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Mai 68

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Die sogenannten Mai-Unruhen, die nach Studentenprotesten im Mai 1968 zunächst durch die Räumung einer Fakultät der Pariser Universität Sorbonne ausgelöst wurden, führten zu einem wochenlangen Generalstreik, der ganz Frankreich lahmlegte.


Vorbedingungen

Beginn der Proteste in Frankreich

1967/68 fanden politische Studentenproteste auch in Deutschland, USA, Italien, Tschechoslowakei, Polen, Japan, Mexiko und weiteren Ländern statt, erreichten allerdings nirgendwo das Ausmaß der Geschehnisse in Frankreich:

Frankreich hatte in den 1960er Jahren eine konservative Regierung unter Staatspräsident General de Gaulle und Premier Georges Pompidou (Fünfte Französische Republik).

Bereits im November des Jahres 1967 verlangten mehrere französische politisch aktive Studentengruppen eine Verbesserung der Studienbedingungen, oder kritisierten anderweitig den Gaullismus, den französischen Konservativismus, was in der Administration jedoch ohne Gehör blieb.

So hatte es in Nantes (Besetzung des Justizpalastes) und in Jussieu nahe Lyon bereits mehrere Aktionen und Demonstrationen von Studenten gegegeben.

In Nanterre, einer Trabantenstadt bei Paris, kam es zu größeren Protesten von Studenten gegen auf dem Campus anwesende Polizisten in Zivil. Im Januar 1968 wurden diese von Studenten fotografiert, und ihre Portraits wurden als Schilder bei Demonstrationen getragen. Vorlesungen der Soziologie wurden gestört. Am 14. Februar besetzten die sog. Enragés (Wütenden) in Nanterre die Studentenheime.

Ebenfalls im Februar demonstrierten Filmschaffende wiederholt vor dem Trocadéro unter der Leitung von François Truffaut gegen die von Kulturminister André Malraux veranlasste Absetzung Henri Langlois' als Leiter der Cinémathèque française. International setzte sich u.a. Charles Chaplin für Langlois ein. Doch die Regierung blieb unnachgiebig. Unter den 5000 Demonstranten befanden sich prominente Künstler und Intellektuelle wie François Truffaut, Jean-Paul Sartre, Jean-Luc Godard, Jean-Pierre Léaud und Claude Jade, dennoch prügelten Hundertschaften von Polizisten auf die Beteiligten ein.

Im März streikten Arbeiter der Garnier-Werke in Redon. Der Streik griff auf die ganze Stadt über.

In Nanterre gründete eine Gruppe von 142 linken Studenten verschiedenster politischer Herkunft an der philosophischen Fakultät die radikale Bewegung 22. März. Zunächst wurde das Verwaltungsgebäude besetzt, um hochschulpolitische Ziele, aber auch die Aufhebung der Geschlechtertrennung in den Studentenheimen durchzusetzen. Führende Sprecher dieser Gruppe waren u.a. Daniel Bensaïd und Daniel Cohn-Bendit, der in den folgenden Monaten und Ereignissen auch als Dany le Rouge in der Presse häufig als Redner zitiert wurde. Sein erster öffentlich bekannt gewordener Auftritt fand bei einer Schwimmbadeinweihung in Nanterre im Januar '68 statt, als er den anwesenden Sport- und Jugendminister François Missoffe öffentlich u.a. dafür kritisierte, sich nicht für die sexuellen Schwierigkeiten der Jugend zu interessieren.

Die Universität von Nanterre wurde aufgrund der fortgesetzten Unruhen von den Behörden am 2. Mai geschlossen.

Motive und kultureller Hintergrund des Protests

Die wirtschaftliche Lage in Frankreich begann sich gerade zum ersten Mal seit dem Krieg zu verschlechtern, die Arbeitslosigkeit nahm zu. Viele Protestaktionen richteten sich gegen den autoritären Geist der damaligen konservativen Gesellschaft, gegen den nach Meinung vieler Studenten und Intellektueller um sich greifenden Materialismus der Wirtschaftswunder-Generation, und gegen die sich ausbreitende Technokratie. Neben konkreten Zielen, wie Verbesserung der Studienbedingungen und Demokratisierung der Hochschulen sowie der Gesellschaft, standen auch unterschiedliche Forderungen nach einer anderen Gesellschaft. Das Ende der 60er-Jahre war dabei nicht nur in Frankreich eine Zeit des Umbruchs.

