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Kraft
Das Hauptproblem der Menschheit, gegen das sich der Anarchismus wendet, ist die Macht. Macht kommt daher als Macht über Menschen, als die Macht, einen Menschen etwas tun zu lassen, ihn zu etwas zu zwingen, und die Konsequenzen nicht selbst tragen zu müssen. Nun ist dieses Prinzip so tief in den Menschen verwurzelt, daß man sich fragen muß, wodurch man es ersetzen bzw. wie man es transformieren will.
Eine Antwort könnte die innere Kraft jedes einzelnen Menschen sein. Diese Kraft soll hier einmal definiert werden als die Kraft, Dinge aus eigenem Antrieb zu tun, mithilfe des eigenen Vermögens. Vermögen verwenden wir hier nicht im kapitalistischen Sinne, sondern seiner ursprünglichen Bedeutung nach, als Befähigung, Fähigkeit, vielleicht auch Begabung. Man kann sagen, daß diese Kraft den Menschen angeboren ist, und daß die Macht eine pervertierte Form davon darstellt.
Contents
Eigenschaften der Macht
Macht organisiert sich in Hierarchien, in Pyramidensystemen, wo einige wenige Personen ganz oben sitzen, weil sie das Geld haben, eine etwas größere Schicht das Management bildet und im Namen der Personen an der Spitze noch mehr Macht anzusammeln hat, und vielen immer größer werdenden Ebenen darunter, die unter immer größerem Druck von oben stehen, den sie nach unten weitergeben. Teilweise läßt ihnen das System keine andere Wahl, als den Druck weiterzugeben, teilweise ködert es die Menschen auch mit dem Versprechen, mehr Macht zu erlangen und eine Stufe aufzusteigen. Da Macht eine Droge ist, die trotz ihrer nichtphysischen Natur ähnlich wirkt wie Kokain, sind viele Menschen süchtig danach, und ihre Gier hält das System stabil.
Auch der Drang, Dinge zu kaufen, die man nicht braucht, sinnlos zu konsumieren, ist letztendlich eine Form von Gier, die aus dem Machtsystem resultiert.
Eine der besonders zerstörerischen Eigenschaften von Macht ist, daß die Personen, die etwas anordnen, diejenigen, die es ausführen, und diejenigen, die die Konsequenzen tragen, in der Regel nicht identisch sind. Aus diesem Grunde sind Dinge wie Krieg oder Umweltzerstörung möglich.
Innere Kraft
Die Kraft der Menschen, Dinge aus sich selbst heraus zu tun, organisiert sich dagegen in vielfältigen Formen, als flexibles Netzwerk. Zunächst einmal kann jeder Mensch herausfinden, was er selbst tun kann, ohne weitere Hilfsmittel und ohne die Hilfe anderer. Wenn er sich mit anderen Menschen zusammentut, um die Kraft zu bündeln, kann die Gruppe weit mehr erreichen. Dadurch, daß es keine Hierarchie gibt, kann die Information frei fließen, weil niemand einen Vorteil dadurch hat, daß er irgendwas zurückhält, und es können wesentlich bessere Problemlösungen gefunden werden als in einem von der Macht beherrschten System, vor allem, da niemand eine Entscheidung fällen kann, der nicht bereit ist, selbst an ihrer Ausführung mitzuwirken, und niemand etwas tun kann, dessen Konsequenzen er nicht selbst mitzutragen bereit ist.
In einem System, das auf der inneren Kraft beruht, nennen wir es einmal Anarchie, sind bestimmte Arten von Großprojekten natürlich kaum zu verwirklichen: Autobahnen, Talsperren, Atomreaktoren. Andere Arten von Großprojekten, die ungefährlicher und wesentlich nützlicher sind, können zwar verwirklicht werden, brauchen aber ein Vielfaches der Zeit, die sie in einem Machtsystem bräuchten. Dies ist jedoch kein Nachteil, sondern eher ein Vorteil, denn gerade die Geschwindigkeit des modernen Kapitalismus verursacht ökologische und soziale Katastrophen globalen Ausmaßes, die wir uns als Menschheit nicht länger leisten können, wenn wir überleben wollen.
Macht und Angst
Angst ist einer der wichtigsten Stützpfeiler der Macht, wenn nicht sogar der wichtigste. Die Angst davor, zurückgewiesen oder bestraft zu werden, die Angst davor, daß der Wert des eigenen Lebens vom System mit Füßen getreten werden kann, sorgt dafür, daß die meisten Menschen sich nicht einmal trauen, die Macht in Formen anzugreifen, welche nicht vom Gesetz verboten sind, und die Angst führt auch dazu, daß sie das System für mächtiger halten, als es ist.
