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Marquis de Sade

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Donatien Alphonse François Marquis de Sade wurde am 2.6.1740 in Paris geboren. Von seinen Namen leitet sich der Begriff Sadismus ab. Er saß insgesamt 31 Jahre seines Lebens in Gefängnissen, Asylen und Irrenanstalten. 1772 wurde er wegen sexueller Straftatsbestände mit Prostituierten zum Tod verurteilt. Er floh nach Italien, wo er wieder auffällig wurde.

Im berühmten Gefängnis "La Bastille" de Paris schrieb er "Die 120 Tage von Sodom" und viele zu Unrecht halb vergessene freiheitlich-philosophische Werke, in denen er die Autonomie des Menschen forderte und Anregungen zur Errichtung freier Gesellschaften gab. Sein Kernthese war, dass erst in einer wirklich freien Welt die menschlichen Perversionen ein Ende fänden.

Er war Regierenden und Revolutionären seiner Zeit ein Ärgernis und starb am 2.12.1814 in Charenton bei Paris.


Wo ein Gesetz ist, ist auch ein Opfer. Wozu sonst ein Gesetz?

De Sade und Max Stirner

„Es ist viel kluge Einsicht nötig, um mich zu verstehen, das weiß ich; ich bin ein Monster, ausgekotzt von der Natur, um ihr im Vernichtungsprozeß, aus dem sie die Grundstoffe für neue Schöpfungen holt, zu helfen. Ich bin beispiellos in meiner Verabscheuungswürdigkeit, einzigartig auf meine Weise. Oh, all die Schimpfworte, mit denen sie mich verehren, ich kenne sie auswendig; aber ich bin mächtig genug, auf alle und jeden verzichten zu können, weise genug, um in meiner Einsamkeit Befriedigung zu finden, um die ganze Menschheit zu verachten, ihren Verboten zu trotzen, über ihre Meinung über mich zu lachen, erfahren und vernünftig genug, um über jeden Glauben, jede Religion zu spotten und jeden Gott in die Hölle zu schicken, stolz genug, um jede Regierungsform zu verabscheuen und mich über alle Bindungen, alle Grenzen, alle ethischen Prinzipien erhaben zu fühlen. ...“.

So stellt sich in de Sades Juliette der Riese Minski vor. So kann ich dem Leser de Sade vorstellen. Verbrechen prickelt ihn und peitscht ihn auf. Unzucht hat eine magische Anziehungskraft auf ihn. Erdenkt die Tugend zugrunde und kann sich triumphierend auf das Verbrechen konzentrieren. de Sade entweiht, schändet, blasphemiert, predigt Verbrechen und Tugendlosigkeit. de Sade ist mit seiner leidenschaftlichen Propaganda für das Verbrechen nur mit einer Person vergleichbar (auch der zeitgenössische Schrifsteller-Schurke Jean Genet ist vielleicht mit de Sade verwandt): dem anarchistischen Philosoph Max Stirner, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebte. In „Der Einzige und sein Eigenthum“ (1834) [1844] gibt er nahezu die gleiche Begründung für das Verbrechen.

Das Verbrechen ist für beide die Waffe im Kampf gegen Religion und Moral, die für sie nichts als scheinheilige Mittel der Herrschenden sind um das Volk ruhig zu halten. Geistliche und weltliche Macht stecken unter einer Decke. Nein, der Mensch ist ein Tier, determiniert wie der Wurm und das Schilf: „Wir werden durch eine unwiderstehliche Kraft mitgeschleppt, und es steht keinen Augenblick in unserer Macht, uns anders zu verhalten als das, wozu wir von Natur aus geneigt sind“ (de Sade). Der Mensch ist der Schaum, der auf den wütenden Wellen der schöpfenden Natur treibt. Genauso wenig wie die Distel ist er zu irgend etwas „berufen“.

