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Oscar Wilde/Die Seele des Menschen im Sozialismus

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Oscar Wilde: Die Seele des Menschen im Sozialismus

Broschüre: Oskar Wilde - Der Sozialismus und die Seele des Menschen

erhältlich ist der Essay bei Syndikat-A, Medienvertrieb in Moers, 34 Seiten. hier: [1]


Der Hauptvorzug, den die Herrschaft der sozialistischen Gesellschaftsordnung mit sich brächte, liegt ohne Zweifel darin, dass der Sozialismus uns befreien würde von dem gemeinen Zwang, für andere zu leben, der in der gegenwärtigen Lage auf fast allen so schwer lastet. In der Tat gibt es kaum jemanden, der ihm zu entgehen vermag.

Dann und wann im Verlaufe des Jahrhunderts hat ein großer Wissenschaftler wie Darwin, ein großer Dichter wie Keats, ein feiner kritischer Geist wie Renan, ein überlegener Künstler wie Flaubert es fertiggebracht, sich zu isolieren, sich dem lärmenden Zugriff der anderen zu entziehen, sich »unter den Schutz der Mauer zu stellen«, wie Plato es nennt, und auf diese Weise seine natürliche Begabung zu vervollkommnen, zu seinem eigenen unvergleichlichen Gewinn und zu dem unvergleichlichen, dauernden Gewinn der ganzen Welt. Dies sind jedoch Ausnahmen. Die meisten Menschen vergeuden ihr Leben durch einen ungesunden und übertriebenen Altruismus, ja, sind sogar genötigt, es zu vergeuden. Sie finden sich umgeben von scheußlicher Armut, von scheußlicher Hässlichkeit, von scheußlichem Hunger. Es ist unvermeidlich, dass ihr Gefühlsleben davon erschüttert wird. Die Empfindungen des Menschen werden rascher erregt als sein Verstand; und es ist, wie ich jüngst in einem Artikel über das Wesen der Kritik hervorgehoben habe, sehr viel leichter, Mitgefühl für das Leiden zu hegen als Sympathie für das Denken. Daher tritt man mit bewundernswerten, jedoch irregeleiteten Absichten sehr ernsthaft und sehr sentimental an die Aufgabe heran, die sichtbaren Übel zu heilen. Aber diese Heilmittel heilen die Krankheit nicht: sie verlängern sie bloß. In der Tat sind sie ein Teil der Krankheit selbst.

Man versucht zum Beispiel das Problem der Armut zu lösen, indem man die Armen am Leben erhält; oder, wie es eine sehr fortgeschrittene Schule vorschlägt, indem man sie amüsiert.

Aber das ist keine Lösung; es verschlimmert die Schwierigkeit. Das wahre Ziel heißt, die Gesellschaft auf einer Grundlage neu zu errichten, die die Armut ausschließt. Und die altruistischen Tugenden haben wirklich die Erreichung dieses Zieles verhindert. Gerade wie die ärgsten Sklavenhalter diejenigen waren, die ihre Sklaven wohlwollend behandelten und dadurch verhindert haben, dass die Greuel des Systems von denen, die darunter litten, erkannt und von denen, die darüber nachdachten, verstanden wurden, so richten beim gegenwärtigen Stand der Dinge in England jene den größten Schaden an, die versuchen, Gutes zu tun; und schließlich haben wir das Schauspiel erlebt, wie Männer, die sich eingehend mit dem Problem befasst haben und das Leben kennen - Männer von Bildung, die im East End wohnen -, auftreten und die Gemeinschaft anflehen, ihre altruistischen Anwandlungen von Barmherzigkeit, Fürsorge und dergleichen einzuschränken. Sie tun das aus der Erwägung heraus, dass eine solche Barmherzigkeit erniedrigt und demoralisiert. Sie haben vollkommen recht. Aus der Barmherzigkeit entstehen viele Sünden.

Es ist auch noch folgendes zu sagen. Es ist amoralisch, Privateigentum zur Milderung der schrecklichen Übelstände zu verwenden, die aus der Einrichtung des Privateigentums entspringen. Es ist nicht nur amoralisch, sondern auch unehrlich.

Unter dem Sozialismus wird sich das alles selbstverständlich ändern. Es wird keine Menschen mehr geben, die in stinkenden Höhlen mit stinkenden Fetzen bekleidet wohnen und kränkliche, durch den Hunger verkümmerte Kinder inmitten einer unmöglichen, widerwärtigen Umgebung großziehn. Die Sicherheit der Gesellschaft wird nicht mehr, wie es jetzt der Fall ist, vom Stande des Wetters abhängen. Wenn Frost kommt, werden nicht mehr hunderttausend Männer ihre Arbeit verlieren und im Zustand abscheulichen Elends durch die Straßen irren oder ihre Nachbarn um ein Almosen anbetteln oder sich vor den Toren der ekelhaften Asyle drängen, um sich ein Stück Brot oder ein verwahrlostes Obdach für die Nacht zu sichern. jedes Mitglied der Gesellschaft wird an dem allgemeinen Wohlstand und Glück teilhaben, und wenn Frost hereinbricht, so wird er niemandem Schaden zufügen.

Auf der anderen Seite wird der Sozialismus einfach deshalb von Wert sein, weil er zum Individualismus führt.

Der Sozialismus, Kommunismus oder wie immer man ihn benennen will, wird durch die Umwandlung des Privateigentums in allgemeinen Wohlstand und indem er anstelle des Wettbewerbs die Kooperation setzt, der Gesellschaft den ihr angemessenen Zustand eines gesunden Organismus wiedergeben und das materielle Wohl eines jeden Mitgliedes der Gemeinschaft sichern. In der Tat wird er dem Leben seine richtige Grundlage und seine richtige Umgebung verschaffen. Um aber das Leben zu seiner höchsten Vollendung zu bringen, bedarf es noch eines anderen. Es bedarf des Individualismus. Wenn der Sozialismus autoritär ist, wenn Regierungen mit ökonomischer Macht ausgestattet werden, so wie sie jetzt mit politischer Macht ausgestattet sind, wenn wir mit einem Wort eine Industrietyrannis bekommen sollten, dann wäre der neue Status des Menschen schlimmer als der bisherige. Heute sind durch das Bestehen des Privateigentums sehr viele Menschen imstande, ihre Individualität in einer gewissen, freilich sehr beschränkten Weise zu entfalten. Entweder brauchen sie nicht für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten, oder sie sind in der Lage, einen ihnen wirklich zusagenden Wirkungskreis zu wählen, der ihnen Freude bereitet. Das sind die Dichter, die Philosophen, die Gelehrten, die Gebildeten - mit einem Wort die echten Menschen, die Menschen, die zur Selbstverwirklichung gelangt sind, und in denen die Menschheit ihre Verwirklichung teilweise erreicht. Andererseits gibt es eine große Zahl von Menschen, die kein Privateigentum besitzen, und da sie immer am Rande des nackten Elends stehen, sind sie genötigt, die Arbeit von Lasttieren zu verrichten, Arbeit, die ihnen keinesfalls zusagt und zu der sie nur durch die unabweisbare, widervernünftige, erniedrigende Tyrannis der Not gezwungen werden. Das sind die Armen; in ihrem Lebensbereich fehlt jede Grazie, jede Anmut der Rede, jegliche Zivilisation oder Kultur, jede Verfeinerung der Genüsse und jede Lebensfreude. Aus ihrer kollektiven Kraft schöpft die Menschheit großen materiellen Reichtum. Aber sie gewinnt nur den materiellen Vorteil, und der Arme selbst bleibt dabei ohne die geringste Bedeutung. Er ist nur ein winziges Teilchen einer Kraft, die ihn nicht nur nicht beachtet, sondern zermalmt: ja, ihn mit Vorliebe zermalmt, weil er dann um so fügsamer ist.

Natürlich könnte man sagen, dass der unter den Bedingungen des Privateigentums entstandene Individualismus nicht immer und nicht einmal in der Regel etwas Erlesenes oder Wundervolles sei, und dass die Armen, mag es ihnen auch an Kultur und Anmut fehlen, doch manche Tugenden besitzen. Diese beiden Einwände wären vollkommen richtig. Der Besitz von Privateigentum wirkt sehr oft gänzlich demoralisierend, und das ist natürlich einer der Gründe, weshalb der Sozialismus diese Einrichtung abschaffen möchte. Das Eigentum ist in der Tat etwas überaus Lästiges. Vor einigen Jahren gab es Leute, die überall im Lande verkündeten, dass das Eigentum Verpflichtungen mit sich brächte. Sie haben es so häufig und mit solcher Hartnäckigkeit behauptet, dass zu guter Letzt die Kirche anfing, es nachzusagen. Man kann es jetzt von jeder Kanzel hören. Es ist absolut wahr. Eigentum erzeugt nicht nur Pflichten, sondern erzeugt so viele Pflichten, dass jeder große Besitz nichts als Verdruss mit sich bringt. Unaufhörlich werden Ansprüche an einen gestellt, man muss sich pausenlos um Geschäfte kümmern und kommt niemals zur Ruhe. Wenn das Eigentum nur Freude brächte, so könnten wir es noch hinnehmen, aber seine Verpflichtungen machen es unerträglich. Im Interesse der Reichen müssen wir es abschaffen. Man mag die Tugenden der Armen bereitwillig anerkennen, und doch muss man sie sehr bedauern. Wir bekommen oft zu hören, die Armen seien für Wohltaten dankbar. Einige von ihnen sind es ohne Zweifel, aber die besten unter den Armen sind niemals dankbar. Sie sind undankbar, unzufrieden, ungehorsam und rebellisch. Sie sind es mit vollem Recht. Die Mildtätigkeit empfinden sie als lächerlich unzulängliches Mittel einer Teilrückerstattung oder als sentimentale Almosen, gewöhnlich mit dem unverschämten Versuch des sentimentalen Spenders verbunden, über ihr Privatleben zu herrschen. Warum sollten sie dankbar sein für die Krumen, die vom Tisch des Reichen fallen? Sie selbst sollten beim Mahle sitzen, das beginnen sie jetzt zu begreifen. Was die Unzufriedenheit anbelangt, wer mit einer solchen Umgebung und einer so dürftigen Lebensführung nicht unzufrieden ist, müsste vollkommen abgestumpft sein. Wer die Geschichte gelesen hat, weiß, dass Ungehorsam die ursprüngliche Tugend des Menschen ist. Durch Ungehorsam ist der Fortschritt geweckt worden, durch Ungehorsam und durch Rebellion. Manchmal lobt man die Armen für ihre Sparsamkeit. Aber den Armen Sparsamkeit zu empfehlen, ist grotesk und beleidigend zugleich. Es ist, als gäbe man einem Verhungernden den Rat, weniger zu essen. Ein Stadt- oder Landarbeiter, der sparen wollte, beginge etwas absolut Amoralisches. Der Mensch sollte sich nicht zu dem Beweis erniedrigen, dass er wie ein schlecht genährtes Tier leben kann. Er sollte lieber stehlen oder ins Armenhaus gehen, was viele für eine Form des Diebstahls halten. Was das Betteln betrifft, so ist Betteln sicherer als Stehlen, aber es ist anständiger zu stehlen, als zu betteln. Nein: Ein Armer, der undankbar, nicht sparsam, unzufrieden und rebellisch ist, ist wahrscheinlich eine echte Persönlichkeit, und es steckt viel in ihm. Er stellt auf jeden Fall einen gesunden Protest dar. Was die tugendsamen Armen betrifft, so kann man sie natürlich bedauern, aber keinesfalls bewundern. Sie haben mit dem Feinde gemeinsame Sache gemacht und haben ihr Erstgeburtsrecht für eine sehr schlechte Suppe verkauft. Sie müssen außerdem äußerst dumm sein. Ich begreife wohl, dass ein Mann Gesetze annimmt, die das Privateigentum schützen und seine Anhäufung gestatten, solange er unter diesen Bedingungen seinem Leben eine gewisse Schönheit und Geistigkeit zu geben vermag. Doch ist es mir beinahe unverständlich, wie jemand, dessen Leben durch diese Gesetze zerstört und verunstaltet wird, ihren Fortbestand ruhig mit ansehen kann.

