler Selbstverwirklichung nur wenig Konjunktur.

Verwandtschaften und selbsterklärte Nachfolger finden sich u.a. in:

Kunst

Die Fluxus-Bewegung hatte teils ähnliche Ziele und Methoden, war aber wesentlich weniger politisch orientiert und bewegte sich mit ihren Happenings eher auf sicherem Kunstterrain.

Auch in der zeitgenössischen Kunst bezieht man sich hin und wieder auf situationistische Forderungen, z.B. Park Fiction Projekt.

Das Zentrum für Kunst und Medientechnologie widmete Guy Debord 2001 eine große Ausstellung.

Tachistische Malerei findet sich fast nur noch als Design auf Kleidung, Autos und Gardinen.

Psychogeographische Fragestellungen werden u.a. in der Architekturpsychologie erforscht.

Das Museum Tinguely zeigt vom 4. April bis 5. August 2007 in Basel eine umfangreiche, in Kooperation mit dem Centraal Museum Utrecht entwickelte Ausstellung über die Situationistische Internationale unter dem Motto „In girum imus nocte et consumimur igni“.

Musik

Situationistische Ideen, bzw. eine radikale Ästhetik („radical Chic“) wurden von einigen Hardcore-Punk-Bands wie Nation of Ulysses, oder der schwedischen Band Refused aufgegriffen: In ihren beigelegten Booklets forderten sie die Aufhebung der Grenze zwischen Kunst und Leben, was ihrer Meinung nach nur durch revolutionäre Überwindung des Kapitalismus möglich sei. Ebenso wurden die Manic Street Preachers sowie Tocotronic vom Situationismus beeinflusst.

Politik

Die Zeitschrift Pflasterstrand verwies in ihrem Titel auf das berühmte Zitat, geriet inhaltlich aber bald in Widerspruch zu situationistischen Forderungen.

Im angelsächsischen Raum berufen sich verschiedene Gruppen auf situationistische Ideen, etwa Angry Brigade, Class War, Neoismus und die Reclaim the Streets, Adbusters-Kampagnen oder Libre Society.

Die Kritik an der Arbeit wird von Gruppen wie den Glücklichen Arbeitslosen fortgesetzt. Dabei wird die Kritik der Arbeit von der Notwendigkeit einer Kritik von Kapital und Staat getrennt, an diesem Zusammenhang hält die Arbeitskritik der Gruppe Krisis fest. Auch im Rahmen der Kritik am bestehenden Konsumismus wird auf den Situationismus Bezug genommen. [2]

Im Zuge einer aktuellen Diskussion um eine Neubewertung der Bewegung von 1968 in Deutschland, ihrer Motive und Folgen, kommen die Situationisten und ihre Ziele bisher kaum vor, im Vordergrund stehen zeitgenössische Protagonisten in Deutschland wie Rudi Dutschke. [3] Erst in jüngerer Zeit beginnt ein Teil der radikalen Linken in Deutschland den Situationismus zu debattieren. Biene Baumeister et. al. [4] haben ein in diesen Kreisen beachtetes Einführungsbuch veröffentlicht. Darum gab es eine Diskussion in der Szenezeitschrift Phase II. Außerdem scheint sich die Berliner Gruppe „Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft“ [5] locker auf die Situationistische Internationale zu beziehen, deren Texte sie auch verlegen. Interessant in dieser Hinsicht ist auch eine kaum beachtete Szenezeitschrift, die sich schlicht „MAGAZIN“ [6] nennt und welche sich offensichtlich in der Tradition der Situationistischen Internationale verortet – wenn auch die Einflüsse dieser Zeitschrift vielfältig sind und bis zur deutschen Klassik und den französischen Aufklärern reichen. Die beiden letztgenannten Gruppen lehnen sogar das erwähnte Einführungsbuch vehement ab und beschimpfen dessen Autoren in sektiererischer Manier als „Anti-Situationisten“, wobei im Fall des „MAGAZIN“ [7] nicht einmal davor zurückgeschreckt wird, die politischen Gegner öffentlich als „Klobürsten“ zu benennen. Wobei diese Geschmacklosigkeit ganz den Stil der S.I. kopiert.

Philosophie

Von situationistischen Ideen beeinflusst ist die Philosophie der Postmoderne (Poststrukturalismus), beispielsweise frühe Werke des Philosophen Jean Baudrillard („Die Agonie des Realen“), oder der Begriff des Simulacrum. Da Baudrillard die Ununterscheidbarkeit von Realität und Simulation behauptet, läuft seine Theorie auf die Unmöglichkeit von Kritik hinaus.