Liebe ist Aberglaube. Wenn wir jemanden lieb haben, ist diese Person nichts als ein beliebiges Lustobjekt, dafür geeignet, um unsere eigenen erotischen Bedürfnisse zu befriedigen. Eine Frau, mit der wir uns sexuell befriedigen – ein physisches Bedürfnis - unterscheidet sich prinzipiell nicht von dem Butterbrot, mit dem wir unseren Hunger stillen – ein anderes physisches Bedürfnis. Wir gebrauchen und mißbrauchen den andern, wie wir nur können, Speise für unsere Begierde, sagt Stirner wörtlich [EE 331 (EE 171, 330): Du bist für Mich nichts als – meine Speise]. „Wir lachen über die Qual von andern: Was kann diese Qual denn mit uns zu tun haben? Mein Nachbar bedeutet mir nichts: es besteht nicht die geringste Beziehung zwischen ihm und mir“, meint de Sade. Mitleid ist nur die egozentrische Angst, daß mir das Gleiche passieren kann, was nun dem andern passiert. Leb nur ruhig deine Grausamkeit aus; es ist eine natürliche Kraft, vedirb sie nicht durch falsche Höflichkeit und Konventionen. Zugegeben, es ist oft von Vorteil, den andern zum Freund zu haben, das kann man manchmal gebrauchen. „Geist“ ist eine Illusion. Der Mensch ist er selbst ein Geist, der einen Körper bewohnt wie ein Gespenst ein verlassenes Haus, ist Unsinn. Der Geist wird uns eingeredet, damit wir an Gott glauben.

Kein größerer Unsinn als Gott. Würde Gott existieren, wie bösartig und grausam müßte er sein, daß er die verbrecherischsten Qualen auf die Menschheit los läßt. Würde Gott existieren, wäre er ein bösartiges Monster, der Teufel, also Gottes Feind. Kann Gott er selbst und sein Feind, der Teufel, gleichzeitig sein? Da Gott nicht existiert, kann auch keine Moral gepredigt werden, die von Gottes Wort ausgeht. [11] Es gibt kein Recht und kein Unrecht, betonen de Sade und Stirner. Wir selbst müssen das Leben interpretieren, niemand kann uns von der Richtigkeit seiner Lebensweise überzeugen. Übrig bleibt die totale Subjektivität. „.Du allein bist die Wahrheit, oder vielmehr, Du bist mehr als die Wahrheit, die vor Dir gar nichts ist“[ EE 397], sagt Stirner. Ich, der Einzige, bin unbesiegbar!

Die Welt ist eine Maschine, der Mensch ein Maschinchen war der Kern der kalten materialistischen Lehre der französischen Aufklärungsphilosophen de la Mettrie, d’Holbach, Helvetius. Für de Sade und Stirner ist dieser Grundsatz noch völlig aktuell. Er ist für sie eins der Motive, um gegen Glaube und Moral das Verbrechen zu predigen. Wie können wir unserem Leben Wert geben? Nur durch Genuß. Beeinflußt von der herrschenden Philosophie der Zeit gaben auch de Sade und Stirner diese Antwort.

Das eigene Wohlbefinden ist das höchste Gesetz. Genießen, sich selbst ausleben, das ist die Kunst. Alle Zweifel und ethischen Einwände, die sich unseren Lüsten in den Weg stellen können, ausrotten. Sorg dafür, daß du genießt, es kommt nicht darauf an, auf wessen Kosten.

Das Wesen des Genusses ist für de Sade das Böse. Das Bewußtsein, Böses zu tun, macht den Genuß pikant. Man tut nie zu viel Böses. Das Böse muß ständig böser werden, um attraktiv zu bleiben. Da jedoch bekommt de Sade eine Erkenntnis, die in verzweifeln läßt. Wirklich Böses tun, ist unmöglich. Morde ich, dann verändere ich nur lebendige Materie in tote. Ich vernichte nicht wirklich, sondern verändere nur; wirklich vertilgen kann ich nicht. Stehle ich, dann lasse ich die Materie nur den Besitzer verändern. Ich spiele der Natur immer nur in die Hand; die Natur will ja selbst das Verbrechen. Verbrechen, echtes Übel wäre es erst dann, wenn ich die Sonne aus ihrer Bahn bringen und die Erde damit versengen würde.