Die freizügige Kultur der Hippie-Bewegung war erst kurze Zeit zuvor aus den USA nach Europa gekommen, vermittelt z.B. durch Musik und Mode, und beeinflusste dort die Jugendkultur. Es wurde nun auch in Frankreich immer mehr über die Sexuelle Revolution, über Freie Liebe und Selbstverwirklichung diskutiert. Häufig entstand ein Generationenkonflikt kultureller Art mit den Eltern im katholisch geprägten Frankreich, in dem Verhütungsmittel bis 1967 verboten waren.

Der Protest gegen den Vietnamkrieg politisierte um 1968 Studenten in der ganzen Welt.

Das Attentat auf Rudi Dutschke in Deutschland stieß auch in Frankreich auf große Empörung. Daniel Cohn-Bendit lud einige Wochen später den SDS-Vorsitzenden Karl Dietrich Wolff nach Nanterre ein.

Die Linke in Frankreich vor 1968

In Frankreich war die Linke traditionell stark. Es existierte allerdings noch keine große sozialistische Partei, die sozialistische Bewegung war in mehrere kleinere Parteien und Gruppen gespalten.

Kleinere marxistische und neomarxistische Strömungen waren in Frankreich zahlreich vertreten, etwa Trotzkisten, Maoisten, Leninisten oder Operaisten.

Die in der Bevölkerung weitaus populärere, stalinistische Kommunistische Partei Frankreichs (KPF) und die angeschlossene größte Gewerkschaft Confédération générale du travail (CGT) waren daran interessiert, im Sinne pragmatischer Realpolitik Lohnerhöhungen durchzusetzen und ansonsten im kalten Krieg stabile Verhältnisse zu bewahren und ihre Führungsrolle in der Arbeiterschaft zu behalten. Während des 2. Weltkriegs hatten französische Kommunisten mit in der Resistance gegen die Besetzung Frankreichs gekämpft. Stalin wurde von ihnen als einer der Befreier vom Faschismus traditionell nicht hinterfragt, sondern verteidigt, auch als der Stalinismus in den 60ern im politischen Moskau bereits kritisch diskutiert wurde.

Die einflussreichsten Intellektuellen der Zeit (neben Sartre etwa Maurice Merleau-Ponty, Simone de Beauvoir, Roland Barthes, Claude Lévi-Strauss oder Henri Lefebvre) standen zum Teil der KPF nahe. Sie argumentierten in der Tradition des Existentialismus und Humanismus oder des Strukturalismus.

Daneben gab es bis 1967 die Gruppe/Zeitschrift Socialisme ou Barbarie um den Intellektuellen und libertären Sozialisten Cornelius Castoriadis, der marxistische Denkrichtungen radikal kritisierte.

Diverse Anarchisten und anarchosyndikalistische Gewerkschaften (Confédération Nationale du Travail, CNT) waren an den klassischen anarchistischen Theorien orientiert und lehnten entsprechend jeden Führungsanspruch anderer linker Organisationen ab.

Die Studentenbewegung

Hauptsächlich wurde von den meisten Studenten zunächst gegen das veraltete und erstarrte Bildungssystem protestiert.

Seit den 1950ern hatte sich die Anzahl der Studenten mehr als verdreifacht, ohne dass darauf von staatlicher Seite angemessen reagiert worden war. Eine notwendige Reform und Modernisierung der Universitäten und ihre Anpassung an die neuen Anforderungen des Wirtschaftssystems wurde von den meisten Studenten und Experten bereits diskutiert.

1966 hatten Situationisten in Straßburg eine Fundamentalkritik an der Gesellschaft und dem Bildungssystem geäußert und damit den eher ökonomisch grundierten Reformbestrebungen der Universität eine Absage erteilt. Ihr Pamphlet Über das Elend im Studentenmilieu hatte zu einem lokalen Skandal geführt, der ihren Thesen dann zu noch mehr Popularität unter Studenten verholfen hatte. Die Bewegung 22. März stand in Kontakt mit ihnen.