Und dennoch ist es nicht wirklich schwer, eine Erklärung dafür zu finden. Es ist einfach dies: Armut und Elend wirken so völlig erniedrigend und üben einen so lähmenden Einfluss auf das Wesen des Menschen aus, dass sich keine Gesellschaftsklasse der Leiden jemals wirklich bewusst wird. Andere müssen sie darüber aufklären, und oftmals glauben sie ihnen nicht einmal. Was mächtige Arbeitgeber gegen Agitatoren sagen, ist fraglos wahr. Agitatoren sind Eindringlinge, die in eine vollkommen zufriedene Gesellschaftsschicht einbrechen und die Saat der Unzufriedenheit unter sie säen. Das ist der Grund, weshalb Agitatoren so absolut notwendig sind. Ohne sie gäbe es in unserem unvollkommenen Staat kein Fortschreiten zur Zivilisation hin. Die Sklaverei wurde in Amerika nicht etwa abgeschafft als Folge einer Bewegung unter den Sklaven selbst oder als Folge des leidenschaftlichen Verlangens der Sklaven nach Freiheit. Sie wurde beendet als Folge der ganz ungesetzlichen Aktionen der Agitatoren in Boston und anderen Orten, die selber weder Sklaven noch Sklavenhalter waren und mit der Frage an sich gar nichts zu tun hatten. Es sind ohne Zweifel die Abolitionisten gewesen, die die Fackel in Brand setzten, die das Ganze in Bewegung brachten. Und es ist seltsam genug, dass sie unter den Sklaven nicht nur sehr wenig Unterstützung, sondern kaum Sympathien fanden; als die Sklaven am Ende des Krieges die Freiheit gewonnen hatten, so vollständig gewonnen hatten, dass sie die Freiheit besaßen zu verhungern, da bedauerten viele ihre neue Lage bitterlich. Für den Denker ist nicht der Tod Marie Antoinettes, die sterben musste, weil sie Königin war, das tragischste Ereignis der Französischen Revolution, sondern die freiwillige Erhebung der ausgehungerten Bauern in der Vendée, die für die hässliche Sache des Feudalismus starben.

Es ist also klar, dass der autoritäre Sozialismus zu nichts führt. Denn während unter dem gegenwärtigen System eine sehr große Zahl von Menschen ihrem Leben eine gewisse Fülle von Freiheit und Ausdruck und Glück zu verleihen vermag, würde unter einem industriellen Kasernensystem oder einem System der ökonomischen Tyrannei niemandem mehr eine solche Freiheit verbleiben. Es ist bedauerlich, dass ein Teil unserer Gemeinschaft tatsächlich in einem Zustand der Sklaverei dahinlebt, aber es wäre kindisch, das Problem dadurch lösen zu wollen, dass man die gesamte Gemeinschaft versklavt. jedem muss die Freiheit belassen werden, seine Arbeit selbst zu wählen. Keinerlei Art von Zwang darf auf ihn ausgeübt werden. Sonst wird seine Arbeit weder für ihn selbst, weder an sich noch für andere von Nutzen sein. Und unter Arbeit verstehe ich einfach jede Art von Tätigkeit.

Ich glaube kaum, dass heute ein Sozialist ernsthaft vorschlagen würde, ein Inspektor solle jeden Morgen in jedem Hause vorsprechen, um zu überprüfen, ob jeder Bürger aufgestanden ist und sich an seine achtstündige Handarbeit begeben hat. Die Menschheit ist über dieses Stadium hinausgelangt und zwingt eine solche Lebensform nur denjenigen auf, die sie höchst willkürlich als Verbrecher zu bezeichnen pflegt. Doch ich gestehe, dass viele sozialistische Anschauungen, denen ich begegnet bin, mir mit Vorstellungen von Autorität oder gar unmittelbarem Zwang vergiftet scheinen. Autorität und Zwang kommen selbstverständlich nicht in Betracht. jeder Zusammenschluss muss völlig freiwillig vor sich gehen. Nur wenn er sich freiwillig zusammenschließt, bewahrt der Mensch seine Würde.

Aber man könnte fragen, wie der Individualismus, der jetzt mehr oder minder vom Bestehen des Privateigentums abhängt, um sich entwickeln zu können, aus der Aufhebung des Privateigentums Nutzen ziehen wird. Die Antwort ist sehr einfach. Es ist wahr, unter den bestehenden Umständen haben einige Männer, die über private Mittel verfügten, wie Byron, Shelley, Browning, Victor Hugo, Baudelaire und andere es vermocht, ihre Persönlichkeit mehr oder weniger vollkommen zu verwirklichen. Keiner von diesen Männern hat einen einzigen Tag seines Lebens um Lohn gearbeitet. Sie blieben von der Armut verschont. Sie hatten einen unerhörten Vorteil. Die Frage ist, ob es dem Individualismus zum Guten gereichte, wenn ein solcher Vorteil aufgehoben würde. Nehmen wir an, er sei aufgehoben. Was geschieht dann mit dem Individualismus? Welchen Nutzen wird er daraus ziehen?

Er wird folgenden Nutzen daraus schöpfen. Unter den neuen Bedingungen wird der Individualismus weit freier, weitaus würdiger und kraftvoller sein als jetzt. Ich spreche nicht von dem großen, in der Phantasie zur Verwirklichung gelangten Individualismus der Dichter, die ich soeben genannt habe, sondern von dem großen, tatsächlichen Individualismus, der in der Menschheit im allgemeinen verborgen und mittelbar wirksam wird. Denn die Anerkennung des Privateigentums hat dem Individualismus wirklich geschadet und ihn getrübt, indem sie den Menschen mit seinem Besitz gleichsetzt. Sie hat den Individualismus völlig irregeleitet. Sie hat bewirkt, dass Gewinn, nicht Wachstum sein Ziel wurde. So dass der Mensch meinte, das Wichtigste sei das Haben, und nicht wusste, dass es das Wichtigste ist, zu sein. Die wahre Vollendung des Menschen liegt nicht in dem, was er besitzt, sondern in dem, was er ist. Das Privateigentum hat den wahren Individualismus zerstört und an seiner Stelle einen falschen Individualismus hervorgebracht. Es hat einen Teil der Gemeinschaft durch Hunger von der Individualisierung ausgeschlossen. Es hat den anderen Teil der Gemeinschaft von der Individualisierung abgehalten, indem es ihn auf den falschen Weg geleitet und überlastet hat. In der Tat ist die Persönlichkeit des Menschen so ausschließlich von seinem Besitz absorbiert worden, dass das englische Recht Vergehen wider das Eigentum weit schärfer ahndet, als ein Vergehen wider die Person, und noch immer ist Eigentum unerlässlich für die Gewährung des vollen Bürgerrechts. Der Fleiß, der notwendig ist, um Geld zu machen, wirkt ebenfalls sehr demoralisierend. In einer Gemeinschaft wie der unsrigen, in der das Eigentum unbegrenzte Auszeichnung, gesellschaftliche Stellung, Ehre, Ansehen, Titel und andere angenehme Dinge dieser Art verleiht, setzt sich der von Natur aus ehrgeizige Mensch das Ziel, dieses Eigentum anzuhäufen, und er sammelt hartnäckig und mühevoll immer neue Schätze an, wenn er schon längst mehr erworben hat als er braucht oder verwenden oder genießen oder vielleicht sogar überschauen kann. Der Mensch bringt sich durch Überarbeitung um, damit er sein Eigentum sicherstellt, und bedenkt man die ungeheuren Vorteile, die das Eigentum bringt, so ist man kaum darüber verwundert. Es ist bedauerlich, dass die Gesellschaft auf einer solchen Grundlage aufgebaut ist, und der Mensch in eine Bahn gedrängt wird, wo er das Wunderbare, Faszinierende und Köstliche seiner Natur nicht frei zu entfalten vermag - wo er in der Tat das echte Vergnügen und die Freude am Leben entbehrt. Außerdem ist seine Lage unter den gegebenen Bedingungen sehr unsicher. Ein sehr reicher Kaufmann kann in jedem Augenblick seines Lebens - und er ist es häufig - von Dingen abhängig sein, die außerhalb seiner Kontrolle liegen. Weht der Wind ein wenig stärker oder schlägt das Wetter plötzlich um oder ereignet sich irgend etwas ganz Alltägliches, so wird sein Schiff vielleicht sinken, seine Spekulationen schlagen fehl und er ist plötzlich ein armer Mann, seine gesellschaftliche Stellung ist ruiniert. Nichts sollte dem Menschen Schaden zufügen, es sei denn, er schade sich selbst. Überhaupt nichts sollte imstande sein, den Menschen zu berauben. Es gehört ihm nur das wirklich, was er in sich trägt. Alles übrige sollte für ihn ohne Belang sein.

Die Abschaffung des Privateigentums wird also den wahren, schönen, gesunden Individualismus mit sich bringen. Niemand wird sein Leben mit der Anhäufung von Dingen und ihrer Symbole vergeuden. Man wird leben. Wirklich zu leben ist das Kostbarste auf der Welt. Die meisten Menschen existieren bloß, sonst nichts.

Es ist fraglich, ob wir jemals die volle Entfaltung einer Persönlichkeit erlebt haben, außer auf der imaginativen Ebene der Kunst. Im Bereich des Handelns haben wir sie nie kennen gelernt. Cäsar, so sagt Mommsen, war der vollendete und vollkommene Mensch. Aber wie tragisch gefährdet war Cäsar. Wo immer ein Mann Autorität ausübt, dort gibt es einen, der sich der Autorität widersetzt. Cäsar war nahezu vollkommen, aber seine Vollkommenheit bewegte sich auf einer sehr gefährlichen Bahn. Mark Aurel war der vollkommene Mensch, sagt Renan. Gewiss, der große Kaiser war ein vollkommener Mensch. Aber wie unerträglich waren die unzähligen Anforderungen, die man an ihn stellte. Er trug schwer an der Last des Kaisertums. Er wusste, dass die Kraft eines Einzelnen nicht ausreichte, um das Gewicht dieses titanischen und allzu großen Weltreiches zu tragen. Was ich unter einem vollkommenen Menschen verstehe, ist jemand, der sich unter vollkommenen Bedingungen entwickelt; jemand, der nicht verwundet, getrieben oder gelähmt oder von Gefahren umringt ist. Die meisten Persönlichkeiten sind dazu gezwungen gewesen, Rebellen zu sein. Die Hälfte ihrer Kraft ist in Auseinandersetzungen vergeudet worden. Byrons Persönlichkeit zum Beispiel wurde furchtbar aufgerieben im Kampfe gegen die Dummheit, die Heuchelei und das Philistertum der Engländer. Solche Kämpfe steigern keinesfalls immer die Kraft; oftmals vergrößern sie nur die Schwäche. Byron hat uns niemals zu geben vermocht, was er uns hätte geben können. Shelley ist es besser ergangen. Wie Byron verließ er England so früh wie möglich. Aber er war weniger bekannt. Hätten die Engländer erkannt, was für ein großer Dichter er in Wirklichkeit war, sie wären mit Zähnen und Klauen über ihn hergefallen und hätten ihm das Leben nach Kräften vergällt. Er spielte jedoch keine wesentliche Rolle in der Gesellschaft, und folglich rettete er sich bis zu einem gewissen Grade vor ihr. Und trotzdem ist manchmal auch bei Shelley der Ausdruck der Empörung sehr heftig. Der Ausdruck der vollkommenen Persönlichkeit ist nicht Empörung, sondern Ruhe.

Die wahre Persönlichkeit des Menschen wird wunderbar sein, wenn sie in Erscheinung tritt. Sie wird natürlich und einfach wachsen, wie eine Blume oder wie ein Baum wächst. Sie wird nicht zwiespältig sein. Sie wird nicht überreden wollen und nicht streiten. Sie wird nichts beweisen wollen. Sie wird alles wissen. Und doch wird sie sich nicht um das Wissen bemühen. Sie wird Weisheit besitzen. Ihr Wert wird nicht an materiellen Maßstäben gemessen werden. Sie wird nichts ihr eigen nennen. Und doch wird sie über alles verfügen, und was immer man ihr wegnimmt, wird sie nicht ärmer machen, so groß wird ihr Reichtum sein. Sie wird sich anderen nicht aufdrängen oder verlangen, wie sie selbst zu sein. Sie wird sie lieben, weil sie so verschieden sind. Und gerade weil sie sich nicht um die andern kümmert, wird sie allen helfen, wie etwas Schönes uns hilft, durch das, was es ist. Die Persönlichkeit des Menschen wird wundervoll sein. So wundervoll wie das Wesen eines Kindes.

In ihrer Entwicklung wird sie vom Christentum gefördert werden, wenn die Menschen danach verlangen; wenn sie es nicht wünschen, wird sie sich trotzdem entwickeln. Denn sie wird sich nicht länger um die Vergangenheit quälen, noch wird sie fragen, ob Ereignisse wirklich stattgefunden haben oder nicht. Und sie wird keine anderen Gesetze als die eigenen anerkennen; keine andere Autorität als die eigene. Doch wird sie jene lieben, die versucht haben, sie zu bereichern und ihrer oft gedenken. Und zu diesen gehört Christus.

»Erkenne dich selbst!« stand am Eingang der antiken Welt geschrieben. Ãœber dem Eingang der neuen Welt wird geschrieben stehen »sei du selbst«. Und die Botschaft Christi an den Menschen lautete einfach »sei du selbst«. Dies ist das Geheimnis Christi.