Wer in der Lage ist, seiner Angst ins Gesicht zu sehen und nicht ohne Angst, sondern trotz seiner Angst zu tun, was er tun will, was seiner eigenen inneren Kraft entspringt, und dabei bereit ist, trotz seiner Angst den Widerstand des Systems herauszufordern, der kann nicht mehr wirklich besiegt werden. Wer bereit ist, sich verprügeln, ins Gefängnis stecken, vielleicht sogar foltern, verstümmeln oder ermorden zu lassen, ohne sich dabei von seiner Angst dazu treiben zu lassen, die eigenen Überzeugungen zu verleugnen und gegen den eigenen Willen zu handeln, der kann nur noch vernichtet, nicht jedoch beherrscht oder instrumentalisiert werden. Wenn eine ganze Gemeinschaft von Menschen ihre Angst überwinden und die Stärke des Willens vereinigen kann, um mit gemeinsamer Kraft das System herauszufordern, dann können sie nicht mehr vollkommen besiegt und unterdrückt werden.
Die wirksamste Waffe des Systems ist die Angst in uns selbst. Jeder von uns hat seinen inneren Polizisten, der irgendwo in der Tiefe des Unbewußten aufpaßt, daß wir nichts denken oder tun, das nicht den Regeln des Systems entspricht. Diese Regeln sind nicht unbedingt identisch mit den Gesetzen, die auf dem Papier stehen; es sind eher verinnerlichte Regeln, die sich aus dem ableiten, was wir im täglichen Leben beobachten können, in der Art und Weise, wie Menschen sich uns und sich gegenseitig gegenüber verhalten, wie sie auf bestimmte Dinge reagieren. Die Angst, nicht geliebt zu werden, die Angst, zurückgewiesen zu werden, die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, die Angst, obdachlos zu werden, die Angst, ins Gefängnis geworfen zu werden, all diese Ängste sind Nahrung für den inneren Polizisten. Der innere Polizist verkörpert unseren Selbsthaß, unsere Angst vor der eigenen Courage, die Waffe, die wir auf uns selbst halten, um uns zu beherrschen, um zu verhindern, daß wir die Macht selbst angreifen. Um den inneren Polizisten zu überwinden, hilft es nicht, die Angst zu verleugnen oder vor ihr wegzurennen - stattdessen sollte man sich die Angst bewußt machen und trotz der Angst weitermachen.
Wer sich mit Meditation, Trance oder ähnlichen Psychotechniken auskennt, kann sich auch in einer Traumreise vorstellen, daß er sich in einer inneren Landschaft befindet, die angefüllt ist mit Orten, Personen und Gegenständen, die eine Bedeutung für ihn haben, und dann in die Richtung geht, die ihm besonders unheimlich ist, um sie zu erforschen. Irgendwann wird er oder sie auf etwas treffen, das den inneren Polizisten verkörpert, wird dagegen kämpfen und verlieren, wird fürchterliche Ängste durchleiden und Alpträume haben. Davon darf sich der Sucher aber nicht entmutigen lassen, stattdessen muß sie oder er die Erfahrung wiederholen und jedesmal darauf achten, welche Symbole, welche Vorstellungen ihr oder ihm Kraft geben, ein wenig länger dem inneren Ordnungshüter zu widerstehen. Wenn er irgendwann vor einem liegt, wehrlos und besiegt, kann man ihn nach seinem Namen fragen, um die Quelle der eigenen Angst zu kennen (oft sind dies Überreste von Kindheitserinnerungen). Wer diese Stufe gemeistert hat (was allerdings nur wenigen gelingt), der kann fortan nicht wie ein Soldat durch die Macht berauscht und gegen die Angst betäubt in die Schlacht ziehen, sondern wie ein wilder Krieger, der sich seiner Angst voll und ganz bewußt ist, die Angst jedoch als eine Quelle seiner Stärke, seines Willens, seines Überlebenstriebes nutzt.
Macht und Gewalt
Im Anarchismus ist die Gewaltdebatte ein großes Thema. Hier soll nun geschildert werden, warum Gewaltlosigkeit bis zuletzt der Anwendung von Gewalt vorzuziehen ist, und was Gewalt denn nun eigentlich ist. Wenn wir von Gewalt reden wollen, dann müssen wir wissen, wovon wir reden - sicherlich wollen wir nicht die Definition verwenden, welche die Systeme der Macht anzubieten haben. Als Beispiel möchte ich nur einmal einen Bericht des Verfassungsschutzes über den Linksextremismus anführen, in dem unter anderem Sabotageakte, Sachbeschädigung, Befreiung von Versuchstieren und sogar die Zerstörung von gentechnischen Versuchspflanzungen als Beispiele für das "linksextreme Gewaltpotential" genannt und in dem Profiteinbußen der Wirtschaft als "Schäden durch linksextremistische Gewalt" bezeichnet werden.
