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Rudolf Rocker/Prinzipienerklärung des Syndikalismus

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Referat des Genossen Rudolf Rocker auf dem 12. Syndikalisten-Kongress, abgehalten vom 27. bis 30. Dezember 1919 in dem „Luisenstädtischen Realgymnasium“ zu Berlin, Dresdener Straße.

Die heutige Gesellschaftsordnung, die auch die kapitalistische genannt wird, gründet sich auf die wirtschaftliche, politische und soziale Versklavung des werktätigen Volkes und findet einerseits im sogenannten „Eigentumsrecht“, d.h. im Monopol des Besitzes, andererseits im Staat, d.h. im Monopol der Macht, ihren wesentlichen Ausdruck.
Durch Monopolisierung des Bodens und der übrigen Produktionsmittel in der Hand kleiner privilegierter Gesellschaftsgruppen sind die produzierenden Klassen gezwungen, ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten den Eigentümern zu verkaufen, um ihr Leben fristen zu können, und müssen infolge dessen einen erheblichen Teil ihres Arbeitsertrages an die Monopolkapitalisten abtreten. Auf diese Weise in die Stellung rechtloser Lohnsklaven gedrängt, haben sie keinerlei Einfluß auf den Gang und die Gestaltung der Produktion, die ganz und gar dem Selbstbestimmungsrecht des Kapitalisten überlassen ist. Es ist daher auch ganz natürlich, daß bei einem solchen Zustand der Dinge die Grundlage der heutigen Gütererzeugung nicht durch die Bedürfnisse der Menschen, sondern in erster Linie durch die Voraussetzung des Gewinns für den Unternehmer bestimmt wird. Da aber dasselbe System auch dem Austausch und der Verteilung der Produkte zugrunde liegt, so sind die Folgen auch auf diesem Gebiet dieselben und finden in der rücksichtslosen Ausbeutung der breiten Massen zugunsten einer kleinen. Minderheit Besitzender ihren Ausdruck. Ist die Beraubung des Produzenten der mehr oder weniger verschleierte Zweck der kapitalistischen Produktion, so ist der Betrug an den Konsumenten der eigentliche Zweck des kapitalistischen Handelns.
Unter dem System des Kapitalismus werden alle Errungenschaften der Wissenschaft und des geistigen Fortschritts den Monopolisten Untertan gemacht. jede neue Entwicklung auf dem Gebiet der Technik, der Chemie usw. trägt dazu bei, die Reichtümer der besitzenden Klasse ins Ungemessene zu steigern, im schauerlichen Gegensatz zu dem sozialen Elend breiter Gesellschaftsschichten und zu der andauernden wirtschaftlichen Unsicherheit der produzierenden Klassen.

Durch den ununterbrochenen Kampf der verschiedenen nationalen kapitalistischen Gruppen um die Beherrschung der Märkte, wird eine ständige Ursache innerer und äußerer Krisen geschaffen, die periodisch in verheerenden Kriegen zur Entladung kommt, unter deren schrecklichen Folgen wiederum die unteren Schichten der Gesellschaft fast ausschließlich zu leiden haben. Die gesellschaftliche Klassenteilung und der brutale Kampf „Aller gegen Alle“, diese charakteristischen Merkmale der kapitalistischen Ordnung, wirken in der selben Zeit auch degenerierend und verhängnisvoll auf den Charakter und das Moralempfinden des Menschen, indem sie die unschätzbaren Eigenschaften der gegenseitigen Hilfe und des solidarischen Zusammengehörigkeitsgefühls, jene kostbare Erbschaft, welche die Menschheit aus den frühen Perioden ihrer Entwicklung übernommen hat, in den Hintergrund drängen und durch krankhafte antisoziale Züge und Gewohnheiten ersetzen, die im Verbrechen, in der Prostitution und in allen anderen Erscheinungen der gesellschaftlichen Fäulnis ihren Ausdruck findet.

Mit der Entwicklung des Privatbesitzes und den damit verbundenen Klassengegensätzen entstand für die besitzenden Klassen die Notwendigkeit einer mit allen technischen Mitteln ausgerüsteten politischen Organisation zum Schutz ihrer Privilegien und zur Niederhaltung der breiten Massen — der Staat. Ist der Staat somit in erster Linie ein Produkt des Privatmonopols und der Klassenteilung, so wirkt er, einmal in Existenz, mit allen Mitteln der List und Gewalt für die Aufrechterhaltung des Monopols und der Klassenunterschiede, folglich für die Verewigung der wirtschaftlichen und sozialen Versklavung der breiten Masse des Volkes und hat sich im Laufe seiner Entwicklung zur gewaltigen Ausbeutungsinstitution der zivilisierten Menschheit emporgeschwungen.
Die äußerliche Form des Staates ändert an dieser geschichtlichen Tatsache nichts. Monarchie und Republik, Despotie oder Demokratie — sie alle stellen nur verschiedene politische Ausdrucksformen des jeweiligen wirtschaftlichen Ausbeutungssystem vor, die sich zwar in ihrer äußerlichen Gestaltung, nie aber in ihrem innerlichen Wesen voneinander unterscheiden und in allen ihren Formen nur eine Verkörperung der organisierten Gewalt der besitzenden Klassen sind.

Mit der Entstehung des Staates beginnt die Ära der Zentralisation, der künstlichen Organisation von oben nach unten. Kirche und Staat waren die ersten Vertreter dieses Systems und sind bis heute seine vornehmsten Träger geblieben. Und da es im Wesen des Staates liegt alle Zweige des menschlichen Lebens seiner Autorität unterzuordnen, so muß die Methode der Zentralisierung desto verhängnisvollere Folgen haben, je mehr der Staat den Kreis seiner Funktionen erweitern und ausbauen konnte. Ist doch der Zentralismus die extremste Verkörperung jenes Systems, das die Regelung der Angelegenheit Aller, einzelnen Personen in Bausch und Bogen überträgt.
Dadurch wird der Einzelne zur Marionette, die von oben her gelenkt und geleitet wird, ein totes Rad in einem ungeheuren Mechanismus. Die Interessen der Allgemeinheit müssen den Privilegien einer Minderheit das Feld räumen, die persönliche Initiative dem Befehl von oben, die Verschiedenartigkeit der Uniformität, die innere Verantwortlichkeit einer toten Disziplin, die Erziehung der Persönlichkeit einer geistlosen Dressur — und das alles zu dem Zwecke, loyale Untertanen heranzubilden, die an dem Fundament des Bestehenden nicht zu rütteln wagen, willige Ausbeutungsobjekte für den kapitalistischen Arbeitsmarkt. So wird der Staat zum mächtigsten Hemmnis jedes Fortschritts und jeder kulturellen Entwicklung, zum festen Bollwerk der besitzenden Klassen gegen die Befreiungsbestrebungen des arbeitenden Volkes.

Die Syndikalisten, in klarer Erkenntnis der oben festgestellten Tatsachen, sind prinzipielle Gegner jeder Monopolwirtschaft. Sie erstreben die Vergesellschaftung des Bodens, der Arbeitsinstrumente, der Rohstoffe und aller sozialen Reichtümer; die Reorganisation des gesamten Wirtschaftslebens auf der Basis des freien, d.h. des staatenlosen Kommunismus, der in der Devise: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach, seinen Bedürfnissen!“ seinen Ausdruck findet.
Ausgehend von der Erkenntnis, daß der Sozialismus letzten Endes eine Kulturfrage ist und als solche nur von unten nach oben durch die schöpferische Tätigkeit des Volkes gelöst werden kann, verwerfen die Syndikalisten jedes Mittel einer sogenannten Verstaatlichung, das nur zur schlimmsten Form der Ausbeutung, zum Staatskapitalismus, nie aber zum Sozialismus führen kann.

Die Syndikalisten sind der Überzeugung, daß die Organisation einer sozialistischen Wirtschaftsordnung nicht durch Regierungsbeschlüsse und Dekrete geregelt werden kann, sondern nur durch den Zusammenschluß aller Kopf- und Handarbeiter in jedem besonderen Produktionszweige: durch die Übernahme der Verwaltung jedes einzelnen Betriebes durch die Produzenten selbst und zwar in der Form, daß die einzelnen Gruppen, Betriebe und Produktionszweige selbständige Glieder des allgemeinen Wirtschaftsorganismus sind, die auf Grund gegenseitiger und freier Vereinbarungen die Gesamtproduktion und die allgemeine Verteilung planmäßig gestalten im Interesse der Allgemeinheit.

Die Syndikalisten sind der Meinung, daß politische Parteien, welchem Ideenkreis sie auch angehören, niemals imstande sind, den sozialistischen Aufbau durchführen zu können, sondern daß diese Arbeit nur von den wirtschaftlichen Kampforganisationen der Arbeiter geleistet werden kann. Aus diesem Grunde erblicken sie in der Gewerkschaft keineswegs ein vorübergehendes Produkt der kapitalistischen Gesellschaft, sondern die Keimzelle der zukünftigen sozialistischen Wirtschaftsorganisation. In diesem Sinne erstreben die Syndikalisten schon heute eine Form der Organisation, die sie befähigen soll, ihrer großen historischen Mission und in derselben Zeit dem Kampfe für die täglichen Verbesserungen der Lohn- und Arbeitsverhältnisse gerecht zu werden.
An jedem Ort schließen sich die Arbeiter der revolutionären Gewerkschaft ihrer resp. Berufe an, die keiner Zentrale unterstellt ist, ihre eigenen Gelder verwaltet und über vollständige Selbstbestimmung verfügt. Die Gewerkschaften der verschiedenen Berufe vereinigen sich an jedem Orte in der Arbeiterbörse, dem Mittelpunkt der lokalen gewerkschaftlichen Tätigkeit und der revolutionären Propaganda. Sämtliche Arbeiterbörsen des Landes vereinigen sich in der Allgemeinen Föderation der Arbeiterbörsen, um ihre Kräfte in allgemeinen Unternehmungen zusammenfassen zu können.
Außerdem ist jede Gewerkschaft noch föderativ verbunden mit sämtlichen Gewerkschaften desselben Berufs im ganzen Lande und diese wieder mit den verwandten Berufen, die sich zu großen allgemeinen Industrieverbänden zusammenschließen. Auf diese Weise bilden die Föderation der Arbeiterbörsen und die Föderation der Industrieverbände die beiden Pole, um die sich das ganze gewerkschaftliche Leben dreht.

