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Aus dem Arbeitsleben

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[Text geändert und gekürzt]

[Heißt eigentlich: Ganz hinten]


Aus dem Arbeits-“Leben”

Ihr könnt eine Firma gründen, viele Arbeitskräfte mit niedrigen Löhnen einstellen, und diese dann teuer an andere Firmen vermieten. Ist alles erlaubt, ist ja ein freies Land. Zeitarbeit heißt das. Wenn Ihr so etwas tut, braucht Ihr nicht selber zu arbeiten, Ihr lasst auch nicht Geld für Euch arbeiten, sondern andere Menschen arbeiten für Euer Einkommen. Dann liegt Ihr nicht der Allgemeinheit auf der Tasche, wie die ganzen Arbeitsscheuen und seid fit für die Zukunft.

Ich hab das mal ausprobiert, allerdings von der anderen Seite her. Ich habe mich mal in einer Zeitarbeitsfirma anstellen lassen, arbeitete auf Baustellen und in Fabriken. Ich tat das nicht, wie so viele Werktätige, aus Habgier, sondern weil es sich um Experiment handelte. Ich wollte testen, wie das so ist, Geld zu haben und musste dazu erst mal welches verdienen. Es ist so:


Baustelle Chausseestraße

Die Strangsanierung eines Altneubaus muss an einem Tag abgeschlossen werden, damit die Mieter abends wieder kacken können. Damit das in zehn bis zwölf Stunden bewältigt werden kann, werden vier Leute engagiert, Schrott und Schutt in Eimern die Treppen runterzutragen. Zwei Gymnasiasten in den Schulferien, ein alter Mann mit steifem Bein und ich. August ist es und der Schweiß rauscht mir niagarafallartig durch die Poritze. „Eine ganz schöne Plackerei“, maulen die Ferienkinder, „für zwölf Mark Stundenlohn.“ Was zwölf? Und wieso kriege ich elf? „Was zwölf?“, fragt der alte Mann mit dem steifen Bein. „Und wieso kriege ich neun?“


Baustelle Mohrenstraße

Hier war ich schon mal. Vor drei Monaten schleppte ich den Dreck von A nach B, den ich jetzt von B nach A karre. Mir ist das recht.

In dem Gebäude, das sie hier hinmachen, gibt es einen toten Raum, ohne Türen und Fenster. Nur durch einen Durchbruch unter der Decke, wo später ein Lüftungsschacht rein soll, kann man über eine Leiter hineinsteigen. In diesem Raum gammeln wir schichtweise unsere Stunden ab.


Baustelle Einkaufszentrum Hellersdorf

Hier wird auch hart gearbeitet und zwar von den Portugiesen. Sie bekommen dafür immerhin drei Mark in der Stunde, zwei Liter Wein am Tag und wohnen auf der Baustelle. Essen und Toilettenbenutzung sind gratis.

Wir, die wir keine Portugiesen sind, verlegen Leitungen. Man packt eine Kabeltrommel auf ein Rollgerät und läuft mit dem Kabel am Boden die Strecke ab, auf der es dann auf Pritschen unter der Decke verlegt werden soll. Wenn man dann wieder bei der Trommel ist, ist das Rollgerät geklaut.

Leider hat die Hälfte der Kollegen Höhenangst. Nachdem ich auf einer schwankenden Holzleiter freistehend in vier Metern Höhe versucht habe, über Kopf zu arbeiten, beschließe ich auch, Höhenangst zu bekommen. Einen Kollegen gibt es noch, der sich auf die Leiter traut, aber als er mal zwei Minuten auf Toilette ist, wird die Leiter geklaut. „Komm mit“, sagt der Chef zu mir, „siehst Du das Rollgerüst da hinten? Das klauen wir uns. Wir müssen ja mal fertig werden.“ Also rollen wir das Gerüst durch die Gegend, da ist eine Kante im Boden, das Gerüst fängt an zu kippen. Kein Problem, denk ich und will das Gerüst festhalten. Ich kann ja nicht wissen, dass oben zwei Säcke Zement draufliegen. Die treffen zum Glück niemanden.


Baustelle Bötzowstraße

Hier gefällt es mir. Wände abreißen, Schrott auf eigenen Gewinn verkaufen, Wohnungen entrümpeln. So komme ich zu Möbeln und Nachbarin auch und nette Geschenke für Freundin, Eltern und diverse Geburtstagskinder fallen auch ab.

„Sag mal“, frage ich den Chef, „wie viel zahlst Du der Leiharbeitsfirma für jeden von uns?“ „Zweiunddreißig Mark die Stunde.“ „Wir bekommen von denen elf. Stell uns doch für achtzehn Mark befristet ein, ist besser für uns alle. Wir kommen doch gut miteinander klar und sind ein flottes Kollektiv.“ „Ach ich weiß nicht, das ist irgendwie branchenunüblich.“


Frühschicht bei Nestlé

So eine Scheiße! Ein Wecker klingelt um halb vier Uhr. Mein Wecker. Und das Schlimmste: ich habe ihn auf diese – ich schreib's mal in Gänsefüßchen – „Zeit“ eingestellt.

Frühschicht bei Nestlé, irgendwo am Arsch der Welt, also in Westberlin. Damit die Werktätigen keine Schokolade klauen, gibt es für die neben dem Fabriktor einen Laden, wo sie ihre von ihnen produzierten Waren kaufen können. Das kostet zwar genauso viel wie im Supermarkt, aber dafür stehen hier keine Konkurrenzprodukte herum.