1967 waren Bücher wie Der eindimensionale Mensch von Herbert Marcuse (Kritische Theorie), oder das Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen von Raoul Vaneigem und Die Gesellschaft des Spektakels von Guy Debord (beides Situationisten) in Frankreich erschienen. Sie fanden einige Resonanz unter politisch interessierten Studenten. In der französischen Presse wurden einige dieser Bücher später für die Unruhen mit verantwortlich gemacht. Man las in linken Studentenkreisen neben verschiedenen Klassikern, wie Marx oder Bakunin, auch Autoren wie Wilhelm Reich (Freudomarxismus) oder Charles Fourier (Frühsozialismus).

Die Studentenbewegung in Frankreich war somit u.a. auch von politischen Fragen bestimmt, auf die man bei den vorherrschenden Ideologien verschiedener Richtungen, gerade auch bei der traditionellen Linken, keine Antworten mehr fand.

In jenen Tagen setzt sich die Studentenbewegung in Gang. Ihr Verlauf ähnelt, symbolisch betrachtet, sogleich einer von Kämpfen verwüsteten Straße. Die Bewegung führt mitten durch ideologische Trümmer. Jenes verbrannte Autowrack? Es ähnelt dem offiziellen Marxismus, hat jedoch nichts mehr von seinem feinen Putz. Der Ramsch dort? Unkenntlich gewordene Strukturen; was haben die Studenten vom gängigen Strukturalismus übernommen? Daß allein die reine Gewalt diese berühmten Strukturen brechen kann, die ihnen als Objekte reiner Wissenschaft hingestellt werden. Der Humanismus? Er macht lachen. Die Technokratie? Die Fäuste ballen sich. Die Studenten haben sich gegen die Ideologien gekehrt, und darin liegt mit ein Sinn ihrer in Frage stellenden Herausforderung. (Henri Lefebvre, Aufstand in Frankreich, S. 22f)

Die Ideen verbessern sich. Die Bedeutung der Worte nimmt daran teil. Alles, was diskutierbar ist, muss diskutiert werden. Das Blau wird solange grau bleiben, wie es nicht wieder erfunden ist. Weitersagen! Genossen, es ist an euch, zu spielen. (Aus einem Flugblatt, das in Nanterre zu dieser Zeit verteilt wurde)

Mai 1968

Radikalisierung des Protestes und der Gegenmaßnahmen

Am 3. Mai 1968 besetzten politisch linksstehende Studierende der Sorbonne die Räume der Universität, nachdem eine Versammlung in der Universität verboten worden war. Bei der Versammlung sollte gegen die Schließung der Universität von Nanterre protestiert werden. Wegen der Gefahr, dass es zu gewaltsamen Ausschreitungen mit rechtsstehenden Studierenden der Gruppe „Occident“ kommen könnte, ließen die Pariser Autoritäten die Gebäude am 3. Mai durch die Polizei räumen. Die Polizei setzte Tränengas ein, 200 Studierende wurden festgenommen und abtransportiert. Andere Studenten protestierten dagegen. Daraufhin begannen heftige Unruhen im Quartier Latin.

Einige Tausend Demonstranten lieferten sich Straßenschlachten mit der zunehmend überforderten Polizei. Weitere 600 Personen wurden festgenommen. Als Reaktion riefen die Gewerkschaft der Universitäten und die Studentengewerkschaft am 5. Mai zu einem Hochschulstreik auf. Die KPF distanzierte sich von diesen Protesten.

Am 6. Mai kam es wieder zu Demonstrationen, die sich am Abend zuspitzten. Die Forderungen waren: die Öffnung der Universität von Nanterre, der Abzug der Polizei aus der Sorbonne, und die Freilassung der inhaftierten Studenten.

Nachdem dies abgelehnt wurde, begannen mehr als 10.000 Demonstranten, Barrikaden zu errichten. Autos wurden umgeworfen, Pflastersteine aus den Straßen gebrochen und aufgetürmt. Beteiligt waren neben den Studenten zunehmend auch junge Arbeitslose, Schüler, Rocker und Arbeiter, Einwanderer, zumeist Männer, aber auch zahlreiche Frauen. Die Medien versuchten anfangs vergeblich, Sprecher der Bewegung für Interviews zu gewinnen.

