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Murray Bookchin/Nachrufe
Nachruf von Wolfgang Haug/Trotzdem-Verlagsgenossenschaft eG
Murray Bookchin ist gestorben
„Das Wichtigste in den USA heutzutage ist es, Bewusstsein zu schaffen“
Murray Bookchin, Begründer der Sozialökologie, einer Verbindung von anarchistischem und ökologischen Denken, starb im Alter von 85 Jahren am 30.07.2006 in Burlington, Vermont. Seit mehr als fünfzig Jahren erhob er seine kritische Stimme in der US-Linken und der internationalen Ökologiebewegung. In Deutschland ist sein Denken durch die Publikationen im Karin Kramer Verlag, später im Trotzdem Verlag und in der dortigen Zeitschrift "Schwarzer Faden" breiter bekannt geworden. Dabei hatte er unter verschiedenen Pseudonymen bereits in den 50er Jahren in deutscher Sprache publiziert. Murray, am 14.01.1921 geboren, wuchs in einer kommunistisch denkenden Familie in der Bronx auf. Seine Eltern waren russische Immigranten. Mit neun Jahren wird Bookchin 1930 Mitglied in der kommunistischen Jugendgruppe, den Young Pioneers, neun Jahre später lässt er sich nach einer öffentlichen Stalin-Kritik aus der Young Communist League ausschließen und wendet sich dem Trotzkismus zu. In New Jersey arbeitete er in einer Gießerei und als Gewerkschaftsaktivist bevor er der U.S. Armee beitrat. Später arbeitete er in der Autoindustrie, verließ die Branche und die Gewerkschaften aber nach dem General Motors Streik von 1946. Seine Interessen verschoben sich auf die Umwelt und das Schreiben, er schloss sich dem Kreis um die Zeitschrift Contemporary Issues an, ehemalige IKD-„Trotzkisten“ um den deutschen Emigranten Joseph Weber entwickelten hier in scharfer Abgrenzung gegen jede totalitäre Theorie basisdemokratische Positionen, die auf Deutsch den Begriff „inhaltliche Demokratie“ erhielten. In Contemporary Issues (und parallel in der deutschsprachigen Ausgabe Dinge der Zeit) veröffentlichte Murray in den 50er Jahren seine ersten Artikel. In Deutschland erschien 1955 im Hanns Georg Müller Verlag, Krailling bei München auch sein erstes Buch „Lebensgefährliche Lebensmittel“. Bookchin zählt deshalb zu den frühesten Vorbereitern der ökologischen Bewegung. Als Theoretiker fühlte er sich bis zu seinem Tod dieser Bewegung eng verbunden, durchschaute aber im Gegensatz zu den GRÜNEN, dass der Beherrschung der Natur durch den Menschen auch immer Hierarchie und Machtstreben zugrunde lagen. In der Ablehnung von "Hierarchie und Herrschaft" entwickelte Murray Bookchin eine anarchistische Ethik und Philosophie. Er schätzte die deutsche Philosophie von Kant bis Adorno, bevorzugte aber Hegel, und sah sich in der Nachfolge der Aufklärung. Geschult an den konkreten Ereignissen im Spanischen Bürgerkrieg und den Erfahrungen der Anarchosyndikalisten in der Spanischen Revolution entwickelte er seine "Soziale Ökologie", die auf Dezentralisierung, dualer Gegenmacht, Selbstverwaltung und Selbstorganisation aufbaute, den Klassenkampf alter Prägung ablehnte und stattdessen auf Stadtteilarbeit, Bürgerversammlungen und direkte Demokratie setzte. Wichtiges Vorbild war für ihn die Polis der griechischen Städte im Altertum, deren Bürgerversammlungen und gleichberechtigte Entscheidungsmöglichkeit der männlichen Vollbürger er vorbildhaft sah, auch wenn ihm bewusst war, dass dieses urdemokratische Verhalten als Kehrseite und Widerspruch die Frauen ausschloss und zudem auf Sklaverei basierte. Ohne diese Kehrseite sah er aber Züge, die nachahmenswert schienen. In Burlington wurde Bookchin Ideengeber einer grünen Bewegung, wobei er sich aber immer kritisch mit der Grünen Partei der USA auseinandersetzte! 