Würden nun bei einer siegreichen Revolution die Arbeiter vor das Problem des sozialistischen Aufbaues gestellt, so würde sich jede Arbeiterbörse in eine Art lokales statistisches Büro verwandeln, und sämtliche Häuser, Lebensmittel, Kleider usw. unter ihre Verwaltung nehmen. Die Arbeiterbörse hätte die Aufgabe, den Konsum zu organisieren und durch die Allgemeine Föderation der Arbeiterbörsen wäre man dann leicht Imstande, den Gesamtverbrauch des Landes zu berechnen und auf die einfachste Art organisieren zu können.
Die Industrieverbände ihrerseits hätten die Aufgabe, durch die lokalen Organe und mit Hilfe der Betriebsräte sämtliche vorhandenen Produktionsmittel, Rohstoffe usw. unter ihre Verwaltung zu nehmen und die einzelnen Produktionsgruppen und Betriebe mit allem Notwendigen zu versorgen. Mit einem Worte: Organisation der Betriebe und Werkstätten durch die Betriebsräte; Organisation der allgemeinen Produktion durch die industriellen und landwirtschaftlichen Verbände; Organisation des Konsums durch die Arbeiterbörsen.
Als Gegner jeder staatlichen Organisation verwerfen die Syndikalisten die sogenannte Eroberung der politischen Macht, und sehen vielmehr in der radikalen Beseitigung jeder politischen Macht die erste Vorbedingung zu einer wahrhaft sozialistischen Gesellschaftsordnung. Die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ist aufs engste verknüpft mit der Beherrschung des Menschen durch den Menschen, so daß das Verschwinden der einen notwendigerweise zum Verschwinden der anderen führen muß.
Die Syndikalisten verwerfen prinzipiell jede Form der parlamentarischen Betätigung, jede Mitarbeit in den gesetzgebenden Körperschaften ausgehend von der Erkenntnis, daß auch das freieste Wahlrecht die klaffenden Gegensätze innerhalb der heutigen Gesellschaft nicht mildern kann und daß das ganze parlamentarische System nur den Zweck verfolgt, dem System der Lüge und der sozialen Ungerechtigkeit den Schein des legalen Rechts zu verleihen — den Sklaven, zu veranlassen, seiner eigenen Sklaverei den Stempel des Gesetzes aufzudrücken.
Die Syndikalisten verwerfen alle willkürlich gezogenen politischen und nationalen Grenzen; sie erblicken im Nationalismus lediglich die Religion des modernen Staates und verwerfen prinzipiell alle Bestrebungen zur Erzielung einer sogenannten nationalen Einheit, hinter der sich doch nur die Herrschaft der besitzenden Klassen verbirgt. Sie anerkennen nur Unterschiede regionaler Natur und fordern für jede Volksgruppe das Recht, ihre Angelegenheiten und ihre besonderen Kulturbedürfnisse gemäß ihrer eigenen Art und Veranlagung erledigen zu können im solidarischen Einverständnis mit allen anderen Gruppen und Volksverbänden.
Die Syndikalisten stehen auf dem Boden der direkten Aktion und unterstützen alle Bestrebungen und Kämpfe des Volkes, die mit ihren Zielen — der Abschaffung der Wirtschaftsmonopole und der Gewaltherrschaft des Staates nicht im Widerspruch stehen. Ihre Aufgabe ist es, die Massen geistig zu erziehen und in den wirtschaftlichen Kampforganisation zu vereinigen, um dieselben durch die direkte wirtschaftliche Aktion, die im sozialen Generalstreik ihren höchsten Ausdruck findet, der Befreiung vom Joche der Lohnsklaverei und des modernen Klassenstaates entgegen zu führen.
Wenn ich das Wort zu einer näheren Begründung der Prinzipienerklärung ergreife, so ist es deshalb, weil wir alle das Bedürfnis empfinden, gerade jetzt, in unserer vielbewegten Zeit, den Grundsätzen und taktischen Methoden des Syndikalismus in der klarsten und bestimmtesten Form Ausdruck zu geben. Man hat sehr viel debattiert über den Namen unserer Bewegung und viele Genossen hier haben Anstoß genommen an dem Wort „Syndikalismus“. Aber vergessen wir doch nicht, daß es nicht auf das Wort, sondern auf die Idee ankommt, die eine Bewegung deckt. In den meisten Fällen sind es die Gegner, die einer Partei ihren Namen aufzwingen. Daher kommt es, daß die meisten Worte, die den Tageskampf beherrschen, in der Regel ganz nichtssagender Natur sind, wenn man sie rein etymologisch beurteilt. Das Wort Bolschewismus, das heute zum Schreckgespenst Europas geworden ist, und dem Sinn nach nicht mehr bedeutet als Mehrheitsrichtung, ist der beste Beweis dafür. Aber auch das Wort „Sozialismus“ drückt eigentlich nur den Gedanken der Gemeinschaft aus, ebenso das Wort „Kommunismus“. Dasselbe ist mit dem Wort „Syndikalismus“ der Fall, das nicht mehr wie Vereinigung heißt. Es gibt kapitalistische und es gibt gewerkschaftliche Syndikate. Es handelt sich also nicht um das Wort an und für sich, sondern um die Idee, die es deckt. Wenn das Wort den Gegnern der Volksbestrebungen heute verhaßt ist, so ist es deshalb, weil die Bestrebungen und Methoden der syndikalistischen Bewegung den herrschenden Klassen gefährlich erscheinen. Es gab eine Zeit, wo das Wort „Christ“ allgemein verpönt war, und wenn wir uns heute die Freie Vereinigung katholischer Klosterbrüder nennen würden, so wäre das Resultat ganz dasselbe. Man braucht sich auf das Wort „Syndikalismus“ ja nicht versteifen; allein es gibt einen Umstand, der uns gerade verpflichtet, den alten, sturmerprobten Namen auch fernerhin beizubehalten. Unsere Bewegung ist nämlich nicht nur nationaler, sondern internationaler Natur. Der in Deutschland so verpönte Syndikalismus ist in manchen Ländern die wirtschaftliche Einheitsorganisation des Proletariats geworden, deshalb ist das Wort das Erkennungszeichen, das uns mit unseren Brüdern jenseits der deutschen Grenzen verbündet. Das sollte auch den Genossen zu denken geben, die da glauben, das Wort Syndikalismus aus praktischen Gründen ablehnen zu müssen.