Wenn Jesus von den Armen spricht, so meint er eigentlich Persönlichkeiten, und wenn er von den Reichen spricht, meint er eigentlich diejenigen, die ihre Persönlichkeit nicht entwickelt haben. Jesus lebte in einem Staat, der die Anhäufung von Privateigentum genauso gestattete, wie es heutzutage bei uns der Fall ist; und die Botschaft, die er predigte, war nicht etwa, dass es in einer solchen Gesellschaft für den Menschen von Vorteil sei, sich von unbekömmlicher, kärglicher Speise zu nähren, zerlumpte, schmutzige Kleider zu tragen, in schrecklichen, ungesunden Wohnungen zu leben oder dass es von Nachteil sei, wenn der Mensch unter gesunden, angenehmen und angemessenen Verhältnissen lebt. Eine solche Anschauung wäre zu seiner Zeit falsch gewesen, und sie wäre natürlich erst recht falsch im heutigen England; denn je weiter man nach Norden kommt, desto wichtiger werden die materiellen Lebensvoraussetzungen, und unsere Gesellschaft ist viel komplexen und weist viel schärfere Gegensätze von Luxus und Elend auf als irgendeine Gesellschaft der antiken Welt. Was Jesus dem Menschen sagen wollte, war einfach dies: »Deine Persönlichkeit ist etwas Wertvolles. Entwickle sie. Sei du selbst. Glaube nicht, dass du durch das Anhäufen oder den Besitz von materiellen Gütern deine Vollendung erlangst. In dir selbst liegt deine Vollendung. Wenn du das nur wahrhaben könntest, würdest du nicht nach Reichtum streben. Äußere Reichtümer können dem Menschen geraubt werden. Die echten Reichtümer nicht. In der Schatzkammer deiner Seele liegen unermessliche Kostbarkeiten, die dir niemand wegnehmen kann. Und darum versuche dein Leben so einzurichten, dass Äußerlichkeiten dir nichts anhaben können. Und versuche auch, dich von deinem persönlichen Eigentum zu befreien. Es verursacht eine kleinliche Befangenheit, unendliche Mühsal, unaufhörlichen Ärger.« Das persönliche Eigentum behindert den Individualismus auf Schritt und Tritt. Man sollte sich vor Augen halten, dass Jesus niemals davon spricht, dass die armen Leute notwendigerweise gut seien und die Reichen notwendigerweise schlecht. Das wäre nicht richtig gewesen. Die Reichen sind als Klasse besser als die Armen, sie sind sittlicher, geistiger, besser erzogen. Es gibt nur eine Gesellschaftsklasse, die mehr an das Geld denkt als die Reichen, und das sind die Armen. Die Armen können an nichts anderes denken. Darin liegt ihr Unglück. Jesus will sagen, dass der Mensch nicht durch das, was er hat, nicht einmal durch das, was er tut, sondern nur durch das, was er ist, zu seiner Vollendung gelangt. Und so wird der reiche Jüngling, der zu Jesus kommt, als ein untadeliger Bürger dargestellt, der kein Gesetz seines Staates gebrochen, keine Vorschrift seiner Religion verletzt hat. Er ist höchst achtbar in der gewöhnlichen Bedeutung dieses außergewöhnlichen Wortes. Jesus sagt zu ihm: "Du solltest dich deines Besitzes entledigen. Er hält dich von deiner Selbstverwirklichung ab. Er umstrickt dich wie ein Netz. Er ist eine Last. Deine Persönlichkeit bedarf seiner nicht. In dir und nicht außerhalb deiner selbst, wirst du finden, was du in Wirklichkeit bist und was du wirklich brauchst.« Zu seinen eigenen Freunden sagt er das gleiche. Er gibt ihnen den Rat, sie selbst zu sein. Und sich nicht immer mit anderen Dingen zu quälen. Was ist schon daran gelegen. Der Mensch ist in sich vollkommen. Wenn sie in die Welt hinausgehen, wird sich die Welt im Widerspruch zu ihnen befinden. Das ist unvermeidlich. Die Welt hasst den Individualismus. Aber das soll sie nicht bekümmern. Sie sollten gelassen in sich ruhen. Nimmt ihnen jemand den Mantel, so sollten sie ihm auch noch den Rock geben, nur um zu zeigen, dass materielle Dinge ohne Bedeutung sind. Wenn die Menschen sie schmähen, so sollten sie nichts entgegnen. Was bedeutet es schon. Was über einen Menschen gesagt wird, ändert ihn nicht. Er bleibt, was er ist. Die öffentliche Meinung ist von keinerlei Wert. Selbst wenn ihnen die Menschen mit offener Gewalt begegnen, sollen sie auf jede Gewalt verzichten. Das hieße, sich auf die gleiche niedrige Stufe zu begeben. Schließlich kann der Mensch auch im Gefängnis frei sein. Seine Seele kann frei sein. Seine Persönlichkeit kann unbehelligt bleiben. Er kann mit sich in Frieden sein. Und vor allen Dingen sollen sie sich nicht mit anderen Leuten einlassen und sich ein Urteil über sie anmaßen. Die Persönlichkeit ist etwas sehr Geheimnisvolles. Man kann einen Menschen nicht immer nach seinen Handlungen beurteilen. Er mag das Gesetz achten und doch schlecht sein. Er mag das Gesetz brechen und ist doch edel. Er ist vielleicht verdorben, ohne je etwas Böses getan zu haben. Er begeht vielleicht eine Sünde gegen die Gesellschaft und erreicht durch dieses Vergehen seine wahre Selbstvollendung.

Da war ein Weib, das hatte Ehebruch begangen. Die Geschichte ihrer Liebe wird uns nicht berichtet. Aber sie muss sehr groß gewesen sein; denn Jesus sagte, ihre Sünden seien ihr vergeben, nicht weil sie bereue, sondern weil ihre Liebe so stark und wundervoll sei. Später, kurze Zeit vor seinem Tod, als er bei einem Mahle saß, trat das Weib ein und goss Wohlgerüche auf sein Haar. Seine jünger versuchten, sie daran zu hindern und sagten, das sei Verschwendung, und das Geld für die Spezereien hätte besser für ein Werk der Barmherzigkeit an notleidenden Menschen oder ähnliche Zwecke aufgewendet werden sollen. Jesus stimmte dieser Anschauung nicht zu. Er betonte, dass die materiellen Bedürfnisse des Menschen groß und sehr beständig seien, aber die geistigen Bedürfnisse des Menschen seien noch größer, und eine Persönlichkeit könne in einem göttlichen Augenblick zu ihrer Vollkommenheit gelangen, indem sie die Form ihres Ausdrucks selber wähle. Die Welt verehrt dieses Weib noch heute als eine Heilige.

Ja, es liegt sehr viel Anziehendes im Individualismus. Der Sozialismus hebt zum Beispiel das Familienleben auf. Mit der Abschaffung des Privateigentums muss die Ehe in ihrer gegenwärtigen Form verschwinden. Das ist ein Teil des Programms. Der Individualismus nimmt diesen Grundsatz auf und verfeinert ihn. Er wandelt die Abschaffung gesetzlichen Zwanges in eine Form der Freiheit um, die der vollen Entfaltung der Persönlichkeit dient und die Liebe zwischen Mann und Frau wundervoller, schöner und freier machen wird. Jesus wusste dies. Er verwarf die Ansprüche des Familienlebens, obwohl sie zu seiner Zeit und in der damaligen Gesellschaft eine sehr ausgeprägte Rolle spielten. »Wer ist meine Mutter? Wer sind meine Brüder?« erwiderte er, als man ihm berichtete, dass sie mit ihm zu sprechen wünschten. Als einer seiner Jünger um die Erlaubnis bat, sich entfernen zu dürfen, um seinen Vater zu begraben, lautete seine furchtbare Antwort: »Lass die Toten die Toten begraben.« Er ließ keinen wie auch immer gearteten Anspruch gelten, der an die Persönlichkeit gestellt wurde.

Und darum führt nur der ein Leben im Sinne Christi, der ganz und gar er selbst bleibt. Er mag ein großer Dichter sein oder ein großer Gelehrter oder ein junger Universitätsstudent oder einer, der die Schafe auf der Heide hütet; ein Dramendichter wie Shakespeare oder ein Gottesgrübler wie Spinoza; oder ein Kind, das im Garten spielt, oder ein Fischer, der sein Netz ins Meer wirft. Es kommt nicht darauf an, was er ist, solange er alle Möglichkeiten seiner Seele zur Entfaltung bringt. Alle Nachahmung in Dingen der Moral und im Leben ist von Übel. Durch die Straßen von Jerusalem schleppt sich in unseren Tagen ein Wahnsinniger, der ein hölzernes Kreuz auf den Schultern trägt. Er ist ein Symbol aller Menschenleben, die durch Nachahmung zerstört sind. Vater Damien handelte im Sinne Christi, als er auszog, mit den Leprakranken zu leben, denn durch diesen Dienst brachte er das Beste in sich zur Vollendung. Doch war er Christus nicht näher als Wagner, als dieser seine Seele in der Musik verwirklichte; oder als Shelley, der seine Seele im Gesang vollendete. Die Seele des Menschen ist nicht an eine Erscheinungsform gebunden. Es gibt so viele Möglichkeiten der Vollkommenheit, wie es unvollkommene Menschen gibt. Und während man sich den Ansprüchen der Wohltätigkeit unterwerfen und doch frei bleiben kann, so bleibt niemand frei, der sich mit den Ansprüchen des Konformismus einlässt.

Den Individualismus sollen wir also durch Sozialismus erlangen. Der Staat muss infolgedessen jede Absicht zu herrschen aufgeben. Er muss sie aufgeben, weil man zwar, wie ein Weiser einmal viele Jahrhunderte vor Christus sagte, die Menschheit sich selbst überlassen kann; aber die Menschheit regieren, das kann man nicht. Alle Arten des Regierens erweisen sich als Missgriff. Der Despotismus ist ungerecht gegen alle, auch gegen den Despoten, der vielleicht zu etwas Besserem bestimmt war. Oligarchien sind ungerecht gegen die vielen, und Ochlokratien sind ungerecht gegen die wenigen. Einmal hat man große Hoffnungen in die Demokratie gesetzt; aber Demokratie ist nichts anderes als das Niederknüppeln des Volkes durch das Volk für das Volk. Das ist erwiesen. Ich muss sagen, es war höchste Zeit. Denn jede Autorität erniedrigt. Sie erniedrigt gleichermaßen Herrscher und Beherrschte. Wird sie gewalttätig, brutal und grausam ausgeübt, so ruft sie eine positive Wirkung hervor, indem sie den Geist der Revolte und den Individualismus anstachelt, der sie vernichten soll. Wird sie mit einer gewissen Großzügigkeit ausgeübt und werden Preise und Belohnungen vergeben, so ist ihre Wirkung furchtbar demoralisierend. In diesem Fall werden sich die Menschen des furchtbaren Druckes, der auf ihnen lastet, weniger bewusst und gehen in einer Art von vulgärem Wohlbehagen durch das Leben wie zahme Haustiere, ohne jemals zu erkennen, dass sie wahrscheinlich die Gedanken anderer Menschen denken, nach den Normen anderer Menschen leben, dass sie gewissermaßen nur die abgelegten Kleider der anderen tragen und niemals, auch nicht einen Augenblick lang, sie selbst sind. »Wer frei sein will«, sagt ein kluger Kopf, »darf sich nicht anpassen.« Und die Autorität, die den Menschen zum Konformismus verleitet, bewirkt unter uns eine sehr grobe Form der übersättigten Barbarei.

Mit der Autorität wird auch die Strafe verschwinden. Das wird ein großer Gewinn sein - in der Tat ein Gewinn von unschätzbarem Wert. Liest man die Geschichte, aber nicht in den bereinigten Ausgaben für Schüler und Examenskandidaten, sondern in den Originalwerken der Zeit, so ist man angewidert, nicht von den Verbrechen, die die Bösen begangen, sondern von den Strafen, die die Guten verhängt haben; und eine Gesellschaft verroht viel mehr durch die gewohnheitsmäßige Anwendung von Strafen als durch das gelegentliche Vorkommen von Verbrechen. Es ist erwiesen, dass desto mehr Verbrechen geschehen, je mehr Strafen verhängt werden, und die meisten modernen Gesetzgeber haben das deutlich erkannt und es sich zur Aufgabe gemacht, die Bestrafung auf ein Minimum zu beschränken. Überall dort, wo die Strafen wirklich vermindert wurden, waren die Ergebnisse außerordentlich günstig. je weniger Strafen, desto weniger Verbrechen. Wenn es überhaupt keine Bestrafung mehr geben wird, wird das Verbrechen entweder aufhören zu existieren, oder wenn es vorkommt, wird es von den Ärzten als eine sehr quälende Form von Dementia behandelt werden, die durch sorgfältige und liebevolle Pflege zu heilen ist. Diejenigen, die man heutzutage Verbrecher nennt, sind keine Verbrecher. Der Hunger, nicht die Sünde, sind in unserer Zeit die Ursache des Verbrechens. Darum sind unsere Verbrecher, als Klasse, vom psychologischen Standpunkt aus völlig uninteressant. Sie sind keine erstaunlichen Charaktere wie Macbeth oder schrecklich wie Vautrin. Sie sind nur, was die gewöhnlichen achtbaren Spießbürger wären, wenn sie nicht genug zu essen hätten. Mit der Abschaffung des Privateigentums wird die Grundlage des Verbrechens wegfallen, es wird nicht mehr nötig sein; es wird aufhören zu existieren. Natürlich sind nicht alle Verbrechen Vergehen gegen das Eigentum, obwohl das englische Gesetz diese Verbrechen am härtesten bestraft, da es das, was einer besitzt, höher bewertet als das, was einer ist (ausgenommen den Mord, wenn wir davon ausgehen, dass der Tod schlimmer sei als das Zuchthaus, eine Anschauung, der unsere Verbrecher wahrscheinlich nicht zustimmen werden). Aber auch Verbrechen, die nicht gegen das Eigentum gerichtet sind, entspringen dem Elend, der Wut, der Erniedrigung, die allesamt unserem verfehlten System der Eigentumsverteilung geschuldet sind, und die verschwinden müssen, wenn dieses System abgeschafft ist. Wenn jedes Mitglied der Gesellschaft seine Bedürfnisse stillen kann und kein anderer es daran hindert, wer sollte dann ein Interesse verspüren, seine Mitmenschen zu behelligen? Die Eifersucht, ein starker Antrieb zum Verbrechen in unserer Zeit, ist eine Empfindung, die mit unserem Begriff von Eigentum aufs engste verknüpft ist und unter dem Sozialismus und Individualismus aussterben wird. Es ist bezeichnend, dass bei kommunistisch organisierten Stämmen die Eifersucht völlig unbekannt ist.

