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Herrschaftsbrille

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Dieser Text wurde als kritischer Beitrag zum JUKSS für das Organisierungsansatz-Treffen APO-Calypse:Camps, Kongresse, Konferenzen... ohne Hierarchien aufbereitet. Die grün hinterlegten Textstellen beziehen sich direkt auf den JUKSS und sind für die Weiterentwicklung herrschaftsfreierer Methoden, Prozesse, Organisationsstrukturen interessant. Aber auch der größte Teil der unmarkierten Textstellen ist für eine kritische Auseinandersetzung mit Hierarchien und Dominanz bei solchen Veranstaltungen relevant.

Bezogen auf den JUKSS sollte hinzugefügt werden, dass sich die Kritik an die älteren JUKSS-Modelle (Plenums- oder Blütenentscheidungsmodelle) bezog. Seit dem Magdeburger JUKSS 2004/2005 gibt es keine zentralen Instanzen mehr (wobei das von neuen Orga-Teams auch wieder geändert werden kann) und die hier geübte grundsätzliche Kritik dürfte damit nicht mehr zutreffen. Im Detail treten hier beschriebene Dominanzstrategien von bestimmten Leuten oder Gruppen aber weiterhin auf und sollten kritisch betrachtet werden.


Setz ´die Herrschaftsbrille auf!

Ein Text der Projektgruppe „HierarchNIE!“[0]

O.K. Wenn ein Bullenknüppel gesaust kommt, ist das irgendwie klar mit dem Herrschaftsverhältnis. Und wenn ein Richter Dich verknackt, weißt Du auch, was los ist. Oder wenn Deine Eltern (so Du noch zuhause wohnst oder sonstwie abhängig bist) klarmachen, dass Weihnachten nicht weggefahren wird oder es mit der Ausbildung so nicht weitergehen kann, hast Du meist leider auch schnell klar, wo „Oben“ und „Unten“ ist im jeweiligen Fall. Zwar ist oft das Ärgern und die hastig dahingesprochene Parole gegen das Scheißsystem alles, was Du dagegen hinbekommst. Die umfassende Demaskierung, Benennung und erst recht die Überwindung von Herrschaftsverhältnissen wirkt dagegen so kompliziert und auslaugend, dass der Antrieb dafür nicht ausreicht. Außerdem ist mensch auch selbst immer wieder das „Oben“ in einer Situation, was ja irgendwie auch ganz cool ist usw. So ändert sich nichts, aber immerhin: Das Gefühl trügt oft nicht. Es ist Herrschaft, die Dich umgibt.

Wenn Herrschaft dagegen moderner daherkommt, wird es schwieriger. Moderne Herrschaft manipuliert, richtet auf bestimmte Wahrnehmungsmuster zu und verschleiert dahinterstehende Strukturen und Interessen − sie verdreht das Denken. In den hinsichtlich der Herrschaftsideologie noch um einige Jahrzehnte zurückhinkenden fundamental-religiösen oder mit Militärgewalt geführten Staaten dieser Erde wird bei der Mobilisierung zum Krieg noch mit dem alten Hurra-Gebrüll geworben. Die mit nur etwas veralteten Mustern agierende US-Regierung ist zwar schon besser, aber beim „Kampf gegen das Böse“ ist doch die Begeisterung für Macht, Mord und Totschlag recht deutlich zu erkennen. Modernisierte Herrschaft läßt sich dagegen vor allem in europäische Staaten sozialdemokratischer Prägung − am besten mit grüner Schmierung − vorfinden. Dort ist Krieg dann „Nie wieder Auschwitz“ oder einfach eine „humanitäre Maßnahme“.

Wie im Großen, ist es auch im Kleinen. Dieser Text soll einen Blick in politische Bewegung und soziale Verhältnisse im Alltag werfen. Dort tummeln sich veraltet und modern-elegant agierende Menschen in den jeweiligen Machtstrukturen. Und wer nicht hinguckt, merkt gar nicht, wie er/sie immer wieder zum Schaf in einer gut organisierten Schafherde wird − selbst oder gerade dann, wenn das Vokabular und der äußere Rahmen genau das Gegenteil suggeriert, d.h. in die Köpfe bringt.