Wir können zunächst einmal betrachten, wodurch sich Gewalt auszeichnet: Gewalt zeichnet sich durch Verletzung aus, durch Schmerzen, die zugefügt werden, durch Zwang. Gewalt ist Erniedrigung, Gewalt ist Brutalität. Damit ist bereits klar, daß Gewalt nur empfindungsfähige Lebewesen betreffen kann. Zerstörung von Gegenständen ist nur dann Gewalt, wenn sie darauf abziehlt, Menschen indirekt psychisch oder physisch zu verletzen.
Gewalt kann aber auch gesehen werden als eine Grundbedingung von Macht. In diesem Sinne ist jede Ausübung von Macht eine Form von Gewalt. Macht stellt sich dar als potentielle Form von Gewalt, als unterschwellige Androhung von Gewalt, und jeder Akt konkreter Machtausübung ist eine (oft kleine, unbemerkte) Anwendung von Gewalt. Macht und Gewalt sind also ebenso zwei Seiten einer Medaille wie Energie und Arbeit in der Physik, wo physikalische Arbeit als Freisetzung von Energie erscheint und Energie als potentielle Arbeit.
Wer sich nun der Gewalt widersetzt, ohne selbst Gewalt anzuwenden, der entzieht sich der Verlockung der Macht. Gewalttätige Auseinandersetzungen mit Vertretern der Herrschaft sind berauschend, weil sie selbst ein Gefühl von Macht vermitteln, der Macht, Mollis oder Steine zu schmeißen, der Macht, Angst und Schrecken zu verbreiten. Andererseits ist Gewalt genau das, was die Gegenseite will, was sie erwartet, und sie gefährdet das System nicht wirklich. Gewaltloser Widerstand ist jedoch keine Manifestation von Macht, sondern von der inneren Kraft, die jedes Individuum hat, der Kraft, nein zu sagen. Gewaltloser Widerstand fordert die Macht auf eine viel subtilere Art und Weise heraus, als Gewalt es tun könnte. Streiks, Besetzungen, Sitzblockaden, all diese Dinge können dem System zeigen, daß man sich nicht von der Angst beherrschen läßt, und sie haben auch Vorbildfunktion.
Sprache und Macht
Um die Welt zu verändern, ist es auch nötig, unsere Sprache zu ändern, denn die Sprache formt unser Denken, sie formt unsere Kommunikation. Schließlich kann man in C64-Basic auch nicht sonderlich gut objektorientiert programmieren, dafür nimmt man andere Sprachen. Die Sprache des Anarchismus kann somit nicht die Sprache der Herrschaft sein.
Einige Herrschaftsstrukturen in unseren europäischen Sprachen werden schwer zu knacken sein, da sie teilweise bereits im Ur-Indogermanisch vorhanden waren, zum Beispiel die Konstruktion Subjekt-Prädikat-Objekt, welche bereits das Prinzip Macht darstellt: Das Subjekt handelt, das Objekt ist machtlos.
Wir können aber teilweise recht einfach Sprachformen des Kapitalismus überwinden, da dieser eine noch nicht allzu lange existierende Form von Machtsystem darstellt. Hierzu sollte man sich überlegen, woher ein Wort kommt, wie es entstanden ist, wie sein Sinn sich mit der Zeit verändert hat, und wie man ihm seinen ursprünglichen Sinn zurückgeben kann.
Beispiel: Vermögen
Vermögen bezeichnet beispielsweise heutzutage meist eine Ansammlung von Reichtum, meist schlicht und einfach Geld in verschiedenen Anlageformen. Dies ist aber eine Begriffsverengung, welche den Blick auf den eigentlichen Sinn des Wortes verstellt:
Vermögen ist die Fähigkeit, etwas zu tun. Ich vermag es zu tun, du vermagst, er sie es vermag, wir vermögen, ihr vermögt, sie vermögen. Diese Verengung ist folgerichtig, wenn man den Kapitalismus als Fundament der sogenannten Realität akzeptiert, denn dann vermag man nur etwas zu tun, wenn man über dir nötigen Mittel verfügt, und die nötigen Mittel hat nur, wer Vermögen hat.
Indem wir Vermögen in seinem ursprünglichen Sinne verwenden, machen wir aus einem Wort der Macht eins, welches Kraft transportiert. Vermögen soll zukünftig nicht mehr die Macht ausdrücken, sich mit seinem Geld etwas zu leisten, sondern soll seine alte Bedeutung wiedererlangen, mit seiner inneren Kraft aus sich selbst heraus Dinge zu tun.