1974 gründete er gemeinsam mit Dan Chodorkoff das »Institut für Soziale Ökologie« in Plainfield, das bis heute existiert, tausende von Studenten aus aller Welt angezogen hat und zeitweise zum organisatorischen Zentrum einer internationalen Bewegung für "Libertären Kommunalismus" werden konnte. Höhepunkt dieser Organisationsversuche für einen pragmatischen Anarchismus, der sich international auf kommunaler Ebene organisiert, waren die Kongresse in Lissabon 1998 und Vermont 1999. Leider konnten die positiven Ansätze aus Lissabon (26. -28.08.98) ein Jahr später nicht fortgesetzt werden, zu "amerikanisch" wurden bereits im Vorfeld potentiell Interessierte durch ein Screening-Verfahren von der Teilnahme ausgeschlossen. Die Angst, Saboteure als Teilnehmer auf der Konferenz empfangen zu müssen und die Abgrenzung gegen vermeintliche Pazifisten, Verfechter des Konsens-Prinzips oder Anhänger anderer Philosophen führte letztlich zum Scheitern der 2.internationalen Konferenz und verwies die Ideen zurück an die jeweils interessierten Gruppen. Trotzdem zeigte die Initiative ein Jahr lang, dass es möglich ist, international über einen Provider auf Englisch zu diskutieren, Schritte abzustimmen und zu gemeinsamen Positionen und Aktionen zu kommen, die ein neue libertäre Bewegung international voran bringen könnten. 1984 traf ich Murray beim internationalen Anarchistenkongress in Venedig zum ersten Mal persönlich. Ihn reden zu hören und vor allem gestenreich reden zu sehen, war ein intensives Erlebnis. Die zeitweilig heiß diskutierten FLI-Thesen zum „Verfall der Arbeit“ fanden seinen ungeteilten Zuspruch, so dass sich ab dieser Zeit eine enge Zusammenarbeit entwickelte. Im Schwarzen Faden erschienen ab 1985 Artikel und Interviews. Persönliche Treffen in Deutschland (seine Tochter Debbie lebte damals in Frankfurt) und ein längerer Vermont-Aufenthalt meinerseits 1994 vertieften eine Freundschaft, die in zahlreichen Telefonaten und Übersetzungen seiner Arbeiten ins Deutsche recht (arbeits-)intensiv wurde. Seine eindringliche Redeweise zeigte und weckte Emotionen und dieselben Emotionen trafen seine Kritiker. Er konnte sich unglaublich über ehrabschneidende Rezensionen aufregen und es fiel ihm schwer, eine Gelassenheit zu entwickeln, der es gelungen wäre, „Dummheiten“ für sich selbst sprechen zu lassen. Stattdessen griff er zum Stift und beantwortete und bekämpfte Äußerungen ganz im Stil seiner berühmt gewordenen Marx-Kritik „Hör zu Marxist!“, von der allein in den USA über 100.000 Exemplare verkauft wurden. Seine langjährige Lebensgefährtin Janet Biehl gab in dem Buch „Die Neugestaltung der Gesellschaft“ (Trotzdem-Verlag) mit einer 42-seitigen Bibliografie zu seinem 70. Geburtstag einen ersten, guten Einblick in sein publizistisches und philosophisches Schaffen. Wichtige und zumeist lieferbare deutsche Ausgaben sind in anarchopedia und wikipedia gelistet. Murray Bookchin verstarb nach langjähriger Krankheit, die ihn in den letzten Jahren körperlich an den Rollstuhl fesselte, während er geistig seine Geschichte der Revolution in drei Bänden vollendete. Er hinterließ seine langjährige Lebensgefährtin Janet Biehl; seinen Sohn Joseph, seine Tochter Debbie und seine Ex-Frau und lebenslange Freundin Beatrice Bookchin.