de Sade und Stirner predigen das Verbrechen nicht nur als Angriff auf die gläubige Weltanschauung von ihrem Atheismus her, sondern auch als Aufstand gegen das gesellschaftlich Unterworfene und, vor allem, als Kundgebung des individuellen Ich, das im Verbrechen seine Freiheit beweisen muß. „Wahnsinn!“, läßt de Sade Madame Dubois zur sittsamen Justine sagen (Therèse). „Die Rechtfertigung von Gott! - seine Belohnungen! Seine Strafen! Alles Unsinn! Siehst du denn nicht, wie die Grausamkeit der Reichen die Armen zum Aufstand zwingt!

Warum öffnen sie ihre Geldbeutel nicht für unsere Not? Laß Menschlichkeit ihr Herz beherrschen, dann wird die Tugend unsres beherrschen! Unser Elend, unsere Geduld, unser Glaube, unsere Sklavenhaltung festigen nur noch unsere Ketten. Wir sind von der Natur alle frei und gleich geschaffen; aber wenn der Zufall diese erste Naturgesetz ausschaltet, liegt es dann nicht an uns, ihre Launen durch unsere Kraft und Zahl zu verändern? Weil wir arm sind, Therèse, müssen wir in Demut kriechen, müssen wir unseren Durst mit Galle löschen, unseren Hunger mit Steinen stillen! Willst du auf Verbrechen und Mord verzichten, das einzige, was die Türen des Lebens für uns öffnen kann? Solange diese Klasse über uns herrscht, bleiben wir gedemütigt durch Not und Tränen! Nein!“ Stirner vertritt völlig die gleiche Meinung, auch wenn er de Sade wahrscheinlich nie gelesen hat. Auch bei Verbrechen als Widerstand der Unterdrückten de Sade identifizieren mit dem Teufel. Weil Widerstand die herrschenden Verhältnisse verändern möchte, verbindet er sich mit dem Teufel. Die bestehenden bekannten Verhältnisse kommen uns immer warm und vertraut vor, die Veränderungen, das Unbekannte, dagegen gruselig und des Teufels. Ein kleiner konservativer Zug in uns, der noch ermutigt wird durch die Propaganda der Herrschenden, die selbstverständlich immer vorgeben, das Gute zu vertreten. So können wir das Gute ansehen als etabliert und konservativ, das Übel als Zustände verändern und progressiv. Die Anarchisten, die sich im Prinzip immer im Widerstand befinden, sind demnach des Teufels schlechthin und mit ihnen Menschen wie de Sade.

Auffallend ist, daß, wenn de Sade Untugend gebraucht als revolutionäre Waffe in den Händen der Unterdrückten, er die Untugend gebraucht im Namen des Guten (der sozialen Gerechtigkeit). Daß er das Übel hierdurch seiner erregenden Kraft, als Übel schlechthin, beraubt, ist ein Widerspruch in seinem Denken. [12] Es zeigt, dass de Sade das Übel auf Teufel komm raus verteidigen will, aus dem einfachen Grund, weil es ihm eine Leidenschaft ist. Wir können de Sade bei vielen solcher Widersprüche ertappen. Er hat kein logisches abgerundetes System geschaffen, sondern er versucht nur sich selbst zu rechtfertigen, nach allen Seiten, gegenüber jedem. Seine Philosophie entleiht seinen Wert nicht der Logik, sondern der Beredsamkeit. Nicht nur in dieser Hinsicht ist er (Stirner auch) ein Vorläufer Nietzsches.

Am interessantesten ist das Verbrechen als Möglichkeit, die menschliche Freiheit auszudrücken. Dabei ergibt sich die paradoxe Situation, daß das Verbrechen, zuerst vorgebracht als Verteidigung einer deterministischen Lebensanschauung gegenüber den Gläubigen, jetzt zum Sprungbrett in die Freiheit wird.

