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Errico Malatesta/Moral und Gewalt

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Errico Malatesta - Moral und Gewalt

(Umanita Nova, 21. Oktober 1922)


„Es gibt kein reines Recht, es gibt keine über den spezifischen Interessen der antagonistischen Klassen wie auch der gegnerischen Staaten stehende höhere Moral“, schreibt E. Meledandri in einem im New Yorker Proletario erschienenen Artikel, den ein Redakteur des Pariser Libertaire übersetzt hat, um damit unserem Genossen Luigi Fabbri zu antworten, der in einem von ihm verfassten Nachruf dem Theoretiker der Gewalt, Georges Sorel, nicht genügend Ehrerbietung erwiesen hatte. Und entsprechend seiner Überzeugung weigerte sich Meledandri, „die Gewalt mit Erstaunen und einer demokratischen und pazifistischen Mentalität (zu) betrachten“, und behauptet, daß „die revolutionären Syndikalisten es verschmähen, den erbitterten Kampf, den die Bourgeoisie führt, um in allen Ländern das Proletariat zur Ohnmacht zu verurteilen, als das größte Attentat auf die berühmten Rechte der Zivilisation, des Fortschritts und der Gleichheit zu betrachten“. In diesem Sinne fährt er fort, wobei er die allergrößte Verachtung für die „moralischen Prinzipien“ an den Tag legt und den Standpunkt vertritt, daß das einzige, was in Wirklichkeit zählt, das einzig Wertvolle „Stärke und Gewalt seien, zwei Begriffe, die sich oft gegenseitig stützen und ergänzen“.


Mir scheint, daß all dies entgegen den revolutionären Ansprüchen und Absichten Meledandris und vielleicht auch seines Meisters Sorel darauf hinausläuft, die Geschichtsphilosophie in den Dienst der herrschenden Klassen zu stellen, die die einzigen sind, die von dieser Befreiung von jeder moralischen Fessel profitieren, da sie die Stärke haben und die Gewalt mit größerer Wirksamkeit ausüben können.


Doch glücklicherweise ist die Wahrheit nicht so, wie sie sich die „revolutionären Syndikalisten“ a la Meledandri ausmalen, ist die Gewalt weder der einzige noch der hauptsächliche Faktor der menschlichen Entwicklung. Gewiß ist die Geschichte voll von Kämpfen und Massakern zwischen Völkern, zwischen Klassen, zwischen Familien, zwischen Einzelnen. Und Kämpfe und Massaker sehen wir um uns herum, wohin wir auch den Blick wenden. Doch wahr ist auch, daß, hätte es nur Kämpfe und Massaker gegeben, wären Haß, Konkurrenz und Krieg die ausschließlichen oder auch nur vorherrschenden Merkmale in den menschlichen Beziehungen geblieben, die Menschheit sich nicht hätte entwickeln und fortschreiten können, ja es könnte nicht einmal eine Menschheit im eigentlichen Sinne geben, auch wenn es Tiere mit menschlichem Äußeren gäbe, die etwas höher oder etwas niedriger als wilde Tiere stünden.


Trotz der Ströme vergossenen Blutes, trotz der unsagbaren Leiden und Demütigungen, trotz Ausbeutung und Gewaltherrschaft auf Kosten der Schwächsten - seien sie es durch persönliche Unterlegenheit oder gesellschaftliche Position -, trotz des Kampfes also und all seiner Folgen ist die Kraft, die die lebensnotwendige, fortschreitende Entwicklung im gesellschaftlichen Zusammenleben bedingt, das Gefühl der Zuneigung, das Erfahren gemeinsamer Menschlichkeit, das unter normalen Bedingungen dem Kampf eine Grenze setzt, die man nicht überschreiten kann, ohne tiefe Abscheu und allgemeine Ablehnung hervorzurufen. Die Moral dagegen ändert sich.