Die Demonstrationen und Krawalle gingen in den folgenden Tagen weiter. Behörden und Polizei reagierten repressiv. Obwohl auch Autos der Anwohner in Flammen aufgingen, reagierten diese oft solidarisch und versorgten Protestierer mit Nahrung oder boten Fluchtmöglichkeiten.

Bis zum Abend des 10. Mai wurden 60 Barrikaden im gesamten Gebiet zwischen Boulevard St. Michel, der Rue Claude Bernard, der Rue Mouffetard und dem Pantheon errichtet, vor allem entlang der Rue Gay-Lussac. In der Nacht vom 10. auf den 11.Mai, um 2 Uhr, begann die Polizei, das Gebiet zu räumen (Nacht der Barrikaden). Es gab dabei hunderte Verletzte und 500 Festnahmen. Die Schlagzeilen der Zeitungen und die Radio- und Fernsehsendungen am nächsten Tag waren von den Ereignissen bestimmt.

Es folgte eine Welle der Solidarisierung mit den Pariser Studenten erst in ganz Frankreich, kurz darauf in ganz Europa.

Erstmals solidarisierte sich auch die Arbeiterbewegung mit den Studierenden. Die französischen Gewerkschaften, außer der kommunistischen CGT, die die Ereignisse als eine von rechten Kreisen gesteuerte Aktion bewertete, organisierten ihrerseits Kundgebungen.

Am 13. Mai riefen fast alle Gewerkschaften, außer der CGT, zu einem eintägigen Generalstreik aus Protest gegen das harte Vorgehen der Polizei auf. Die Empörung der Bevölkerung richtete sich weniger gegen die Sachbeschädigungen und Proteste, sondern eher gegen die gewaltsame Reaktion von Behörden und Polizei mit zahlreichen schwer verletzten Demonstranten. Hinzu kamen Gerüchte über Tote.

Die Wende

Premier Pompidou, der wegen der Proteste seine Afghanistan-Reise hatte abbrechen müssen, kündigte daraufhin die Freilassung der Studenten an und ließ die Polizei abziehen. Die inmitten des Barrikadengebiets liegende Sorbonne wurde nun wieder besetzt, die Teilnehmer des Protestes von den Studenten dorthin eingeladen. An einer Demonstration der Gewerkschaften und Studenten beteiligten sich nahezu eine Million Menschen. Es herrschte in Teilen von Paris inzwischen eine heitere Atmosphäre von Anarchie.

Seit geraumer Zeit wurden bereits verschiedene situationistisch inspirierte, anarchistische oder existenzialistische Parolen in ganz Paris an Wände gesprüht und gemalt, besonders die Sorbonne war übersäht mit ihnen:

Die Fantasie an die Macht, Nimm deine Wünsche für Wirklichkeit, Gewerkschaften sind Bordelle, Die Macht den Arbeiterräten, Vive la Commune!, Die Öffentlichkeit manipuliert Dich, Examen = Hierarchie, Es lebe Heraklit, nieder mit Parmenides!, Nieder mit der Konsumgesellschaft; Lauf, Genosse, die alte Welt ist hinter dir her; Nieder mit dem Summarischen, es lebe die kurzlebige, marxistisch-pessimistische Jugend; Kunst existiert nicht, Kunst bist du; Miß deine angestaute Wut und schäme dich, Unter dem Pflaster liegt der Strand

Eine oft wiederholte Parole war: Solidarität von Arbeitern und Studenten.

Ãœberall hingen handgeschriebene Zettel oder gedruckte Wandzeitungen und Plakate anarchistischer, situationistischer, maoistischer oder trotzkistischer Gruppen, auf denen neueste Nachrichten diskutiert und unterschiedliche politische Forderungen gestellt wurden.

In der besetzten Sorbonne, wie auch auf den Straßen, versammelten sich immer wieder größere Gruppen von Menschen, um Neuigkeiten auszutauschen, über Politik zu diskutieren und die Lage zu erörtern. In der Sorbonne wurden bei Beschlüssen und Diskussionen Ansätze direkter Demokratie praktiziert.