Wolfgang Haug In: Graswurzelrevolution Nr.312
Nachruf der PKK
„Bookchin wird in unserem revolutionären Kampf weiterleben“
Murray Bookchin, einer der größten Sozialwissenschaftler des 20. Jahrhundert ist tot. Anlässlich des des Todes dieses bedeutenden Denkers sprechen wir seinen Angehörigen und Kampfgefährten unser Beileid aus. Sein Denken, sein Kampf und seine Leidenschaft für die Freiheit werden im Kampf der Menschheit für Freiheit und Demokratie weiterleben.
Die Menschheit wird sich stets dankbar an ihn erinnern, weil er unser ökologisches Bewusstsein, das fundamentalste Bewusstsein der Menschheit, erweitert hat und uns das sozialökologische Denken gelehrt hat. Seine Thesen auf dem Gebiet der Sozialökologie haben einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass sich der Mensch als Teil der natürlichen Evolution und als gesellschaftliches Wesen zugleich begreift.
Die Sozialökologie ist aber nicht nur Produkt eines ökologischen Bewusstseins. Gleichzeitig ist sie eine philosophische und ideologische Haltung, die gravierendsten Mängel der bisherigen sozialistischen Theorie korrigiert. So hat er einen der gravierendsten Mängel des Sozialismus des 19. und 20. Jahrhunderts beseitigt. Bookchin war ein militanter Denker, der seinen Idealen von Freiheit, Gleichheit und Demokratie bis zum letzten Atemzug verbunden war. Man wird sich an ihn stets als an einen Denker erinnern, der Militanz mit wissenschaftlichem Denken verbunden hat. Deshalb hat er stets kritisiert, was er als falsch und mangelhaft ansah. So wurde er zu einem der Denker des revolutionären Spektrums, der die Fehler und Mängel des Marxismus heftig kritisierte. Dass es ihm gelungen ist, den Kapitalismus, der heute die Menschheit an den Rand ihres Untergangs gebracht hat, bis ins kleinste Detail zu verstehen und als das schlechteste System in der Geschichte der Menschheit darzustellen, hat dem antikapitalistischen Kampf neue Horizonte eröffnet. Seine Definition des Kapitalismus als ein Krebsgeschwür für Mensch und Natur hat zur Entwicklung des Bewusstseins beigetragen, dass der Kampf gegen den Kapitalismus und für Freiheit, Demokratie und Sozialismus keine Frage der Vorliebe, sondern eine Notwendigkeit ist.
Manche glauben, seine heftige Kritik an Marxismus und Realsozialismus sei gegen den Sozialismus gerichtet gewesen und habe ihn geschwächt. Ganz im Gegenteil hat diese Kritik den Boden für einen neuen Aufbruch der sozialistischen Theorie auf einem stärkeren Fundament bereitet. Daher verdanken auch die Sozialisten Bookchins Ideen viel. Dass auch seine Thesen Fehler enthalten mögen und dass er in einigen Punkten ähnliche Fehler Irrtümer wie der Realsozialismus beging, wird die Beiträge, die Bookchin auf diesem Gebiet geleistet hat, niemals schmälern.
Eine der wichtigen Erkenntnisse Bookchins ist, dass Demokratie, Freiheit und Sozialismus nur in einem System außerhalb des Staates zu verwirklichen sind. Zwar haben auch andere, allen voran die Anarchisten, ähnliche Feststellungen getroffen, aber Bookchin hat unseren Horizont bedeutend erweitert, weil er gezeigt hat, wie dies verwirklicht werden kann. Der von ihm vorgeschlagene Konföderalismus als Modell einer nichtstaatlichen Organisierung, um vollständige Demokratie zu realisieren, geht als ein kreatives Modell in die Geschichte des Sozialismus und der Freiheit ein und wird in Zukunft bedeutende Ergebnisse zeitigen. Er war einer derjenigen revolutionären Theoretiker, die am besten verstanden haben, dass ein Kampf für Demokratie, Freiheit und Sozialismus nicht möglich ist, ohne Staat, Macht und Hierarchie zu aufzulösen. Er hat aufgezeigt, dass die schwersten Fehler des Marxismus in diesem Bereich liegen, und hat so zur Bildung eines Bewusstseins beigetragen, das verhindern wird, dass zukünftige Sozialisten die gleichen schweren Fehler begehen. Wenn diejenigen, deren Ideale Freiheit, Demokratie und Sozialismus heißen, nicht nur Varianten des repressiven Ausbeutungssystems hervorbringen wollen, müssen sie sich Bookchins Thesen und Analysen in diesem Bereich zueigen machen.