Nun, da der Staat nicht regieren soll, erhebt sich die Frage, welche Aufgabe ihm eigentlich zukommt. Der Staat soll ein unabhängiger Erzeuger und Verteiler lebensnotwendiger Waren sein. Sache des Staates ist es, das Nützliche zu schaffen. Sache des Individuums ist es, das Schöne hervorzubringen. Und da ich das Wort Arbeit ausgesprochen habe, möchte ich darauf hinweisen, wie viel Törichtes heutzutage über die Würde der Handarbeit geschrieben und gesagt wird. Handarbeit ist durchaus nicht etwas, das Würde verleiht, zumeist ist sie absolut erniedrigend. Irgend etwas zu tun, das man ohne Freude ausführt, ist geistig und moralisch verwerflich, und viele Arbeiten sind völlig freudlose Tätigkeiten und sollten auch als solche betrachtet werden. Eine schmutzige Straßenkreuzung während acht Stunden des Tages bei scharfem Ostwind zu fegen, ist eine widerliche Beschäftigung. Sie mit geistiger, moralischer oder körperlicher Würde zu fegen, scheint mir unmöglich. Sie mit Freude zu fegen, erscheint mir geradezu ungeheuerlich. Der Mensch ist für Besseres geschaffen, als Dreck aufzuwirbeln. Alle diese Arbeiten sollte eine Maschine ausführen.

Ich zweifle nicht, dass das einmal der Fall sein wird. Bislang ist der Mensch in gewissem Sinne der Sklave der Maschine gewesen, und es liegt etwas Tragisches in der Tatsache, dass er zu hungern begann, sobald er Maschinen erfand, die seine Arbeit verrichten. Dies ist jedoch nur das Ergebnis unserer Eigentumsordnung und unseres Wettbewerbssystems. Ein Einzelner ist Eigentümer einer Maschine, die die Arbeit von fünfhundert Menschen leistet. Dadurch sind fünfhundert Menschen arbeitslos, und weil sie keine Beschäftigung haben, fallen sie dem Hunger und dem Diebstahl anheim. Der Einzelne sichert sich das Produkt der Maschine und behält es und besitzt fünfhundertmal mehr, als er besitzen sollte und wahrscheinlich, dies ist von noch größerer Bedeutung, sehr viel mehr, als er wirklich begehrt. Wäre diese Maschine das Eigentum aller, so würde jedermann Nutzen daraus ziehen. Das wäre für die Gesellschaft von unermesslichem Vorteil. jede mechanische Arbeit, jede einförmige, stumpfsinnige Arbeit, jede Arbeit, die aus schrecklichen Verrichtungen besteht und unter unwürdigen Bedingungen ausgeführt wird, muss von Maschinen geleistet werden. Die Maschine soll für uns in den Kohlenbergwerken arbeiten und alle sanitären Dienstleistungen übernehmen, sie soll die Dampfer heizen, die Straßen säubern und bei schlechtem Wetter Botendienste ausführen und überhaupt alles tun, was langweilig und unangenehm ist. Gegenwärtig konkurriert die Maschine mit dem Menschen. Unter den richtigen Verhältnissen wird die Maschine dem Menschen dienen. Dies ist ohne Zweifel die Zukunft der Maschine; und so wie die Bäume wachsen, während der Landwirt schläft, so wird die Menschheit sich vergnügen oder sich der geistvollen Muße hingeben - denn Muße, nicht Arbeit ist das Ziel des Menschen -, oder sie wird schöne Dinge hervorbringen oder schöne Dinge lesen oder einfach die Welt mit Bewunderung und Entzücken betrachten, während die Maschine die notwendige, unangenehme Arbeit verrichtet. Es ist eine Tatsache, dass die Zivilisation Sklaven erfordert. Darin hatten die Griechen ganz recht. Wenn nicht Sklaven die hässliche, unangenehme, uninteressante Arbeit ausführen, werden Kultur und Kontemplation beinah unmöglich sein. Menschliche Sklavenarbeit ist unrecht, inkonstant und demoralisierend. Von der Sklavenarbeit der Maschine, dem mechanischen Sklaventum, hängt die Zukunft der Welt ab. Und wenn Männer der Wissenschaft nicht mehr genötigt sein werden, in so deprimierende Gegenden wie East End zu gehen und schlechten Kakao und noch schlechtere Wolldecken an hungernde Menschen zu verteilen, werden sie die erquickliche Muße finden, schöne und ungewöhnliche Dinge zu ihrer eigenen Freude und zur Freude der ganzen Welt zu erfinden. Für jede Stadt wird man große Kräftereservoires errichten und wenn es nötig sein sollte, auch für jedes Haus, und diese Kräfte wird der Mensch in Wärme, Licht oder Bewegung umwandeln, je nach den Lebensnotwendigkeiten. Ist das utopisch? Eine Weltkarte, die das Land Utopia nicht enthielte, wäre nicht wert, dass man einen Blick darauf wirft, denn auf ihr fehlte das einzige Land, in dem die Menschheit immer landet. Und wenn die Menschheit dort gelandet ist, hält sie wieder Ausschau, und sieht sie ein schöneres Land vor sich, setzt sie die Segel. Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien.

Ich habe also ausgeführt, dass die Gesellschaft durch die Organisation des Maschinenwesens die lebensnotwendigen Dinge herstellen wird und dass die schönen Dinge vom Individuum geschaffen werden. Das ist nicht nur unerlässlich, es ist der einzig mögliche Weg, auf dem wir beides zu erlangen vermögen. Ein Mensch, der für die Bedürfnisse anderer arbeitet und dabei ihre Ansprüche und Sehnsüchte berücksichtigen muss, wird seine Arbeit nicht mit Interesse durchführen und kann infolgedessen nicht das Beste in sein Werk legen. Wenn andererseits eine Gemeinschaft oder eine starke Minderheit dieser Gemeinschaft oder jedwede Regierung versucht, dem Künstler Vorschriften zu machen, so wird die Kunst aus seinem Werk vollkommen verschwinden, oder sie nimmt stereotype Formen an, oder sie degeneriert zu einer niedrigen, unedlen Form des Handwerks. Ein Kunstwerk ist das unverwechselbare Ergebnis eines unverwechselbaren Temperaments. Seine Schönheit beruht auf der Tatsache, dass der Schöpfer ist, was er ist. Es hat nicht das mindeste damit zu tun, dass andere Menschen ganz andere Bedürfnisse haben. In der Tat, sobald der Künstler auf die Bedürfnisse der anderen zu achten beginnt und ihre Forderungen zu befriedigen sucht, hört er auf, Künstler zu sein und wird ein alberner oder amüsanter Handwerker, ein redlicher oder ein unredlicher Händler. Seinen Anspruch, als Künstler zu gelten, hat er verwirkt. Die Kunst ist die intensivste Form des Individualismus, die die Welt kennt. Ich bin versucht zu sagen, dass sie die einzige wirkliche Form des Individualismus ist, die die Welt je kannte. Das Verbrechen, von dem man meinen könnte, es habe unter gewissen Bedingungen den Individualismus hervorgebracht, muss mit anderen Menschen rechnen und sie in seine Handlungen einbeziehen. Es gehört dem Bereich des Handelns an. Der Künstler aber kann allein, ohne Rücksicht auf seine Mitmenschen, ohne ihr Dazwischentreten, etwas Schönes gestalten; und wenn er nicht einzig zu seiner eigenen Freude arbeitet, ist er überhaupt kein Künstler.

Wir sollten uns die Tatsache vor Augen halten, dass es gerade diese gesteigerte Form des Individualismus ist, die die Öffentlichkeit zu dem Versuch anstachelt, über die Kunst eine ebenso unmoralische wie lächerliche und ebenso korrumpierende wie verächtliche Autorität zu üben. Das ist nicht allein ihre Schuld. Das Publikum ist immer und zu jeder Zeit schlecht erzogen gewesen. Es hat immer von der Kunst verlangt, dass sie volkstümlich sei, dass sie seiner Geschmacksvorstellung entspreche, dass sie seiner absurden Eitelkeit schmeichle und wiederkäut, was längst bekannt ist, ihm vorführt, wessen es längst müde sein sollte, es unterhält, wenn es sich nach dem üppigen Mahle beschwert fühlt, und es zerstreut, wenn es seiner eigenen Dummheit überdrüssig ist. Die Kunst sollte aber niemals versuchen, volkstümlich zu sein. Das Publikum sollte vielmehr versuchen, künstlerisch zu empfinden. Das ist ein sehr großer Unterschied. Wenn man einem Mann der Wissenschaft sagen würde, die Ergebnisse seiner Forschungen, die Schlussfolgerungen, zu denen er gelangt ist, müssten dergestalt sein, dass sie mit der gängigen Meinung des Publikums übereinstimmen, seine Vorurteile nicht stören oder die Gefühle von Leuten nicht verletzen, die nichts von der Wissenschaft verstehen; wenn man einem Philosophen zugestehen würde, dass er in den höchsten Gedankensphären spekuliert, vorausgesetzt, dass er zu denselben Schlussfolgerungen gelangt wie jene, die niemals in irgendeiner Sphäre nachgedacht haben, nun, der Mann der Wissenschaft und der Philosoph wären heutzutage darüber regelrecht erheitert. Und doch ist es nur wenige Jahre her, seit Philosophie und Wissenschaft einer brutalen öffentlichen Kontrolle unterworfen waren - genauer gesagt der Autorität der allgemeinen Unwissenheit der Gesellschaft oder dem Terror und der Machtgier einer geistlichen oder regierenden Klasse. Natürlich sind wir jetzt in sehr großem Maße von jedem durch die Gesellschaft, die Kirche oder die Regierung geübten Versuch befreit, sich in den Individualismus des spekulativen Denkens einzumischen, aber der Versuch, sich in den Individualismus der schöpferischen Kunst einzumischen, dauert an. ja, weit schlimmer: er ist aggressiv, beleidigend und brutal.

In England sind die Künste am wenigsten behelligt worden, für die sich das Publikum nicht interessiert. Die Dichtkunst ist ein Beispiel dafür. Wir konnten in England eine wundervolle Dichtkunst hervorbringen, weil das Publikum Dichtungen nicht liest und infolgedessen keinen Einfluss darauf nimmt. Das Publikum gefällt sich darin, die Dichter für ihre Individualität zu schmähen, aber nachdem es sie geschmäht hat, lässt es sie in Frieden. Was den Roman und das Drama betrifft, Kunstformen, an denen das Publikum Anteil nimmt, ist das Ergebnis der vom Volk geübten Autorität absolut lächerlich gewesen. Kein Land bringt so schlecht geschriebene Romane, eine so langweilige, gewöhnliche Art der erzählenden Prosa, so platte, vulgäre Theaterstücke hervor wie England. Das ist nicht verwunderlich. Das Niveau des Volkstümlichen ist so geartet, dass kein Künstler es erreichen kann. Es ist zu leicht und zu schwer zugleich, ein populärer Romanschriftsteller zu sein. Es ist zu leicht, weil die Anforderungen des Publikums an die Handlung, den Stil und die Psychologie, an die Behandlung des Lebens und die Behandlung der Literatur, auch von der allergeringsten Begabung und dem allergewöhnlichsten Geist erfüllt werden können. Es ist zu schwer, weil der Künstler, um solchen Wünschen zu genügen, seinem Temperament Gewalt antun müsste, er könnte nicht mehr aus der artistischen Freude am Schreiben arbeiten, sondern nur zur Zerstreuung halbgebildeter Leute und müsste so seinen Individualismus unterdrücken, seine Kultur vergessen, seinen Stil zerstören und alles Wertvolle in sich aufgeben. Im Drama liegen die Dinge etwas günstiger: das Theaterpublikum liebt das Sinnfällige, aber das Langweilige mag es nicht; und Burleske und Farce, diese beiden volkstümlichen Gattungen sind echte Kunstformen. Mit den Mitteln der Burleske und der Farce können sehr schöne Werke entstehen. Bei Werken dieser Art genießt der Künstler in England sehr große Freiheit. Erst in den höheren Formen des Dramas wirkt sich die Kontrolle des Publikums aus. Es gibt nichts, was das Publikum so verabscheut wie Neuheit. jeder Versuch, den Themenkreis der Kunst zu er-weitern, ist dem Publikum äußerst verhasst; und doch beruhen die Lebensfähigkeit und die Entwicklung der Kunst in weitem Maße auf einer ununterbrochenen Ausdehnung des Themenkreises. Das Publikum verabscheut das Neue, weil es sich davor fürchtet. Das Publikum sieht darin eine Form des Individualismus, eine Betonung von seiten des Künstlers, dass er sich seinen eigenen Stoff wählt und ihn nach seiner Vorstellung behandelt. Das Publikum hat ganz recht mit seiner Haltung. Kunst ist Individualismus, und Individualismus ist eine aufrührerische, desintegrierende Macht. Darin liegt sein unschätzbarer Wert. Denn was der Individualismus aufzustören versucht, das ist die Eintönigkeit des Typischen, die Sklaverei des Hergebrachten, die Tyrannis der Gewohnheit, die Herabsetzung des Menschen auf das Niveau einer Maschine. In der Kunst lässt das Publikum das Vergangene gelten, weil es nicht mehr zu ändern ist, und keinesfalls weil man es schätzt. Es verschluckt seine Klassiker im Ganzen, ohne jemals auf den Geschmack zu kommen. Es lässt sie als etwas Unvermeidliches über sich ergehen, und da es sie nicht verderben kann, schwätzt es über sie. Seltsamerweise oder auch nicht, je nach dem Standpunkt, richtet dieses Hinnehmen der Klassiker sehr viel Schaden an. Die unkritische Bewunderung für die Bibel und Shakespeare in England sind Beispiele dafür. Was die Bibel betrifft, kommen noch Erwägungen über die kirchliche Autorität hinzu, so dass ich bei diesem Punkt nicht zu verweilen brauche.

