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4. November 1989

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Berlin, Alexanderplatz

Am 4. November 1989 fand die größte Massendemonstration in der Geschichte der DDR statt. Zwischen 500.000 und 1,4 Millionen Menschen beteiligten sich an diesem Sonnabend an der Berliner Demonstration rund um den Alexanderplatz. Berliner Theaterschaffende hatten dazu aufgerufen, gemäss der Verfassung der DDR für Versammlungs- und Redefreiheit zu demonstrieren.

RednerInnen

  • Marion van de Kamp (Schauspielerin)
  • Johanna Schall (Schauspielerin)
  • Ulrich Mühe (Schauspieler)
  • Jan Josef Liefers (Schauspieler)
  • Gregor Gysi (Rechtsanwalt)
  • Marianne Birthler (Katechetin, Initiative für Frieden und Menschenrechte)
  • Kurt Demmler (Sänger, sang das Lied »Irgendwer ist immer dabei«)
  • Markus Wolf (Generaloberst a.D. des Ministeriums für Staatssicherheit in der DDR)
  • Jens Reich (Molekularbiologe, Neues Forum)
  • Manfred Gerlach (Vorsitzender der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands)
  • Ekkehard Schall (Schauspieler)
  • Günter Schabowski (1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin, stellv. Mitglied des Politbüros)
  • Stefan Heym (Schriftsteller)
  • Friedrich Schorlemmer (Theologe, Demokratischer Aufbruch)
  • Christa Wolf (Schriftstellerin)
  • Tobias Langhoff (Schauspieler)
  • Annekathrin Bürger (Schauspielerin, sang »Worte eines politischen Gefangenen an Stalin«)
  • Joachim Tschirner (Dokumentarfilmregisseur)
  • Klaus Baschleben (Journalist)
  • Heiner Müller (Schriftsteller)
  • Lothar Bisky (Kulturwissenschaftler, Rektor der Filmhochschule Potsdam-Babelsberg)
  • Ronald Freytag (Student, Humboldt-Universität zu Berlin)
  • Christoph Hein (Schriftsteller)
  • Robert Juhoras (Student, Universität Budapest)
  • Konrad Elmer (Dozent)
  • Steffi Spira (Schauspielerin)

Auswirkungen

Die darauf folgenden Montagsdemos am 6. November hatten solche landesweiten Zuströme, daß der Ministerpräsident der DDR Willi Stoph, sowie das Politbüro des ZK der SED (die DDR-Schattenregierung) unter Egon Krenz am 7. und 8. November geschlossen ihren Rücktritt erklärten.

Einen Tag später verkündete Günter Schabowski am 9.November während der Spätnachmittagsausgabe der "Aktuellen Kamera" (DDR-Tagesschau) die Öffnung der Mauer.