Fangen wir mit einigen Beispielen an. Politische Camps, Kongresse usw. haben heute meist den hehren Anspruch auf Hierarchiefreiheit und Gleichberechtigung. Die Propaganda ist wichtig, denn ein klarerer Blick könnte zu Widerständigkeit führen. So heißt es oft „hier können alle ihre Ideen umsetzen“. Klingt gut. Aber können sie das wirklich gleichberechtigt? Haben also alle die gleichen Möglichkeiten, für ihre Ideen Ressourcen zu nutzen (Technik, Räume, Geld oder was auch immer gefragt sein könnte)? Haben alle die gleichen Möglichkeiten, ihre Ideen auch bekanntzumachen?

Ebenso wird viel von Basisdemokratie geredet. Das soll allen gleiche Mitbestimmungsmöglichkeiten verschaffen. Als Wunderwaffe wird der Konsens hinzugefügt. Jede und jeder kann nun per Veto etwas verhindern, was ihm/ihr nicht paßt. Klingt gut. Aber wer hat den Status Quo bestimmt, also die Ausgangs-Rahmenbedingungen, die nun nur noch per Konsens geändert werden können? Was passiert mit denen, die das sagenumwobenene Veto einlegen − vor allem, wenn sie das gegen die WortführerInnen tun? Ganz moderne Ideen kommen meist von denen, die sich herrschaftsfrei geben, z.B. viele Jahre von den MacherInnen des Jugendumweltkongresses. Da wird viel herumexperimentiert. Das Ganze bereitet eine Orga-Gruppe vor. Die ist natürlich offen und ruft dazu auf, daß alle ihre Ideen einbringen können. Wer das praktisch ausprobiert, kann erleben, dass von der Vorbereitungsgruppe nicht gewollte Sachen halt mal verloren gehen oder noch ausdiskutiert werden müssen (bis ca. 2043?). Zu Beginn des JUKss löst sich die Orga-Gruppe dann auf. Doch das, was sie beschlossen haben, gilt nun. Geändert wird es im ach so turbodemokratischen Konsensverfahren. Durch die Herrschaftsbrille betrachtet zeigt sich: Jede Person aus dem Ex-Orga-Team kann per Veto verhindern, daß noch was verändert wird an den Strukturen. Moderne HerrscherInnen machen das nicht so auffällig, zeigen sich offen oder lassen andere Vetos einlegen. Oder sie kontrollieren die Fragestellung. Das strukturkonservative Konsensverfahren (stärkt das Bestehende gegenüber dem nach Veränderung Strebenden) wird oft in Broschüren erklärt, doch das entscheidende wird „zufällig“ immer vergessen. Es kommt schlicht auf die Fragestellung an. Das wissen die Eliten, die Konsens und Basistümelei lieben, weil sie dort so schön verdeckt agieren können, natürlich. Aber sie erzählen es lieber nicht weiter. Wer also was Bestimmtes will, sorgt meist dafür, dass die Frage andersherum gestellt wird, und dann, dass jemand ein Veto einlegt.