Und nun zur Sache. Als ich vor einiger Zeit — es sind wohl sechs oder sieben Monate her — im „Syndikalist“ einen Artikel über die Grundzüge unserer Bewegung veröffentlicht hatte, da nahm die kommunistische Presse alsbald Stellung gegen meine Ausführungen. Der Bremer „Kommunist“ erklärte, daß man über derartige Anschauungen schon längst zur Tagesordnung übergegangen sei, seitdem Marx dem Föderalismus Bakunins ein für alle mal erledigt habe. Diese guten Leutchen, die von den Kämpfen in der Internationale keinen blassen Schimmer haben, haben sich niemals die Frage vorgelegt, woher es kommt, daß dieser Punkt in gewissen Perioden stets von neuem in der Arbeiterbewegung auftaucht. Das momentane Übergewicht der sozialdemokratischen Zentralisationsbestrebungen über den föderalistischen Sozialismus der romanischen Länder war nur das Ergebnis einer Verschiebung der Machtverhältnisse in Europa, unter denen der deutsch-französische Krieg 1870-71 die wichtigste Rolle spielte, aber es war keineswegs eine Entscheidung. Eine scharf umrissene Idee mag für eine gewisse Zeit lang in den Hintergrund treten und gezwungen sein, der Rechnungsträgerei der Kompromißler das Feld zu räumen, aber die Zeit kommt, wo man sich ihrer erinnert. Wir haben gegenwärtig den blutigsten Teil einer Weltkatastrophe hinter uns, doch die Katastrophe selbst ist nicht beendet, wir leben mitten in ihr und harren der Dinge, die da kommen werden. Eine alte Welt ging unrettbar zugrunde und kann nie wieder aufgerichtet werden. Der Krieg zeigte uns, daß man in wenigen Jahren mehr zerstören kann, als man in Jahrhunderten aufzubauen imstande ist.
Als sich die fürchterlichen Folgen der Katastrophe bemerkbar machten, da fing man auch im Lager der deutschen Arbeiterschaft an zu begreifen, daß die Führer der sozialdemokratischen Partei und der Zentralgewerkschaften, die fünfzig Jahre lang mit ihrem wissenschaftlichen Sozialismus hausieren gingen und für alle Dinge ein entsprechendes Rezept zu haben behaupteten, total versagt hatten. Nicht nur, daß sie den Krieg nicht verhindern konnten und ihn bis zum bitteren Ende restlos unterstützten. Aber als der Zusammenbruch kam,und die Regierungsgewalt ihnen mühelos in die Hand fiel, ihnen, die seit Jahrzehnten die Eroberung der politischen Macht als erstes Ziel der Arbeiterklasse auf ihren Fahnen geschrieben hatten, da wußten sie nichts mit der Macht anzufangen. Das brachte viele Arbeiter zum Nachdenken, und dies ist auch die Ursache, warum sich unsere Bewegung, die sich früher überall an den Mauern der zentralistischen Gewerkschaften und an dem Schlagwörtertum der Parteien wund stieß, seit der Revolution einen so ungeahnten Aufschwung nehmen konnte. Wohl mußte zunächst ein wüstes Chaos bestehen, das auch heute noch die deutsche Arbeiterbewegung beherrscht, aber aus dem großen Tohuwabohu heben sich die Prinzipien des Syndikalismus immer deutlicher ab. Der Syndikalismus ist heute die Richtung, die klipp und klar sagen kann, was sie will. Daß die Entwicklung verhältnismäßig langsam vor sich geht, ist nicht anders zu erwarten. Ein Proletariat, das fünfzig Jahre lang in die Schule eines bis auf die Spitze getriebenen Zentralismus erzogen wurde, kann nicht seine Ansichten im Handumdrehen ändern. Jede Erkenntnis ist eine Geburt, die sich durch Wehen durchdringen muß; doch steckt in einer Bewegung ein gesunder Kern, der den Bedürfnissen der breiten Massen entspricht, so wird sie sich unter allen Umständen durchringen.
Auch die freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften hat eine lange aber konsequente Entwicklung durchmachen müssen, ehe sie sich von den sozial-demokratischen Irrgängen freimachte und folgerichtig beim Syndikalismus ankam. Offen gesagt, freue ich mich darüber, daß dieser Entwicklungsgang so langsam vonstatten gegangen ist. Die schnellen Entwicklungen taugen in der Regel nicht viel. Es gilt da dasselbe wie beim einzelnen Menschen. Ein einzelner Mensch, der von einem Grundsatz schnell zum anderen überspringen kann, an dem ist meist nicht viel gelegen, aber wer sich schwer zu einer andern Ansicht durchringt, von dem können wir eher voraussetzen, daß das Neue ihm ernst ist. So ist es auch mit der syndikalistischen Bewegung in Deutschland. Die deutsche Arbeiterbewegung hat bisher nur die Prinzipien einer Schule kennen gelernt. Sie ist heute noch unbekannt mit der Geschichte der sozialistischen Bewegung. Freuen wir uns, daß wir den Geburtsakt hinter uns haben. Ich habe heute in der Berichterstattung eines Blattes gesehen, daß man mir die Worte in den Mund legt, sämtliche Syndikalisten müßten die politischen Parteien verlassen. Das ist mir nicht eingefallen zu sagen. Wir erklären: Für uns ist die wirtschaftliche Kampforganisation die Organisation. Ob der eine oder der andere Genosse sich einer politischen Partei anzuschließen für nötig hält, mag seine Sache sein. Als Organisation haben wir mit politischen Parteien nichts zu tun. Um das klar verstehen zu können, ist es notwendig, die Stellung des Sozialismus zur Wirtschaftsorganisation und zur politischen Partei einer näheren Erörterung zu unterziehen. Die deutsche Arbeiterklasse hat den Sozialismus bisher nur in einer Form kennen gelernt, als politische Parteiorganisation. Es gibt wenig deutsche Arbeiter, die sich eine sozialistische Bewegung außerhalb des Rahmens einer politischen Partei vorstellen können, und diejenigen, die sich die radikalsten dünken, sind noch mit den Eierschalen ihrer Erziehung behaftet. Trotzdem sehen wir eine merkwürdige Erscheinung, die charakteristisch für alle Länder ist. Jede politisch-sozialistische Partei hat bisher erklärt, daß die wirtschaftliche Organisation zwar ihre Bedeutung hat, daß aber die Hauptgrundlage der Bewegung die politische Parteiorganisation sein müsse. Man behauptet, daß eine wirtschaftliche Kampforganisation nur über ein beschränktes Waffenarsenal im Kampf gegen den Kapitalismus verfügen könne, daß deshalb eine politische Partei notwendig sei, um den Kämpfen die machtvollen Waffen zu verleihen, die die wirtschaftliche Organisation nicht haben kann. Wenn sie fragen, woraus diese Waffen bestehen, dann werden sie einem Achselzucken begegnen. Die politische Partei hat nämlich gar nichts zu vergeben — außer den Parlamentarismus —, über das die wirtschaftliche Organisation nicht in viel höherem Maße verfügen könnte. Die sonderbarste Erscheinung besteht aber darin, daß die politischen Parteien, speziell in Deutschland, angesichts der Krise im wirtschaftlichen Leben und angesichts der Tatsache, daß das Prestige des Parlamentarismus durch den Krieg völlig verloren ging, genötigt sind, die Kampfesmittel der wirtschaftlichen Organisationen zu plündern, um sich aufrecht erhalten zu können. Dieselben Leute, die niemals vom Generalstreik, vom Boykott etwas wissen wollten, die ganz und gar auf die parlamentarische Taktik eingeschworen waren, gehen nun daran, Ideen, wie das Rätesystem, den Generalstreik und direkte Aktionen zu vertreten. Deshalb nur, weil ihre alten Mittel verbraucht sind und weil ihre Waffenkammer über nichts Neues mehr verfügt. So sehen wir, daß dieselben Leute, die den Syndikalismus aufs bitterste bekämpfen und erklären, daß wir die „Zersplitterer der Arbeiterbewegung“ sind, mit der anderen Hand nach unserer Rüstkammer greifen und alle die Ideen benutzen, die jahrzehntelang von den Syndikalisten vertreten und angewendet werden.
Es gab eine Zeit, wo die Sozialisten gar nicht daran dachten, politische Parteien ins Leben zu rufen. Die politische Parteigruppierung war die Organisationsmethode der Bourgeoisie. Die Bourgeoisie hatte sich durch die großen Revolutionen in England und Frankreich in den Besitz der politischen Macht gesetzt, nachdem sie vorher schon einen großen Teil der wirtschaftlichen Macht in ihren Händen hatte und hatte auf diese Weise die Herrschaft der alten Autokratie gebrochen. Da sie aber keineswegs die Absicht hatte, das System der Herrschaft zu vernichten, sondern nur die Form des Staates ändern wollte, so war die Eroberung der Macht für die bürgerlichen Parteien nicht nur eine Frage der Zweckmäßigkeit, sondern eine notwendige Voraussetzung ihrer ganzen späteren politischen und sozialen Entwicklung. Die französische Revolution stürzte das Regiment des Absolutismus und setzte an diese Stelle das Vertretungssystem, die parlamentarische Regierung. Die Vertreter des Bürgertums sagten dem Volke: Du bist nicht mehr der Untertan des Staates, sondern der Mitregierer. Das allgemeine Wahlrecht gibt dir die Möglichkeit, deine Regierer selbst zu wählen. So entstand die parlamentarische Form des politischen Herrschaftssystems und mit ihr das Streben der verschiedenen bürgerlichen Parteien nach dem Besitze der politischen Macht. An die Stelle des einen Königs war der König mit dreihundert Köpfen getreten; anstatt daß früher einige die Ketten für alle schmiedeten, schmiedete nunmehr jeder seine eigenen Ketten. Aber dieses Streben nach der Eroberung der politischen Macht hat im Grunde genommen mit dem Sozialismus überhaupt nichts zu tun; es ist ganz und gar dem Lager der Bourgeoisie entsprossen. Dieselben Leute, die uns heute bei jeder Gelegenheit kleinbürgerliche Ideengänge vorwerfen, sind nicht mehr als die Testamentsvollstrecker einer rein bourgeoisen Idee — der Eroberung der politischen Macht.
Die erste sozialistische Bewegung Europas entwickelte sich ja gerade im Gegensatz zu diesen Bestrebungen der Parteipolitik. Ihre ersten Pioniere sahen die großen politischen Kämpfe der Parteien während und kur nach der großen Revolution und kamen zu dem Schluß, daß die Lösung des wirtschaftlichen Problems sich auf einem anderen Boden abspielen müsse als auf dem Boden der Staats- und Parteipolitik. Die Anhänger Saint-Simons, Fouriers, Cabets usw. versuchten zunächst durch kleine praktische sozialistische Versuche die Vorzüglichkeit ihrer Anschauungen gegenüber dem Kapitalismus zu beweisen. So entstand der sogenannte Experimentalsozialismus, der aber bei den Arbeitern wenig Widerhall fand und nach zahlreichen verfehlten Versuchen vom Schauplatz abtreten mußte.
In den sogenannten Arbeitassoziationen, die sich in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelten und bis zum Staatsstreiche Louis Bonapartes bestanden, schuf sich der französische Sozialismus seine ersten Organe in der Arbeiterschaft. Diese Körperschaften, deren es in Frankreich über 3.000 gab, verfolgten den Zweck, durch Produktionsgenossenschaften in allen Industrien die Organisation der Produktion in die Hände der Arbeiter zu bringen. Einige dieser Assoziationen waren nicht nur genossenschaftlicher, sondern zu derselben Zeit auch gewerkschaftlicher Natur und sichten den Kampf gegen den Kapitalismus von zwei Seiten zu führen. In allen diesen Fällen handelte es sich um wirtschaftliche Organisationen und nicht um politische Parteigruppierungen.
Auch in England vollzog sich die Entwicklung auf ähnliche Weise. Das rasche Emporkommen des Kapitalismus führte dort zu der Gründung der ersten Gewerkvereine, die zunächst den sozialistischen Ideengängen ferne standen. Als endlich in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts Robert Owen, der große Pionier des Sozialismus, in England den Versuch machte diesen Körperschaften eine sozialistische Seele einzuhauchen, da war der Grundgedanke zu der neuen Bewegung der, durch die wirtschaftliche Kampforganisation die Lage der Arbeiter innerhalb der heutigen Gesellschaft möglichst zu verbessern und dieselbe zum Ausgangspunkt einer Reorganisation der Gesellschaft im Sinne des Sozialismus zu machen.
Im Jahre 1855 verließen in Spanien 100.000 katalonische Arbeiter die Betriebe und Fabriken, um sich das Koalitionsrecht zu erkämpfen. Die Regierung, die durch diese Bewegung vollständig überrascht wurde, mußte sich zuletzt dem Willen der Arbeiter fügen. Diese Bewegung erkämpfte also mit rein wirtschaftlichen Mitteln ein politisches Grundrecht der Arbeiterschaft.
Alle diese Bewegungen des westeuropäischen Proletariats spielten sich ab in einer Zeit, als in Deutschland kaum die ersten Ansätze einer sozialistischen Bewegung zu erkennen waren.
Als im Jahre 1864 die „Internationale“ gegründet wurde, war dies nichts anderes als ein Versuch alle wirtschaftlichen Kampforganisationen der europäischen Arbeiterschaft in einem großen internationen Bunde zu vereinigen. Die „Internationale“ war um Grunde genommen nichts anderes als eine große Gewerkschaft, eine wirtschaftliche Kampforganisation, die die Abschaffung der Lohnsklaverei auf ihre Fahne geschrieben hatte. In ihrem Schoße entwickelten sich alle jene Bestrebungen, wie der Rätegedanke, die Idee des Generalstreiks usw., die man heute wieder als neu erachtet, die es aber in Wirklichkeit gar nicht sind. Allerdings darf man nicht vergessen, daß die Internationale gerade in Deutschland äußerst wenig Widerhall gefunden hat; denn während sie in Frankreich, der Schweiz, Spanien, Belgien und England Millionen Mitglieder hatte, gab es in Deutschland deren kaum zweihundert. Die ganzen Ideenentwicklungen, die inneren Auseinandersetzungen und die späteren Kämpfe innerhalb des großen Bundes gingen an unserem Lande fast spurlos vorüber.

Es war die Frage der parlamentarischen Politik, welche die Internationale zuerst zerklüftete und zuletzt zu einer endgültigen Spaltung der internationalen Arbeiterbewegung führte. Marx und Engels waren es, die auf der berüchtigten Londoner Konferenz im Jahre 1871 die Sektionen und Landesföderationen der Internationale zwingen wollten, die parlamentarische Aktion als obligatorisch anzuerkennen, mit andern Worten, die die Internationale in eine gewöhnliche Wahlmaschine zu verwandeln versuchten. Dies führte zu dem großen Protest der Arbeiterschaft in den romanischen Ländern. Die Spanier, Italiener, französischen Schweizer, Belgier, Holländer empörten sich gegen die Diktatur des sogenannten Generalrats und gingen ihren eigenen Wege, indem sie den ursprünglichen Prinzipien der Internationale treu blieben.
Aus dem allen ersehen sie, daß die erste Phase der sozialistischen Arbeiterbewegung vorwiegend wirtschaftlicher Natur war. Ihr wirtschaftlicher Charakter führte sie zu Beziehungen mit den Brüdern anderer Länder und zur Gründung der Internationale. So lange das Prinzip der wirtschaftlichen Kampforganisation das maßgebende blieb, wußte man nichts von einer Spaltung. Wohl gab es verschiedene Doktrinen und Theorien, denn niemals wird in der Arbeiterbewegung die Einigkeit einer Kirche bestehen können; aber es bestand eine faktische und praktische Einigkeit und das wirtschaftliche Element, die ökonomische Kampforganisation war die Basis dieser inneren Einheit. Erst als man versuchte den bürgerlichen Bazillus, die Idee von der Eroberung der politischen Macht, in die wirtschaftliche Kampforganisation einzuschmuggeln, entstand die innere Zersetzung, die Spaltung in der internationalen Arbeiterbewegung. Dies sollte uns zu denken geben, denn es zeigt uns, daß das wirtschaftliche Element eint, das politisch-parlamentarische aber zerstört und spaltet. Sage man uns nicht, daß es auch verschiedene gewerkschaftliche Organisationen gibt, die sich einander gegenüberstehen, christliche, Hirsch-Dunkersche, freie Gewerkschaften usw. Der Fehler dieser Organisationen besteht ja gerade darin, daß sie von bestimmten politischen Parteien für ganz bestimmte Zwecke ins Leben gerufen werden und unter deren Kontrolle stehen. Alle Spaltungen und Zersplitterungen im Schoße der modernen Arbeiterbewegung werden hauptsächlich durch das zersetzende, an sich rein bürgerliche Element der parlamentarischen Parteipolitik hervorgerufen.
Nun hat man uns Syndikalisten, die wir im Grunde genommen nur die Erbschaft des linken Flügels der Internationale angetreten haben, vorgeworfen, daß wir eigentlich keine Sozialisten seien, indem wir das Privatmonopol keineswegs abschaffen, sondern lediglich dem Kapitalismus eine neue Form geben wollten. Diese Behauptung macht gegenwärtig die Runde durch die ganze linksradikale Parteipresse, deren Auffassungen über unsere Bewegung allerdings durch keinerlei Kenntnisse getrübt werden. Jedes Syndikat — so behauptet man — soll der Eigentümer des bestimmten Betriebes oder der bestimmten Industrie werden und auf eigene Rechnung darauf loswirtschaften, unbekümmert um die anderen. Muß es erst gesagt werden, daß ein solcher „Syndikalismus“ lediglich in den Köpfen unserer Gegner existiert, gerade die Syndikalisten sind die ausgesprochensten und überzeugtesten Vertreter des Kommunismus, was man allerdings von denen, die diesen Namen heute als Parteietiquette benutzen, nicht sagen kann.
Die meisten älteren Vorläufer des modernen Sozialismus, die, wie z.B. Charles Fourier, eine Entlohnung nach dem Kapital, der Arbeit und dem Talent anstrebten, gelangten nicht zu einer vollständigen Aufhebung des Lohnsystems. Die spätere, sogenannte mutualistische Richtung, die hauptsächlich den Ideengängen Proudhons folgte, ging von dem Grundsatz aus, daß Grund und Boden, die nicht von Menschenhand seien, als Gemeineigentum betrachtet werden müßten, daß aber die Produktionsinstrumente und Arbeitserzeugnisse, die durch die menschliche Arbeit hervorgebracht werden, Besitztum der Einzelnen bleiben sollten. Der sogenannte Kollektivismus, der sich später im Schoße der Internationale entwickelte, ging einen Schritt weiter und erklärte, daß nicht nur die Erde, sondern auch Maschinen, Werkzeuge, Fabriken, Verkehrsmittel usw. als Gemeineigentum zu betrachten seien, und anerkannte nur das individuelle Eigentumsrecht auf die Arbeitsprodukte. Diese Richtung stützte sich vorwiegend auf die Annahme der Ökonomisten Ricardo, Proudhon und Marx, die der Meinung waren, daß der Wert einer Ware durch die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, die zu ihrer Herstellung erforderlich ist, bemessen werden könne und stellte daher den Grundsatz auf: „Jedem der volle Ertrag seiner Arbeit“. Erst später, als man erkannte, daß die Arbeitszeit keineswegs als Wertmesser dienen könne, daß sich der individuelle Wert der Arbeit überhaupt nicht berechnen lasse, kam man zu der Überzeugung, daß nicht nur die Erde und die übrigen Produktionsmittel, sondern auch die Arbeitserzeugnisse als Gemeineigentum betrachtet werden müssen. Dies war der moderne Kommunismus. Männer wie Cafiero, Guillaume, Kropotkin und andere waren seine hervorragendsten Vertreter. Sie verstanden unter Kommunismus die vollständige Abschaffung des Lohnsystems und im Gegensatz zu den staatssozialistischen und autoritären Bestrebungen der älteren „kommunistischen“ Schulen nannten sie sich freiheitliche oder anarchistische Kommunisten. Das Motto dieser Richtung ist: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinem Bedürfnis.“ Der Kommunismus in diesem Sinne ist also die entwickeltste Form der modernen sozialistischen Bewegung, zu dessen Grundsätzen wir uns restlos bekennen. Aus diesem Grunde ist es einfach absurd uns vorzuwerfen, daß wir an Stelle des Privatmonopols das Monopol der Syndikate setzen wollten. Wir sind der Meinung, daß die Erde, die Arbeitsinstrumente und die Arbeitserzeugnisse in Gemeineigentum umgewandelt werden müssen, daß sie weder das Monopol einzelner Individuen noch das bestimmter Gruppen bleiben sollen. Aber die Produktion erfordert eine Regelung, das Besitztum der Allgemeinheit muß verwaltet werden. Und da sind wir Syndikalisten der Ansicht, daß die Verwaltung der Betriebe nur durch die Arbeiter der betreffenden Industrien und Produktionszweige besorgt werden kann, daß kein anderer als sie zu dieser Funktion berufen ist. Der Syndikalismus erstrebt eine Reorganisation der Gesellschaft von unten nach oben durch die Arbeiter selbst.