Zitate

  • Christa Wolf:
"Stell dir vor, es ist Sozialismus und keiner geht weg."
  • Johanna Schall:
"Die Regierung ist eingesetzt, um dem Allgemeinwillen zur Anerkennung zu verhelfen, aber die Regierenden haben einen Individualwillen, und jeder Wille drängt zur Herrschaft."
  • Jan Josef Liefers:
"Die vorhandenen Strukturen, die immer wieder übernommenen prinzipiellen Strukturen lassen Erneuerung nicht zu. Deshalb müssen sie zerstört werden. Neue Strukturen müssen wir entwickeln, für einen demokratischen Sozialismus. Und das heißt für mich unter anderem auch Aufteilung der Macht zwischen der Mehrheit und den Minderheiten."
  • Gregor Gysi:
"Allerdings, und das sage ich genauso deutlich, keinen ersten Mann der Partei und des Staates mehr ohne demokratische Kontrolle oder mit absolutistischen Herrschaftsformen und nie wieder mit Zügen von Personenkult."
  • Ekkehard Schall:
" Nicht die vielen Protestschreiben, Beschwerden und Vorschläge haben etwas erreicht, sondern ausschließlich der Druck der Straße, der selbstverständlich verboten war, wie schon die Aktionen der revolutionären Sozialdemokraten im vorigen Jahrhundert."
  • Christoph Hein:
"Schaffen wir eine demokratische Gesellschaft auf einer gesetzlichen Grundlage, die einklagbar ist! Einen Sozialismus, der dieses Wort nicht zur Karikatur macht. Eine Gesellschaft, die dem Menschen angemessen ist und ihn nicht der Struktur unterordnet. Es wird für uns alle viel Arbeit geben, auch viel Kleinarbeit, schlimmer als Stricken."
" Aber ich denke, unser Gedächtnis ist nicht so schlecht, daß wir nicht wissen, wer damit begann, die übermächtigen Strukturen aufzubrechen, wer den Schlaf der Vernunft beendete. Es war die Vernunft der Straße, die Demonstrationen des Volkes. Ohne diese Demonstrationen wäre die Regierung nicht verändert worden, könnte die Arbeit, die gerade beginnt, nicht erfolgen. Und da ist an erster Stelle Leipzig zu nennen."
  • Heiner Müller:
"40 Jahre ohne eigene Interessenvertretung sind genug! Wir dürfen uns nicht mehr organisieren lassen, auch nicht von ›neuen Männern‹ - wir müssen uns selbst organisieren. Die nächsten Jahre werden für uns kein Zuckerschlecken. Die Daumenschrauben sollen angezogen werden. Die Preise werden steigen, die Löhne kaum. Wenn Subventionen wegfallen, trifft es vor allem uns. Der Staat fordert Leistung, bald wird er mit Entlassung drohen. Wir sollen die Karre aus dem Dreck ziehen!"
  • Steffi Spira:
"Ich wünsche für meine Urenkel, daß sie aufwachsen ohne Fahnenapell, ohne Staatsbürgerkunde und daß keine Blauhemden mit Fackeln an den hohen Leuten vorübergehen."

Reden

Marianne Birthler

"Wir sind hier, weil wir Hoffnung haben. Auf diesem Platz ist hunderttausendfache Hoffnung versammelt. Hoffnung, Phantasie, Frechheit und Humor. Diese Hoffnung, die seit ein paar Wochen endlich in der DDR wächst, sollte, bevor sie so groß wurde wie heute, am Abend des 7. Oktober und in den Tagen und Nächten danach niedergeknüppelt werden. Ich arbeite in der Berliner Kontakt-Telefon-Gruppe mit. Wir haben über zweihundert Berichte gelesen, in denen davon die Rede ist, wie Menschen gejagt, geschlagen, gedemütigt und verurteilt wurden. Alle, die diese Berichte kennen, haben begriffen, hier handelte es sich nicht um Übergriffe einzelner, nicht nur um kleine Büttel, die künstlich in Streß versetzt wurden, drauflos knüppelten und grinsend Menschen befahlen, sich auszuziehen und Kniebeugen zu machen. Nein, das Unrecht ist auf auf Befehl geschehen. Es ist geplant, vorbereitet und befohlen worden. Es geschah auf einen Schlag, auf den Straßen, in Rummelsburg, in Blankenburg, in den Garagen und auf den Höfen der Polizeireviere, in den Kasernen der Bereitschaftspolizei, in Berlin ebenso wie in anderen Städten der DDR. Wer sich von den Polizisten solidarisch verhielt, mußte dies heimlich tun. Wer sich weigerte, mußte mit Strafe rechnen.

Bis heute ist nicht beantwortet: Wer hat die Befehle gegeben, wer hatte die politische Verantwortung, wer hat befohlen, daß Polizisten aufgehetzt wurden und Angst vor der Bevölkerung hatten. Wer hat ihnen gesagt, daß man sie auf dem Alexanderplatz aufhängen würde. Der vom Berliner Magistrat gestern Vormittag auf öffentlichen Druck hin eingesetzte Untersuchungsausschuß befriedigt noch nicht, weder in Hinblick auf seine Zusammensetzung noch auf seine Zielsetzung. Offenbar wurde in einer eiligen Aktion versucht, der Entstehung einer wirklich unabhängigen Untersuchungskommission zuvorzukommen, die gestern nachmittag gebildet wurde.