Im Verbrechen überschreitet der Mensch die Grenzen physischer Bestimmung, findet de Sade. „Im Verbrechen bestätigt sich der Egoist“, schreibt Stirner. Der Determinismus wird von de Sade mit dem Verstand gekoppelt, mit seinem Herzen versucht er sich von seinem freien Willen zu überzeugen.

Das ergibt sich auch aus der Tatsache, daß de Sade und Stirner für sich eine Moral entwerfen wollen und auch in politischer Hinsicht sehr freiheitsliebende Vorschläge machen; warum sollte ein Determinist für sich selbst eine Moral entwerfen? Was hat das Streben nach politischer Freiheit noch zu bedeuten ohne Glauben in die menschliche Freiheit?

Der Determinismus wird von de Sade und Stirner ausschließlich gebraucht als Hintergrund, vor dem ihr freier Wille um so schärfer kontrastieren kann. Ich sehe diesen Dualismus von Determinismus und Freiheit wieder in dieser wesentlich „sadistischen“ Haltung: Das Verlangen nach der physischen Hingabe, in der sich der Mensch verliert (kein freier Wille), neben dem Willen, er selbst bleiben zu wollen, um die Situation zu beherrschen (wohl freier Wille). „Sadismus“ in der Definition, die Krafft-Ebing (1889) in seiner „Psychopathia Sexualis“ gab, ist nichts als das Vergnügen, das man erlebt, indem man Anderen Schmerz bereitet. Man kann dem Wort Sadismus aber auch eine viel umfassendere Bedeutung gebe: das Vergnügen, den eigenen Einfluß auf die Außenwelt zu sehen,, sei es destruktiv oder konstruktiv. Es ist die Wollust, die man an der Macht erlebt, aber auch an der Freiheit. Begriffe, die sich bei de Sade und Stirner teilweise überlappen. Macht ist die Freiheit, die man für sich selbst und vielleicht über Andere hat, Freiheit die Macht für mehrere Wahlmöglichkeiten. Macht ist bei de Sade nie Hitlers totalitäre Macht von oben, Freiheit ist bei Stirner nie das ethische „Recht für alle“. So berühren sich sadistische Wollust der Macht mit Stirnerschem Freiheitsdrang.

Die Freiheit wird bei de Sade und Stirner so intensiviert, daß de Sade durch stets unmäßigere Perversionen „außer Sinn“ außerhalb der Beschränkungen zu treten versucht, Stirner einen dreisten Individualismus proklamiert: völliger Egoismus.

Die Sehnsucht nach Freiheit zeigt sich auch deutlich in ihren Ansichten von der Gesellschaft. Stirner löst dieses Problem durch seinen „Verein von Egoisten“, einer Anarchie, in der Gesetz, Besitz, Staat, Militär und Kirche abgeschafft sind.

De Sade macht unterschiedliche Vorschläge. Er schreibt in einer Broschüre (Teil von „La philosophie dans le boudoir“) scharf gegen das Gesetz, das das Besitzrecht garantiert. „Was ist der Sinn eines Gelöbnisses, das von allen Individuen einer Nation abgelegt wird? Ist nicht beabsichtigt, die Bürger völlig gleich zu behandeln, um letztlich alle auf gleiche Weise unter das Gesetz zu stellen, das den Besitz schützt? Jetzt frage ich Sie, ob ein Gesetz, das den Mann, der nichts besitzt befiehlt, den Mann, der alles besitzt, zu respektieren, tatsächlich gerecht ist.“

Deshalb findet er wiederum den Diebstahl gut, weil er zu gleichem Besitz führt. Außer Diebstahl auch Laster, Sittenlosigkeit und Mord. Gesetze, die das Ziel haben, das zu verhindern, sind nicht geeignet, die Gesellschaft zu verbessern.