Im Falle Shakespeares ist es ganz deutlich, dass das Publikum weder die Schönheiten noch die Mängel seiner Stücke erkennt. Würden die Leute seine Schönheit erkennen, könnten sie sich nicht gegen die Entwicklung des Dramas sperren; und würden sie seine Mängel erkennen, so könnten sie sich gleichfalls nicht gegen die Entwicklung des Dramas sperren. In der Tat benutzen die Leute die Klassiker eines Landes als Mittel, um die Entwicklung der Kunst aufzuhalten. Sie degradieren die Klassiker zu Autoritäten. Sie benutzen sie als Knüppel, um den freien Ausdruck der Schönheit in neuen Formen zu verhindern. Sie fragen den Schriftsteller immer, warum er nicht schreibt wie irgendein anderer, oder den Maler, warum er nicht wie ein anderer malt, wobei sie vergessen, dass jeder von ihnen, wenn er etwas Derartiges versuchte, aufhören würde, Künstler zu sein. Eine neue Art der Schönheit ist ihnen absolut verhasst, und sooft sie ihr begegnen, geraten sie in solche Wut und Verwirrung, dass sie stets zwei törichte Ausdrücke bereit haben - den einen, dass das Kunstwerk ganz und gar unverständlich, den anderen, dass das Kunstwerk ganz und gar amoralisch sei. Sie scheinen damit folgendes ausdrücken zu wollen. Wenn sie sagen, ein Werk sei völlig unverständlich, so meinen sie damit, der Künstler habe etwas Schönes geschaffen, das neu ist; wenn sie ein Werk als ganz und gar amoralisch bezeichnen, so meinen sie damit, der Künstler hat etwas Schönes gesagt oder geschaffen, das wahr ist. Die erste Bezeichnung gilt dem Stil; die zweite dem Stoff. Aber wahrscheinlich bedienen sie sich dieser Worte in einem sehr ungenauen Sinne, wie sich der Mob fertiger Pflastersteine bedient. Beispielsweise gibt es keinen einzigen wirklichen Dichter oder Prosaschriftsteller in diesem Jahrhundert, dem das britische Publikum nicht feierlich das Diplom der Amoral verliehen hätte, und diese Diplome treten bei uns praktisch an die Stelle einer formalen Aufnahme in eine Dichterakademie wie in Frankreich und machen erfreulicherweise eine solche Einrichtung in England ganz überflüssig. Natürlich geht das Publikum sehr bedenkenlos mit diesem Wort um. Dass es Wordsworth einen amoralischen Dichter nennen würde, war zu erwarten. Wordsworth war ein Dichter; aber dass es Charles Kingsley einen amoralischen Romanschriftsteller nennen würde, ist erstaunlich. Kingsleys Prosa ist nicht besonders schön. Aber sie haben nun einmal diesen Begriff und wenden ihn an so gut sie können. Der Künstler lässt sich natürlich nicht davon beirren. Ein wirklicher Künstler glaubt an sich, weil er ganz und gar er selbst ist. Doch kann ich mir vorstellen, dass ein Künstler in England, der ein Kunstwerk hervorbrächte, das sogleich bei seinem Erscheinen vom Publikum durch dessen Medium, die öffentliche Presse, als ein ganz verständliches und höchst moralisches Werk anerkannt wird, anfangen würde ernsthaft zu zweifeln, ob er sich in seiner Schöpfung wirklich selbst ausgedrückt habe und ob darum dieses Werk seiner nicht ganz unwürdig und entweder absolut zweitrangig sei oder überhaupt keinen künstlerischen Wert besäße.

Vielleicht habe ich jedoch dem Publikum unrecht getan, wenn ich es auf die Worte »amoralisch«, »unverständlich«, »exotisch« und »ungesund« beschränke. Es gibt noch ein anderes Wort, das man gern gebraucht, es ist das Wort »morbid«. Man gebraucht es nicht allzu häufig. Die Bedeutung des Wortes ist so einfach, dass man es nur zögernd anwendet. Und doch wird es manchmal benützt, und hin und wieder begegnet man ihm in weitverbreiteten Zeitungen. Selbstverständlich wirkt das Wort, auf ein Kunstwerk angewandt, lächerlich. Denn ist Krankhaftigkeit etwas anderes als eine Gefühlsstimmung oder ein Gedankenzustand, den man nicht auszudrücken vermag? Das Publikum ist durch und durch krankhaft, denn das Publikum findet für nichts einen Ausdruck. Der Künstler ist niemals krankhaft. Er drückt alles aus. Er steht außerhalb seines Gegenstandes und bringt durch ihn unvergleichliche und künstlerische Wirkungen hervor. Einen Künstler morbide zu nennen, weil er sich die Krankhaftigkeit zum Thema nimmt, ist so albern, wie wenn man Shakespeare wahnsinnig nennen würde, weil er den König Lear geschrieben hat.

Im ganzen gewinnt ein Künstler in England dadurch, dass er angegriffen wird. Seine Individualität wird gesteigert. Er wird mehr er selbst. Freilich sind die Angriffe sehr massiv, sehr unverschämt und sehr verächtlich. Aber schließlich erwartet kein Künstler Anmut von einer niedrigen Gesinnung oder Stil von einer Vorstadtintelligenz. Vulgarität und Dummheit sind zwei äußerst lebendige Tatsachen im Leben von heute. Man bedauert das natürlich. Aber sie sind nun einmal da. Sie sind Studienobjekte, wie alles andere auch. Und der Gerechtigkeit halber muss man anerkennen, dass die modernen Journalisten sich stets, wenn man ihnen privat begegnet, dafür entschuldigen, was sie öffentlich gegen einen geschrieben haben.

Es sei vielleicht erwähnt, dass der sehr begrenzte Wortschatz, der dem Publikum im Bereich der Kunstschmähungen zur Verfügung steht, in den letzten Jahren um zwei neue Adjektive bereichert wurde. Das eine Wort ist »ungesund«, das andere »exotisch«. Das zweite Wort drückt nichts als die Wut des kurzlebigen Pilzes gegen die unsterbliche, zauberhafte, unvergleichlich schöne Orchidee aus. Es ist eine Achtungsbezeugung, aber eine Achtungsbezeugung ohne Bedeutung. Das Wort »ungesund« jedoch lässt eine Analyse zu. Es ist ein ziemlich aufschlussreiches Wort. Es ist wirklich so aufschlussreich, dass die Leute, die es gebrauchen, seinen Sinn nicht verstehen.

Was bedeutet es? Was ist ein gesundes oder ein ungesundes Kunstwerk? Alle Begriffe, die man auf ein Kunstwerk anwendet, vorausgesetzt, dass man sie vernünftig anwendet, beziehen sich auf seinen Stil oder seinen Stoff oder auf beides. Was den Stil betrifft, so ist jenes ein gesundes Kunstwerk, dessen Stil der Schönheit des angewandten Materials gerecht wird, mag dieses Material aus Worten oder aus Bronze, aus Farbe oder Elfenbein bestehen, und das diese Schönheit als Element der ästhetischen Wirkung benutzt. Was den Stoff betrifft, so ist ein gesundes Kunstwerk jenes, dessen Wahl des Stoffes vom Temperament des Künstlers bestimmt wird und unmittelbar daraus hervorgeht. Mit einem Wort, ein gesundes Kunstwerk ist dasjenige, das Vollkommenheit und Persönlichkeit in sich vereinigt. Natürlich können Form und Inhalt in einem Kunstwerk nicht getrennt werden; sie bilden immer eine Einheit. Aber zum Zwecke der Analyse verzichten wir einen Augenblick lang auf die Ganzheit des ästhetischen Eindrucks und trennen die beiden Begriffe. Dagegen handelt es sich um ein ungesundes Kunstwerk, wenn dessen Stil platt, altmodisch und gewöhnlich ist und dessen Stoff mit Vorbedacht gewählt wurde, nicht weil der Künstler irgendwelche Freude daran findet, sondern weil er denkt, dass ihn das Publikum dafür bezahlen wird. In der Tat ist der volkstümliche Roman, den das Publikum gesund nennt, immer ein äußerst ungesundes Gebilde; und was das Publikum als ungesunden Roman bezeichnet, ist immer ein schönes und gesundes Kunstwerk.

Ich brauche kaum zu betonen, dass ich keinen Augenblick lang den Missbrauch dieser Worte durch das Publikum und die öffentliche Presse bedaure. Ich wüsste nicht, wie sie bei ihrem Mangel an Einsicht in das Wesen der Kunst die Worte in ihrem richtigen Sinn anwenden könnten. Ich stelle lediglich den Missbrauch fest; und die Erklärung für den Ursprung des Missbrauchs und die ihm zugrunde liegende Bedeutung ist sehr einfach. Er wurzelt in der barbarischen Konzeption der Autorität. Er rührt her von dem natürlichen Unvermögen einer durch die Autorität verdorbenen Gesellschaft, den Individualismus zu verstehen oder zu würdigen. Mit einem Wort, es rührt von dem monströsen und unwissenden Wesen her, das man die öffentliche Meinung nennt, die schlimm und wohlmeinend ist, wenn sie das Handeln zu kontrollieren versucht, die infam und übelmeinend wird, wenn sie versucht, das Denken oder die Kunst zu kontrollieren.

In der Tat, es lässt sich zugunsten der physischen Kraft der Öffentlichkeit viel mehr vorbringen als zugunsten ihrer Meinung. Jene mag schön sein. Diese aber ist unweigerlich absurd. Man behauptet oft, Kraft sei kein Argument. Das hängt jedoch vollkommen davon ab, was man beweisen will. Viele von den wichtigsten Problemen der letzten Jahrhunderte, wie beispielsweise die Fortdauer der persönlichen Herrschaft in England oder des Feudalismus in Frankreich sind ausschließlich mit Hilfe physischer Kraft gelöst worden. Gerade die Gewalttätigkeit einer Revolution kann das Volk für einen Augenblick groß und herrlich erscheinen lassen. Es war eine böse Stunde, als das Volk entdeckte, dass die Feder mächtiger ist als der Pflasterstein und eine wirksamere Waffe als der Ziegel. Sogleich suchte man sich den Journalisten, fand ihn, erzog ihn und machte ihn zu seinem gut bezahlten Sklaven. Das ist beiden Teilen zum Nachteil geraten. Hinter der Barrikade mag vieles Vornehme und Heroische stehen. Aber was steht hinter einem Leitartikel anderes als Vorurteil, Dummheit, Verblasenheit und Geschwätz? Und wenn diese vier zusammentreffen, bilden sie eine furchtbare Kraft und konstituieren die neue Autorität.