Dieser unabhängige Untersuchungsausschuß , zu dem beauftragte Vertreter von Künstlerverbänden, demokratischen Initiativen, der Kirche sowie Ärzte, Anwälte und Psychologen angehören, ist bereit, mit dem Untersuchungsausschuß des Magistrats zusammenzuarbeiten, wenn gewährleistet ist, daß dort auch die Fragen der politischen Verantwortung geklärt werden und daß dort niemand mitarbeitet, der in die Gesetzesverletzungen verstrickt ist. Diese Forderungen ergeben sich aus der Verantwortung jenen gegenüber, die uns ihre Berichte gegeben haben, weil sie durch ihr Erleben das Vertrauen in staatliche Instanzen verloren haben. Was auch immer sich in diesen Tagen verändert, an einem Punkt sind wir noch nicht sehr viel weiter gekommen. Wie schaffen wir die politischen Strukturen, die ein für allemal verhindern, daß so etwas noch einmal geschieht. Ich zitiere einen Diensthabenden in Rummelsburg, als eine Frau ihre Rechte einklagen wollte:" Die Verfassung der DDR interessiert mich nicht, Rechte habt ihr hier unten nicht, und die Gesetze mache ich." 48 Stunden hatte er Recht und noch ist nicht sicher, daß er nie wieder eine Chance bekommt. Es ist gut, für Meinungsfreiheit, Reisefreiheit, eine besser funktionierende Wirtschaft und ein neues Bildungssystem zu kämpfen. All das ist bitter notwendig, aber ...

All das ist bitter notwendig, aber wir sollten bei alledem nicht vernachlässigen, daß diese Rechte gesichert werden müssen, daß heißt, wir müssen über die Fragen der Macht nachdenken und darüber, wie Macht kontrolliert werden kann. Christoph Hein hat kürzlich die Frage gestellt, was Menschen veranlaßt hat, so zu handeln. Er fand eine schlimme Antwort: Weil sie dachten, wir würden weiter schweigen. Es hat nicht funktioniert. Wir haben nicht geschwiegen. Der gewaltige Unterdrückungsversuch hat eine für die DDR einmalige Welle von Mut und Solidarität bewirkt. Zu alledem, zum Leiden und zur Solidarität der letzten Wochen, gibt es zahllose Geschichten, wie Menschen verändert wurden. Wir werden uns morgen und in der nächsten Zeit nicht ausruhen können. Noch sind Menschen unschuldig in Haft, für die wir uns einsetzen werden. Wer im Zusammenhang mit dem 7. Oktober bestraft wurde, wurde zwar amnestiert, aber, eine Amnestie ist ein Gnadenakt und keine Gerechtigkeit. Wir fordern Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer. Überhaupt gibt es viel zu tun. Abrüstungsprogramme für Wasserwerfer und ähnliche Geräte müssen entwickelt und durchgesetzt werden. In dem Betrieben krempeln Werktätige ihre Gewerkschaften um oder gründen lieber gleich neue. Studenten organisieren sich. Die Oppositionsgruppen kämpfen mit Papiermangel und anderen technischen Tücken. Lehrer tun sich zusammen, um etwas zu verändern und so weiter und so weiter. Wer etwas tun will, hat viel Auswahl."

