Still working to recover. Please don't edit quite yet.

Louise Michel/Auf ihr, die ihr die Ketten des Elends tragt

Aus <a href="http://deu.anarchopedia.org/Louise_Michel/Auf_ihr,_die_ihr_die_Ketten_des_Elends_tragt">Anarchopedia</a>, dem offenen Wissensportal für und von AnarchistInnen
Jump to: navigation, search

Die Wahrheit muß aus dem Elend kommen, denn von oben kommen nur Lügen. Die Leiden und die Schmerzen der Entrechteten und Gesetzlosen sind groß; sie versuchten, sich zu befreien, aber immer geschah es in der Nacht der Unwissenheit, so dass sie am Ende verzweifelten und keinen Ausweg wussten.

Kein Vogel baut zum zweiten Male ein Nest unter den Bedingungen, die es beim ersten Male zerstörten. Das gehetzte Tier hält man kein zweites Mal zum Narren, wenn es der Falle oder den Hunden entkam. Allein die Menschen ertragen ewig dieselben Schmerzen. Nur sie scheinen niemals die Bedingungen ändern zu wollen, die diese Schmerzen hervorrufen.

Wir sind es nicht, die die neue Ordnung schaffen, es sind die Kämpfe, es sind die jungen Menschen, die sich zu einem Neubeginn mit Gewalt erheben, um die Unglück bringenden Ungeheuer zu Boden zu schmettern; sie sind nicht mehr Sklaven der Unwissenheit, ihr Wissen verleiht ihnen Unbesiegbarkeit.

Wissen, wollen, schweigen können, hieß es im alten Ägypten. Die Jungen kennen unser Ziel: Die Befreiung aller, sie und wir wollen es, und sie werden es wagen. Was das Schweigen anbelangt, so unterscheiden wir uns vom alten Ägypten; denn so laut wie nur möglich schreien wir es den Privilegierten ins Gesicht, damit sie die Ungleichheit in der Gesellschaftsordnung erkennen, die sie mit mehr Rechten und Pflichten ausstattet. Und den Entrechteten rufen wir zu: Lehnt euch auf!

Ist es nicht ein Verbrechen zu warten, während Millionen unter dem Mühlrad des Elends wie das Korn zermahlen, wir die Trauben zerquetscht werden ? Aber nur so kommt die Bourgeoisie zu Brot und Wein. Betrachten wir die Dinge klar und deutlich: Wer schon einmal brennende Bauernhöfe gesehen hat, der weiß, dass es unmöglich ist, die wildgewordenen Pferde aus den Ställen zu treiben, sie bleiben, auch wenn alles über ihnen zusammenbricht: ja, so verhält sich leider ein großer Teil der Menschen.[...]

Der einzige Unterschied zwischen einem Kaiserreich und einer wie auch immer genannten Staatsform besteht lediglich in der Anzahl der Staatsmänner; auch unsere Republik hat tausend Könige. Was würdig wäre, eine Republik genannt zu werden, wäre die Sache aller – freie Menschen in einer freien Welt. Unermessliche Schufterei und Elend für das Volk; Überfluß und Vergnügungen für die Herrschenden; so sind die Verhältnisse weltweit. Den Staatsformen können wir alle nur erdenklichen Namen geben, im Grunde sind sie fast alle gleich. Dennoch wären wir im Unrecht, wollten wir nicht anerkennen, dass sich einiges verändert hat. In dieser Zeit sind mehr Vorurteile abgebaut worden, verschwunden, als in unserem ganzen bisherigen Leben. Nicht wir haben diese Vorurteile zunichte gemacht, es waren diejenigen, denen sie bisher nützten; sie überstrapazierten ihre Privilegien dermaßen, bis die überspannten Saiten rissen und schließlich auch dem Naivsten die Augen geöffnet wurden. [...]

Kann man noch von einem allgemeinen Wahlrecht sprechen, ohne zu lachen? Die Wahl ist eine schlechte Waffe, denn die Staatsmacht hält das Zepter in der Hand, und dem gutgläubigen Wähler bleibt nur die Wahl, entweder vergiftet oder eingeschläfert zu werden.

Als Atai die Stämme zur Revolte und zum Befreiungskampf gegen die französischen Eroberer aufrief, wurden sie mit ihren Speeren durch Haubitzen niedergemacht – die sogenannten Barbaren wurden von den sogenannten Zivilisierten besiegt. Es war bewundernswert, wie die Kanaken sich mit Wurfspießen, Schleudern und alten Steingewehren der modernen Artillerie entgegenstellen; aber es war klar, wie der Kampf enden würde. – Nun gut, Wahlzettel richten nicht mehr aus als Speere gegen Kanonen.