Hier kommen wir zu einem Punkte, der uns von allen Spielarten des Staatssozialismus grundsätzlich unterscheidet und der unsere Stellung zum Staate selbst ein für allemal bestimmt. Der Staat ist keine willkürliche Einrichtung, keine zufällige Erfindung, sondern eine Institution, die sich unter dem Drucke besonderer wirtschaftlicher und sozialer Bedingungen entwickelt hat. Nachdem im Schoße der mittelalterlichen Gesellschaft das Privatmonopol und die Klassenteilung immer schärfer hervortraten, entstand für die besitzenden Klassen die Notwendigkeit, eine Institution ins Leben zu rufen, welche ihnen die Nutznießung der wirtschaftlichen Ausbeutung sichern sollte. Dies war der Staat, der in allen seinen verschiedenen Formen dieser Aufgabe gerecht zu werden versuchte und stets versuchen wird. Aus diesem Grunde sind wir der Ansicht, daß nicht die Eroberung, sondern die Abschaffung des Staates das politische Ziel der Arbeiterbewegung sein muß. Nun behaupten die Marxisten der verschiedenen Schattierungen und vorzüglich unsere kommunistischen Stiefbrüder, daß sie gegen dieses Ziel nichts einzuwenden hätten, daß aber der Staat, und zwar in der Form einer sogenannten revolutionären Regierung als Übergangsstadium dienen müsse, um der Gesellschaft die nötigen Maßregeln zur Durchführung des Sozialismus gewissermaßen von oben nach unten diktieren zu können. Aber dieselben Leute sind von der Staatsidee so gründlich durchsetzt, daß sie die ganze innere Organisationsform ihrer respektiven Parteien dem Staaten abgelauscht und nachgeahmt haben und dieselbe bis zu des Messers Schneide verteidigen. ich spreche hier von der Organisationsform des Zentralismus, die ein direktes Produkt des Staates ist.