„Neue Gesetze schaffen nur neue Verbrechen; die einzige Lösung besteht darin, die Gesellschaft dahingehend zu verändern, wo das Verbrechen nicht mehr nötig ist“. Als allgemeine Regel für diese neue Gesellschaft will de Sade die Aufhebung des Privatbesitzes, völlige Gleichheit (auch der Frau) und Auflösung der Familie, in der de Sade eine Gefahr für die Gleichheit sieht. [13] Und die Gesetzgebung?

„Es wäre reinster Wahnsinn, allgemeingültige Gesetze vorschreiben zu wollen ...“; es ist eine schändliche Ungerechtigkeit zu erwarten, daß Menschen mit unterschiedlichem Temperament sich den gleichen Gesetzen unterordnen; was für den Einen paßt, ist noch lange nicht für alle angemessen. Ich gebe zu, daß man nicht so viele Gesetze machen kann, wie es Menschen gibt; aber die Gesetze sollten so großzügig und zahlenmäßig so gering sein, daß ihnen alle Menschen, unabhängig von ihrem Charakter, problemlos folgen könnten“. In den näheren Ausführungen dieser allgemeinen Richtlinien zeigt sich de Sade einmal als utopischer Sozialist, ein anderes Mal als Anarchist im Stirnerschen Sinn.

In „Alice et Valcour“ (1786) beschreibt er einen sozialistischen Staat, Tamoé, in dem Zamé der sanftmütige König ist. Zamé findet die großen Ursachen für das Elend in Europa in Privatbesitz, Klassenunterschied, Religion und Familienleben.

In Tamoé gehört der gesamte Besitz dem Staat, das Geld ist abgeschafft, Klassenunterschiede sind aufgehoben, Religion auf eine vage Verehrung der Natur begrenzt und Kinder werden in Staatsschulen erzogen. Es gibt keine Gefängnisse, keine Todesstrafe. Moralische Fehler werden durch das Gebot bestraft, unterscheidende Kleidung zu tragen, ernstere Verbrechen werden durch den Stadtherold dem Volk allgemein mitgeteilt. Mörder werden in ein Boot gesetzt und ihre Personenbeschreibung bekannt gemacht, so daß sie nicht landen können. Es gibt kein stehendes Heer, aber alle Männer sind potentielle Soldaten, die die Insel beschützen können gegenüber europäischem Kolonialismus, der einzigen Angst auf der Insel.

In „Juliette“ überwiegt bei ihm wieder der vollkommene Zynismus, Unglaube in Bezug auf die Möglichkeit einer guten Regierung oder Gesetzgebung. Anarchie ist das Resultat.

Es herrscht vollkommene sexuelle Freiheit, überzeugt davon, daß wenn die Natur beabsichtigt hätte, daß der Mensch prüde sei, sie ihn nicht nackt zur Welt gebracht hätte.

Der Umgang mit dem Mitmenschen ist äußerst lästig, Solidarität besteht nicht, den Andern kann man nicht kennen, es sei denn im Sinne des biblischen Wortes: „Welch ein Rätsel ist der Mensch“ – Ja, guter Freund, und das hat mir ein sehr schlagfertiger Mann gesagt, daß man ihn besser bumst als versucht ihn zu verstehen“.

Die Anarchie von de Sade führt ebenso wie die von Stirner in ein Dilemma: die Gleichheit, Bedingung für allgemeine Freiheit, wird nicht von Herzen akzeptiert, sondern nur die völlige individuelle Freiheit.

Weder de Sade noch Stirner gelingt es, Freiheit und Gleichheit überzeugend miteinander zu versöhnen. de Sade hat zuviel Probleme mit Machtgelüsten, Stirner zu viel mit Egoismus. de Sade sagt (mit Stirner): „Die persönlichen Interessen stehen fast immer der Gemeinschaft diametral gegenüber“.

Deshalb ist ihre anarchische Sicht auf die Gesellschaft eher ein Mittel um ihre im Grunde a-soziale Philosophie auszudrücken, als daß sie verwirklichbar wäre. Aber das beabsichtigen sie auch nicht! Diese Lehre ist ausschließlich gerichtet auf Widerstand, Revolte und Revolution.