Bürger, Eure „Wahl“ gleicht einem Gebet zu den tauben Göttern aller Mythologien, sie gleicht dem Gebrüll des Ochsen, der den Schlachthof wittert. Ziemlich naiv müsste man sein, um noch darauf zu bauen, mit Wahlen etwas Wesentliches ändern zu können. – Ist es nicht so, dass Gesetze, die angeblich dem Fortschritt dienen, in Wirklichkeit das Gegenteil bewirken und den Fortschritt in Ketten legen ? Wäre es anders, würden es die Regierungen nicht zulassen. Ist es nicht so, dass die Staatsraison dem Staat zur eigenen Aufrechterhaltung dient ?

Mit der Verfassung, die unsere Vorfahren vor hundert Jahren entwarfen, schufen sie gleichzeitig ihr Schaffot. Die Despoten haben schnell gemerkt, dass ihre Gesetze dem Löwen als Käfig dienen, und sie lassen ihn brüllen, solange es ihm gefällt; die Eisengitter sind stark, die Käfigtür ist wohl verschlossen. Seit langem schon füllten und leerten sich die Wahlurnen, ohne dass es möglich gewesen wäre, mit diesen Papierschnipseln, die angeblich den Willen des Volkes repräsentieren, etwas Grundsätzliches zu ändern. – Der Wille des Volkes ! Das sogenannte allgemeine Wahlrecht war die letzte Hoffnung derer, die die alte ausgemergelte Gesellschaft noch einmal zum Leben erwecken wollten, aber es konnte sie nicht retten, und jetzt liegt sie ausgestreckt auf dem Seziertisch, verwest zum Kadaver.[...]

Ein einziger Generalstreik könnte dem allen ein Ende bereiten, er ist schon in Vorbereitung, und er hat keinen Anführer außer dem bloßen Selbsterhaltungstrieb, und es geht nur noch darum: sich aufzulehnen oder zugrunde zu gehen. Es gibt keine andere Alternative. Die erste Revolte der Armen, die seit je her gelitten haben, ähnelte einem Selbstmord; jeden einzelnen Streik könnte man so betrachten und deshalb muß sich der Streik zum Generalstreik ausweiten. Ist nicht der Klassenkampf das Mittel unseres Krieges ? Die Lage ist unerträglich, aber ist der Streik erst begonnen, wird das gesamte Proletariat mitmachen. Diejenigen, die durch die großen Konzerne ruiniert worden sind, werden immer zahlreicher; zu ihnen zählen nicht nur die kleinen Händler, sondern auch die Angestellten, sie alle werden sich dem Generalstreik anschließen; die Massen sind elender dran als streunende Hunde, aber sie wollen sich nicht daran gewöhnen, ohne Brot und ohne Dach über dem Kopf zu leben.

Energie, aus Verzweiflung geboren, wird niemals besiegt ![...]

In Deutschland wir der Generalstreik vielleicht Vorbote der sozialen Republik sein. In England und Belgien ist alles im Aufbruch, hunderttausende von Streikenden erheben sich, bald werden es mehr sein. Wir begrüßen das neue Erwachen, begrüßen das Chaos, in das die alten Institutionen gestürzt werden. Die Kugel, die eine Scheibe zerschmettert, hinterlässt ein sternförmiges Loch; der Schlag, der dem Despoten versetzt wird, hinterlässt eine ebensolche Spur. Soziale Umwälzungen gleichen Erdbeben, hinterlassen Trümmer – auf ihnen bauen wir auf.

„Wenn ihr einig seid, kann euch die ganze Welt nicht besiegen“, sagte Vercingetorix zu den Galliern. Die Zeit der Gallier ist vorbei, auch die Zeit Frankreichs wird vergehen, darum, auf, Bauern und Geknechtete, ihr, die ihr die Ketten des Elends tragt, die schwerer sind als die eisernen Ketten eurer Vorfahren, es ist der Vorabend der Waffen, lasst uns bereit sein!

Im Sommer steigt aus den weiten Ebenen der Duft des geschnittenen Heus, und es steigt ein Traum aus den Düften der Felder, der Traum der Freiheit.