Religion der Macht - Kraft durch Religion
Bei Religion denken die meisten Menschen an die monotheistischen Buchreligionen, und wenn sie "links" sind, neigen sie deshalb zur Ablehnung von Religion an und für sich. Religion ist prinzipiell eigentlich auch gut geeignet, um Menschen zu beherrschen, indem sie sich selbst beherrschen.
Gerade Religionen, die sehr jenseitsorientiert sind, auf Transzendenz setzen und das Irdische überwinden wollen, sind gut zur Festigung von Macht geeignet, da sie die Aufmerksamkeit des Menschen von der Welt ablenken und auf eine kommende Belohnung richten. Das trifft nicht nur auf die drei Buchreligionen zu, sondern in abgewandelter Form auch etwa auf die meisten Erscheinungsformen des Hinduismus.
Es gibt jedoch auch im Bereich der Naturreligionen sehr diesseitsorientierte Glaubensformen, die auf Immanenz statt Transzendenz setzen. Anstatt die Welt zu überwinden, verankert man sich in ihr; anstatt das Leben als Wartehalle auf den Tod zu sehen, nach dem die Seele dann endlich frei ist, sieht man den Tod als Teil des ewigen Zyklus von Zeugung, Geburt, Wachstum, Verfall und Tod, bei dem jeder Tod den Boden für neues Leben bereitet, jedes Ende ein neuer Anfang ist. Ob man nun Archetypen menschlichen Lebens und Erlebens als Göttinnen und Götter ansieht oder nicht, ob man tatsächlich glaubt, daß Flüsse und Steine, Bäume und Menschen allesamt Seelen haben oder nicht, ob man die vielfältigen Symbole und Rituale nun als etwas sieht, das in gewisser Weise real ist, oder ob man es nur als Möglichkeit, über psychische Zustände, für die es keine bessere Sprache gibt, zu reden, sieht, wichtig ist eins: Es gibt keine höchste religiöse Autorität, jeder ist seine eigene Priesterin, sein eigener Schamane, sein eigener Papst. Erscheinungsformen und Strukturen organisierter, machtreproduzierender Religionen können auch parodiert werden, wie im Diskordianismus.
Nun ist es zwar nicht so, daß organisierte Religionen nicht unter Umständen auch innere Kraft geben können, und umgekehrt ist es sehr wohl so, daß auch unorganisierte spirituelle Bewegungen oft genug in die Machtfalle gelaufen sind. Selbst der chaosmagische Orden IOT hat sich aufgrund von Machtkämpfen gespalten, und das, wo er von Anfang an auf anarchistischen Prinzipien gegründet war. Das Prinzip der Macht ist noch stark in dieser Welt, und keiner von uns wird in seinem Leben seinen endgültigen Untergang sehen. Wenn wir alle für unsere innere Kraft einstehen und mit ihr arbeiten, mit Respekt vor anderen Menschen und ohne Gewalt, dann können wir aber vielleicht noch zu unseren Lebzeiten sehen, wie die Macht zurückweicht und neue Freiräume schafft, damit Menschen in größerer Freiheit leben können. Jede kleine Veränderung, die wir bewirken, wirkt auch auf uns selbst zurück und verändert uns mit.
Zenarchy
Es gibt innerhalb des Diskordianismus eine Bewegung von spirituellen Anarchisten, die sich als Zenarchisten bezeichnen. Das Wort "Zenarchy" (zusammengezogen aus Zen und Anarchy) bezeichnet nach Aussage von Vertretern dieser Richtung die soziale Ordnung, die aus Meditation entspringt - dieser Begriff geht auf Kerry Thornley zurück. Die Idee ist, daß erleuchtete Menschen automatisch kein Bedürfnis mehr haben, zu herrschen oder beherrscht zu werden.
"What Zen has most to offer Anarchism is freedom HERE AND NOW. No longer need the Anarchist dream of a utopian millennium as he struggles to outwit the State - for he can find freedom in the contest, by simply knowing that freedom is everywhere for those who dance through life, rather than crawl, walk, or run." (Kerry Thornley)
Übersetzung: "Was Zen insbesondere dem Anarchismus anzubieten hat ist Freiheit HIER UND JETZT. Nicht länger muß der Anarchist von einem utopischen Millenium träumen, während er darum ringt, den Staat zu überlisten - denn er kann Freiheit in seinem Kampf finden, einfach darin zu wissen, daß Freiheit überallist für jene, die durchs Leben tanzen, anstatt zu kriechen, gehen oder rennen."
Links
Religion
- Starhawk - Anarchistin, Feministin, Autorin, Heilerin, Hexe
- Wikipedia über Starhawk, mit weiteren Links
- Principia Discordia - (H)Eilige Schrift der Diskordier, bedrogt und albern, aber gut
- [1] Arbeit über Macht, Krieg, Staat, Kräfteverhältnisse und Foucault