Ich stehe de Sade kritisch gegenüber. Seine maßlose Subjektivität lohnt die Mühe, macht aber seine Lehre für andere als de Sade unannehmbar. Seine Idealgesellschaft kann es unrealisierbar. Der Lustmord beispielsweise, den de Sade oft billigt, würde eine Gesellschaft einfach unlebbar machen. Ein Hintergrund von de Sades Lustmord, das Recht des Stärksten auf wollüstige Tyrannei, ist ein unverkennbar faschistischer Aspekt. J.B. Charles [d.i. Willem Hendrik Nagel, bekannter niederländischer Dichter] nennt „die Freude an gewalttätiger Machtausübung“ eins der Kennzeichen von „Faschismus zu allen Zeiten“ (in: „Von der kleinen kalten Front“ [Episodenroman]). Was das angeht, sind die Anarchisten und ich bestimmt kein[e] „Freund[e] von de Sade“.

W.F. Hermans spricht in seinem Essay „Das sadistische Universum“ ebenfalls die Verwandtschaft zwischen de Sade und Stirner an und bezeichnet de Sade als Inspirator der Anarchisten („Sade, cet esprit le plus libre qui est [muß wohl heißen: „ait“] encore existé“ sagte Guillaume Apollinaire). Über den faschistischen Aspekt von de Sade sagt Hermans: „Sade als Erzvater des Faschismus. Auf diese Weise hat sich der Faschismus aus dem Anarchismus entwickelt. Das ist er in gewissem Sinn auch. Materialismus gekoppelt an Terror“.[14] Aber hier täuscht sich Hermans deutlich. Er sieht, daß de Sade allerlei Argumenten anführt, um das Verbrechen (von dem er besessen ist) zu rechtfertigen, darunter ein faschistisches Argument und ein anarchistisches. Das eine lautet: das Verbrechen ist gut, weil die Natur das Recht des Stärksten auf wollüstige Tyrannei darin offenbart. Das andere lautet: Das Verbrechen ist gut, weil es eine Waffe ist im Widerstand gegen die herrschende Klasse und es dadurch ein Mittel ist, wodurch das Individuum seine Freiheit beweisen kann. Zwischen diesen Argumenten braucht deshalb noch keine Beziehung zu bestehen! Sie können sich sogar widersprechen und tun dies auch.

Faschismus und Anarchismus sind jeweils ihr Gegenteil. Der Faschismus ist ein Gewaltsystem, das einen kollektiven Staat mit einer bürokratischen Hierarchie und an deren Spitze den allmächtigen Führer will. Der Anarchismus ist eine äußerst freiheitsliebende Ideologie, die eine individualistische Gesellschaft will, ohne Bürokratie, Hierarchie oder auch nur einer Regierung. Ein Faschist in Uniform ist eine Selbstverständlichkeit, ein Anarchist in Uniform eine contradictio in terminis. Faschisten die Macht von oben durch den Führer ausüben, Anarchisten von unten durch das Volk. In diesem Fall wäre es Sophistik, aus der Tatsache, daß Faschismus und Anarchismus Gegenpole darstellen, zu schließen, es gäbe wesentliche Übereinstimmungen.

Hermans’ Verbindung „Materialismus gekoppelt an Terror“ ist ein Schlag ins Wasser. Bestimmt sind nicht alle Anarchisten Materialisten, dafür ist der Einfluss von christlichen Anarchisten wie Tolstoi und die Niederländer Domela Nieuwenhuis und De Ligt zu groß. Den Faschismus kann man kaum materialistisch nennen, schon eher eine Ansammlung von kleinen mythologischen und idealistischen Ideen. Hermans wird sicher auch schon mal gehört haben, daß Alfred Rosenberg die faschistische Philosophie in einem Buch mit dem Titel „Der Mythos des zwanzigsten Jahrhunderts“ aufgeschrieben hat und daß Hitler nach dem mißglückten Anschlag auf ihn 1944 Gott und der Vorsehung im Radio dankte und daß Hitler (oder war der vielleicht kein Faschist?) ständig seinen Astrologen um Rat fragte, bevor er etwas unternahm ...