Schön wäre die Natur, wäre der Mensch nicht Sklave des Menschen. Schön wäre sie selbst unter dem Winterschnee, wo sie ruht, erschöpft vom Keimen und Reifen des Jahres.

Der Arbeiter muß sich ohne Unterlaß mühen, damit sein Bonze nichts zu tun braucht; er stirbt vor Mühsal, der andere an Ãœberfettung. Bauer, hörst du die Stimme im Wind ? Es sind die Gesänge deiner Vorfahren, der alten gallischen Barden: “Fließ, fließe, Blut des Gefangenen, rot, die Erde wird blühen; rot, wie Eisenkraut, und der Gefangene wird gerächt werden.“

Seit Tausenden von Jahren gehen die Söhne Galliens und der ganzen Erde als Gefangene des Kapitals zur Schlachtbank, und über ihnen wächst auf den Feldern das Gras immer höher und dichter. Aber die Befreiung kommt nicht, denn sie flehen sie herbei, statt sie sich zu nehmen. Niemand hat das Recht, andere zu knechten; der Mensch, der sich seine Freiheit nimmt, nimmt sich nur das zurück, was ihm gehört, seinen einzigen wahren Besitz. Wird er bedrohlich, dann dezimiert man ihn auf dem Schlachtfeld der Kriege. Blind – wie das Rennpferd, wie der Kampfstier – erträgt der Mensch den Drill, dem er aufgrund einer Unwissenheit ausgesetzt ist. Und die Lügen der Politiker lullen das Volk ein, Vampiren gleich, saugen sie uns aus; noch glauben zu viele Hungerleider den trügerischen Versprechungen. Doch eines Tages – und vielleicht ist dieser Tag schon nahe – wird aus den Tiefen der Verzweiflung die Revolte entstehen. Niemand weiß, wodurch sie ausgelöst werden wird; ob durch einen Generalstreik, eine Katastrophe, den Zusammenbruch der Macht oder durch eine Massenerhebung.

Wir spüren, die Revolte ist nahe, kalt weht sie uns an, Haß und Tod begleiten sie; Haß auf die Leichenhäuser, Haß auf die Gefängnisse und die Lazarette.

Bauer, willst du nicht endlich die ewige Resignation abschütteln ? Dir, Bauer ist dieses Lied des Zorns gewidmet; es ist ein Andenken an die Zeit unseres Kampfes:


Das Lied des Korns


Der Frühling lacht in den grünen Zweigen,

Tief in den Wäldern zwitschert es in den Nestern,

Alles lebt und singt mit schwingenden Flügeln,

Alle Vögel brüten aus ihre Kleinen.

Und das Volk ist arm und darbt;

Hunger und Kälte nagen an den Eingeweiden.

Säe dein Korn, Bauer! Geh dein Korn säen, Bauer !


Es wäre schön, könnte Jacques Elend lieben –

Aber fern sind Liebe und Licht!

Sie sind nicht für die Elenden!

Ãœberlassen wir die Witwe nicht der Folter,

Ãœberlassen wir den Sohn nicht dem Tyrannen,

Wir wollen nicht Komplizen sein.

Säe dein Korn, Bauer! Geh dein Korn säen, Bauer!


Schmiede Ketten, baue Festungen,

Gib alles her, Schweiß und Blut, Arbeit und Not.

Die Fabriken erobern die Schlösser.

Sieh, Jacques, wie nachts hinter den Türen.

Wie in einem glühend schwebenden Traum,

das Flimmern der roten Fackeln lodert.

Säe dein Korn, Bauer! Geh dein Korn säen, Bauer!


Laß den Pflug liegen, bis die Erde dir gehört und nicht länger den Aasgeiern, den Großgrundbesitzern. Es gibt Korn im Überfluß, und du stirbst fast vor Hunger; iß das Korn, das du gesät hast. Hindere deinen Sohn, Bauer, loszuziehen, um andere Völker zu vernichten; hindere deine Tochter, für das Vergnügen der Herren da zu sein. Lehre deine Kinder den Widerstand, damit sie endlich die soziale, menschliche Gesellschaft erleben. Weigere dich, von deinen letzten Groschen die Spürhunde, die dich hetzen, zu bezahlen. Verweigere alles, damit es schneller zum letzten großen Kampf komme.[...]

Nicht die Paläste sollen brennen, sondern die hässlichen und verpesteten Hütten.


Kategorie:Literatur Kategorie:Anarcha-Feminismus Kategorie:Texte