Maurice Brinton, Sozialist und ein Zeuge der Ereignisse, notierte in seinem Bericht Diskussionsthemen, die in der Sorbonne auf einer Tafel standen:

„Organisation des Kampfes“; „Politische und gewerkschaftliche Rechte in der Universität“; „Universitätskrise oder Krise der Gesellschaft“; „Bericht über politische Unterdrückung“; „Selbstverwaltung“; „Keine Auslese mehr“; „Unterrichtsmethoden“, „Examen“, aber auch „Sexuelle Unterdrückung“, die „Kolonialfrage“, „Ideologie und Mystifikation“

Wirkliche Ereignisse bestimmten die Themen und stellten sicher, daß der größte Teil der Diskussion wirklichkeitsnah blieb. (Brinton)

Verwirrung bei der offiziellen Linken

Weitere Fakultäten und Hochschulen wurden am 14. Mai besetzt, etwa die Akademie der Künste von Nanterre, das Konservatorium für dramatische Kunst und die medizinische Fakultät, aber auch Kinos, Theater, Gymnasien, Bahnhöfe usw. Schwarze und rote Fahnen wehten auf den besetzten Gebäuden und bei Demonstrationen. Einige Studenten der Sorbonne schickten Telegramme an die Politbüros in Peking und Moskau, in denen sie drohten, die Bürokraten zu stürzen. Viele solidarisierten sich mit dem Prager Frühling und mit Studentenprotesten in Polen.

Die linken Parteien und Organisationen reagierten zunächst zurückhaltend, versuchten dann aber zunehmend Einfluss auf den Verlauf der Geschehnisse zu nehmen und die Proteste in geordnete Bahnen zu leiten. So fuhren Lautsprecherwagen der CGT durch die Straßen, die versuchten, den Protestierenden Anweisungen für das weitere Vorgehen zu geben. Sie wurden jedoch überwiegend ignoriert. Die PCF begann zögernd, sich mit den Studenten zu solidarisieren, die aber vorwiegend weiterhin für Abenteurer oder Anarchisten gehalten wurden. Bei Demonstrationen versuchten Ordner der CGT immer wieder, Studenten und gewerkschaftlich organisierte Arbeiter zu trennen.

Auch in Nantes, Bordeaux und weiteren Städten begannen nunmehr Besetzungen.

Die Sorbonne wurde zur für jedermann zugänglichen Volksuniversität erklärt. Um die 400 Aktionskomitees entstanden in Paris. Es bildeten sich an der Sorbonne u.a. die Aktionskomitees der Fußballer, der nordafrikanischen Arbeiter, das Komitee Arbeiter - Studenten, das Komitee der Werbefachleute, das Komitee Wütende - Situationisten und der Rat zur Aufrechterhaltung der Besetzungen.

Radikale und Pragmatiker

In den Diskussionen an der Sorbonne vertrat eine Mehrheit zunächst eher pragmatische Forderungen, eine Minderheit aber begann, immer mehr gesellschaftliche Angelegenheiten zu diskutieren und in Frage zu stellen.

Der an der Sorbonne-Besetzung beteiligte Situationist Vienet beschrieb einige der Kontroversen: So wurde der Vorschlag bezüglich der Plünderer eher mit Buhrufen bedacht als mit Zustimmung. Der Angriff auf die Professoren schockierte. Die erste offene Denunzierung der Stalinisten erstaunte.

Vertreter dieser Strömung wurden dann allerdings von der Mehrheit in das sog. Besetzungskomitee gewählt, das spontane neue „Exekutivorgan“ (Vienet) der Sorbonne-Vollversammlung.

Es bildeten sich verschiedene Arbeitsgruppen.