Man bekämpft uns Syndikalisten hauptsächlich deshalb, weil wir ausgesprochene Föderalisten sind. Föderalismus, sagt man uns, ist die Zersplitterung der Arbeiterbewegungen. Nein. Zentralismus ist die einzige Form, die Massen zu einheitlichen Aktionen heranzubilden. Untersuchen wir diese Frage etwas näher. Ich sagte Ihnen schon früher, daß mit der Entwicklung des modernen Staates in Europa das Prinzip der Zentralisation seinen Einzug hielt. Vor der Entstehung des Staates kannte man den Zentralismus nicht. Die früheren gesellschaftlichen Organisationen waren durchaus föderalistischer Natur. Der Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft kann niemals stark genug betont werden. Unter gesellschaftlicher Organisation verstehen wir ein Gebilde, das sich von unten nach oben entwickelt, durch die Bedürfnisse der Menschen und die Gemeinschaftlichkeit ihrer Interessen. Der Zweck der gesellschaftlichen Organisation ist die Verteidigung und Wahrung der allgemeinen Interessen.
Staatsorganisation ist künstliche Organisation von oben nach unten, die der breiten Masse durch eine kleine Minderheit Privilegierter aufgezwungen wird. Ihr Zweck ist nicht die Wahrnehmung allgemeiner Interessen, sondern die Verteidigung der Sonderinteressen einer kleinen Minderheit Bevorrechtigter auf Kosten des ganzen Volkes. Haben wir einmal diesen wesentlichen Unterschied erfaßt, so begreifen wir auch die eigentliche Bedeutung der beiden sich einander ausschließenden Organisationsformen des Föderalismus und den Zentralismus. Alle Gesellschaftsformen vor der Entstehung des Staates waren ihrem Wesen nach föderalistisch. Die Stammverbände der Urzeit, die späteren Markgenossenschaften, die Gildeorganisationen der freien Städte, in denen die Kultur einen so glänzenden Ausdruck fand, sie alle trugen denselben Charakter. Gerade die Gildeorganisationen des Mittelalters geben uns in dieser Hinsicht ein geradezu glänzendes Beispiel. Sie machten den ersten großen Versuch, die Industrie und den Handel zu sozialisieren. Jeder Künstler und Handwerker gehörte einer Gilde an, die eine selbständige Körperschaft und in derselben Zeit mit allen anderen Gilden föderalistisch verbunden war, um gemeinschaftliche Unternehmungen durchzusetzen. Die wirtschaftlichen Organisationen entsandten ihre Delegierte in die Kommunalverwaltung und bildete so die politische Verwaltung der Stadt. Berufspolitiker und Parteien im heutigen Sinne existierten damals nicht; sie entstanden erst mit der Entwicklung des Staates.
Diese mächtige Organisation starb keineswegs an Altersschwäche, wie man so oft behauptet, sondern wurde mit Feuer und Schwert von den Machthabern der Staatsorganisation ausgerottet. Die Einfälle barbarischer Völkerschaften im Osten Europas, das Vordringen der Araber im Westen führte zu der Gründung großer Kriegsorganisationen, aus denen die ersten Elemente des Staates erwachsen sind. Und mit der Entwicklung des Staates entstand auch eine neue Form der Organisation, der Zentralismus, der in dem sogenannten Vertretungsstaat seine höchste Stufe erreichte. Der Staat hatte ein Interesse daran, alle Zweige der menschlichen Betätigung unter seine Kontrolle zu bringen, das Gewissen, den Geist, die Fähigkeit der Menschen zu schablonisieren. Der Einzelne war für ihn nur ein Rad, eine Schraube in einem großen Mechanismus. Unterschiede durfte es nicht geben. Der Zentralismus ist die Organisation der Gesellschaft von oben nach unten, um die Interessen der herrschenden Klassen aufrechtzuerhalten. Das fürchterliche Verhängnis besteht ja gerade darin, daß die deutsche Arbeiterklasse ihre Organisationsformen nicht den freien Verbänden der Vergangenheit entlehnte, sondern die starren Formen der reaktionärsten der Mächte, Staat und Kirche, nachahmte.
Der Zentralismus hatte aber noch eine andere Folge. Unter dem Föderalismus bildete die Selbstverantwortlichkeit, das Eintreten des Einzelnen und der Gruppen für ihre Handlungen die moralische Grundlage ihrer Betätigung. Das hörte auf im Staate. Der Staat zentralisierte auch die Verantwortlichkeit. Wenn ein Inquisitor Tausende von Ketzern verbrennen konnte, so michte er es tun, weil ihn persönlich keine Verantwortung traf. Er war das Werkzeug einer höheren Instanz, der Kirche, die befahl, und er führte aus. Wenn der Soldat im Kriege auf Befehl seiner Kommandierenden Städte in Brand steckt und den Tod durch die Lande trägt, so trifft ihn persönlich keine Verantwortung, da er nur das Instrument einer Zentralmacht ist, ein ausführendes Organ, ein Rad, das zur Tätigkeit von einer höheren Instanz bewegt wird. Wenn ein Henker mit kaltem Blute einem Menschen den Strick um den Hals legt, und trotzdem ihm das Gewissen und Herz nicht schlägt, so deshalb, weil er nur das ausführende Organ einer höheren Instanz ist. Sie haben ja gerade in der Zeit unseres Noske-Regiments die beste Illustration meiner Behauptung. Die kostbarste moralische Eigenschaft, die der Mensch aus uralten Zeiten empfangen hat, der Begriff der Verantwortlichkeit und der Solidarität, wird durch die Zentralisationsmethode des Staates und der Kirche unterdrückt. Und wenn sie die Parteien betrachten, die genau auf derselben Grundlage organisiert sind, so kommen Sie zu genau denselben Konsequenzen. Es handelt sich nur um einen Unterschied in der Macht, niemals um einen Unterschied im Prinzip. Sie haben es ja vor dem 1. August 1914 schon gesehen. Als Österreich sein Ultimatum an Serbien stellte, dirigierte die Zentrale der sozialdemokratischen Partei und der Zentralgewerkschaften die Arbeiterschaft gegen den Krieg. Tausende von Versammlungen wurden gegen den Krieg abgehalten. Die Zentrale von oben hatte befohlen, die Massen gehorchten. Dann kam der Krieg. Partei und Gewerkschaften standen vor vollendeten Tatsachen. Jetzt erklärten dieselben Leute durch ihre Zentrale: Wir müssen den Krieg unterstützen, um das Vaterland zu retten. Nun wurde die Verteidigung des Vaterlandes zur sozialistischen Pflicht und dieselben Massen, die eine Woche vorher gegen den Krieg protestiert hatten, waren nun für den Krieg, aber auf Befehl ihrer Zentrale. Das zeigt Ihnen die moralischen Folgen des Zentralisationssystems. Zentralisation heißt: das Herausschneiden des Gewissens aus dem Gehirn der Menschen, nichts anderes. Es heißt: das Gefühl der Selbständigkeit zu töten. Nun sagt man uns, Föderalismus sei Zersplitterung der Kraft und nicht Einheit der Aktion. Was ist denn die „Einheit der Aktion“ im Zentralismus? Es ist die Einheit eines Marionettentheaters. Vor den Kulissen tanzen die Marionetten und hinter den Kulissen ziehen die Führer den Draht. Wird der Draht zerschnitten, liegen die Marionetten am Boden. Föderalismus ist die Einheit der Kraft, aber nicht die Einheit eines Marionettentheaters, sondern die Einheit, die sich auf Gemeinschaftlichkeit der Interessen, der Solidarität und der Überzeugung der Menschen stützt — die einzige Einheitsorganisation, die für die moderne Arbeiterbewegung unserer Meinung in Frage kommen kann. Der Staat hat ein Interesse daran die Menschen geistig und moralisch in die Zwangsjacke der Uniformität zu stecken. Seine höchste Aufgabe ist es, loyale Untertanen heranzubilden, willige Ausbeutungsobjekte fpr den Kapitalismus. Aus diesem Grunde schickt er die Rebellen, die gegen den Stachel löcken, ins Gefängnis oder aufs Schafott!
Föderalismus ist nicht der Triumph der Nullen, sondern die Erziehung zur Selbständigkeit. Er appelliert an das Verantwortungsgefühl der Menschen, an ihren Charakter. Aber beleuchten wir die Frage von einem rein praktischen Standpunkt. In keinem Lande wurde so fürchterlich zentralisiert als in Deutschland, in keinem anderen Lande ist die Masse noch heute so beherrschaft vom Geiste des Zentralismus, wie bei uns. Wo aber sind die großen Einheitsaktionen des deutschen Proletariats vor dem Kriege? Die Idee des Generalstreiks wurde hier als „Generalblödsinn“ abgetan. Einheitlich waren nur die Aktionen des deutschen Unternehmertums. Die großen Einheitsaktionen des Proletariats fanden gerade in jenen Ländern statt, wo die Massen vom föderalistischen Geiste erfüllt sind. Die große Generalstreikbewegung der spanischen Arbeiterschaft im Jahre 1903 für die Befreiung der politischen Gefangenen, der Generalstreik des russischen Proletariats 1905 zur Niederringung des Zarismus, die große Bewegung der italienischen Eisenbahner usw. sind lebendige Beispiele in dieser Hinsicht.
Nun erhebt man besonders in letzter Zeit sehr häufig gegen uns den Vorwurf, daß wir Gegner der sogenannten „Diktatur des Proletariats“ seien, und es freut mich, daß der Antrag unserer Magdeburger Genossen mir Gelegenheit geboten hat, zu dieser Frage Stellung zu nehmen. Deutschland ist das Dorado der politischen Schlagworte. Man spricht ein Wort aus, berauscht sich an dem Klang ohne sich über den Sinn desselben Rechenschaft zu geben. Die „Diktatur des Proletariats“. Warum? Weil Marx und Engels diesen Standpunkt vertreten haben. Aber Marx hat in verschiedenen Zeiten seines Lebens verschiedene Ansichten über diese Frage zum besten gegeben. Vor allem muß hervorgehoben werden, daß das Prinzip der Diktatur an und für sich mit dem Sozialismus überhaupt nichts gemein hat. Nicht Sozialisten waren seine ersten Vertreter, sondern die kleinbürgerliche Partei der Jakobiner; Männer wie Couthon und Saint-Just waren seine Fürsprecher, derselbe Saint-Just, der die charakteristischen Worte prägte: „Die wichtigste Aufgabe des Gesetzgebers besteht darin, dem Menschen die Sondervorstellungen seines Gehirns zu nehmen und ihn im Sinne der Staatsmänner denken zu lernen“. Die ersten Sozialisten Frankreichs entwickelten sich aus dem Jakobinertum und waren logischerweise mit den Eierschalen dieser Partei behaftet. Als Babeuf seine Verschwörung der Gleichen ins Leben rief, dachte er durch die Diktatur einer revolutionären Regierung Frankreich zum Agrarkommunismus führen zu können. Die spätere babouvistische Bewegung mit Barbes und Blanqui an der Spitze hielten diese Tradition bei und von den Babouvisten haben Marx und Engels diesen Gedanken übernommen. In diesem Sinne entwickelten sie die Idee von der „Diktatur des Proletariats“ im kommunistischen Manifest. Aber nach dem Aufstand der Pariser Kommune im Jahre 1871 entwickelte Marx eine andere Ansicht. Er pries die Kommune, weil sie den „Schmarotzer Staat abgeschafft habe“. Allerdings kam ihm diese Auffassung der Dinge nicht ganz freiwillig und Bakunin konnte mit Recht schreiben: „Der Eindruck des Kommuneaufstandes war so überwältigend, daß selbst die Marxisten, deren Ideen alle durch diesen Aufstand über den Haufen geworfen waren, sich gezwungen sahen vor ihm den Hut abzuziehen. Sie taten noch mehr: im Widerspruch mit aller Logik und mit ihren eigensten Gefühlen machten sie das Programm der Kommune und ihr Ziel zu den ihrigen. Es war eine komische aber erzwungene Travestie. Sie mußten sie machen, sonst wären sie abgestoßen und von allen verlassen worden, so mächtig war die Leidenschaft gewesen, die diese Revolution in der ganzen Welt hervorgerufen hatte.“ Marx sah aber auch in der Kommune ein Vorspiel der „Diktatur des Proletariats“. Er hatte also zu verschiedenen Zeiten zwei verschiedene Ansichten über diese Frage. Im „kommunistischen Manifest“ erblickte er die „Diktatur des Proletariats“ in der Etablierung einer streng zentralen revolutionären Regierung, die durch Zwangsmaßregeln den Sozialismus durchführen sollte. In seinem „Bürgerkrieg“ sah er in der Abschaffung des „Schmarotzer Staat“ durch die Kommune die große Bedeutung dieser Bewegung.
Für uns ist die Frage klipp und klar. Versteht man unter der Diktatur des Proletariats nichts anderes, als das Ergreifen der Staatsgewalt durch eine gewisse Partei — und Diktatur ist stets Herrschaft einer Partei, niemals die Herrschaft einer Klasse — so sind wir grundsätzlich Gegner der sogenannten proletarischen Diktatur, aus dem einfachsten Grunde, weil wir Gegner des Staates sind. Versteht man aber unter dieser Bezeichnung nicht mehr wie die Willensäußerung des Proletariats in der Stunde seines Sieges, den weiland besitzenden Klassen das Ende ihrer Vorrechte zu diktieren und die Verwaltung aller sozialen Lebensfunktionen in die Hände des werktätigen Volkes zu legen, so haben wir gegen ein solches Diktieren nicht nur nichts einzuwenden, sondern wir erstreben es mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln.
Denselben Standpunkt vertraten auch die antiautoritären Föderationen der Internationale, als sie kurz nach dem Haager Kongreß 1872 den „Pakt von Saint-Imier“ schlossen und eine Resolution in diesem Sinne angenommen haben.
Als Gegener des Staates sehen wir in ihm in jedem Falle das Hauptbollwerk, das jeder freiheitlichen Entwicklung entgegensteht. Man komme uns nicht mit der Phrase vom „revolutionären Staate“. Der Staat ist immer reaktionär und wer dies nicht begreift, hat die Tiefe des revolutionären Prinzips nicht erkannt. Jedes Instrument ist seiner Form nach dem Zwecke angepaßt, dem es dienen muß; dasselbe ist der Fall mit Institutionen. Die Zange eines Hufschmieds eignet sich nicht zum Zähneziehen, mit der Zange des Zahnarztes kann man keine Hufeisen formen. Ebenso ist es mit dem Staate. Als Unterdrückungsinstrument gegen die breiten Massen des Volkes geschaffen, kann er dem Arbeitervolke niemals ein Instrument der Befreiung werden. Nicht das Diktieren von oben, sondern die revolutionäre Massenaktion von unten wird dem Proletariat die Tore der Freiheit öffnen. Jenen, die unter der „Diktatur des Proletariats“ nichts anderes verstehen als die Einsetzung einer sogenannten revolutionären Regierung, stellen wir das Prinzip der sozialen Revolution entgegen: Hie Staatsdiktatur! Hie soziale Revolution und Überwindung des Staates. Ein drittes gibt es nicht. Nun mag sich jeder entscheiden.

Ich habe bereits auf die Tatsache hingewiesen, daß die linksstehenden Parteien sich mehr und mehr dazu bequemen dem Arsenal der wirtschaftlichen Kampforganisationen die Waffen zu entnehmen, um ihr verlorenes Prestige wieder herzustellen. Dasselbe geschieht heute mit der Idee des Rätesystems, die von den politischen Parteien wieder ausgebeutet wird, nicht zum Vorteil des Rätegedankens, der durch seine Berührung mit der Parteipolitik viel von seiner ursprünglichen Bedeutung verliert und oft geradezu umgefälscht wird.
In seiner ursprünglichen Reinheit war die Idee des Rätesystems nichts anderes als der Gedanke: der Regierungspolitik des Staates die Wirtschaftspolitik es produzierenden Volkes entgegenzustellen; oder, um mit Saint-Simon zu reden, die Vorstellung eines Zustandes „wo die Kunst, die Menschen zu regieren, der Kunst, die Dinge zu verwalten, Platz machen muß.“ Dieser Gedanke ist durchaus nicht neu, obwohl er den meisten erst durch die russische Revolution bekannt geworden ist. Sämtliche politischen Parteien waren früher Gegner des Rätegedankens, der ausschließlich von dem antiautoritären Flügel der Internationale und später von den Syndikalisten vertreten wurde. Sogar Lenin, der geistige Führer der Bolschewisten, erklärte noch im Jahre 1905 dem Präsidenten der Petersburger Sowjets, daß das Rätesystem eine veraltete Einrichtung sei, mit dem sich seine Partei nicht befreunden könne. Wenn die Bolschewiki heute sich trotzdem zu dieser „veralteten Einrichtung“ bekehrt haben, so geschah es deshalb, weil sie von der praktischen Wirklichkeit der Dinge einfach dazu gezwungen wurden. Freilich versäumten sie daher nicht, dem Rätesystem später einen staatssozialistischen Überbau zu geben und ihm einen großen bürokratischen Geist einzupflanzen, Dinge, die mit dem ursprünglichen Rätegedanken absolut nichts zu tun hatten.

Schon auf dem Kongreß der Internationale in Basel im Jahre 1869 beschäftigte man sich eingehend und gründlich mit der historischen Aufgabe der Gewerkschaften. Der Gedanke, daß die Gewerkschaften nur innerhalb des kapitalistischen Systems Existenzberechtigung hätten, der hauptsächlich von den deutschen Sozialdemokraten vertreten wurde, wurde in Basel gänzlich verworfen. Man kam vielmehr zu dem Schluß, daß die wirtschaftlichen Kampfgruppen dazu berufen seien, die Sozialisierung durchzuführen. Es waren gerade die Männer des linken Flügels, die sich später um die machtvolle Persönlichkeit Bakunins scharten, welche diesen Gedanken aufgriffen und weiter entwickelten. Man sah in der Gewerkschaft die Keimzelle des Sozialismus und entwickelte im Gegensatz zum Staatssozialismus den Gedanken der Arbeiterräte. Sogar das Wort Arbeiterräte wurde damals schon gebraucht. So sprach man auf dem dritten Kongreß der spanischen Föderation der Internationale bereits von den „Juntas del Trabajo“, was dasselbe bedeutet.