Der professionelle Historiker alter Schule mag als Gegenstand seiner Forschungen und Berichte die aufsehenerregenden Geschehnisse, die großen Konflikte unter Völkern und unter Klassen, die Kriege, die Revolutionen, das Ränkespiel der Diplomaten und Verschwörer vorziehen, das eigentlich Wichtige, ja das Wichtigste sind jedoch die unzähligen alltäglichen Beziehungen der Menschen und Gruppen untereinander, die die wahre Substanz des gesellschaftlichen Lebens darstellen. Und wenn man das, was tief innen im ständigen Leben der menschlichen Gemeinschaften geschieht, betrachtet, dann findet man zwar den Kampf für die Sicherung der Lebensbedingungen, Herrschsucht, Rivalität, Neid und alle schlechten Eigenschaften, die die Menschen miteinander in Konflikt geraten lassen, aber man findet ebenfalls fruchtbare Arbeit, gegenseitige Hilfe, ständigen Austausch kostenloser Dienste, Zuneigung, Freundschaft, Liebe und alles, was die Menschen einander näher bringt und sie verbrüdert. Und die menschlichen Gemeinschaften gedeihen oder gehen zugrunde, leben oder sterben, je nachdem, ob Solidarität und Liebe oder Haß und Kampf vorherrschen: ja, das Bestehen irgendeiner Gemeinschaft wäre sogar unmöglich, wenn die gesellschaftlichen Instinkte, die ich als gute Leidenschaften bezeichnen möchte, nicht die schlechten Eigenschaften, die niedrigen egoistischen Instinkte überwiegen würden.


Die Existenz von Gefühlen der Liebe und Zuneigung unter den Menschen, die Erfahrung und das Bewußtsein der individuellen und sozialen Vorteile, die sich aus der Befriedigung dieser Bedürfnisse ergeben, haben Vorstellungen von „Gerechtigkeit“, „Recht“ und „Moral“ hervorgebracht - und bringen solche weiterhin hervor - die selbst unter tausend Widersprüchen, Heucheleien und eigennützigen Lügen ein Ziel, ein Ideal darstellen, auf das die Menschheit zugeht.


Diese „Moral“ ist veränderbar und relativ; sie variiert von Epoche zu Epoche,von Volk zu Volk, von Klasse zu Klasse, von Individuum zu Individuum und wird von jedem im eigenen Interesse und dem der Familie, der Klasse, des Landes angewandt. Hat man die offizielle Moral erst einmal all dessen entkleidet, was dazu dient, die Privilegien und die Gewalt der Herrschenden zu schützen, so bleibt doch stets ein Rest an Vorstellungen, die den allgemeinen Interessen entsprechen und Errungenschaft der gesamten Menschheit ohne Unterschied der Klassen oder Rassen sind.


Allein die Tatsache, daß die Privilegierten das Bedürfnis haben, ihren Status, der Ergebnis roher Gewalt ist, mit irgendeiner Moral zu rechtfertigen, ist bereits ein wichtiger Schritt zu einer höheren Moral, ist bereits der Beweis, dass die Privilegierten ihrer selbst nicht sicher und zum Untergang verurteilt sind.


Und wenn der beste Teil des Proletariats gegen die bürgerlichen Institutionen kämpft, sich der Sache opfert und allen möglichen Gefahren aussetzt, dann genau deshalb, weil er von einem höheren Ideal menschlicher Gerechtigkeit beseelt ist. Nehmt den Proletariern das Gefühl der Gerechtigkeit, verleitet sie dazu, ohne Einschränkung und Skrupel Gewalt anzuwenden, „weil Bourgeois und Regierungen es so machen“, und ihr könnt Räuber hervorbringen, aber keine Revolutionäre. Ihr könntet, wenn außergewöhnliche Bedingungen euch zu Hilfe kommen, eine Klasse durch eine andere ersetzen, eine neue Gewaltherrschaft und neue Privilegien an die Stelle der heutigen setzen, aber damit würden wir uns nicht der vollständigen Befreiung der Menschheit, der Gesellschaft von Freien und Brüdern annähern, für die wir kämpfen.


Leider ist Gewalt notwendig, um der Gewalt des Gegners zu begegnen, und wir müssen sie befürworten und sie vorbereiten, wenn wir nicht wollen, daß die gegenwärtigen Verhältnisse verschleierter Sklaverei, in denen die große Mehrheit der Menschen lebt, andauern und sich verschlimmern. Doch birgt sie in sich die Gefahr, daß aus der Revolution ein brutaler Kampf ohne das Licht eines Ideals und ohne die Möglichkeit wohltuender Ergebnisse wird. Aus diesem Grund muß man die moralischen Ziele der Bewegung und die Notwendigkeit, ja die Pflicht hervorheben, die Gewalt in den Grenzen allerengster Notwendigkeit zu halten.


Wir behaupten nicht, die Gewalt sei gut, wenn wir sie anwenden und schlecht, wenn andere sie gegen uns anwenden. Wir sagen, daß die Gewalt zu rechtfertigen ist, daß sie gut, moralisch und geboten ist, wenn sie für die eigene Verteidigung und die der anderen gegen die Übergriffe der Gewalttätigen angewandt wird; dagegen ist sie schlecht und „unmoralisch“, wenn sie dazu dient, die Freiheit anderer zu verletzen.