In früheren Zeiten bediente man sich der Folter. Heutzutage bedient man sich der Presse. Das ist gewiss ein Fortschritt. Aber es ist noch immer schlimm genug und unrecht und demoralisierend. jemand - war es Burke? - nannte den Journalismus den vierten Stand. Das war seinerzeit zweifellos richtig. Gegenwärtig ist er jedoch wirklich der einzige Stand. Er hat die drei anderen geschluckt. Die weltlichen Herren sagen nichts, die geistlichen Herren haben nichts zu sagen und das Unterhaus hat nichts zu sagen und sagt trotzdem etwas. Wir werden vom Journalismus beherrscht. In Amerika regiert der Präsident vier Jahre, und der Journalismus herrscht unbegrenzt. Zum Glück hat der Journalismus in Amerika seine Autorität ins plumpeste und brutalste Extrem getrieben. Als natürliche Folge hat er den Geist der Empörung hervorgerufen. Man macht sich über ihn lustig oder ist angeekelt, je nach Temperament. Aber er hat nicht mehr die Wirksamkeit, die er früher besaß. Er wird nicht ernst genommen. In England, wo der Journalismus mit Ausnahmen einiger bekannter Fälle in ähnliche Exzesse der Brutalität verfiel, bildet er immer noch einen wichtigen Faktor, eine echte, nicht zu unterschätzende Macht. Die Anmaßung, mit der er seine Tyrannis über das Privatleben der Leute ausübt, erscheint mir ganz außerordentlich. Wahr ist, dass das Publikum von unstillbarer Neugier erfüllt ist, alles zu wissen, außer dem, was wirklich wissenswert ist. Der Journalismus, dessen bewusst, erfüllt in seinem wachen Geschäftssinn dieses Verlangen. In früheren Jahrhunderten nagelte man die Ohren der Journalisten an Pumpen. Das war sehr grausam. In diesem Jahrhundert haben die Journalisten ihre eigenen Ohren an die Schlüssellöcher genagelt. Das ist weit schlimmer. Und was noch ärger ist, die Journalisten, die den schwersten Tadel verdienen, sind nicht etwa die unterhaltenden Zeitungsschreiber, die für die sogenannten Gesellschaftsblätter schreiben. Das Unheil wird von den seriösen, nachdenklichen, würdigen Journalisten angerichtet, die heutzutage feierlich irgendein Ereignis aus dem Privatleben eines bedeutenden Staatsmannes vor die Augen der Öffentlichkeit zerren; eines Mannes, der Führer einer politischen Gedankenrichtung ist und somit politische Macht begründet; das Publikum wird eingeladen, den Vorfall zu diskutieren, sich ein Urteil darüber anzumaßen, seine Meinung darüber abzugeben und nicht nur seine Meinung abzugeben, sondern diese auch noch zu verwirklichen, dem Mann in allen anderen Punkten Vorschriften zu machen, seiner Partei Vorschriften zu machen, seinem Lande Vorschriften zu machen; kurz gesagt, sich als lächerlich, beleidigend und schädlich zu erweisen. Über das Privatleben eines Mannes oder einer Frau sollte das Publikum nichts erfahren. Das Publikum hat überhaupt nichts damit zu tun.

In Frankreich verhält man sich solchen Dingen gegenüber klüger. Dort gestattet man nicht, dass Einzelheiten aus Ehescheidungsprozessen veröffentlicht und dem Publikum zur Unterhaltung und Kritik vorgelegt werden. Das Publikum erfährt nur, dass die Scheidung ausgesprochen wurde und auf Verlangen des einen oder anderen Ehepartners eingereicht war. In Frankreich sind dem Journalisten Grenzen gesetzt, dafür gewährt man dem Künstler nahezu absolute Freiheit. Hier gewähren wir dem Journalisten absolute Freiheit und beschränken den Künstler ganz und gar. Die öffentliche Meinung in England, darüber können wir nicht hinwegsehen, versucht denjenigen, der der Schöpfer schöner Dinge ist, zu fesseln, zu behindern, zu unterdrücken, und sie zwingt den Journalisten, hässliche, geschmacklose oder empörende Dinge zu berichten, so dass wir die seriösesten Journalisten und die schamlosesten Zeitungen der Welt besitzen. Es ist nicht übertrieben, von einem Zwang zu sprechen. Vielleicht gibt es ein paar Journalisten, denen es ein echtes Vergnügen bereitet, von widerlichen Dingen zu berichten, oder die aus Armut hinter Skandalen herjagen, als einer Art Grundlage, die ihnen ein dauerndes Einkommen garantiert. Aber ich bin sicher, dass es auch andere Journalisten gibt, Männer von Erziehung und Bildung, die diese Sachen nur widerwillig veröffentlichen, die das Falsche ihrer Handlungsweise einsehen und nur deshalb so handeln, weil die ungesunden Verhältnisse, unter denen sie ihren Beruf ausüben, sie zwingen, die Wünsche des Publikums zu erfüllen und sich dabei dem allergewöhnlichsten Geschmack anzupassen, um mit anderen Journalisten zu konkurrieren. Sich in einer solchen Lage zu befinden, ist für jeden kultivierten Menschen äußerst erniedrigend, und ich bezweifle nicht, dass die meisten dies bitter empfinden.

Aber wenden wir uns nunmehr von dieser besonders hässlichen Seite des Gegenstandes ab und kehren zurück zur Frage der öffentlichen Kontrolle über die Kunst, womit ich sagen will, dass die öffentliche Meinung dem Künstler vorschreibt, welcher Form er sich bedienen soll und in welcher Art und Weise und welches Material er auswählen müsse. Ich habe ausgeführt, dass in England diejenigen Künste am freiesten geblieben sind, an denen das Publikum keinen Anteil nahm. Es interessiert sich jedoch für das Drama, und da im Drama während der letzten zehn oder fünfzehn Jahre ein gewisser Fortschritt zu verzeichnen war, muss man unbedingt hervorheben, dass dieser Fortschritt ausschließlich ein paar individuellen Künstlern zu danken ist, die es abgelehnt haben, sich dem Publikumsgeschmack anzupassen und es ebenfalls abgelehnt haben, die Kunst als einen bloßen Gegenstand von Angebot und Nachfrage zu betrachten. Hätte er nichts anderes im Sinne gehabt, als die Wünsche des Publikums zu befriedigen, so hätte Irving, dank seiner wundervollen und lebendigen Persönlichkeit, seinem unverwechselbaren Stil und seiner außerordentlichen Gabe nicht nur zu nachahmenden, sondern zu phantasievollen und geistreichen Schöpfungen, die allergewöhnlichsten Stücke in der allergewöhnlichsten Manier schreiben und so viel Geld und Erfolg damit verdienen können, wie er nur wollte. Aber das war nicht sein Ziel. Sein Ziel war, seine Vollendung als Künstler unter bestimmten Voraussetzungen und in bestimmten Kunstformen zu verwirklichen. Zuerst hat er sich an die wenigen gewandt: jetzt hat er die vielen erzogen. Er hat im Publikum sowohl Geschmack als auch Temperament erweckt. Das Publikum weiß seinen Erfolg außerordentlich zu schätzen. Trotzdem frage ich mich oft, ob die Leute verstehen, dass dieser Erfolg nur der Tatsache zuzuschreiben ist, dass er sich niemals ihrem Maßstab unterwarf, sondern seinen eigenen Vorstellungen folgte. Hätte er ihr Niveau akzeptiert, so wäre das Lyceum-Theater eine zweitrangige Schmierenbühne geworden, wie es gegenwärtig einige volkstümliche Theater in London sind. Ob die Leute es begreifen oder nicht, die Tatsache bleibt bestehen, dass Geschmack und Temperament bis zu einem gewissen Grade im Publikum geweckt worden sind und dass das Publikum fähig ist, diese Eigenschaften zu entwickeln. Daraus entsteht die Frage, warum das Publikum nicht zivilisierter wird. Die Fähigkeit dazu ist vorhanden. Wodurch wird es gehindert?

Was das Publikum hindert, es muss nochmals betont werden, ist sein Verlangen, Autorität über den Künstler und über Kunstwerke auszuüben. In bestimmte Theater, wie das Lyceum und das Haymarket, kommt das Publikum anscheinend in der richtigen Stimmung. In beiden Theatern waren es individuelle Künstler, denen es gelang, in ihren Zuschauern - und jedes Londoner Theater hat sein eigenes Publikum - den Gemütszustand zu erwecken, an den sich die Kunst wendet. Und was ist das für ein Gemütszustand? Es ist der Zustand der Empfänglichkeit. Das ist alles.

Wenn ein Mensch sich einem Kunstwerk nähert mit dem Verlangen, über das Werk und den Künstler Autorität auszuüben, dann nähert er sich ihm in einem bestimmten geistigen Zustand, der jeden künstlerischen Eindruck unmöglich macht. Das Kunstwerk soll den Zuschauer beherrschen: nicht der Zuschauer das Kunstwerk. Der Zuschauer soll empfänglich sein. Er soll die Violine sein, die der Meister spielt. Und je vollständiger er seine eigenen dummen Ansichten, seine eigenen törichten Vorurteile, seine eigenen absurden Ideen über das, was die Kunst sein und was sie nicht sein sollte, unterdrückt, desto wahrscheinlicher wird er das Kunstwerk zu verstehen und zu würdigen wissen. Das wird natürlich besonders deutlich, wenn man an das gewöhnliche englische Theaterpublikum denkt. Aber es gilt genauso für die sogenannten Gebildeten. Denn die Vorstellungen eines Gebildeten über Kunst leiten sich natürlich davon ab, was Kunst war, während das neue Kunstwerk dadurch schön ist, dass es ist, was die Kunst noch nie war; und es mit den Maßstäben der Vergangenheit zu messen heißt, ein Maß anwenden, von dessen Verwerfung seine wahre Vollendung abhängt. Nur ein Temperament, das durch seine Phantasie, in einem Zustand vertiefter Einbildungskraft, neue und schöne Eindrücke zu empfangen vermag, wird imstande sein, ein Kunstwerk zu würdigen. Und so richtig sich dies in der Würdigung der Bildhauerei und der Malerei erweist, so gilt es erst recht für eine Kunst wie das Drama. Denn ein Bild oder eine Statue stehen nicht im Kampf mit der Zeit. Der Zeitablauf ist für sie ohne Belang. Ihre Einheit kann in einem einzigen Augenblick erfasst werden. Mit der Literatur verhält es sich anders. Ehe die Einheit der Wirkung wahrgenommen wird, muss Zeit vergehen. Und so kann im ersten Akt eines Dramas etwas vorfallen, dessen wirklicher künstlerischer Wert dem Zuschauer erst im dritten oder vierten Akt klar wird. Soll da der törichte Kerl wütend werden und laut schimpfen und das Spiel stören und die Künstler belästigen? Nein. Der Biedermann soll ruhig dasitzen und die köstlichen Empfindungen der Überraschung, der Neugier und der Spannung kennen lernen. Er soll nicht ins Theater gehen, um seine üble Laune abzureagieren. Er soll ins Theater gehen, um eine künstlerische Stimmung in sich zu erzeugen, um eine künstlerische Stimmung zu durchleben. Er ist nicht der Richter über das Kunstwerk. Es wird ihm gestattet, das Kunstwerk zu betrachten und, wenn es ein großes Kunstwerk ist, in seiner Betrachtung all die Überheblichkeit zu vergessen, die ihn zerstört - die Überheblichkeit seiner Unwissenheit, die Überheblichkeit seiner Bildung. Diese Eigenart des Dramas ist, wie ich glaube, noch kaum genügend erkannt worden. Wenn Macbeth zum erstenmal vor einem modernen Londoner Publikum aufgeführt würde, so könnte ich verstehen, dass viele der Anwesenden gegen das Auftreten der Hexen im ersten Akt mit ihren grotesken Redensarten und lächerlichen Worten heftig und entschieden protestieren würden. Aber wenn das Stück zu Ende ist, versteht man, dass das Gelächter im Macbeth ebenso schrecklich ist wie das Gelächter des Wahnsinns im Lear, noch schrecklicher als Jagos Gelächter in der Tragödie des Mohren. Kein Kunstbetrachter bedarf der empfänglichen Stimmung mehr als der Zuschauer eines Dramas. In dem Augenblick, wo er Autorität auszuüben versucht, wird er der ausgesprochene Feind der Kunst und seiner selbst. Die Kunst bleibt davon unberührt. Er ist es, der darunter leidet.

Mit dem Roman verhält es sich genauso. Die Autorität der Massen und das Anerkennen dieser Autorität ist verhängnisvoll. Thackerays Esmond ist ein herrliches Kunstwerk, weil er es zu seinem eigenen Vergnügen schrieb. In seinen anderen Romanen, in Pendennis, Philip und sogar in Jahrmarkt der Eitelkeit ist er sich bisweilen des Lesers allzu bewusst und verdirbt seine Schöpfung, indem er sich offen an die Sympathien des Publikums wendet oder sich offen darüber lustig macht. Ein echter Künstler kümmert sich nicht um das Publikum. Es existiert nicht für ihn. Er hat keine Mohn oder Honig gefüllten Kuchen, mit denen er das Ungeheuer einschläfert oder füttert. Das überlässt er dem volkstümlichen Schriftsteller. Einen unvergleichlichen Romanschriftsteller haben wir heute in England, es ist George Meredith. Es gibt in Frankreich größere Künstler, aber Frankreich hat keinen, dessen Sicht vom Leben so weit gespannt, so vielfältig und in der Phantasie so wahr ist. In Russland gibt es Erzähler, die eine lebhaftere Empfindung für die Darstellung des Leidens besitzen. Aber seine Stärke ist das philosophische Element im Roman. Seine Figuren leben nicht nur, sie verstehen zu denken. Man kann sie von unzähligen Blickpunkten aus betrachten. Sie wirken suggestiv. Sie haben eine Seele und eine Aura um sich. Sie geben Aufschlüsse und sind gleichzeitig symbolisch. Und der, welcher sie geschaffen hat, jene wundervollen, beweglichen Gestalten, hat sie zu seiner eigenen Freude erschaffen und hat nie das Publikum nach seinen Wünschen gefragt, er hat sich nie darum gekümmert, hat dem Publikum niemals erlaubt, ihm Vorschriften zu machen oder ihn in irgendeiner Weise zu beeinflussen; vielmehr hat er seine eigene Persönlichkeit weiter vertieft und sein eigenes individuelles Werk hervorgebracht. Zuerst beachtete ihn niemand. Das war gleichgültig. Dann kamen die wenigen zu ihm. Das veränderte ihn nicht. jetzt ist die Menge gekommen. Er ist der gleiche geblieben. Er ist ein hervorragender Romanschriftsteller.