Wenn dieser Gedanke eine Zeit lang in den Hintergrund trat, so war es deshalb, weil nach der Niederlage der Pariser Kommune und der Aufstände in Spanien und Italien in diesen Ländern eine furchtbare Reaktion einsetzte, welche die Arbeiterbewegung zwang, für lange Jahre ihr Dasein in geheimen Zirkeln zu fristen. Später kam der Rätegedanke wieder zum Vorschein in der Organisation der Syndikalisten, die in ihrer Organisationsform alle Elemente des Rätesystems entwickelt haben. Die Organisation der Syndikalisten baut sich in folgenderweise auf. In jeder Stadt, an jedem Ort schließt sich der Arbeiter der Organisation seines Berufes an. Die Gewerkschaften sämtlicher Berufe an jedem Orte schließen sich in einem lokalen Mittelpunkte zusammen — der Arbeiterbörse. Die Arbeiterbörse ist das Zentrum der lokalen Propaganda, der Streikbewegung, der sozialistischen Erziehung, der praktischen Solidarität. Jede Arbeiterbörse ist ein Glied der großen Landesföderation der Arbeiterbörsen, so daß die Grundlage für gemeinschaftliche Aktionen gegeben ist. Als zweite Form der Organisation besteht der Industrieverband. Jeder Arbeiter gehört nicht nur der Organisation seines Ortes an, sondern ist in derselben Zeit verbunden mit den Arbeitern seines Berufes und aller verwandten Berufe im ganzen Land. So bestehen die Industrieverbände der Metallarbeiter, der Holzarbeiter, der Transportarbeiter usw. Wenn nun heute in einem Lande, wo der Syndikalismus die wirtschaftliche Einheitsorganisation der Arbeiter bildet, infolge irgendwelche Ereignisse eine Umwälzung eintreten würde, wie bei uns am 9. November 1918, so würden die Syndikalisten versuchen, die Sozialisierung auf folgende Art in Angriff zu nehmen: Jede Arbeiterbörse würde als lokales Organ der Arbeiterschaft an jedem Orte Häuser, Lebensmittel, Kleidung und andere Gebrauchsgegenstände unter ihre Verwaltung nehmen. Die ganze Verwaltung der Gemeinde wäre so in den Händen der Arbeiterschaft und Schleichhandel, Schmugglertum und alle die anderen Krebsschäden, die heute das deutsche Volk bei lebendigem Leibe verzehren, wären in diesem Falle unmöglich. Die Arbeiterbörse würde sich in ein statistisches Büro verwandeln, um die Konsumbedürfnisse der lokalen Bevölkerung festzustellen, so daß die Landesföderation der Arbeiterbörsen leicht imstande wäre, den notwendigen Bedarf der Gesamtbevölkerung feststellen zu können. Damit wäre gleichzeitig die Grundlage für eine planmäßige Produktion geschaffen. Hätten die Arbeiterbörsen die Aufgabe, den Konsum zu organisieren, so hätten die Industrieverbände die Aufgabe, die Organisation der Produktion in die Hand zu nehmen. Sie würden sämtliche Maschinen, Werkzeuge, Rohstoffe usw. unter ihre Verwaltung nehmen und die einzelnen Betriebe und Industrien mit den notwendigen Werkzeugen und Materialien versorgen. Auf diese Art würde die Sozialisierung von unten nach oben durch die Arbeiter selbst vor sich gehen und dies allein wäre imstande uns den Sozialismus zu bringen. Jeder andere Weg, wie er z.B. von unseren Mehrheitssozialisten befürwortet wird, durch Verstaatlichung bestimmter Industrien den Sozialismus anzubahnen, führt unwiderruflich zum Staatskapitalismus, zur schlimmsten Form der Ausbeutung, die wir uns überhaupt vorstellen können. Darum stehen wir Syndikalisten fpr die Sozialisierung von unten nach oben, durch die Syndikate und ihre Organe — die Föderation der Arbeiterbörsen und Industrieverbände.

Nun stehen wir seit einiger Zeit vor einer neuen Erscheinung, zu der wir Stellung nehmen müssen. Ein großer Teil der K.P.D. hat in letzter Zeit versucht, überall Betriebsorganisationen ins Leben zu rufen, um der kommunistischen Partei wieder etwas auf die Füße zu helfen. Die K.P.D. hat in der kurzen Zeit ihres Bestehens ein überaus schwankendes Verhalten der Gewerkschaftsfrage gegenüber an den Tag gelegt. In der ersten Zeit ihrer Entwicklung strömte eine beträchtliche Anzahl ihrer Mitglieder in die Organisationen der Syndikalisten und gab die Parole aus: „Hinein in die ‚Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften!‘“ Dann kam die Frankfurter Konferenz, wo die Parole ausgegeben wurde: „Hinein in die Zentralverbände!“ Dann erschienen die Manifeste der Hamburger und Berliner Richtung, die das Losungswort ausgaben: „Heraus aus den Zentralverbänden und den syndikalistischen Organisationen, hinein in die Betriebsorganisationen.“ Die Zentrale der K.P.D. verdammte darauf die neue Richtung und nannte sie syndikalistisch, was die mit dem Bann Belegten entrüstet zurückwiesen. Es ist klar, daß eine Richtung, die bisher soviel Unklarheit in einer so wichtigen Frage an den Tag gelegt hat, etwas vorsichtiger in ihrem Urteil sein sollte. Die Anhänger der sogenannten Betriebsorganisationen gehen hauptsächlich von dem Standpunkt aus, daß diese Form der Organisation für die Sozialisierung besonders geeignet wäre. Das mag zutreffen für den einzelnen Betrieb, und in diesem Sinn anerkennen wir auch die Betriebsorganisationen, aber nur im Rahmen der Industrieverbände, der Gewerkschaft. Aber das gesellschaftliche Leben kennt noch andere Dinge als die Organisation der Betriebe. Wer soll z.B. den Konsum organisieren? Wer soll die Landwirtschaft auf sozialistischer Basis neu aufbauen? Für diese Arbeit sind reine Betriebsorganisationen nicht geeignet und mich dünkt, daß die syndikalistische Organisation mit ihren Arbeiterbörsen und Industrieverbänden in jeder Beziehung superior ist. Außerdem sind diese Betriebsorganisationen direkt auf Großindustrie zugeschnitten, da unsere „Unionisten“ als überzeugte Marxisten der Meinung sind, daß der Kleinbetrieb ausgespielt habe. Aber gerade die Entwicklung der Großindustrie hat uns gezeigt, daß dieselbe eine ganze Masse kleiner Betriebe ins Leben gerufen hat, deren Zahl noch immer im Wachsen begriffen ist. Diese kleinen Industrien sind von größter Notwendigkeit und müssen ebenfalls in den Kreis unserer Betrachtungen mit hineingezogen werden.

Überhaupt müssen wir uns mit dem Gedanken vertraut machen, daß es sich bei einer Sozialisierung nicht nur darum handeln kann, die Betriebe einfach zu übernehmen, sondern daß auch eine gründliche Reorganisation unseres ganzen Produktionssystems vorgenommen werden muß. Unter den heutigen Formen der Produktion erzeugen wir durchaus nicht genug, um einen Wohlstand aller garantieren zu können, nicht weil wir dazu nicht imstande wären, sondern weil der Kapitalismus der allgemeinen Produktion Fesseln anlegte, die erst überwunden werden müssen. Vor allem gilt es, das heutige ungesunde Verhältnis zwischen Industrie und Landwirtschaft zu beseitigen, ebenso die peinlichen Gegensätze zwischen geistiger und körperlicher Arbeit, um auf ganz neuen Grundlagen aufbauen zu können. Es handelt sich nicht nur darum, in der Produktion lediglich das Mittel zur Befriedigung unserer Bedürfnisse zu erblicken, sondern auch darum, durcheine neue Arbeitseinheit im Menschen die Schöpferfreude der Arbeit zu erwecken. Das alles sind Dinge, die ich heute nur andeuten kann; die aber für die ganze weitere Entwicklung unserer Rasse von nicht zu unterschätzender Bedeutung sind. Es ist die Aufgabe unserer Organisationen, an jedem Orte sich mit diesen Problemen zu beschäftigen, diese Fragen zu erörtern, um Lösungen herbeizuführen. Dies ist die einzige wahre Erziehung zum Sozialismus. Deshalb begrüße ich die vortrefflichen Ausführungen unseres Genossen Sonntag aus Sömmerda, der uns hier ein glänzendes Beispiel gegeben hat, das nur Nachahmung nur empfohlen werden kann.
Es war ein verhängnisvoller Fehler des Marxismus, jeden Versuch, Pläne und Richtlinien zur Gestaltung einer sozialistischen Gesellschaft zu entwerfen, als utopisch abzutun, ein Fehler, für den die deutsche Arbeiterklasse am 9. November die Quittung bekommen hat. Man verließ sich darauf, daß der Sozialismus von selbst kommen würde, daß er dem kapitalistischen System entspringen müsse wie der göttliche Funke dem Haupte der Minerva. Wir haben uns stets auf die wirtschaftlichen Verhältnisse verlassen und unser Hoffen und Harren hat uns zum Narren gemacht. Die Verhältnisse allein werden uns den Sozialismus nicht bringen. Wir müssen unsere Vorbereitungen vorher treffen, um von den Verhältnissen nicht überrascht zu werden. Und vergessen Sie vor allem nicht, daß unser Wille nötig ist, um den trägen Gang der Dinge zu beschleunigen.
Auch unsere Bewegung ist nicht sicher vor Verflachung, wenn wir nicht stets den Geist wachhalten, der unserm ganzen Tun und Lassen die richtige Deutung gibt. Vierzig Jahre sozialdemokratischer Erziehungsarbeit haben der deutschen Arbeiterklasse jede selbständige Initiative, jede schöpferische Kraft geraubt. Der sozialistische Gedanke erstarrte zum toten Dogma, der Parteigeist gestaltete die Bewegung zu einer Kirche. Jede Bewegung, die versuchte diesem Ungeist entgegenzutreten, wurde in Acht und Bann erklärt, jeder neue Gedanke im Keim erstickt. Die deutsche Sozialdemokratie hat am Sozialismus dasselbe Verbrechen begangen, wie die päpstliche Kirche am Christentum. Das erklärt auch warum unsere Bewegung sich so schwer durchsetzen konnte.
Nun hat man uns den Vorwurf gemacht, daß wir die Kirche ums Dorf tragen wollten mit unserer Organisation. Seht auf Rußland, sagt man uns, dort haben sich die Dinge ohne die Gewerkschaften entwickelt, einzig und allein durch die Initiative der politischen Partei. Die Betriebsorganisation unter der Anweisung des Staates macht alles. Diejenigen, die solche Behauptungen aufstellen, haben überhaupt keine Ahnung von der Entwicklung der Dinge in Rußland. Es waren die Gewerkschaften, aus denen sich die Betriebsorganisationen entwickelt haben. Die ganzen Pläne der Sozialisierung wurden von den gewerkschaftlichen Kampforganisationen ausgearbeitet und in die Wirklichkeit umgesetzt, noch ehe die Bolschewiki ans Ruder kamen. Und es waren hauptsächlich Anarchisten und Syndikalisten, die in den Räten ihre fruchtbare Tätigkeit entfalteten in einer Zeit, wo die Bolschewisten den Räten noch gleichgültig gegenüberstanden. Es waren hauptsächlich unsere Kameraden von der Organisation des „Golos Truda“, die sich als Anarcho-Syndikalisten erklärten, welche sich auf diesem Gebiete große Verdienste erworben haben. Die Partei der Bolschewiki, zur Herrschaft gelangt, sanktionierte einfach diese konstruktive Arbeit der Gewerkschaften, ohne deren Hilfe überhaupt nichts hätte geschehen können. Dieselben russischen Gewerkschaften sind es heute, wie ich aus einem Aufruf in der „Vie Ouvrière“ ersehe, die die ganzen revolutionären Gewerkschaftsorganisationen der Welt zur Gründung einer syndikalistischen Internationale einladen. Auch in Rußland waren es also die wirtschaftlichen Organisationen, die einen Versuch in die Richtung zum Sozialismus erst möglich machten, die politischen Parteien waren dazu nicht imstande. Sogar die gewaltigen militärischen Entwicklungen der russischen Sowjetrepublik lassen sich keineswegs auf den Genius einer Partei oder einzelner Männer zurückführen, wie groß immer ihre Verdienste sein mögen. Daß die Armeen Denikins, Judenitschs und Koltschaks geschlagen werden konnten, daran ist besonders der Umstand schuld, daß die russischen Bauern, die eine Bevölkerung von 128 Millionen umfassen, der Gegenrevolution die grimmigste Feindschaft entgegensetzten. Der Bauer, dem man zwei Drittel seines Grund und Boden geraubt hatte, ist durch die Revolution wieder in den Besitz seines Landes gekommen. Er weiß, daß ein Sieg der Gegenrevolution ihm diese kostbare Errungenschaft wieder entreißen würde. Aus diesem Grunde kämpft er bis zum letzten Blutstropfen für sein Land. Hier liegt die wirkliche Erklärung für die Siege der Sowjetregierung über die Armeen der Gegenrevolution, die von vielen noch nicht richtig erkannt wurde.
Was die Partei der Bolschewiki anbelangt, so ist unsere Stellung ihr gegenüber dieselbe, wie allen anderen sozialistischen Parteien gegenüber. Wir stehen einmütig auf der Seite Sowjetrußlands in seiner heldenmütigen Verteidigung gegen die Mächte der Alliierten und Gegenrevolutionäre, nicht weil wir Bolschewisten sind, sondern weil wir Revolutionäre sind. Im übrigen aber gehen wir unsern eigenen Weg unbeirrt weiter, da wir fest überzeugt sind, daß er der richtige ist.