Der Schriftsteller Greil Marcus stellte in seinem Buch „Lipstick Traces“ geheime gedankliche Verbindungen zwischen manchen Traditionen der christlichen Mystik, der Kunstrichtung Dada, der Frankfurter Schule (Adorno), den Situationisten und Punk her.

Zu den Zeitschriften, die in Frankreich an die situationistische Kritik anknüpften, gehören die von Jaime Semprun geleitete Encyclopédie des Nuisances, zu der Debord einzelne Beiträge schrieb, und der 1997 gegründete Oiseau-tempête. [8]

Subkultur

Malcolm McLaren gibt an, er habe Punk wegen der Situationisten erfunden. Weiters leben Situationistische Strategien und Überzeugungen fort in manchen Aktionen der Kommunikationsguerilla oder der Hacker-Kultur und auch das spätere Konzept der „temporären autonomen Zone“ des Schriftstellers Hakim Bey ähnelt dem der situationistischen Situation.

Siehe auch

  • Politik, Kunst
  • Avantgarde, Underground, Erweiterter Kunstbegriff
  • Dadaismus, Lettrismus, Surrealismus
  • Utopie, Studentenbewegung, Alternativbewegung, 1968
  • Französische Revolution, Mai 68
  • The Revolution Will Not Be Televised
  • An die Lebenden! Text von R. Vaneigem

Literatur

Primärquellen

  • Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten, hrsg. von R. Ohrt, Edition Nautilus, Hamburg 1995
  • Gesammelte Ausgaben des Organs der Situationistische Internationale, 2 Bde., MaD Verlag (Bd. 1), edition nautilus (Bd. 2), 1976/1977 (vergr.)
  • Texte der Situationistischen Internationale, acht Broschüren, hrsg. von den „Freundinnen und Freunden der klassenlosen Gesellschaft“, Berlin 2006/2007 [2]
  • Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels, Bittermann, Berlin 1996
  • Raoul Vaneigem: Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen, Edition Nautilus, Hamburg 1980 (vergr.)
  • Guy Debord: Rapport über die Konstruktion von Situationen und die Bedingungen der Organisation wie Aktion der Situationistischen Internationale und andere Schriften , Edition Nautilus, Hamburg 1980 ((vergr.)
  • Rene Vienet: Paris Mai 68. Wütende und Situationisten in der Bewegung der Besetzungen, hrsg. von den „Freundinnen und Freunden der klassenlosen Gesellschaft“, Berlin 2006 [3]
  • Christopher Gray: Leaving the 20th Century: The Incomplete Work of the Situationist International
  • Ken Knabb: Situationist International Anthology

Sekundärliteratur [Bearbeiten]

  • Marcus Greil: Lipstick Traces. Von Dada bis Punk. Kulturelle Avantgarden und ihre Wege aus dem 20. Jahrhundert, Rogner & Bernhard/Zweitausendeins, Hamburg 1992
  • Roberto Ohrt: Phantom Avantgarde, Edition Nautilus, Hamburg 1997 (umfangreiche kunstgeschichtliche Würdigung, Darstellung der einzelnen Biographien und der Geschichte der Gruppe)
  • Roberto Ohrt: Das große Spiel. Die Situationisten zwischen Politik und Kunst, edition nautilus, 2000
  • Stephan Grigat, Johannes Grenzfurthner, Günther Friesinger: Spektakel - Kunst - Gesellschaft, Verbrecher Verlag, Berlin 2006
  • Biene Baumeister, Zwi, Negator: Situationistische Revolutionstheorie. Eine Aneignung, Schmetterling Verlag, Stuttgart 2004, ISBN 3-89657-586-4
  • Eckhard Siepmann, Dieter Kunzelmann, Wolfgang Dreßen (Hg.): Nilpferd des höllischen Urwalds. Situationisten, Gruppe Spur, Kommune 1, Anabas, Giessen 1991, ISBN 3-87038-172-8
  • Kalle Lasn: Culture Jamming. Die Rückeroberung der Zeichen. orange press GmbH, Freiburg i. Br., 2005
  • Catherine deZegher (Hrsgb.):The Activist Drawing: Retracing Situationist Architectures from Constant's New Babylon to Beyond
  • Pia Wiegmink: Theatralität und öffentlicher Raum. Die Situationistische Internationale am Schnittpunkt von Kunst und Politik, Tectum, Marburg 2005, ISBN 978-3-8288-8935-4
  • Thomas Dreher: Zwischen Kunst und Lebensform: Von den Lettristen zu den Situationisten, in: Neue Bildende Kunst, Nr.6/1992, S. 11-15
  • Zwi Schritkopcher: Die Situationisten (1958-1972). Auftakt zum Westlichen Communismus in: Ãœbergänge N°3/4, 1997
  • Simon Ford: Die Situationistische Internationale. Eine Gebrauchsanleitung, edition nautilus, Hamburg 2007, ISBN 978-3-89401-545-9
  • Selima Niggl: Pinot Gallizio. Malerei am laufenden Meter - München 1959 und die europäische Avantgarde, Edition Nautilus, Hamburg 2007, ISBN 978-3-89401-544-2
  • archplus - Zeitschrift für Architektur, Nr. 183, Mai 2007: Situativer Urbanismus