Quelle: http://www.dhm.de/ausstellungen/4november1989/birt.html

Jens Reich

"Freiheit ist Befreiung, und wir alle müssen uns frei machen von Angst, von der Angst, es könnte alles aufgezeichnet und später gegen mich verwendet werden, - von feiger Vorsicht, nur nicht den Kopf aus dem Salat stecken, sonst gibt's einen drauf, - von Kleinmütigkeit, es hat ja doch keinen Sinn, nichts wird sich ändern, alles bleibt beim Alten. Nein, wir müssen unser Verfassungsrecht wahrnehmen, nicht nur hier auf der Demo, sondern vor dem Chef, vor den Kollegen, vor dem Lehrer, vor der Behörde, überall. Und wir müssen jedem beistehen, der dies Recht ausübt, nicht abwarten, ob er sich den Hals bricht. Wir sollen zuletzt auch Solidarität nicht vergessen. Das Wort wird so leicht zur Phrase, sozusagen zum Soli-Aufkommen . Wir wollen zum Beispiel an die Prager Einwohner denken. An die blauen Flecken auf ihren Rücken. An ihre Verhafteten. Seit wann darf man politische Konflikte mit dem Knüppel austragen.?
Wir wollen auch die Alten nicht vergessen, die dieses Land aus den Trümmern geholt haben. Und die jetzt vielleicht krank oder behindert sind. Sie brauchen unsere freundliche Zustimmung. Auch an die Kinder wollen wir denken, die stillsitzen müssen. Sogar dann, wenn in Berlin eine Freiheitsdemonstration stattfindet. Nicht zuletzt auch an die Ossietzky-Schüler in Pankow. Sie sind von der Schule geflogen, weil sie das Recht wahrnahmen, für das wir heute hier stehen.. Sie haben eine großzügige Wiedergutmachung verdient, keine mäklige Begnadigung. Und zum Schluß denken wir an Südafrika. Auch dort gab es in diesen Tagen die erste große Freiheitsdemonstration. Wir mußten nur die Sprache wiederentdecken, unser Schweigen brechen. Die Menschen dort in Südafrika mußten sich den Stickknebel aus den Rachen reißen. Sie beweisen Todesmut, laßt uns wenigstens Zivilcourage zeigen. Und ein letztes freundliches Wort, vielleicht können wir bei einer anderen Veranstaltung Erich Loest oder Wolf Biermann dabei haben. Vielleicht können wir die Leute dabei haben, die nicht mehr bei uns sind, weggegangen sind und wiederkommen möchten. Danke. "

Quelle: http://www.dhm.de/ausstellungen/4november1989/reich.html

Stefan Heym

"Liebe Freunde, Mitbürger, es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen, den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengedresch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit. Welche Wandlung! Vor noch nicht vier Wochen schon gezimmerte Tribüne hier um die Ecke, mit dem Vorbeimarsch, dem bestellten, vor den Erhabenen! Und heute! Heute hier, die Ihr Euch aus eigenem freien Willen versammelt habt, für Freiheit und Demokratie und für einen Sozialismus, der des Namens wert ist.

In der Zeit, die hoffentlich jetzt zu Ende ist, wie oft kamen da die Menschen zu mir mit ihren Klagen. Dem war Unrecht geschehen, und der war unterdrückt und geschurigelt worden. Und allesamt waren sie frustriert. Und ich sagte: So tut doch etwas! Und sie sagten resigniert: Wir können doch nichts tun. Und das ging so in dieser Republik, bis es nicht mehr ging. Bis sich so viel Unwilligkeit angehäuft hatte im Staate und so viel Unmut im Leben der Menschen, dass ein Teil von ihnen weglief. Die anderen aber, die Mehrzahl, erklärten, und zwar auf der Strasse, öffentlich: Schluß, ändern. Wir sind das Volk!

Einer schrieb mir - und der Mann hat recht: Wir haben in diesen letzten Wochen unsere Sprachlosigkeit überwunden und sind jetzt dabei, den aufrechten Gang zu erlernen. Und das, Freunde, in Deutschland, wo bisher sämtliche Revolutionen danebengegangen, und wo die Leute immer gekuscht haben, unter dem Kaiser, unter den Nazis, und später auch. Aber sprechen, frei sprechen, gehen, aufrecht gehen, das ist nicht genug. Laßt uns auch lernen zu regieren. Die Macht gehört nicht in die Hände eines einzelnen oder ein paar weniger oder eines Apparates oder einer Partei. Alle müssen teilhaben an dieser Macht.Und wer immer sie ausübt und wo immer, muß unterworfen sein der Kontrolle der Bürger, denn Macht korrumpiert. Und absolute Macht, das können wir heute noch sehen, korrumpiert absolut. Der Sozialismus - nicht der Stalinsche, der richtige -, den wir endlich erbauen wollen zu unserem Nutzen und zum Nutzen ganz Deutschlands, dieser Sozialismus ist nicht denkbar ohne Demokratie. Demokratie aber, ein griechisches Wort, heißt Herrschaft des Volkes."