Sämtliche Universitätsgebäude schwirren vor Aktivität, beherrscht von einem Minimum an sichtbarer Organisation und einem Maximum an strategischer Intelligenz und Taktik.(Cees Nooteboom in seiner Reportage)

Ein Demonstrationszug zog zu den Renault-Werken. Am Werkszaun standen sich Arbeiter und Studenten gegenüber und diskutierten. An der besetzten Fakultät für Literatur in Paris-Censier wurden von Arbeitern gemeinsam mit dem Komitee Arbeiter - Studenten Flugblätter verfasst, nachdem die Literaturstudenten zuvor Kontakt zu den Betrieben aufgenommen hatten:

Wir weigern uns, eine erniedrigende 'Modernisierung' zu akzeptieren, die bedeutet, daß wir ständig bewacht werden und uns Bedingungen unterwerfen müssen, die für unsere Gesundheit, unser Nervensystem schädlich sind und die eine Beleidigung unserer Existenz als Menschen darstellen… Wir weigern uns, unsere Forderungen noch länger vertrauensvoll in die Hände professioneller Gewerkschaftsführer zu legen. Wir müssen wie die Studenten unsere Angelegenheiten in unsere eigenen Hände nehmen.

(aus einem Flugblatt von Arbeitern der Air France)

Wenn wir wollen, daß unsere Lohnerhöhungen und unsere Forderungen hinsichtlich der Arbeitsbedingungen Erfolg haben, wenn wir nicht wollen, daß sie ständig bedroht sind, dann müssen wir jetzt für eine grundlegende Veränderung in der Gesellschaft kämpfen … Als Arbeiter sollten wir selbst danach streben, den Gang unserer Unternehmen zu kontrollieren. Unsere Forderungen sind denen der Studenten ähnlich. Die Verwaltung der Industrie und die der Universität sollten von denen, die dort arbeiten, auf demokratischem Weg sichergestellt werden.

(aus einem Flugblatt von Renault-Arbeitern, beide zitiert nach Brintons Bericht)

Die Arbeiter beginnen zu streiken

Am Abend des 14. Mai begannen die Arbeiter der Flugzeugfabrik Aviation-Sud in Nantes mit einem Sitzstreik. Studenten kamen zu den Streikposten, um ihre Solidarität zu demonstrieren. Am 16. Mai begannen Arbeiter bei Renault, ihre Fabrik zu besetzen und schlossen die Verwaltung dabei in ihren Räumen ein. Auch Arbeiter der „Neuen Vertriebsgesellschaft der Pariser Presse“ begannen einen wilden Streik. Der Streik griff auf immer mehr Unternehmen über, erst in Paris, dann zunehmend auch in anderen Städten.

Genossen, die Fabrik 'Sud-Aviation' in Nantes ist seit zwei Tagen von den Arbeitern und den Studenten der Stadt besetzt; die Bewegung hat heute auf mehrere Fabriken übergegriffen (NMPP-Paris, Renault-Cleon, usw.). Daher ruft das Besetzungskomitee der Sorbonne zur sofortigen Besetzung aller Fabriken und zur Bildung von Arbeiterräten auf. Genossen, verteilt und vervielfältigt diesen Aufruf so schnell wie möglich. (Wortlaut eines Kommuniques vom 16. Mai, 15 Uhr, des sog. Besetzungskomitees an der Sorbonne, zitiert nach Vienet S. 64 und S. 169)

Rene Vienet berichtet von den „von jetzt an mit allen Mitteln zu verbreitenden Parolen“ des Besetzungskomitees vom 16. Mai:

Besetzung der Fabriken, Alle Macht den Arbeiterräten, Abschaffung der Klassengesellschaft, Nieder mit der spektakulären Warengesellschaft, Abschaffung der Entfremdung, Ende der Universität

Verbreitet werden sollen diese Parolen durch Flugblätter, Vorlesungen über Mikrophon, Comics, Lieder, Wandmalereien, Sprechblasen in den Gemälden der Sorbonne, Aufrufe in Kinos während der Filmvorführungen oder dadurch, daß man diese unterbricht, Sprechblasen auf den Plakaten in der Metro; bevor man Liebe macht, nachdem man Liebe gemacht hat, in den Aufzügen... (Vienet, S.171)

Diese Aufrufe waren für die KPF und CGT ein Skandal. Die CGT ließ sofort in Fabriken Aushänge anbringen:

Junge Arbeiter; revolutionäre Elemente versuchen, Zwiespalt in unseren Reihen zu säen, um uns zu schwächen. Diese Extremisten sind nur Handlanger der Bourgeoisie, die dafür sogar großzügig von den Unternehmen entlohnt werden. (Vienet, S. 74)

In der Sorbonne versuchten Funktionäre der Studentengewerkschaft UNEF, den Aufruf widerrufen zu lassen, und bemächtigten sich der Lautsprecheranlage. Die Vollversammlung versank im Chaos, und das Besetzungskomitee verließ am Abend des 17. Mai aus Protest die Sorbonne.