Bookchin war nicht nur ein Denker, sondern gleichzeitig ein Organisator und Aktivist. Seine bedeutenden Arbeiten im Bereich der Ökologie und des Kommunalismus wollte er in die Praxis umsetzen. Bookchins Thesen und Anstrengungen hatten entscheidenden Anteil daran, dass überall auf der Welt entsprechende Projekte entstanden. Bekanntlich gab es in der Geschichte der Kämpfe Murray Bookchins große Schwierigkeiten und Hindernisse. Der Dogmatismus und falsche Auffassungen im Marxismus und die unter den damaligen Bedingungen geringe Toleranz gegenüber anderen Meinungen verhinderten, dass die, deren Ideal Freiheit, Demokratie und Sozialismus hießen, schon früher von seinen Gedanken profitieren konnten.
Auch dass die Ökologiebewegung nicht mit dem System brach, sondern sich innerhalb kurzer Zeit ins System integrierte, verhinderte, dass der Wert seines Denken und Handelns genügend verstanden wurde. Seine Kampferfahrung hat ihm gezeigt, wie das kapitalistische System die Menschen integriert und vom Kampf abhält. Seine Erfahrung hat ihn ebenfalls gelehrt, dass die Abwesenheit von Organisierung eine Abwesenheit vom Kampf und die Kapitulation vor dem System mit sich bringt. Er hat sich deshalb bemüht, dagegen theoretische und praktische Maßnahmen zu ergreifen.
Seine Thesen und sein Kampf werden in Zukunft noch breitere Beachtung finden und in die Geschichte der Freiheit eingehen. Am meisten sollten wir uns vielleicht sein konsequentes Festhalten an wissenschaftlichen Maßstäben, seine moralische Prinzipientreue und die Reinheit seines Gewissens und Denkens zum Vorbild nehmen. Bookchin hat seinen Beitrag dazu, dass das 21. Jahrhundert das Jahrhundert des demokratischen Sozialismus wird, bereits geleistet. Wer für Freiheit und Demokratie kämpft, wird sich durch sein Leben und seine Begeisterung stets inspirieren lassen. Seine Thesen werden dem Kampf für Freiheit, Demokratie und Sozialismus die richtige Richtung geben.
Auch die PKK hat von Bookchin vieles gelernt. Seine Bedeutung für die Herausarbeitung der sozialökologischen Thesen unseres Vorsitzenden wird stets unvergessen bleiben. Seine Beiträge zum Konföderalismus, durch den wir zum demokratischen Sozialismus gelangen wollen, und seine Thesen über Staat, Macht und Hierarchie werden auch in Zukunft eine wichtige Rolle in der Praxis unseres revolutionären Kampfes spielen. Wir verprechen, dass Bookchin in unserem Kampf weiterleben wird. In diesem Teil der Welt, der schon einmal Heimat von Demokratie und Konföderalismus war, werden wir dieses Versprechen einlösen.
Wir hoffen, dass sich alle Sozialwissenschaftler und Revolutionäre in ihrem Leben und in ihrer Praxis ein Beispiel an der Prinzipientreue, dem Gewissen und der revolutionären Moral Bookchins nehmen.
Bookchin ist nicht tot. Er wird weiterleben und weiter gelebt werden. Das ist unsere revolutionäre Überzeugung.
Parteirat der PKK (Arbeiterpartei Kurdistan)
Übersetzung aus dem Türkischen, original hier