Ein Beispiel zur Verdeutlichung: Einige Menschen sind der Meinung, dass eine Gruppe oder Einzelperson rausfliegen soll. Damit erstmal nicht auffällt, dass es sich dabei um Repression handelt, wird herumgesäuselt, dass da Menschen es mit denen oder dem oder der nicht aushalten usw. Gehört dazu. Im Blick durch die Herrschaftsbrille das übliche Warmlaufen für den formalen Akt. Dann die Abstimmung − es kommt auf die Fragestellung an. Heißt sie: „Darf X dableiben?“, führt ein Veto zum Rausschmiß. Also wird alles getan, um die Frage so herum zu formulieren. Es könnte ja sein, daß gezielt oder zufällig jemand die Frage andersherum stellt: „Muß X gehen?“ Das würde wohl nicht klappen, weil jetzt jedes Veto das Bleiben ermöglicht. Also käme dann ein Geschäftsordnungsantrag, irgendwelche Verwirrungsaktionen per Handzeichen oder was auch immer. Die Eliten würden agieren. Durch die Herrschaftsbrille: Lohnenswert ist, wer sich in Redebeiträgen auf wen bezieht, wie mit Handzeichen Stimmung gemacht wird. Für die ganz Harten: Eine Gruppe mit bestimmten Interessen ... alle melden sich gleichzeitig bzw. stellen sich am Mikrofon an. Dann kommt ein Antrag auf Ende der Redeliste. Scheinbar alles zufällig ...

Der Blick durch die Herrschaftsbrille offenbart so einiges. Wenn jemand sagt „es ist besser für Dich, wenn ...“ ist das die verklärte Form von „Tu das“. Das ist Manipulation und Verschleierung, verdeckte Bevormundung. Herrschaft ist es dann, wenn es mit unterschiedlichen Handlungsoder direkten Durchsetzungsmöglichkeiten verbunden ist, wozu neben formalen auch solche der mentalen Beeinflussung, Abhängigkeit bis zu psychischer und physischer Überlegenheit gehören. Schlaue Bullen sagen: „Würden Sie bitte mitkommen?“, wenn sie eineN verhaften. Es lohnt sich, durch die Herrschaftsbrille zu gucken. Herrschaft im ersten Schritt zu demaskieren ist zudem eine wichtige Aktionsform. Also den Bullen zu zwingen: „Sie sind verhaftet, kommen Sie mit!“ zu sagen und das vielleicht zu kommentieren mit „So ist es es schon klarer, jetzt wird die Herrschaft wenigstens deutlich“. Oder dem/der LehrerIn immer wieder deutlich machen: „Das können Sie nur verlangen, weil Sie Durchsetzungsmöglichkeiten haben“. Vor Gericht, gegenüber Eltern, Behörden oder Gruppenleitungen mit Hausrecht ist das immer wieder möglich, darauf hinzuweisen.

Das gilt auch für die Verklärung durch Basisdemokratie. Entscheidungen in Plena oder irgendwelchen anderen zentralen Gremien (Koordinierungsgruppe, SprecherInnenrat, Blütenmodell oder was auch immer da rumprobiert wird), die für alle gelten, basieren auf Herrschaft. Warum sollen überhaupt andere entscheiden, wenn Du einen Arbeitskreis anbieten, eine Aktion machen oder sonst etwas verändern willst am Bestehenden? Und was steckt an Machtstrukturen dahinter? Wenn Du Dich dem Beschluß widersetzen würdest, was würde passieren? Würde vielleicht eine eigene polizeiähnliche Truppe aufgestellt, die Zugänge regelt und Leute kontrolliert (wie aufCrossover-Camp oder dem Straßburger Camp im Sommer 2002 geschehen)? Würde das Faustrecht, ausgeführt von Einzelnen gegenüber den vom Kollektiv Geächteten, akzeptiert? Oder würde vielleicht auch Polizei, die dann auf Basis des Hausrechts oder auch der eigenen Willkür agiert, zur Hilfe gerufen? Gibt es keinen Konsens und widersetzt sich jemand der Basisdemokratie, werden schnell die Herrschaftsmomente hinter der verschleiernden Rhetorik von Basisdemokratie und Gleichberechtigung sichtbar.

Überhaupt: Kollektive Strukturen, also die Organisierung von Einheitlichkeit (es sprechen einige für alle, alle entscheiden über alles usw.) sind geradezu optimiert für die Dominanzausübung durch Eliten. Besser noch als Demokratie, wo die jeweiligen Herrschaftsausübenden klarer erkennbar sind. Besser wäre es nur in Verhältnissen der Autonomie aller Teile und der gleichberechtigten Kooperation zwischen ihnen − weil es dort gar keine übergeordnete Sphäre mehr gibt. Niemand redet für alle oder das Ganze, niemand regelt etwas für alle oder das Ganze − weder Vorstand noch Koordinierungsgremien oder Pressegruppe noch das Plenum.