Nebenbei hier noch bemerkt, daß Lenin, der stets ein Gegner des Syndikalismus gewesen ist, auf dem letzten Kongreß der Moskauer Inernationale erklärte, daß die Syndikalisten gute Klassenkämpfer seien mit denen man zusammengehen müsse. Das ändert natürlich nichts an unserer Stellung, ist aber in derselben Zeit eine schallende Ohrfeige für die angeblichen Anhänger der Bolschewiki in Deutschland, die den Syndikalismus mit demselben Eifer bekämpfen, wie die Mehrheitssozialisten.

Nun glaubt man, gegen uns einen Trumpf ausspielen zu können, indem man uns sagt, daß an eine Ergreifung der wirtschaftlichen Machtmittel nicht zu denken sei, ohne die Eroberung der politischen Macht. Am 9. November waren die deutschen Arbeiter, respektive ihre Führer, vollständig im Besitze der politischen Macht, die ihnen in den Schoß gefallen war, wie nie einem Volke vorher. Die reaktionären Elemente flüchteten sich nach allen Richtungen und verschwanden vollständig von der Bildfläche. Das alte Regime brach krachend zusammen, fast ohne daß ein Tropfen Blut vergossen wurde. Die Sozialdemokratie, welche die Eroberung der politischen Macht seit einem halben Jahrhundert gepredigt hatte, war plötzlich am Ziele ihrer Wünsche angelangt, fast ohne daß sie es wußte. Aber was geschah? Man wußte absolut nichts anzufangen mit der politischen Macht, und da man zu radikalen wirtschaftlichen Änderungen nicht zu schreiten wagten, so verlor man allmählich auch wieder die politische Macht an das Bürgertum. Gewiß, man sagt uns, daß die Zeit zu einer Sozialisierung nicht gegeben war, da Deutschland ohne Verkehrsmaterial, ohne ganze Maschinen, ohne Rohstoffe war. Wir verkennen keineswegs die ungeheuren Schwierigkeiten einer solchen Lage und erkennen ohne weiteres an, daß eine Sozialisierung der Industrie unter solchen Umständen mit geradezu ungeheuerlichen Schwierigkeiten verbunden ist. Aber gab es nicht noch ein anderes Gebiet, wo ein Anfang gemacht werden konnte, gemacht werden mußte im Interesse der Revolution, im Interesse der deutschen Volksernährung? Die Grund- und Bodenfrage war und ist heute noch der Angelpunkt der Revolution. Hätte man der deutschen Junkerklasse, dieser stockreaktionären und rückständigsten Klasse der Welt, die stets ein Fluch für unser Volk war, das Land genommen, so wäre auch ihr politischer Einfluß ein für allemal dahin gewesen. Daß man es nicht tat, ist die Ursache daß diese ungeschwächten Vertreter der monarchistischen Gegenrevolution, die aus der fürchterlichen Katastrophe nichts gelernt und nichts vergessen haben, heute ihre gefährliche Rolle weiterspielen können zum Schaden des ganzen Volkes.
Lernen wir doch aus der Geschichte: Als nach der Erstürmung der Basille 1789 in Frankreich das konstitutionelle Regiment eingeführt wurde, bewarben sich die neuen Parteien vor allem um die Gunst der Bauern und sprachen von einer Umgesaltung des Feudalsystems. Der Bauer aber traute den Versprechungen nicht; er führte den Kampf gegen seine direkten Feinde, die Feudalherren und erkämpfte sich in einer ganzen Serie von ununterbrochenen Revolten seine Rechte. Noch im Jahre 1792 versuchte die Nationalversammlung, die Feudalrechte nochmals gesetzlich zu begründen und erst 1793, als die Bauern die Grundbesitzer vertrieben und ihre Fesseln gebrochen hatten, dekretierte der Konvent die Abschaffung des Feudalsystems. In dem Augenblick aber, als die aristokratischen Grundbesitzer ihr Land verloren, war auch die politische Macht der Aristokratie gebrochen. Hätten sich die Bauern durch leere Versprechungen betören lassen und gewartet bis die radikalen Parteien die politische Macht erobern würden, hätten wir heute noch das Feudalsystem in Frankreich und in ganz Europa.

In Rußland sahen wir dieselbe Erscheinung. Als die Revolution ausbrach, strömten die Bauern von der Front in ihre Dörfer zurück, vertrieben die Grundbesizer und nahmen das ihnen geraubte Land zurück, ohne auf die versprochenen Reformen Miljukoffs, noch auf die berühmten Agrargesetze unter Kerenskis Regime zu warten. Nur durch diese Massenaktion der Bauern wurde die Zukunft der russischen Revolution sichergestellt. Vergessen wir dies niemals.

Was ist denn überhaupt die politische Macht? Es ist die Armee, der Polizeiapparat, das Gerichtswesen usw. Aber der politische Apparat besteht nur so lange, wie die besitzenden Klassen die notwendigen wirtschaftlichen Mittel besitzen ihn aufrecht zu erhalten. In dem Augenblick, wo in der Zeit einer Umwälzung die Arbeiter Besitz ergreifen von den wirtschaftlichen Machtmitteln, in diesem Augenblick bricht der ganze politische Apparat machtlos zusammen, weil ihm das Fundament genommen wurde. Und indem die Arbeiter durch ihre wirtschaftlichen Organisationen die Fabriken, Werkstätten usw. unter ihre Verwaltung nehmen werden, werden sie selbstverständlich auch die Arsenale des Massenmordes, die Waffen- und Munitionsfabriken in ihre Hut nehmen, ohne deren Tätigkeit den gegenrevolutionären Elementen keine Mittel der Aktion zur Verfügung stehen.

Nicht die Eroberung der Macht, sondern die Eroberung des Bodens, der Fabrik, der Werkstätte ist unser Ziel. Den Arbeitern diese Überzeugung beizubringen ist die Aufgabe des Syndikalismus.
Wir Syndikalisten sind keine Zersplitterer der Arbeiterbewegung wie man uns so oft genannt hat. Im Gegenteil, unser sehnlichster Wunsch ist, die Arbeiter im Syndikat zusammenzufassen zu können und sie auf dem wirtschaftlichen Boden zu vereinigen, wo die eigentliche Wurzel ihrer Kraft enthalten ist. Gerade weil wir die Krebsschäden des Parteiwesens nur zu gut kennen, wollen wir die Arbeiterbewegung seinem unheilvollen Einfluß entziehen. Blicken Sie nach Frankreich. Dort bestanden vor der Vereinigung der sozialistischen Parteien acht bis neun solcher Parteigruppierungen, die sich untereinander aufs heftigste bekämpften. Nicht genug damit, gründet jede Partei noch eigene Gewerkschaften, die in den ewigen Parteikämpfen gegeneinander ausgespielt wurden und jede einheitliche Aktion des französischen Proletariats verhinderten. Bis endlich die Arbeiter zur Einsicht kamen, die Politiker aus ihren Reihen ausschalteten und sich zu einer großen wirtschaftlichen Kampforganisation zusammenschlossen.
Damit wäre ich zu Ende. Ich habe versucht, Ihnen die verschiedenen Punkte der Prinzipienerklärung zu erklären, soweit ich dazu imstande war, nun steht es bei ihnen, dieselben anzunehmen oder abzulehnen.

Die Breslauer Genossen wünschen, daß in der Prinzipienerklärung der Antimilitarismus und unsere Stellung zu Staat und Kirche deutlicher hervortrete. Vergessen wir nicht, daß eine Prinzipienerklärung Leitsätze sein kann. Indem wir gegen Staat und Kirche Stellung genommen, haben wir auch den Militarismus und jede Theologie abgelehnt. Unsere Aufgabe besteht gerade darin, auf dieser Erde die Kräfte zur Erringung eines besseren Lebens zusammenzufassen und das Himmelreich schon diesseits zu errichten. Was den Militarismus betrifft, genügt es zu sagen, daß wir uns die Anarchisten bisher die einzigen gewesen sind, die eine wirklich antimilitaristische Propaganda angeführt und dafür große Opfer gebracht haben. Indem wir gegen den Staat sind, sind wir auch Gegner seiner Gewaltorgane, die im Militarismus ihren hervorragendsten Ausdruck finden. Indem wir für die geistige Freiheit des Menschen eintreten, sind wir auch gegen jede geistige Bevormundung, die sich in den verschiedenen Kirchen breitmacht. Damit wäre alles gesagt und bin ich bereit Ihre Meinung entgegenzunehmen.

Nach eingehender Diskussion nimmt Genosse Rocker das Schlusswort

Was den Antrag von Groth betrifft, so mache ich aufmerksam auf den letzten Absatz der Prinzipienerklärung:
Die Syndikalisten stehen auf dem Boden der direkten Aktion und unterstützen alle Bestrebungen und Kämpfe des Volkes, die mit ihren Zielen — der Abschaffung der Wirtschaftsmonopole und der Gewaltherrschaft des Staates nicht im Widerspruch stehen. Ihre Aufgabe ist es, die Massen geistig zu erziehen und in den wirtschaftlichen Kampforganisation zu vereinigen, um dieselben durch die direkte wirtschaftliche Aktion, die im sozialen Generalstreik ihren höchsten Ausdruck findet, der Befreiung vom Joche der Lohnsklaverei und des modernen Klassenstaates entgegen zu führen.