Den faschistischen Terror mit dem anarchistischen zu vergleichen, ist fies. Millionen faschistische Handlanger ermorden auf Befehl Millionen wehrlose Opfer – einige Anarchisten verübten auf eigene Initiative Anschläge auf einige übermächtige Herrscher (wobei man noch in Betracht ziehen muß, daß viel Terror unter dem interessanten und entschuldigenden Deckmantel des „Anarchismus“ ausgeübt wurde). Ein gewaltiger qualitativer und quantitativer Unterschied, wie er größer nicht sein könnte.

Die hedonistische Lehre und Lebenshaltung von de Sade ist mir unsympathisch, weil ich weniger Interesse im Ausleben meiner Lüste verspüre, als im Ausleben meiner kreativen Möglichkeiten. Der Sinnengenuß stellt sich der Kreativität meist in den Weg. Trotzdem möchte ich meine Bewunderung für de Sade nicht verheimlichen. Ich bewundere die ehrliche Getriebenheit, mit der sich de Sade immer wieder zu rechtfertigen versuchte, seine ausschweifende Freiheit des Denkens, zu das ihn sein konsequenter Hedonismus führte. Bis zu einem bescheidenen Punkt stelle ich mich hinter seine Verbrechen und Gewalt, ich preise seinen provozierenden Charakter und seine anarchistische Sicht auf die Gesellschaft.

Ich bin mir bewußt, daß ich durch meine relativ sympathischen Äußerungen über de Sade die vereinte Wut meiner weltverbessernden Kameraden auf den Hals laden kann. „Verbrechen!?“, erschrickt mein christlicher Bekannter B., „du bist mir ein schöner Idealist!“; „Gewalt?“, brummelt der Redakteur von „Recht für alle“, „Weißt du nicht, daß Gewalt zu neuer Gewalt führt?“; „Provokation und Anarchie?“ schimpft die sozialistische Freundin meines positiven Freundes R., „negativer Aggressivling!“

Sicher, ich distanziere mich mit diesem Artikel klar von jedem Idealismus und Christentum. Ich hoffe nicht, daß ich jemals vollkommen oder eine Jesus Christus II: werde. Ich verlange nach dem Verbrechen gegen die herrschenden Klassen, die diese Welt in einem nuklearen Moment zu einem dürren Klumpen Radioaktivität neu schöpfen werden. Ich glaube nicht, daß das Gute nur durch das Gute erreicht werden kann; ohne das Böse würde das Gute nicht einmal [15] existieren, es würde sich ja nicht mehr von ihm unterscheiden.

Ich versuche unsere Feinde zu provozieren, weil ich weiß, daß wir zu einem Frontalangriff nicht mehr in der Lage sind. Ich wüßte einmal genau, was meine sozialistische Freundin gegen Negativismus und Aggressivität vorbringen kann, ohne sich auf die christliche Moral, also ohne sich auf Christus und dessen Vater, an die sie nicht glaubt, zu berufen.

Die anarchistische Gesellschaft wähle ich (sei es die viel realistischere Anarchie der Anarcho-Syndikalisten), weil sie mir die größte Garantie für meine Freiheit und Kreativität zu sein scheint und weil sie für mich die größte Inspiration ist für den Widerstand gegen diese autoritäre Welt.

Roel van Duyn

Quellen

  • Provo Nr.2. Amsterdam 1965, Sp.11-17 und 24-27.

Ins Deutsche übersetzte Bücher von Roel van Duyn: Die Botschaft eines weisen Heinzelmännchens: Das politische Konzept der Kabouter. Jugenddienst, Wuppertal 1971.

  • PROVO!: Einleitung ins provozierende Denken. Libertad, Berlin 1983.


Siehe auch

Weblinks


De Sade, Marquis