Leider haben viele Revolutionäre in der Hitze des Kampfes und der Empörung über die blutigen Taten der Regierenden beim Gebrauch der notwendigen Kampfmittel oder der entsprechenden Aufklärungsarbeit ihr Ziel aus den Augen verloren, und aus bewußten Revolutionären sind Gewalttäter geworden.


Nicht zuletzt ist dies einer der Gründe, der den Faschismus ermöglichte.


Die Faschisten haben Gewalt- und Schandtaten ohne Beispiel begangen: sie haben eine derartige Grausamkeit, einen derartigen Mangel an moralischen Grundsätzen an den Tag gelegt, daß man sie zu normalen Zeiten aus der Gesellschaft verbannt hätte.


Jeder Ehrenmann verspürt unabhängig von seinen Überzeugungen und seiner gesellschaftlichen Position Abscheu vor bestimmten Verbrechen und bestimmten Verbrechern: so flieht er jeden Kontakt mit einem, der kleine Mädchen vergewaltigt, mit einem aus roher Niedertracht handelnden Räuber, mit einem, der Frauen und Kinder verprügelt, mit einem Spion, der seine Genossen für Geld verrät ... es sei denn, er nähere sich ihnen mit der Einstellung eines Arztes, der sie als arme Verrückte, als Kranke betrachtet, die die Pflege verdienen, wie sie allen Unglücklichen zusteht.


Die Faschisten haben zu hundert gegen einen Frauen, Kinder, invalide und wehrlose Männer getötet, geprügelt, gequält, beschimpft; sie haben Reichtümer, die das Ergebnis langer Opfer der Arbeiter waren, in Brand gesetzt und zerstört; sie haben ganze Bevölkerungen zur Sklaverei verurteilt. Viele von ihnen hatten die Partei verraten, der sie einst angehört hatten und wüteten jetzt gegen ihre ehemaligen Gefährten - und trotz allem und noch Schlimmerem werden sie als Politiker betrachtet, als Kämpfer für eine Sache, zu der man sich bekennen kann, und viele ehrenwerte Leute, die diese Verbrechen sicherlich nicht begehen würden, scheuen sich nicht, ihnen die Hand zu schütteln und gut nachbarschaftliche Beziehungen mit ihnen zu unterhalten.


Oft hat man Gewalt, selten Moral gepredigt, und als dann Gewaltverfechter mit entsprechender Stärke oder ausreichender Kühnheit in Erscheinung traten, stießen sie weder auf physischen Widerstand noch auf moralische Verurteilung.


Es entspricht allgemeiner Erfahrung, daß der Gewalttätige stets der erste ist, der sich der Gewalt unterwirft, sobald er auf jemanden trifft, der stärker ist als er. Und wer fähig ist, eine schlechte Tat zu begehen, wundert sich nicht und empört sich nicht, wenn andere eine solche Tat begehen; eher versucht er, sich wenn möglich am Vorteil zu beteiligen.


Gibt es nicht „Revolutionäre“, die sagen, daß die Faschisten nicht zu verurteilen seien, da sie, wenn sie nur könnten, gegen die Bourgeoisie noch schlimmer vorgehen würden als gegen die Proletarier? Wenn dies die allgemeinen Gefühle wären, wenn Bourgeois und Proletarier, wenn Faschisten und Revolutionäre gleichermaßen ohne jeden moralischen Rückhalt wären, dann müßte man an der Menschheit verzweifeln oder jede Hoffnung in die unscheinbare, gute Frau setzen, die nichts von Politik und Klassenkampf versteht, aber leidet und weint, wenn sie andere leiden sieht.


Wir sind keine „Pazifisten“, weil Frieden nur dann möglich ist, wenn ihn beide Seiten wollen.


Wir betrachten die Gewalt als notwendig und geboten zur Verteidigung und nur zur Verteidigung. Und selbstverständlich nicht nur zur Verteidigung gegen den physischen, direkten, unmittelbaren Angriff, sondern gegen alle Institutionen, die die Menschen mittels Gewalt versklaven.


Wir sind gegen den Faschismus und wollen, daß er niedergeworfen wird, indem man seiner Gewalt eine größere Gewalt entgegensetzt. Und vor allem sind wir gegen die Regierung, die die Gewalt in Permanenz ist.


Doch muß unsere Gewalt Widerstand von Menschen gegen Unmenschen, nicht jedoch grausamer Kampf Tier gegen Tier sein.


Alle für den Sieg notwendige Gewalt und nichts, was darüber hinausgeht.



Aus: Errico Malatesta - Gesammelte Schriften, Band 2

Kategorie:Texte