Hier ist schon alles gesagt, was notwendig ist. Wenn die Notwendigkeit zu enem Zusammenschluß aller revolutionären Elemente gegeben ist, um den Versuchen der Gegenrevolutionäre entgegenzutreten, dann werden auch wir Syndikalisten nicht zurückstehen und Schulter an Schulter marschieren mit allen, die guten Willens sind, solange unser Weg zusammenführen wird, jedoch ohne unsere Selbständigkeit dabei aufzugeben.

Nun einiges zu den Ausführungen des Genossen Krohn. Er sagte, daß die Masse durch die Diktatur erst erzogen werden müßte. Das ist ein ganz seltsamer Standpunkt. Ich war immer der Ansicht, daß Diktatur und Erziehung voneinander so verschieden sind wie Wasser und Feuer. Darum sind wir ja Gegner jeder Prügelpädagogie, die ihre Weisheit den Kindern mit dem Knüppel einbläuen will. Erziehung ist freies Erfassen. Erziehen heißt überzeugen! Erziehung kennt keine Diktatur. Damit soll nicht gesagt sein, daß wir solange warten müssen, bis wir die herrschenden Klassen überzeugt haben, uns die Produktionsmittel zurückzugeben. Hier ist die Frage eine ganz andere, da es sich in diesem Falle darum handelt, begangenes Unrecht wieder gutzumachen, Millionen ihre Menschenwürde zurückzugeben, die ihnen durch die Habsucht der Monopolisten geraubt wurde. In dem Augenblick, wo wir stark genug sind, uns unser Recht zu schaffen, werden wir es tun, denn der Respekt vor der Überzeugung beginnt erst dort, wo der Mensch frei und gleichberechtigt in seinem Tun und Lassen ist.
Krohn behauptet, daß der Generalstreik allein nicht helfen könne, daß nur der Besitz der politischen Macht die Frage lösen könne und führt die russische Revolution von 1905 als Beispiel an. Nun, ich bin etwas bekannt mit den damaligen Ereignissen. Die Revolution 1905 scheiterte just daran, was Genosse Krohn uns heute als Heilmittel empfiehlt, am Parteiwesen. Die Revolutionäre hatten sämtliche Institutionen des Staates unberührt gelassen, weil sie sich derselben zu bedienen gedachten und als später die Gegenrevolution kam, fand sie den ganzen Unterdrückungsapparat vollständig intakt und brauchte sich nur seiner zu benutzen, um die Revolution zu ersticken. Der beste Beweis für den verhängnisvollen Einfluß der Parteizänkereien bietet der Aufstand der Schwarz-Meer-Flotte. Als die revolutionäre Marine sich das Potemkin und anderer Kriegsschiffe bemächtigt hatte, erschienen Vertreter der verschiedenen revolutionären Parteien an Bord, um mit der Flotte gemeinsame Sache zu machen. Aber der Streit, der sich dabei erhob, war so groß, daß alles scheitern mußte. Einer nannte den andern Verräter und eine der besten Gelegenheiten war verpaßt. Matatschenko, einer der Haupführer des Aufstands, erzählte uns später in London alle Einzelheiten der ganzen Ereignisse und ging zu den Anarchisten über, da er an den Parteien vollständig verzweifelte. Gerade dadurch, daß man versucht, den Machtapparat des Staates aufrecht zu halten, in der Voraussetzung sich später dessen bedienen zu können, ebnet man der Gegenrevolution den Weg. Die französischen Bauern zerstörten gründlich alle Institutionen des Feudalsystems und ließen keinen Stein des alten Gebäudes unberührt. Als später die Armeen Europas Frankreich besiegten, in Paris einzogen, konnten sie den Franzosen zwar einen neuen König aufzwingen, aber sie waren nicht imstande das Feudalsystem wieder aufzurichten, das die Bauern von Grund auf zerstört hatten. Wer den Diktaturapparat des Staates erhalten will, nutzt damit nur der Gegenrevolution. Gerade weil die Revolution bei uns an den wirtschaftlichen und politischen Einrichtungen nichts zu ändern wagte, deshalb freuen sich die monarchistischen Gegenrevolutionäre so und warten mit Zuversicht auf ihre Stunde.
Krohn sagte, daß wir Diktatur brauchen, um die Techniker, Beamten usw. zu zwingen ihrer Arbeit weiterhin vorzustehen. Auch in dieser Beziehung gab uns Rußland ein lehrreiches Beispiel. Keine Diktatur war imstande die Techniker zu zwingen ihre Arbeit zu verrichten, bis sich Lenin endlich genötigt sah, den Technikern das Gehalt zu zahlen, das sie verlangten, um sie zu gewinnen. Die Diktatur kann eben die Überzeugung der Menschen nicht ändern. Vergessen wir nicht, daß eine Revolution etwas mehr ist als eine Serie roher Gewaltmittel. Sie ist die geistige und sittliche Wiedergeburt eines Volkes, ohne die keine wirkliche Umwälzung möglich ist. Das Wesentliche einer Revolution besteht nicht in der Gewaltanwendung, sondern in der Umwälzung der wirtschaftlichen und politischen Einrichtungen. Die Gewalt an und für sich ist durchaus nicht revolutionär, sondern reaktionär im höchsten Grad. Ich zweifle nicht an der guten Absicht des Genossen Krohn, aber seine Stellung erinnert mich lebhaft an den Großinquisitor Escobar, der seine Opfer mit Tränen in den Augen verbrannte und dabei erklärte, daß man den Körper zerstören müsse, um die Seele zu retten. Aber Escobar ist keine Idealfigut der Revolution, sondern ein Vertreter der finstersten Reaktion. Wenn Krohn seine Ansichten logisch verfolgt, so wird er nicht bei der Freiheit, sondern bei Escobar und der Inquisition angelangen.
Krohn sagt uns, daß unser Kmapf nicht nur ein wirtschaftlicher, sondern auch ein politischer sein müsse. Dasselbe sagen wir auch. Wir verwerfen nur die parlamentarische Betätigung, keineswegs aber den politischen Kampf im allgemeinen. Politisch ist eben alles, was auf den „Polis“, das Gemeinwesen Einfluß hat. Auch der Generalstreik ist ein politisches Mittel und desgleichen die antimilitaristische Propaganda der Syndikalisten usw. Der Syndikalismus hat sogar ein ganz bestimmtes politisches Ziel — die Überwindung des Staates, die Ablösung der Herrschaft des Menschen über den Menschen durch die Verwaltung der Dinge — Krohn verweist uns auf die Nosketruppen, die uns in unserem Vorgehen hindern werden. Er vergißt, daß dieselben Nosketruppen ihn auch an der Ausübung seiner Diktatur hindern werden, da sie eben selbst die Diktatur ausüben. Revolutionen werden eben nicht gemacht auf Kommando. Wir können vorarbeiten, damit wir später den größten Nutzen für die Allgemeinheit daraus ziehen können. Das ist alles. Revolutionen sind die Folgen einer großen geistigen Umwälzung in den Anschauungen der Menschen; sie können nicht willkürlich durch Waffengewalt gemacht werden. Wer da glaubt, bei dem heutigen Stande der modernen Kriegstechnik eine primitiv bewaffnete Masse gegen einen wohldisziplinierten Feind, der mit den modernsten Waffen ausgerüstet ist, führen zu können, handelt einfach wahnsinnig und gewissenlos, indem er nichts anderes erreichen kann als ein zweckloses Blutbad. Ich bin ein Gegner brutaler Gewalt und gerade deshalb bin ich ein Gegner des Staates, dieser Personifizierung der organisierten Gewalt. Aber auch ich anerkenne die Gewalt als ein Verteidigungsmittel, wenn die Verhältnisse selber uns jedes andere Mittel versagen. Wenn ein Bandit mir die Pistole auf die Brust setzt und ich ihm dieselbe aus der Hand schlagen kann, so ist es klar, daß ich die Möglichkeit wahrnehme, denn ich bin kein Anhänger eines Selbstmordes. Aber mutwillige Putsche, die nur der herrschenden Klasse die Möglichkeit geben die Massen niederzuknüppeln, ist eine Taktik, die wir niemals billigen können. Es ist auch ein großer Unterschied zwischen der Anwendung der Gewalt als Verteidigungsmittel und der öden Gewaltphrase in Artikeln und auf Plattformen. Wenn ich kein anderen Mittel mehr habe als das Verteidigungsmittel der Gewalt, dann trage ich persönlich die Konsequenzen meiner Handlungen. Das ist männlich und gerecht. Aber andere zu Dingen aufzureizen, die man selbst nicht tut, ist feige. Wir haben ja leider zu oft gesehen, daß Leute, die den Mund nicht voll genug nehmen konnten mit Gewaltphrasen, sofort verschwunden sind, als die Lage ernst wurde und es andern überlassen haben, die Folgen ihres unsinnigen Phrasengebimmels auszufressen.

Wenn nun Krohn meint, daß der Zentralismus der K.P.D. von ganz besonderer Art sei, so täuscht er sich. Krohn mag etwas Zentralismus nennen, was in Wirklichkeit kein Zentralismus ist. Aber dann darf er die Zentrale seiner Partei nicht als Beispiel anführen. Die Sozialdemokratie und die Zentralgewerkschaften brauchten nahezu zwanzig Jahre, bevor ihre Zentrale so funktionieren konnte, wie wir es heute sehen. Die K.P.D. brachte das Kunststück in nicht ganz einem Jahre fertig. Als ein Teil der Mitglieder der K.P.D. für die Gründung von Arbeiterunionen eintrat, wurden sie sofort von der Zentrale mit dem Bann belegt und der Presse der Opposition wurden die Gelder entzogen. Wenn das nicht Kirchenzentralismus der schlimmsten Art ist, dann weiß ich nicht, was dieses Wort sonst bedeutet. Nein, Zentralismus bleibt eben Zentralismus. Darum anerkennen wir auch keine Zentralisation der finanziellen Machtmittel und unsere Geschäftskommission verfügt über keine Zentralkasse. Wer Syndikalist ist, ist Föderalist, ja ich gehe noch weiter und sage: Wer Revolutionär ist, muß Föderalist sein,denn wer sich zu den Organisationsformen von Staat und Kirche bequemt, stützt bewußt oder unbewußt die Reaktion.
Wenn nun Krohn behauptet, daß die Masse so unwissend, egoistisch und korrumpiert sei, daß sie ein Übergangsstadium der Regierung nicht enbehren könne, so vergißt er, daß Regierer auch keine Engel, sondern aus demselben Stoffe gemacht sind wie alle anderen Menschen. Und da wollen wir doch nicht den Bock zum Gärtner machen. Der Besitz der Macht korrumpiert, darum müssen wir die Möglichkeit der Machtergreifung den Boden abgraben. Sprechen wir den Arbeitern von der Eroberung der Werkstätten und Fabriken; erziehen wir sie in diesem Sinne. Begügen wir uns nicht damit die Massen einzufangen, sondern zeigen wir ihnen den Weg und die Mittel ihr Joch abzuwerfen. Wir sind der Vortrupp, eine Minorität, die weiß was sie will und je besser sie diese Mission begreifen, desto schneller wird uns die Stunde der Befreiung kommen.

Literatur[edit]

Als Broschüre ist der Text hier erhältlich:

  • Rocker, Rudolf - "Die Prinzipienerklärung des Syndikalismus", Syndikat-A Medienvertrieb in Moers, Broschüre V 25, hier:[1]


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