Mit den dekorativen Künsten verhält es sich nicht anders. Das Publikum klammerte sich mit wahrhaft pathetischer Zähigkeit an dem fest, was ich als die direkten Traditionen der großen Schaustellung der internationalen Gewöhnlichkeit betrachte, Traditionen, die so verheerend waren, dass die Häuser, in denen die Leute lebten, nur für Blinde bewohnbar waren. Da fing man an, schöne Dinge herzustellen, die Hand des Färbers lieferte schöne Farben, der Geist des Künstlers ersann schöne Muster, und der Gebrauch schöner Dinge, ihr Wert und ihre Wichtigkeit wurden aufgezeigt. Das Publikum war sehr ungehalten darüber. Es verlor seine Laune. Es redete Unsinn. Keiner kümmerte sich darum. Niemand fühlte sich um ein Jota geringer. Niemand beugte sich der Macht der öffentlichen Meinung. Und jetzt ist es beinahe unmöglich, in ein modernes Haus zu treten, ohne wenigstens den Anklang eines guten Geschmacks zu entdecken, ein wenig Verständnis für den Wert einer hübschen Umgebung, einer Spur von Schönheit zu begegnen. Wirklich sind heutzutage die Wohnhäuser in der Regel ganz reizend. Die Leute sind in sehr großem Maße kultiviert geworden. Allerdings muss man sich vor Augen halten, dass der außerordentliche Erfolg der Veränderung im Wohnungsdekor und der Möbeleinrichtung und was sonst noch dazu gehört, nicht der Mehrzahl des Publikums zuzuschreiben ist, das in diesen Dingen einen so erlesenen Geschmack entwickelt hätte. Er war vor allem dem Umstand zu verdanken, dass die Kunsthandwerker die Lust, schöne Dinge hervorzubringen, so hoch schätzten und die Hässlichkeit und Gewöhnlichkeit der bisherigen Wünsche des Publikums so deutlich empfanden, dass sie das Publikum einfach aushungerten. Es wäre gegenwärtig ganz unmöglich, einen Raum so auszustatten, wie man noch vor wenigen Jahren einen Raum auszustatten pflegte, ohne jedes Stück in einer Auktion für Gebrauchtmöbel aus einer drittklassigen Pension zu erstehen. Diese Sachen werden nicht mehr hergestellt. Wie sehr die Leute sich auch sträuben mögen, heutzutage müssen sie etwas Hübsches in ihrer Umgebung dulden. Zu ihrem Glück hat ihre Anmaßung der Autorität in diesen Kunstzweigen nichts auszurichten vermocht.

Es ist offensichtlich, dass jede Autorität in diesen Dingen von Übel ist. Manchmal stellen die Leute die Frage, unter welcher Regierungsform ein Künstler am angemessensten lebe. Es gibt darauf nur eine Antwort. Für den Künstler gibt es nur eine passende Regierungsform, nämlich gar keine Regierung. Es ist lächerlich, über ihn und seine Kunst Autorität auszuüben. Man hat behauptet, dass Künstler unter der Herrschaft des Despotismus herrliche Werke hervorgebracht haben. Das verhält sich nicht ganz so. Die Künstler haben Despoten aufgesucht, aber nicht als Untertanen, um sich tyrannisieren zu lassen, sondern als wandernde Wundertäter, als vagabundierende, faszinierende Persönlichkeiten, um gastlich aufgenommen und umschmeichelt zu werden und um die Ruhe zu schöpferischem Werk zu gewinnen. Zugunsten des Despoten ist zu sagen, dass er als Individuum Kultur besitzen kann, während diese dem Pöbel, als einem wahren Ungeheuer, fehlt. Ein Kaiser und ein König werden sich vielleicht bücken, um einem Maler den Pinsel aufzuheben, wenn sich 'aber die Demokratie bückt, tut sie es vor allem, um mit Dreck zu werfen. Und doch braucht sich die Demokratie nicht so tief zu bücken wie der Kaiser. ja, wenn sie mit Dreck werfen will, braucht sie sich überhaupt nicht zu bücken. Doch ist es nicht notwendig, zwischen dem Monarchen und dem Pöbel zu unterscheiden; jede Autorität ist gleichermaßen ein Übel.

Es gibt drei Arten von Despoten: den Despoten, der den Leib knechtet, den Despoten, der die Seele knechtet und den Despoten, der Leib und Seele gleichzeitig knechtet. Der erste ist der Fürst. Der zweite ist der Pabst. Der dritte ist das Volk. Der Fürst kann Kultur besitzen. Viele Fürsten besaßen Kultur. Doch vom Fürsten droht Gefahr. Man denke an die Kränkung Dantes auf dem Fest in Verona, an Tasso in der Tollhauszelle in Ferrara. Für den Künstler ist es besser, nicht in der Umgebung von Fürsten zu leben. Der Papst mag Kultur haben. Viele Päpste besaßen Kultur, und zwar gerade die schlechten Päpste. Die schlechten Päpste liebten die Schönheit fast so leidenschaftlich, ja mit ebensoviel Leidenschaft, wie die guten Päpste den Geist hassten. Der Schwäche der Päpste verdankt die Menschheit vieles. Die guten Päpste haben an der Menschheit Schreckliches verschuldet. Doch wenn auch der Vatikan die Rhetorik seines Donnerns beibehalten und die Zuchtrute seiner Blitze verloren hat, ist es besser für den Künstler, nicht bei den Päpsten zu leben. Es gab einen Papst, der in einem Konklave der Kardinäle über Cellini sagte, dass die allgemeinen Gesetze und die über alle geübte Autorität nicht für seinesgleichen gälten; aber es war auch ein Papst, der Cellini ins Gefängnis warf und ihn dort so lange festhielt, bis er vor Zorn krank wurde und sich unwirkliche Vorstellungen schuf, die goldene Sonne in sein Zimmer kommen sah und sich so sehr in sie verliebte, dass er den Plan zur Flucht fasste und herauskroch von Turm zu Turm, und in der Dämmerung durch die schwindelerregende Luft fiel und sich verletzte; er wurde von einem Winzer mit Weinlaub bedeckt und in einem Karren zu jemandem gebracht, der ein Liebhaber schöner Dinge war und sich seiner annahm. Von den Päpsten droht Gefahr. Und was das Volk betrifft, was soll man von ihm und seiner Autorität sagen? Vielleicht ist über das Volk und seine Autorität schon genug gesprochen worden. Die Autorität des Volkes ist etwas Blindes, Taubes, Hässliches, Groteskes, Tragisches, Amüsantes, Ernsthaftes und Obszönes. Es ist für den Künstler unmöglich, mit dem Volk zu leben. Alle Despoten bestechen. Das Volk besticht und brutalisiert. Wer hat es gelehrt, Autorität zu üben? Es war geschaffen zu leben, zu lauschen und zu lieben. Jemand hat ihm einen großen Schaden zugefügt. Es hat sich selbst verdorben, indem es seine Oberen nachahmte. Es hat das Zepter des Fürsten an sich gerissen. Wie sollte es imstande sein, es zu gebrauchen? Es hat die dreifache Tiara des Papstes ergriffen. Wie sollte es ihre Last tragen? Es gleicht einem Clown mit einem gebrochenen Herzen. Es ist wie ein Priester, dessen Seele noch nicht geboren wurde. Wer die Schönheit liebt, mag das Volk bemitleiden. Obgleich es die Schönheit selbst nicht liebt, so mag es doch Mitleid mit sich selbst hegen. Wer hat das Volk die Niedertracht der Tyrannei gelehrt?

Es gibt noch viele andere Dinge, auf die man hinweisen könnte. Man sollte ausführen, wie die Renaissance zu ihrer Größe gelangte, weil sie nicht bestrebt war, soziale Probleme zu lösen; dass sie sich um Probleme dieser Art überhaupt nicht bekümmerte, sondern das Individuum in Freiheit und Schönheit und Natürlichkeit sich entfalten ließ und so große und individuelle Künstler und große, individuelle Menschen hervorbrachte. Man könnte deutlich machen, wie Ludwig XIV., indem er den modernen Staat schuf, den Individualismus des Künstlers zerstörte und den Dingen durch die Einförmigkeit ihrer Wiederholung etwas Monströses verlieh und sie herabwürdigte durch die zur Regel erhobene Gleichförmigkeit und in ganz Frankreich all jene edlen Freiheiten des Ausdrucks abtötete, die die Tradition in der Schönheit erneuert und neue Gebilde neben der antiken Form geschaffen hatten. Aber die Vergangenheit ist ohne Bedeutung. Die Gegenwart ist ohne Gewicht. Mit der Zukunft allein haben wir uns auseinander zusetzen. Denn die Vergangenheit ist, was der Mensch nicht hätte sein dürfen. Die Gegenwart ist, was der Mensch nicht sein sollte. Die Zukunft ist, was die Künstler sind.

Es wird natürlich der Einwand erfolgen, dass ein solcher Entwurf, wie er hier dargelegt ist, unausführbar bleibt und der menschlichen Natur widerspricht. Das ist völlig richtig. Er ist unausführbar und widerspricht der menschlichen Natur. Und eben deshalb ist er es wert, verwirklicht zu werden, deshalb wird er vorgeschlagen. Denn was ist ein ausführbarer Entwurf.? Ein ausführbarer Entwurf ist entweder ein Entwurf, der bereits Gestalt angenommen hat, oder ein Entwurf, der unter den bestehenden Verhältnissen ausgeführt werden könnte. Aber gerade die bestehenden Verhältnisse sind es, die bekämpft werden; und jeder Entwurf, der sich den bestehenden Verhältnissen anpasst, ist falsch und töricht. Die Verhältnisse werden abgeschafft werden, und die Natur des Menschen wird sich verändern. Man weiß über die menschliche Natur nur das eine mit Sicherheit, dass sie sich verändert. Veränderlichkeit ist die einzige Eigenschaft, über die wir wirklich etwas vorauszusagen vermögen. Die Systeme, die scheitern, sind jene, die auf der Beständigkeit der menschlichen Natur aufbauen und nicht auf ihrem Wachstum und ihrer Entwicklung. Der Irrtum Ludwigs XIV. bestand darin, dass er dachte, die menschliche Natur bleibe stets die gleiche. Das Ergebnis seines Irrtums war die Französische Revolution. Es war ein erstaunliches Ergebnis. Alle Ergebnisse aus den Fehlern der Regierungen sind ganz erstaunlich.

Es ist zu beachten, dass der Individualismus nicht mit irgendeinem widerlichen Gejammer über die Pflicht an den Menschen herantritt, was nichts anderes bedeutet, als dass man das tun soll, was die anderen wollen, weil sie es wollen; noch mit dem hässlichen Winseln der Selbstaufopferung, diesem Überbleibsel barbarischer Selbstverstümmelung. Der Individualismus tritt mit überhaupt keinen Forderungen an den Menschen heran. Er entsteht natürlich und unvermeidlich aus dem Menschen selbst. Zu diesem Ziel tendiert alle Entwicklung hin. Zu dieser Differenzierung reifen alle Organismen heran. Er ist die Vollendung, die jeder Lebensform inhärent ist und zu der sich jede Lebensform hin entwickelt. Und so übt der Individualismus keinen Zwang auf den Menschen aus. Im Gegenteil, er sagt dem Menschen, er solle keinen Zwang auf sich dulden. Er versucht nicht, die Menschen zu zwingen, gut zu sein. Er weiß, dass die Menschen gut sind, wenn man sie in Frieden lässt. Der Mensch wird den Individualismus aus sich selbst heraus entwickeln, und er entwickelt ihn jetzt auf diese Weise. Zu fragen, ob der Individualismus praktizierbar ist, gleicht der Frage, ob die Evolution praktizierbar ist. Evolution ist das Gesetz des Lebens, und es gibt keine andere Entwicklung als hin zum Individualismus. Wo sich diese Tendenz nicht ausdrückt, liegt immer künstlich aufgehaltenes Wachstum vor, Krankheit oder Tod.