Quelle: http://www.dhm.de/ausstellungen/4november1989/heym.html

Friedrich Schorlemmer

"Ich spreche über Solidarität und Toleranz. Im Herbst 1989 sind wir auferstanden aus Ruinen und der Zukunft neu zugewandt. Und bald werden wir dieses Lied auch wieder singen. Hier lohnt es sich jetzt, hier wird es spannend.

Bleibt doch hier! Jetzt brauchen wir buchstäblich jeden und jede.

Es ist wahr, unser Land ist kaputt. Ziemlich kaputt. Es ist wahr, dumpf, geduckt, bevormundet haben wir gelebt, so viele Jahre. Heute sind wir hierhergekommen, offener, aufrechter, selbstbewußter. Wir finden zu uns selbst. Wir werden aus Objekten zu Subjekten des politischen Handelns. Wir können stolz sein. Lebten wir gestern noch in der stickigen Luft der Stagnation, die atemberaubend war, so erleben wir jetzt Veränderungen, die atemberaubend sind.

Der Wehrunterricht wird abgeschafft, der Zivildienst wird eingeführt. Plötzlich ist es zum Erlebnis geworden, unsere Zeitungen zu lesen. Aus Zerrspiegeln wurden Spiegel. Warum mußten wir so lange darauf warten?

Ist das alles nur ein Traum, aus dem es ein bitteres Erwachen gibt? Oder sind wir mitten in einem wirklichen dauerhaften demokratischen Aufbruch? Wir brauchen jetzt, denke ich, Toleranz und kritische Solidarität miteinander. Und nicht das Ausufern der verständlichen Emotionen. Wir brauchen eine Koalition der Vernunft, die quer durch die bisherigen Parteien und quer durch die neuen Bewegungen geht.

Aber dazu gehört auch, daß die neuen Bewegungen - alle - zugelassen werden. Der Wandel ist schon unübersehbar, aber noch ist er umkehrbar. Hatten die Herrschenden bisher die Signale unserer gesellschaftlichen Krise nicht gehört, höchstens abgehört, so haben die dramatischen Widersprüche sie jetzt gezwungen, von ihren Tribünen herabzusteigen und den gleichberechtigten Dialog zu beginnen. Und, ich habe erlebt, wieviel sie sich jetzt anhören müssen.

Und wir werden viele in ihren Ämtern nicht mehr tolerieren können. Und ich möchte meinen Respekt denen aussprechen, die freiwillig zurücktreten.

Der nun begonnene Dialog darf sich aber nicht aufs Dampfablassen beschränken, sonst entartet er zum großen Papperlapapp des Volkes, bis der Winter einkehrt und alles wieder in die alten Bahnen gebracht wird.

Wir brauchen weitere spürbare Ergebnisse des Dialogs. Der Dialog muß zum Normalfall des Umgangs zwischen Volk und Regierung werden. Er darf nicht Notmaßnahme im Krisenfall sein.

Wer gestern noch die scharfe Kralle der Macht zeigte und heute das weiche Pfötchen des Dialogs hinhält, darf sich nicht wundern, daß viele noch die Kralle darunter fürchten.

Wer gestern noch die chinesische Lösung für richtig hielt, muß heute - und zwar verbindlich - erklären, daß dies für die DDR nicht zur Debatte steht, sonst bleibt die Angst. (Dieser Satz bezieht sich auf eine Bemerkung von Egon Krenz aus dem Mai 1989 „es sei etwas getan worden, um die Ordnung wiederherzustellen“)

Wir brauchen nun eine Struktur der Demokratie von unten nach oben.

Die Regierung hat auf das Volk zu hören und nicht das Volk auf die Regierung.

Wir lassen uns nicht mehr bevormunden.

Schließlich, eine Atmosphäre des Vertrauens in unserem Lande entwickelt sich erst, wenn das größte innenpolitische Sicherheitsrisiko, die Staatssicherheit, radikal abgebaut und vom Volk kontrolliert wird. 40 Jahre haben wir das erduldet!