„Wir wollen alle an Entscheidungsfindungen beteiligen, so das eine für alle tragbare Lösung zustande kommt (Konsensprinzip)“ versprach z.B. die Werbezeitung zum Jugendumweltkongress 2002/03. Klang gut, war es aber nicht. Durch die Herrschaftsbrille sieht das anders aus: Warum sollen alle entscheiden und warum soll alles für alle tragbar sein? Was bedeutet es, dass große Strukturen immer wieder informelle Dominanzen und Eliten fördern? Sind es nicht immer wieder die modernen Eliten in politischen Bewegungen, die kollektive Strukturen organisieren, weil sie in der Herde gut agieren und gestalten können. Mehr autonomieorientierte Strukturen würden dazu führen, dass ein Nebeneinander mehrere Organisierungsformen entstehen kann. Ganz davon abgesehen wissen in großen Strukturen meist nur kleine Kreise, welche Möglichkeiten bestehen. Auf dem Jugendumweltkongreß 1999 verhinderte das Veto einer Person das Absenden einer Presseinfo, weil sie Angst hatte, dass dadurch über eine in ihrer politischen Strategie nicht vertretbaren Aktion (Tortenwürfe auf Expo-Manager) öffentlich berichtet würde. Basisdemokratie und Konsens gaben der einen Person diese Macht. AutonomieundVielfalt hätten dazu geführt, daß die Debatte entweder überflüssig gewesen wäre oder ohne Entscheidungszwang geführt worden wäre, weil ohnehin klar wäre, daß Presseinfos immer im Namen derer herausgehen, die sie schreiben und mittragen − also in der Regel nicht alle.


Der Jugendumweltkongress war − bei aller Kritik − das intensivste Experimentierfeld zum Hierarchieabbau bei Entscheidungsverfahren. Über Silvester 2004/05 in Magdeburg wurde das kollektive Entscheiden erstmals ganz abgeschafft. Die Debatte kann auf der Internetseite des Kongresses http://www.jukss.de nachvollzogen werden.


Widerständig werden: Rahmenbedingungen hinterfragen!

Herrschaftsfreiheit setzt sehr vieles voraus, unter anderem:

  • Abbau von Zurichtungen auf bestimmte Rollen und Erwartungshaltungen (Geschlechterrollen, Erwachsene-Kinder, CheckerInnen usw.)
  • Gleichberechtigter Zugang für alle zu allen vorhandenen Ressourcen

(kein Hausrecht, keine Passwörter, keine für Teile versch lossenen Türen, keine intransparenten Außenkontakte einer Gruppe wie Presseverteiler/-kontakte ohne Zugänglichkeit für alle usw.)

  • Zugriff auf Wissen, Informationen und Erfahrungen so organisieren, dass er für alle zumindest theoretisch möglich ist und transparent wird, wie er möglich ist.
  • Freiheit des Einzelnen zu handeln (Autonomie) in Freien Vereinbarungen mit allen oder den jeweils Interessierten
  • Freie Vereinbarung statt Zwang oder kollektive Entscheidung
  • Bereitschaft zur (selbst-)kritischen Reflexion und zur kontinuierlichen Weiterentwicklung von Organisationsformen und des eigenen Verhaltens

Konkrete Formen von Dominanz erkennen

Wer die Herrschaftsbrille aufsetzt, blendet die Rahmenbedingungen ein. Dann sieht plötzlich einiges anders aus. Und zwar oftmals krass anders. Alle Beispiele aufzuzählen, ist gar nicht möglich, aber es lohnt sich, zu üben, d.h. immer die Herrschaftsfrage zu stellen. Die folgenden Beispiele entstammen der Praxis politischer Organisierung.