Der Individualismus wird auch selbstlos und aufrichtig sein. Es ist darauf hingewiesen worden, dass eine der Folgen der unerträglichen Tyrannei der Autorität sich darin zeige, dass die Worte in ihrer natürlichen und einfachen Bedeutung völlig entstellt wurden und dass man sie dazu missbrauchte, das Gegenteil ihres richtigen Sinnes auszudrücken. Was in der Kunst für wahr gilt, ist auch im Leben wahr. Ein Mensch, der sich nach seiner Neigung kleidet, wird jetzt gekünstelt genannt. Aber indem er es tut, handelt er auf völlig natürliche Weise. Die Künstlichkeit liegt in solchen Fällen darin, dass man sich nach dem Geschmack seiner Mitmenschen kleidet, der vermutlich, da er der Geschmack der Mehrzahl ist, sehr dumm sein wird. Oder man nennt einen Menschen egoistisch, wenn er sein Leben auf eine Art und Weise führt, die ihm angemessen erscheint, um seine Persönlichkeit ganz zu verwirklichen; vorausgesetzt, dass die Selbstverwirklichung das beherrschende Ziel seines Lebens ist. Aber jeder sollte in dieser Weise leben. Egoismus besteht nicht darin, dass man sein Leben nach seinen Wünschen lebt, sondern darin, dass man von anderen verlangt, dass sie so leben, wie man es wünscht. Und Selbstlosigkeit heißt, andere in Frieden lassen und sich nicht in ihre Angelegenheiten mischen. Der Egoismus ist immer bestrebt, um sich herum eine absolute Gleichheit des Typus zu schaffen. Die Selbstlosigkeit erkennt die unendliche Vielfalt des Typus als etwas Kostbares an, stimmt ihr zu, geht darauf ein, ja, erfreut sich daran. Es ist keineswegs egoistisch, an sich zu denken. Wer nicht an sich denkt, denkt überhaupt nicht. Es ist äußerst egoistisch, von dem Mitmenschen zu verlangen, dass er in derselben Weise denken, dieselben Meinungen haben soll. Warum sollte er das? Wenn er denken kann, wird er wahrscheinlich verschieden denken. Wenn er nicht denken kann, ist es lächerlich, überhaupt Gedanken irgendwelchen Art von ihm zu verlangen. Eine rote Rose ist nicht egoistisch, bloß weil sie eine rote Rose sein will. Sie wäre schrecklich egoistisch, wenn sie von allen anderen Blumen des Gartens verlangen wollte, dass sie nicht nur rot, sondern auch Rosen sein sollten. Unter dem Individualismus werden die Menschen ganz natürlich und vollkommen selbstlos sein, sie werden die Bedeutung der Worte kennen und sie in ihrem freien, schönen Leben anwenden. Auch werden die Menschen keine Egoisten mehr sein, wie sie es jetzt sind. Denn derjenige ist ein Egoist, der Ansprüche an andere macht, und der Individualist wird gar nicht den Wunsch danach verspüren. Es wird ihm kein Vergnügen bereiten. Wenn der Mensch den Individualismus verwirklicht hat, wird er auch das Mitgefühl lebhaft empfinden und es frei und spontan üben. Bis jetzt hat der Mensch das Mitgefühl noch kaum ausgebildet. Er hat vor allem Mitgefühl mit dem Schmerz, und diese Form des Mitgefühls ist keineswegs die höchste. Jedes Mitgefühl ist edel, aber Mitgefühl mit dem Leiden ist am wenigsten edel. Es ist mit Selbstsucht vermischt. Es trägt den Keim des Ungesunden in sich. Es liegt eine gewisse Angst um unsere eigene Sicherheit darin. Wir fürchten, selbst in den gleichen Zustand wie der Aussätzige oder der Blinde zu geraten, und wir fürchten, dass dann niemand für uns sorgen würde. Es führt auch zu einer eigenen Begrenztheit. Man sollte mit der Unversehrtheit des Lebens empfinden, nicht bloß mit seinen Wunden und Gebrechen, sondern mit der Freude und Schönheit, der Kraft, der Gesundheit und der Freiheit des Lebens. je weiter das Mitgefühl reicht, desto schwieriger wird es natürlich. Es verlangt größere Selbstlosigkeit. jedermann vermag für die Leiden eines Freundes Mitgefühl zu empfinden, aber es setzt ein sehr edles Wesen voraus es setzt in der Tat das Wesen eines echten Individualisten voraus -, an dem Erfolg eines Freundes teilzunehmen.

In den modernen Konkurrenzzwang und dem Kampf um einen Platz ist solche Teilnahme natürlich selten, und sie wird auch durch das unsittliche Ideal der Gleichförmigkeit des Typus und durch die Anpassung an die Regel sehr unterdrückt, ein Ideal, dem man vielleicht vor allem in England verfallen ist.

Mitgefühl für den Schmerz wird es natürlich immer geben. Es ist einer der primären Instinkte des Menschen. Die Tiere, die individuell sind, die »höheren« Tiere sozusagen, teilen diese Empfindung mit uns. Aber man muss daran erinnern, dass zwar das Mitgefühl für die Freude die Summe der Lebensfreude in der Welt steigert, das Mitgefühl für den Schmerz dagegen keineswegs die Fülle des Leidens wirklich verringert. Es mag dem Menschen das Elend erleichtern, aber das Elend selbst bleibt. Das Mitgefühl mit dem Opfer der Schwindsucht heilt die Schwindsucht nicht, das ist die Aufgabe der Wissenschaft. Und wenn der Sozialismus das Problem der Armut und die Wissenschaft das Problem der Krankheit gelöst hat, dann wird der Spielraum der Sentimentalen verringert sein, und das Mitgefühl der Menschen wird weit, gesund und spontan sein. Der Mensch wird Freude empfinden in der Betrachtung des freudigen Lebens der anderen.

Denn durch die Freude wird sich der Individualismus der Zukunft entfalten. Christus hat keinen Versuch gemacht, die Gesellschaft neu aufzubauen, und so ist es folgerichtig, dass der von ihm gepredigte Individualismus sich nur durch Leiden oder in der Einsamkeit verwirklichen lässt. Die Ideale, die wir Christus verdanken, sind die Ideale des Menschen, der sich von der Gesellschaft völlig abkehrt oder der ihr absoluten Widerstand entgegensetzt. Aber der Mensch ist von Natur aus gesellig. Selbst die Thebais wurde schließlich bevölkert. Und wenn auch der Mönch seine Persönlichkeit verwirklicht, ist es oft eine verarmte Persönlichkeit, die er so verwirklicht. Andererseits übt die furchtbare Wahrheit, dass das Leiden eine Möglichkeit zur Selbstverwirklichung ist, eine große Faszination auf die Menschen aus. Seichte Redner und seichte Denker schwätzen oft von den Tribünen und Kanzeln herab über die Genusssucht der Welt und jammern darüber. Aber es ist selten in der Weltgeschichte, dass Freude und Schönheit ihr Ideal gewesen sind. Die Anbetung des Leidens hat in der Welt weit öfter vorgeherrscht. Das Mittelalter mit seinen Heiligen und Märtyrern, mit seiner Vorliebe für die Selbstquälerei, seiner wilden Leidenschaft für die Selbstverwundung, mit seinen tief ins Fleisch schneidenden Messern und seinen Geißelungen - das Mittelalter ist das wirkliche Christentum, und der mittelalterliche Christus ist der wirkliche Christus. Als die Renaissance aufkam und die neuen Ideale von der Schönheit des Lebens und der Lebensfreude brachte, verstanden die Menschen Christus nicht mehr. Selbst die Kunst zeigt uns das. Die Maler der Renaissance stellten Christus als einen kleinenjungen dar, der mit einem anderen jungen in einem Palast oder in einem Garten spielt oder im Arm der Mutter liegt und ihr oder einer Blume oder einem glänzenden Vogel zulächelt; oder sie malten ihn als edle und erhabene Gestalt, die würdevoll durch die Welt schreitet; oder als eine wunderschöne Gestalt, die sich in einer Art Ekstase vom Tod zum Leben erhebt. Selbst wenn sie den gekreuzigten Christus darstellten, malten sie ihn als einen herrlichen Gott, über den die bösen Menschen Leiden verhängt haben. Aber er beschäftigte die Menschen nicht sehr. Was sie entzückte, war die Darstellung von Männern und Frauen, die sie bewunderten, und sie wollten die Schönheit dieser lieblichen Erde zeigen. Sie haben viele religiöse Bilder gemalt - in der Tat viel zu viele, und die Eintönigkeit des Typus und der Motive ist ermüdend; sie hat der Kunst geschadet. Sie war das Ergebnis der Autorität des Volkes in Sachen der Kunst und ist bedauerlich. Aber ihre Seele war nicht in dem Gegenstand. Raffael war ein großer Künstler, als er sein Bildnis des Papstes schuf Als Maler seiner Madonnen und Christusknaben ist er durchaus kein großer Künstler. Christus hatte der Renaissance keine Botschaft zu bringen, der Renaissance, die so wundervoll war, weil sie ein Ideal hervorbrachte, das von dem seinen völlig abwich, und um den wirklichen Christus zu finden, müssen wir uns in die Kunst des Mittelalters vertiefen. Da erscheint er als der Verstümmelte und Gemarterte, einer, der nicht anmutig anzusehen ist, weil Schönheit Freude erzeugt, einer, der kein kostbares Gewand trägt, denn auch dieses könnte eine Freude sein: Er ist ein Bettler mit einer wundervollen Seele, er ist ein Aussätziger mit einer göttlichen Seele, er bedarf weder des Besitzes noch der Gesundheit, er ist ein Gott, der seine Vollkommenheit durch Leiden gewinnt.

Die Entwicklung des Menschen schreitet langsam voran. Die Ungerechtigkeit der Menschen ist groß. Es war notwendig, das Leiden als eine Form der Selbstverwirklichung darzustellen. Selbst heute ist die Botschaft Christi an manchen Orten in der Welt notwendig. Keiner, der im modernen Russland lebt, könnte seine Vollkommenheit anders als durch das Leiden gewinnen. Einige wenige russische Künstler haben sich in der Kunst verwirklicht, im Roman, der mittelalterlich in der Haltung ist, weil sein vorherrschendes Merkmal die Verwirklichung des Menschen durch das Leiden ist. Aber für die, die keine Künstler sind und kein anderes Leben als das eigentlich tätige Leben kennen, ist das Leiden das einzige Tor zur Vollendung. Ein Russe, der unter dem bestehenden Regierungssystem in Russland fähig ist, glücklich zu leben, glaubt entweder, der Mensch besitzt keine Seele, oder die Seele sei der Entwicklung nicht wert. Ein Nihilist, der jede Autorität ablehnt, weil er die Autorität als Übel erkannt hat, und der alles Leiden willkommen heißt, weil er dadurch seine Persönlichkeit verwirklicht, ist ein echter Christ. Für ihn ist das christliche Ideal eine Wahrheit.

Und doch hat Christus nicht gegen die Autorität revoltiert. Er ließ die kaiserliche Autorität des römischen Imperiums gelten und zollte ihr Tribut. Er ertrug die ecklesiastische Autorität der jüdischen Kirche und wollte sich ihrer Gewaltsamkeit nicht durch eigene Gewalt widersetzen. Er hatte, wie ich bereits sagte, keinen Plan, die Gesellschaft neu aufzubauen. Aber die moderne Welt hat Pläne. Sie schlägt vor, die Armut und das daraus erwachsende Leiden zu beseitigen. Sie will sich vom Schmerz und den daraus fließenden Qualen befreien. Sie vertraut dem Sozialismus und der Wissenschaft als ihren Methoden. Ihr Ziel ist ein Individualismus, der sich durch Freude ausdrückt. Dieser Individualismus wird weiter, reicher, herrlicher als jede bisherige Form des Individualismus sein. Der Schmerz ist nicht die letzte Stufe der Vollendung. Er ist bloß ein vorläufiger Zustand und ein Protest. Er steht im Zusammenhang mit falschen, ungesunden, ungerechten Verhältnissen. Wenn die Schlechtigkeit, die Krankheit und die Ungerechtigkeit aus der Welt verschwunden sind, dann wird er keinen Platz mehr haben. Er hat ein großes Werk vollbracht, aber es ist fast beendet. Sein Wirkungskreis wird von Tag zu Tag geringer.

Auch wird ihn niemand entbehren. Denn was der Mensch erstrebt hat, das ist in der Tat weder Schmerz noch Vergnügen, sondern einfach Leben. Der Mensch verlangt danach, intensiv, ganz und vollkommen zu leben. Wenn er das vermag, ohne auf andere Zwang auszuüben oder selbst Zwang zu erleiden und wenn ihn alle seine Arbeiten befriedigen, dann wird er geistig gesünder, stärker, zivilisierter und mehr er selbst sein. In der Freude drückt sich die Natur aus, ihr stimmt sie zu. Wenn der Mensch glücklich ist, lebt er im Einklang mit sich und seiner Umgebung. Der neue Individualismus, in dessen Diensten der Sozialismus wirkt, ob er es wahrhaben will oder nicht, wird vollkommene Harmonie sein. Er wird die Erfüllung dessen sein, wonach sich die Griechen sehnten und was sie nur in Gedanken vollkommen zu verwirklichen vermochten, weil sie sich Sklaven hielten und sie ernährten; er wird die Erfüllung dessen sein, wonach sich die Renaissance sehnte, aber nur in der Kunst wahrhaft verwirklichen konnte, weil sie sich Sklaven hielt und sie verhungern ließ. Er wird vollkommen sein, und durch ihn wird jeder Mensch zu seiner Vollkommenheit gelangen. Der neue Individualismus ist der neue Hellenismus.


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