40 Jahre haben wir das erduldet, jetzt wollen und können wir diesen riesigen Angstapparat weder weiter tolerieren noch bezahlen.

Fehler dürfen nun nicht flugs korrigiert, sie müssen auch als Fehler zugegeben werden.

Aber, liebe Freunde, liebe Mitbürger in unserem ganzen Land, reißen wir nun nicht neue Gräben auf, trauen wir jedem eine Wende zu, auch wenn nicht jeder in seiner alten Position verbleiben darf. Aber bitte keine Rachegedanken!

Wo persönliche Verantwortung oder Schuld vorliegt, ist strikte Gesetzlichkeit einzuhalten. Tolerieren wir nirgendwo Stimmen der Vergeltung.

Und zu uns aus der neuen demokratischen Bewegung möchte ich sagen: Setzen wir an die Stelle der alten Intoleranz nicht neue Intoleranz. Seien wir tolerant und gerecht gegenüber den alten und neuen politischen Konkurrenten, auch einer sich wandelnden SED.

Denken wir daran, welche Befürchtungen der neue erste Mann (Egon Krenz) auslöste und welche neue Bewegung mit ihm schon in Gang gekommen ist.

Ich meine, wir wollen und wir können unser Land jetzt nicht ohne die SED aufbauen. Aber sie muß nicht führen.

Toleranz erwächst aus der Erkenntnis, daß auch wir irren, und den alten Fehlern neue hinzufügen werden.

Damit aber niemand wieder Irrtümer unangefochten als Wahrheit ausgeben kann, dazu brauchen wir die volle Demokratie, die keinen festgeschriebenen Wahrheits- und Führungsanspruch einer Gruppe verträgt. Nirgendwo.

Darum: Demokratie jetzt oder nie!

Ohne die wache Solidarität aller demokratischen Kräfte wird es nicht gelingen, eine lebensfähige Demokratie aufzubauen, die Zersplitterung der Demokratien ist stets die Stunde der Diktatoren.

Wir werden noch durch ein Tal hindurchgehen, wir werden uns nicht durch besonderen Wohlstand auszeichnen können, aber vielleicht durch mehr Freundlichkeit und Wärme.

Aus Wittenberg kommend, erinnere ich Regierende und Regierte - also uns alle - an ein Wort Martin Luthers: Lasset die Geister aufeinanderprallen, aber die Fäuste haltet stille."

Quelle: http://www.dhm.de/ausstellungen/4november1989/schorl.html


Christa Wolf

(Ihre Tätigkeit als "IM Margarete" tut hier nichts zur Sache)

"Verblüfft beobachten wir die Wendigen...

Jede revolutionäre Bewegung befreit auch die Sprache. Was bisher so schwer auszusprechen war, geht uns auf einmal frei von den Lippen· Wir staunen, was wir offenbar schon lange gedacht haben und was wir uns jetzt laut zu rufen: Demokratie jetzt oder nie! Und wir meinen Volksherrschaft, und wir erinnern uns der steckengebliebenen oder blutig niedergeschlagenen Ansätze in unserer Geschichte und wollen die Chance,die in dieser Krise steckt, da sie alle unsere produktiven Kräfte weckt, nicht wieder verschlafen; aber wir wollen sie auch nicht vertun durch Unbesonnenheit oder die Umkehrung von Feindbildern. Mit dem Wort·Wende· habe ich meine Schwierigkeiten. Ich sehe da ein Segelboot, der Kapitän ruft: "Klar zur Wende!",· weil der Wind sich gedreht hat und die Mannschaft duckt sich, wenn der Segelbaum über das Boot fegt. Aber stimmt dieses Bild noch? Stimmt es noch in dieser täglich vorwärtstreibenden Lage. Ich würde von revolutionärer Erneuerung·sprechen. Revolutionen gehen von unten aus. "Unten" und "oben" wechseln ihre Plätze in dem Wertesystem und dieser Wechsel stellt die sozialistische Gesellschaft vom Kopf auf die Füße. Große soziale Bewegungen kommen in Gang.