  • „Ich bin für eine Redezeitbegrenzung, damit niemand so dominant reden kann“ KANN gut gemeint sein. MUSS aber nicht. Meist ist es für Eliten nämlich günstig, wenn es Redezeitbegrenzungen gibt. Sie sind geschulter, die Zeit einzuhalten und sich die Redebeiträge aufzuteilen. So können sie im Wechsel auch viel länger reden, während Menschen, die nicht so geübt sind, dominant zu agieren (oder das nicht wollen), das nicht können. Das kann ziemlich weitgehend sein: Auf den skandalösen Plena des Castor-Widerstandes im Nov. 2002 in Lüneburg (siehe http://www.projektwerkstatt.de/aktuell/castor/castor_lueneborg.html ) redeten fast die gesamte Zeit Personen aus den Vorbereitungsgruppen. Immer schön abwechselnd − oft insgesamt eine Stunde oder sogar mehr. Danach durften auch andere drankommen, das Ganze fiel kaum auf. Als auf einem Plenum eine Kritik an diesen Dominanzverhältnissen benannt werden sollte, kam sofort der Antrag auf Redezeitbegrenzung von zwei Minuten, gezielt gegen eine Person, die bis dahin noch gar nichts gesagt hatte. Allerdings klappte der Antrag nicht, es hatten einige die Herrschaftsbrille aufgesetzt − das aber ist nicht immer so ...
  • „Das sollten wir aber im Konsens entscheiden“ heißt meist schlicht: Ich will das nicht. Aber das sage ich nicht, sondern organisieren einen möglichst komplizierten Prozeß. Konsens ist Gift gegen die vielfalt des „Alle können machen, was sie wollen“.
  • „Ich finde Deine Ideen ja gut, aber ...“ ist auch eher ganz platt ein „Nein, läuft nicht“. Ebenso wie „das haben wir aber anders beschlossen“ oder „das geht jetzt aber nicht“. Ganz ähnlich wirken die typischen Dominanzen der Marke „Generationenkonflikt“, also von „das haben wir auch schon probiert“ oder „das war aber nicht so vereinbart“. Das muß nicht Herrschaft sein, dann aber bedürfte es einer Begründung, die der eigentliche Inhalt ist. Bleibt es bei der Abwehrphrase, ist es ein Versuch von Dominanz.
  • Klassiker unter den versteckten Dominanzen ist das Herbeireden von Gefährdungen und Verantwortlichkeit. Oft sind sie sogar schlicht gelogen, immer aber sollen sie von kooperativen Lösungsstrategien zugunsten der Definitionsmacht der Gefährdeten ablenken. DemoleiterInnen, autonome oder gemietete Räume, Vereine und Vermögen − all das wird ständig als Ersatzargument herangezogen, wenn Ideen abgewehrt werden sollen. „Ich muß meinen Kopf dafür hinhalten“ oder „das könnte aber unseren Mietvertrag gefährden“ gehören hierzu. Formal gilt: DemoleiterInnen sind nicht verantwortlich für das, was einzelne DemonstrantInnen als Privatpersonen machen, Vereinsvorstände haften nicht für die Aktivitäten der Mitglieder usw.