Weitere Streiks sowie ökonomische und politische Forderungen

Am 16. Mai waren dennoch bereits 50 Unternehmen besetzt. Am 17. Mai streikten schon 200.000 Arbeiter, dabei war bereits fast die gesamte Metall- und Chemieindustrie betroffen. Zwei Tage später waren es ungefähr 2 Millionen Menschen geworden, die sich beteiligten. Frankreich erlebte nun den ersten wilden Generalsstreik der Geschichte, der sich fast einen Monat hinzog.

Wir Fußballer, Angehörige verschiedener Clubs der Pariser Region, haben beschlossen, heute den Sitz der französischen Fußballföderation zu besetzen. Wie die Arbeiter die Fabriken besetzen. Wie die Studenten ihre Fakultäten besetzen. Warum? Um den 600.000 französischen Fußballern und ihren Millionen Freunden das zurückzugeben, was ihnen gehört: Den Fußball, den die Bonzen ihnen abgenommen haben, um ihren eigennützigen Interessen als Profitschöpfer des Sports zu dienen... (Aufruf des Aktionskomitee der Fußballer, zitiert nach Vienet, S. 188)

Mietstreik, Wechselstreik, Steuerstreik, Besetzung leerer Wohnungen... (Forderungen des Komitee Arbeiter-Studenten vom 21. Mai, zitiert nach Vienet)

Während die CGT höhere Löhne forderte, wurden unter den Streikenden auch Forderungen nach dem Rücktritt der Regierung laut.

Wir, die Arbeiter der Geschäfte der FNAC, sind in den Streik getreten, nicht zur Befriedigung unserer spezifischen Forderungen, sondern um an der Bewegung teilzunehmen, die gegenwärtig 10 Millionen Hand- und Kopfarbeiter mobilisiert. [...] Wir nehmen an dieser Bewegung teil, [...] um die ganze Führung des Landes und alle Strukturen der Gesellschaft wieder in Frage zu stellen... (Offener Brief an die Angestellten des Handels und andere Lohnabhängigen sowie an die Studenten der FNAC-Angestellten, vom 24. Mai, zitiert nach Vienet, S. 190f)

Wissen Sie, daß Millionen Frauen weniger bekommen, als ihnen von Rechts wegen zusteht? Akzeptieren Sie das? Alles kann sich in diesem Land ändern, wenn wir uns alle weigern, dumm und ergeben die Ungerechtigkeiten und den Unsinn einer bereits bankrotten Politik zu akzeptieren. (aus einem Flugblatt der Demokratischen Frauenbewegung, zitiert nach Nooteboom, S.41)

Die gemäßigteren Forderungen der Streikenden waren ansonsten u.a. Lohnerhöhungen, 40-Stunden-Woche, Sozialversicherung, „Pensionsberechtigungen“ und eine „freie Universität“.

Es kam bereits zu Engpässen in der Treibstoffversorgung. Die Infrastruktur des Landes war auch sonst weitgehend lahmgelegt.

Die Regierung, aber auch die CGT, setzten sich immer wieder für eine Beendigung der Streiks ein. Am 24. Mai kündigte Charles de Gaulle die Erfüllung der von den Studenten geforderten Reformen im Bildungswesen an, und Lohnerhöhungen für die streikenden Arbeiter und Angestellten. Am 25. Mai forderten Gaullisten und KPF, Demonstrationen übergangsweise zu verbieten. Am 27. Mai wurde ein Vertreter der CGT ausgepfiffen, als er bei Renault Abkommen vorlegte, die zwischen Regierung, Unternehmen und Gewerkschaft ausgehandelt worden waren. Obwohl der Mindestlohn um 35% angehoben werden sollte, und die anderen Löhne um 7% steigen sollten, setzten die Arbeiter ihre Streiks fort.