Soviel wie in diesen Wochen ist in unserem Land noch nie geredet worden, miteinander geredet worden,noch nie mit dieser Leidenschaft, mit soviel Zorn und Trauer, aber auch mit soviel Hoffnung· Wir wollen jeden Tag nutzen, wir schlafen nicht oder wenig, wir befreunden uns mit Menschen,die wir vorher nicht kannten und wir zerstreiten uns schmerzhaft mit anderen· Das nennt sich nun ·"Dialog"·,wir haben ihn gefordert, nun können wir das Wort fast nicht mehr hören und haben doch noch nicht wirklich gelernt, was es ausdrücken will. Mißtrauisch starren wir auf manche plötzlich ausgestreckte Hand, in manches vorher so Starre Gesicht: "Mißtrauen ist gut, Kontrolle noch besser" - wir drehen alte Losungen um, die uns gedrückt und verletzt haben und geben sie postwendend zurück. Wir fürchten, benutzt zu werden. Und wir fürchten, ein ehrlich gemeintes Angebot auszuschlagen. In diesem Zwiespalt befindet sich nun das ganze Land. Wir wissen, wir müssen die Kunst üben, den Zwiespalt nicht in Konfrontation ausarten zu lassen: Diese Wochen, diese Möglichkeiten werden uns nur einmal gegeben - durch uns selbst. Verblüfft beobachten wir die Wendigen, im Volksmund "Wendehälse· genannt, die, laut Lexikon, sich "rasch und leicht einer gegebenen neuen Situation anpassen, sich in ihr geschickt bewegen, sie zu nutzen verstehen". Sie am meisten blockieren die Glaubwürdigkeit der neuen Politik. Soweit sind wir wohl noch nicht, daß wir sie mit Humor nehmen können - was uns doch in anderen Fällen schon gelingt. "Trittbrettfahrer - zurücktreten!" lese ich auf Transparenten. Und, an die Polizei gerichtet, von Demonstranten der Ruf: "Zieht euch um und schließt euch an!" - ein großzügiges Angebot.

Ökonomisch denken wir auch: "Rechtssicherheit spart Staatssicherheit!" Und wir sind sogar zu existentiellen Verzichten bereit: "Bürger,stell die Glotze ab, setz dich jetzt mit uns in Trab!"· Ja: Die Sprache springt aus dem Ämter- und Zeitungsdeutsch heraus,in das sie eingewickelt war, und erinnert sich ihrer Gefühlswörter. Eines davon ist ·"Traum". Also träumen wir mit hellwacher Vernunft Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg! Sehen aber die Bilder der immer noch Weggehenden, fragen uns: Was tun? Und hören als Echo die Antwort: Was tun! Das fängt jetzt an, wenn aus den Forderungen Rechte, also Pflichten werden:Untersuchungskommission, Verfassungsgericht. Verwaltungsreform. Viel zu tun, und alles neben der Arbeit. Und dazu noch Zeitung, essen! Zu Huldigungsvorbeizügen, verordneten Manifestationen werden wir keine Zeit mehr haben, Dieses ist eine Demo, genehmigt, gewaltlos. Wenn sie so bleibt, bis zum Schluß, wissen wir wieder mehr über das, was wir können, und darauf bestehen wir dann: Vorschlag für den Ersten Mai: Die Führung zieht am Volk vorbei. Unglaubliche Wandlungen. Das ·"Staatsvolk der DDR"· geht auf die Straße, um sich als "Volk" zu erkennen. Und dies ist für mich der wichtigste Satz dieser letzten Wochen - der tausendfache Ruf: Wir - sind - das - Volk!

Eine schlichte Feststellung. Die wollen wir nicht vergessen."

Quelle: http://www.dhm.de/ausstellungen/4november1989/cwolf.html

siehe auch


Weblinks

Montagsdemo Mannheim - http://www.montagsdemo.mannheim2004.website.ms


Kategorie:Kämpfe für die Freiheit! Kategorie:Revolution Kategorie:Geschichte