  • Sehr gerne werden Sachzwänge weitergegeben oder für diese Weitergabe erst konstruiert. Probleme, die Menschen mit etwas haben, werden zum Grund dagegen aufgebauscht (statt die StreitpartnerInnen zusammenzubringen, damit sie direkt eine Lösung finden). „Das kann aber Streß bringen“, Hinweise auf irgendwelche Hausmeister, Bullen, VS, Geldgeber usw. sind meist verklausulierte Herrschaftsdurchgriffe. Denn nicht der Sachzwang selbst, sondern die Person, die darüber entscheidet, welcher Zwang wie benannt wird, beherrscht damit die Situation. Oder versucht es zumindest.
  • Moderne Plena, Moderation, irgendwelche neumodischen Handzeichen usw. werden als Dominanzabbau gepriesen. Das können sie sein, wenn es vorher noch beschissener war, z.B. mackrige oder streng formale Herrschaftsformen. Aber sie können auch das Gegenteil sein. ModeratorInnen steuern Abläufe und Verfahren − in der Regel stützen sie nicht Autonomie und Vielfalt, sondern vereinheitlichen, organisieren Kompromisse und Konsense. Das stärkt die informell agierenden Eliten. Wo Konsenszwang besteht, können Eliten stark steuern − sie setzen Vetos taktisch ein und bestimmen die Fragestellung und den Debattenverlauf. Fast jedesmal, wenn im Konsens abgestimmt wird, wird das Vetorecht des Einzelnen hochgejubelt, dass es alle gleichberechtigt machen würde (was nicht stimmt!). Wenn dann aber Interesse daran besteht, dass es kein Veto gibt, steht vor der Abstimmung plötzlich ein warnendes „wer ein Veto einlegt, muß aber auch wissen, dass er/sie damit die Gruppe blockiert“. Das Ganze wird begleitet von neumodischen Handzeichen. Doch es ist mindestens fraglich, ob die nicht eher den Eliten helfen − also denen, die wissen, wie Massen zu manipulieren sind, darin Ãœbung haben und als organisierte Gruppe agieren. Wenn sie geschlossen mit den Händen winken oder weniger rhetorisch geübte KritikerInnen mit dem Zeichen für „Du wiederholst Dich“ vollends aus der Fassung bringen, manipulieren sie optisch das Geschehen. Perfekt wird es dann noch, wenn die moderierende Person passend feststellt, dass es ja wohl eine eindeutige Tendenz gäbe usw.
  • Das „Blütenmodell“, neumodischer Plenumsersatz auf dem Jugendumweltkongress 2003, hält durch die Herrschaftsbrille auch nicht, was es verspricht. Die Blüte besteht aus mehreren Kleingruppen, die in Reihen sitzen, wobei die jeweils inneren Personen die zentrale Diskussionsgruppe bilden. Diese Personen sind also sowohl Teil ihrer Kleingruppe als auch Teil der zentralen Gruppe. Aber das Verfahren beläßt alle sonstigen Rahmenbedingungen wie sie sind, nur das Diskussionsverfahren ist neu. Die Voraussetzung, um Herrschaftsdurchgriffe zu verhindern lägen ganz woanders, was aber nicht thematisiert wird: Warum gibt es überhaupt zentrale Entscheidungen? Was sind die Ausgangsbedingungen? Wer hat welche Zugriffe aufWissen, Informationen und Ressourcen? Stattdessen wird Sand in die Augen derer gestreut, denen es bei vorhergehenden Treffen allmählich dämmerte, dass irgendwas mit diesen Entscheidungsstrukturen so nicht stimmt. Nun ist ja was Neues da. Da wird alles gut ...