Anmerkungen und Verweise [Bearbeiten]

1. ↑ Flugblatt der Situationistischen Internationalen: Avantgarde ist unerwünscht! 2. ↑ vgl. die Culture Jammers, Kalle Lasn 2005 3. ↑ Beispielsweise in: Claus Leggewie (taz): Entmystifiziert euch! 4. ↑ vgl. Literatur 5. ↑ Internetpräsenz von „freundinnen und freunde der klassenlosen gesellschaft“ 6. ↑ MAGAZIN-Internetpräsenz 7. ↑ Quellengabe fehlt 8. ↑ Homepage von Oiseau-Tempête. Auf der Homepage beschrieb sich der Oiseau-Tempête am 30. Juli 2004 folgendermaßen: „Oiseau-Tempête (Sturmvogel), eine sozialkritische Revue, wird seit 1997 von einem Kollektiv aus 10-15 Leuten herausgegeben, die verschiedenen politischen Richtungen zuzuordnen sind. Einige sind von anarchistischen oder marxistischen Ideen inspiriert, andere von den Situationisten oder Surrealisten … Das Projekt … ist gleichzeitig ein kommunistisches, libertäres und internationalistisches Projekt. Unser Ziel ist die gemeinsame Nutzung und Verteilung aller Reichtümer und Aufgaben, und wir lehnen jede Form von institutionalisierter Macht und überflüssiger Vermittlung (Mediation) ab. Wir glauben, dass die allgemeine Freiheit die notwendige Bedingung für jegliche individuelle Freiheit ist.“ [1]

Weblinks

Texte von Situationisten

  • situationist international online. Archiv mit fast allen Texten der S.I. (engl.
  • SI-Archiv. Archiv mit deutschen Texten
  • Manifest von Pinot-Gallizio zur industriellen Kunst (engl.)
  • Elementarprogramm für einen unitären Urbanismus, 1961
  • Asger Jorn: Open Creation and its Enemies
  • Texte und Bilder aus der Zeitschrift internationale situationniste
  • Anleitung für den Kampf, in: S.I. Nr. 6
  • Ãœber das Elend im Studentenmilieu, 1966
  • Rene Viénet: Paris, Mai ’68. Die Besetzung der Sorbonne. Auszug aus: Wütende und Situationisten in den Bewegungen und Besetzungen (1968)

Sekundärtexte

  • Thomas Dreher: Zwischen Kunst und Lebensform. Von den Lettristen zu den Situationisten (mit Abbildungen)
  • Zentrum für Kunst und Medientechnologie: Feature zur Ausstellung 2001/2002
  • Kunstwissen.de: Lettristen, Situationisten (mit einem, Glossar)
  • Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft: Kurzer Lehrgang durch die Geschichte der Situationistischen Internationale
  • Die Sex-Pistols und die Situationistische Internationale (Hausarbeit, pdf)
  • Bureau of Public Secretes (Ken Knabb): Zitatsammlung - Zeitgenossen über die S.I. (englisch)
  • Crimethinc. Anarchistisch-situationistische Gruppe (engl.)
  • Theorie-Praxis-Lokal: Situationistische Revolutionstheorie (Seminare und Texte)

Kritik

  • Biene Baumeister, Zwi, Negator: Der deutsche Gedanke. Ãœber situationistische Revolutionstheorie, Europa und Deutschland in: jungle world
  • Lars Quadfasel: Bedürfnis und Befreiung. Zur Kritik der situationistischen Revolutionstheorie in: Phase 2
  • Achim Siehler: Der kleine Schlaf und seine Kunden, in: Herzattacke, Nr. 4/1982
  • Stephan Grigat: Französische Avantgardisten und der Zionismus. Die Situationisten über Israel
  • Hans-Christian Dany: Die ewige Jugend eines beleidigten Masterplans

Bilder, Grafiken, etc.

  • In our spectacular society (Comic)
  • Guy Debord: Guide Psychogeographique de Paris, 1957? (Bild)
  • Asger Jorn: Lockung, 1960 (Bild)

Kategorie:Verwandte Theorien Kategorie:Kunst und Kultur