Gleichzeitig hielt François Mitterrand am 27. im Charlety-Stadion eine impulsive Rede, in der er ankündigte, er sei bereit für die Regierungsübernahme.

Von der CGT wurde nun eine so genannte „Volksregierung“ gefordert. Am 29. Mai organisierte sie eine Kundgebung, an der mehrere Hunderttausend Menschen teilnahmen, die Slogans wie Adieu, de Gaulle! riefen.

De Gaulle und das Ende der Unruhen

De Gaulle war am 29. Mai sehr kurzfristig und unter Geheimhaltung mit einem Helikopter nach Baden-Baden in Deutschland zu General Jacques Massu geflogen, was in Frankreich teils zu Irritationen geführt hatte. Gerüchte kamen auf, er sei geflohen. Jaques Patin, einem ehemaligen Mitarbeiter de Gaulles zufolge, hatte dieser zuvor zu Vertrauten gesagt: Ich will die Scheinwerfer auf mich lenken! Die tun ja so, als gäbe es mich nicht mehr; ah, die werden schon sehen! (zitiert nach Patins Bericht)

Er kam nach anderthalb Stunden in Deutschland zurück nach Paris. Nachdem er sich der Unterstützung des Militärs versichert hatte, hielt er am 30. Mai eine Radio-Ansprache, in der er Neuwahlen für den 23. Juni ankündigte. De Gaulle betonte, dass er der legitime Inhaber der Staatsmacht sei. Er warnte vor Subversion und einer Weiterführung der Streiks, die zwangsläufig der KPF zugutekommen würden:

Diese Macht, die sich den Sieg zunutze machen wird, ist die des totalitären Kommunismus. (De Gaulle)

Er forderte die Arbeiter auf, zur Arbeit zurückzukehren, und drohte mit der Verhängung des Ausnahmezustands. Am 30. Mai gab es einen Marsch von einigen Hunderttausend (die genaue Zahl ist umstritten) konservativen Gegnern der Unruhen, angeführt von André Malraux und Michel Debré, vom Place de la Concorde zum Place de l'Étoile.

Heute morgen rief mich jemand an und fragte: 'Was glaubst du, wird passieren, gibt es einen Bürgerkrieg?' Ich sagte, ich wüßte es nicht, und ich weiß es tatsächlich nicht. Alles hängt jetzt von den Arbeitern ab. Die Sonne scheint, die Bäume sind grün, die Straßencafes voll, jeder Gedanke an Krieg oder Gewalt ist absurd, es ist unglaublich. Heute morgen sah ich jedoch, wie Steine auf das Dach des Odeon gehievt wurden. Und ich habe diese Fotos mit den Panzern gesehen.

(Cees Nooteboom, S. 24; in der Zeitung „France Soir“ war zuvor ein Bericht mit Fotos erschienen, dem zufolge Panzer auf Paris zurollten)

An diesem Punkt zerbrach die Protestbewegung. Viele Streikende beendeten in der Folge ihre Betriebsbesetzungen und begannen wieder zu arbeiten. Die Gewerkschaften appellierten an die restlichen Streikenden, endlich aufzugeben. Einige Betriebe wurden in der nächsten Zeit von der Polizei geräumt. Am 18. Juni war der Streik dann mit der Wiederaufnahme der Arbeit bei Renault vollständig beendet. Ab Juni kam es zu verschärfter staatlicher Repression gegenüber der radikalen Linken. Die KPF dagegen sah sich bestätigt:

All unsere Aktivitäten haben im Dienst des Volkes gestanden. Ich bekräftige, daß es vor allem die ruhige und entschlossene Haltung der Kommunistischen Partei war, die ein blutiges Abenteuer in unserem Land verhinderte.

(KPF-Parteisekretär Waldeck Rochet)


Siehe auch

Weblinks

Literatur

  • Cornelius Castoriadis: "Mai 68 Die vorweggenommene Revolution." Syndikat A, Moers 2009.
  • Ingrid Gilcher-Holtey: Die Phantasie an die Macht. Mai 68 in Frankreich; Frankfurt/M.; 1995; Suhrkamp ISBN 351828780X
  • Red Devil: Frankreich 1968: Rebellion im Herzen der Bestie - Selbstverlag der Bibliothek des Widerstandes

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