Die Gegengifte

Es gibt eine Vielzahl von Methoden, hierarchische Gruppenverläufe abzubauen. Ausprobieren, experimentieren und weiterentwickeln kann Schritt für Schritt Dominanz verringern. Das ist ein Ringen im Handgemenge, die Anwendung auf den Einzelfall.[1]

Hinzu kommt das Enttarnen der konkreten Personen und ihrer angewendeten Tricks. Auch informelle Herrschaft wird in konkreten Personen sichtbar. Sie treten zwar oft nicht formal in Erscheinung, aber ein gezielter Blick durch die Herrschaftsbrille zeigt schnell, was abgeht: Wer bereitet wo was vor? Wer agiert, wenn es kriselt oder Druck von außen kommt? Wer wird gefragt − wenn es um wichtige interne Dinge geht, um den Zugang zu Ressourcen oder bei formalen Anfragen von außen? Welche Leute stecken in Pausen immer wieder die Köpfe zusammen, beziehen sich in Redebeiträgen aufeinander, dirigieren das Geschehen mit Beiträgen, Zwischenrufen und Geschäftsordnungsanträgen? Auch wenn alles wie zufällig wirkt ...

Herrschaftsverhältnisse sollten immer sofort demaskiert und eingefordert werden, dass es Herrschaftsfreiheit nur geben kann, wo alle gleiche Möglichkeiten haben. Ebenso wichtig ist, den Einigungszwang aufzuheben. In den meisten Fällen ist es unnötig, gemeinsame Entscheidungen zu treffen. Das aber wird immer wie ein Naturgesetz vorausgesetzt. Die Demaskierung der Herrschaftsverhältnisse zu Beginn einer jeden Entscheidungssituation oder in jeglicher Planungsphase wird auf massiven Widerstand treffen − einerseits der Eliten, die Angst vor Kontrollverlust haben. Andererseits derer, die gerne Schafherde sind − nichtweil sie so gern Untergebene sind, sondern weil sie sich die Frage nie stellen und den Eindruck haben, dass die herkömmlichen Organisierungsformen doch funktionieren und das Infragestellen nur nervt. So handeln Eliten und MitläuferInnen sogar zusammen: Das Bewährte soll erhalben bleiben, weil es gewohnt und vertraut ist. Diskussionen um Neues rauben Zeit und Nerven, so die für die bestehenden Strukturen akzeptanzbeschaffende Sichtweise. Oft ist es sicher auch so, dass den Beteiligten die Herrschaftsbrille nicht zur Verfügung steht und sie die Lage nicht nur nicht erkennen wollen, sondern es auch nicht können − unterstellt man das aber immer, ist es nicht nur arrogant, sondern unterschätzt auch die Fähigkeiten bestimmter Elitenangehöriger. Es ist nicht einfach mit ihrem Bündel an Machttricks umzugehen. Wer penetrant ist, fliegt raus oder wird mit üblen Geschichten niedergemetzelt ... wer die Transparenz von Presseverteilern oder Zugang aller zu Computern und Akten fordert, ist schnell als Spitzel verdächtigt. Wer den Zugang zu allen technischen Ressourcen will, könnte Nazi sein. Wer will, dass alle Räume allen gleichberechtigt offen stehen, wird schnell und unauffällig als StörerIn diffamiert. Und wer gegen Ausgrenzungen ist und über alternative Konfliktlösungsformen reden möchte, könnte als TäterschützerIn enden.

Letztlich aber gilt es auch, die Rahmenbedingungen tatsächlich zu verändern: Alle Türen zu allen Geräten und Räumen auf! Alle Verteiler und Infoflüsse für alle öffnen! Und einiges mehr! Am besten ist es, wenn alles offen organisiert ist − was auch heißt, dass es kein „Alles“ mehr gibt, sondern ein Vieles. Bezogen auf den eigenen Zusammenhang geht es um die Verwirklichung des Mottos „Eine Welt, in der viele Welten Platz haben“. Jeder gesellschaftliche Bereich kann nach der Idee des „Offenen Raumes“ organisiert werden − ohne Zugangsbeschränkungen, Privilegien und Hierarchien.[2] Da bekommen Eliten dann Probleme, noch alles zu kontrollieren. Darum sind sie dagegen. Sie werden sich das aber nicht anmerken lassen, sondern alle möglichen Tricks und rhetorischen Kniffe ausprobieren. Und wer dagegen meckert, „hat einfach einen miesen Stil“ oder „nimmt immer soviel Raum ein“. Das hilft immer. Jedenfalls gegenüber Schafen.

Fußnoten

[0] - Überarbeiteter Text aus dem Reader „HierarchNIE! − Entscheidungsfindung von unten und Dominanzabbau in Gruppen“ der Projektgruppe HierarchNIE! Siehe auch www.hierarchnie.de.vu
[1] - Methodenbeschreibungen und mehr auf der Internetseite http://www.hierarchnie.de.vu
[2] - Siehe Text „Offener Raum“ im Reader HierarchNIE!

Kategorie:Herrschaft Kategorie:Herrschaftsform