In der Fabrik darf man alles essen, aber am zweiten Tag bringe ich mir doch lieber Stullen mit. Ich darf für elf Mark in der Stunde mit einem Elektrokarren Paletten mit Schokoriegeln herumfahren. Eine Etage tiefer dürfen Frauen für acht Mark die Stunde Pralinen einwickeln.

Abends bin ich zu müde für die Kumpels, zu müde fürs Kino, zu müde, um zu warten, bis die Freundin von der Spätschicht kommt. Morgen klingelt wieder der um halb vier der Wecker.


Spätschicht bei Nestlé

Ah, ausschlafen! Nicht um halb vier Uhr aufstehen, nicht um vier, nicht um sechs. Spätschicht.

Ich stehe auf einem Podest vor einem Fließband. Schokoladentafeln rollen vorbei, palettenweise. Es ist gefüllte Schokolade. Wenn eine Tafel nicht richtig gegossen ist, drücke ich auf einen Knopf über meinem Kopf. Die komplette Palette mit vielleicht dreißig Tafeln wird dann in den Ausschuss geschoben. Diese Arbeit überfordert mich nicht. Wahrscheinlich damit ich nicht einschlafe, gibt es keinen Hocker. Aus dem selben Grund ist der Ausschussknopf über Kopfhöhe angebracht. So ein Knopf muss bewegt werden, sonst klemmt er irgendwann mal. Ich schicke mal eben ein paar Paletten in den Ausschuss. Einfach so. Die waren völlig in Ordnung. Ich mach's gleich noch mal. Ich bin der Herr der Ausschussquote bei Nestlé. Alle Räder stehen still, wenn mein starker Arm es will!

Zum Feierabend wird alles mit kochendem Wasser aus dem Schlauch gereinigt. Die Schokolade löst sich überall sauber von den Maschinen. Die Haut meiner Hände löst sich sauber vom Fleisch.

Um zehn raus aus dem Fabriktor. Um zwölf in Kernberlin. Zu spät fürs Kino. Zu spät für die Freundin, die hat Frühschicht. Aber noch lange nicht zu spät für die Kneipe. Morgen kann ich ja wieder ausschlafen, ist ja wieder Spätschicht.


Frühschicht bei Bahlsen

Die Keksfabrik von Bahlsen ist am anderen Arsch von Westberlin. Selbst mit dem ersten Bus von der Spitze komme ich eine halbe Stunde zu spät. Die Schicht beginnt um fünf. Weil es zur Zeit nicht so dolle ist mit der Auftragslage, gibt es nur die Frühschicht.

Ich melde mich beim Pförtner. Scheitel, gezwirbelter Schnurrbart, schnarrende Rede: „Er ist verspätet. Morgen sollte er pünktlich kommen!“ Wer? „Na er!“ Wer?? „Er!!“ Ich??? „Ja!!!“ Gruselgrusel, werde ich etwa auch so, wenn ich jeden Tag so früh aufstehe?

Hier werden diese runden Kekse mit dem Loch in der Mitte produziert, die ähnlich aussehen wie CDs, bloß keksfarben und mit Zucker bestreut. Diese Kekse werden aus Keksteig gebacken, die im obersten Stockwerk der Fabrik aus Keksteigzutaten und Keksbruch geknetet wird und zwar von einem Dicken und mir. Ansonsten ist die Halle menschenleer. Es riecht übel nach Vanille und ranziger Margarine. Man kann sich nicht unterhalten, so laut ist die Knetmaschine. Außer der Knetmaschine stehen eine Waage und sehr viele Wannen mit Rädern unten dran in der Halle. Die Wannen sind voll mit aufgeschäumter Margarine. Ich muss die mit dem ältesten Datum heraussuchen. Dann wiege ich zweiunddreißig Kilo ab, genau wie der Dicke es mir gezeigt hat: Ich tunke meine beiden nackten Arme in die Fettwanne, hebe mit ihnen einen möglichst großen Fettschaumklops heraus und klatsche ihn in die Waagschale. So lange, bis zweiunddreißig Kilo darin sind. Die schleppe ich dann mit meinen fettglibschigen Händen zur Knetmaschine. Wenn die Wanne leer ist, hole ich die mit dem nächstältesten Datum und tauche in deren Margarineschaum. Ich bekomme ziemlich sofort eine Griebe, Herpes.

Irgendwann ist Frühstückspause. Ich schätze mal, das wird eine Frühstückspause ohne Frühstückessen. Ich muss aufs Klo. Ich scheuere mir den Fettfilm von Armen und Händen. Was rumpelt und pumpelt in meinem Bauch herum, als seien es zweiunddreißig Kilo ranziger Margarineschaum mit Vanillearoma?

Einen Kognak könnte ich jetzt gebrauchen, oder zwei. Draußen scheint die Sonne. Es ist schön, im Sonnenschein zu spazieren, am Pförtner vorbei – „Er geht schon?“ – hin zum Bus und dann wegzufahren, vom Arsch von Westberlin. Für Bahlsen geht meine Frühstückspause lebenslang.

Am nächsten Tag werde ich entlassen. Der Kunde, an den die Zeitarbeitsfirma ihre Arbeitskräfte verleiht, war nicht mit mir zufrieden. Ob in einem Videofilmverleih, wenn ein Kunde mit einem Film nicht unzufrieden ist, der Film weggeworfen wird? Wer weiß? Und wer weiß, vielleicht fühlt sich dieser Film dann genauso gut, wie ich mich an diesem Tag gefühlt habe, an dem ich gekündigt wurde.


[Dieser Text hat seinen Ursprung hier: Spider - Im Arbeitslosenpark]