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»Wir meinen zunächst, daß die Welt verändert werden muß. Wir wollen die größtmögliche emanzipatorische Veränderung der Gesellschaft und des Lebens, in die wir als Ausgeschlossene eingeschlossen sind. Wir wissen, daß es möglich ist, diese Veränderung mit geeigneten Aktionen durchzusetzen.« (Guy Ernest Debord, Rapport zur Konstruktion von Situationen)
 
»Wir meinen zunächst, daß die Welt verändert werden muß. Wir wollen die größtmögliche emanzipatorische Veränderung der Gesellschaft und des Lebens, in die wir als Ausgeschlossene eingeschlossen sind. Wir wissen, daß es möglich ist, diese Veränderung mit geeigneten Aktionen durchzusetzen.« (Guy Ernest Debord, Rapport zur Konstruktion von Situationen)
  
[[Raoul Vaneigem]], geboren 1934, lebt in Belgien nahe Liége, 1961 bis 1970 war er Mitglied der [[Situationistischen Internationale]].
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[[Raoul Vaneigem]], geboren 1934, lebt in Belgien nahe Liége, 1961 bis 1970 war er Mitglied der [[Situationistische Internationale|Situationistischen Internationale]].
  
 
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Raoul Vaneigem: An die Lebenden! Streitschrift gegen die Welt der Ökonomie


»Für jede Stunde Arbeit nimmt der Kapitalismus die Hälfte, ohne dafür zu zahlen. Diese erdrückende Schuld muß vollständig abgezahlt werden.«  André Breton


Diese Streitschrift gegen die Grundlagen unserer Zivilisation ist eine vehemente Verteidigung des individuellen Erlebens und der Kostenlosigkeit der Bedürfnisse, die anstelle der tyrannischen Macht der Arbeit und des Geldes die Wesensmerkmale der menschlichen Lebendigkeit sind. »An die Lebenden!« ermuntert dazu, die Wünsche nach einem Leben im Einklang mit den individuellen Bedürfnissen nicht länger »der gefräßigen Bestie der ökonomischen Todesmaschinerie« zu opfern. Die unablässige Heiligsprechung der Ökonomie negiert das konkrete Individuum, bewirkt den Schlaf seiner Vernunft, verkrüppelt seine Emotionalität und nährt so die Ungeheuer der Misere, die als soziale und ökologische Katastrophe die Basis der gelebten menschlichen Existenz verschwinden lassen.


Hier, jetzt und immer

Tatsächlich ist die Welt mir nicht fremd, aber alles ist mir in einer Welt fremd, die sich verkauft, anstatt sich zu schenken. »Sie« stören mich in meinen bescheidensten Freiheiten mit ihrem Geld, ihrer Arbeit, ihrer Autorität, ihrer Pflicht, ihrem Schuldgefühl, ihrer Intellektualität, ihren Rollen, ihren Funktionen, ihrem Gespür für Macht, ihrem Gesetz des Tausches und ihrer Herdengemeinschaft, in der ich bin und in die ich nicht hinein will. Dank ihres eigenen Werdens vergehen »sie«. Durch die Ökonomie, deren Sklaven sie sind, bis zum Äußersten ökonomisiert, verdammen sie sich zum Aussterben, wobei sie die Fruchtbarkeit der Erde, die natürlichen Arten und die Freude der Leidenschaften mit in ihren programmierten Tod hineinziehen. Ich beabsichtige nicht, ihnen auf dem Weg der Resignation zu folgen, auf den die letzte Energie des in Rentabilität umgewandelten Menschlichen sie zusammenführt. Es liegt nicht in meiner Absicht, Anspruch auf Entfaltung in einer Gesellschaft zu erheben, die sich kaum dafür eignet. Vielmehr will ich zu voller Entwicklung gelangen, indem ich sie gemäß den radikalen Umwandlungen, die sich in ihr abzeichnen, umwandle. Ich verleugne nicht das kindisch Eigensinnige an dem Willen, die Welt zu verändern, weil sie mir nicht gefällt und mir erst dann gefallen wird, wenn ich in ihr nach Belieben und Wunsch leben kann. Ist dieser Eigensinn denn nicht der Kern des Willens zum Leben? Soll man sich darüber wundern, daß die Suche nach dem Genuß eine beständige Aufmerksamkeit und Anstrengung voraussetzt, während wir immer wieder nur die Tugenden des ­Opfers und des Verzichts gelernt haben, die die Lebenskraft zur Arbeitsfähigkeit verkümmern lassen? Das gesamte Wissen der Welt hat uns nur dazu verleitet, von toten Dingen Besitz zu ergreifen und mit ihnen zu sterben, weil sie von uns Besitz ergriffen haben. Der Tod kommt nur durch den alle Tage und Nächte hindurch geduldeten Tod. Der Bruch unserer Zeit besteht darin, daß die Verneinung des Lebens sich selbst zu verneinen anfängt und daß das Begehren mit der Entdeckung, daß es vor allen Dingen steht, eine zu schaffende Welt entdeckt. Dies ist die Revolution des Lebenden, sie ist die einzige, die es gibt, und auch wenn das ständige Grauen vor dem Tod sie weiter verheimlicht, so wissen wir jetzt, daß es, um dieses Grauen in uns und um uns herum aufzuheben, eine wachsende Leidenschaft des Begehrens gibt, die endlos ist.

Ende und Anfang

Woran erkennt man das Ende einer Epoche? Daran, daß eine plötzlich unerträglich gewordene Gegenwart in kurzer Zeit das kondensiert, was in der Vergangenheit nur mit großem Unbehagen ertragen wurde. Dann kann jeder sich mühelos davon überzeugen, daß er entweder bei der Geburt einer neuen Welt die eigene Geburt erleben wird oder aber im Archaismus einer Gesellschaft, die immer weniger dem Lebenden angepaßt ist, sterben wird. Das tägliche Exil

Alles läuft so ab, als ob es nur eine einzige Welt gäbe, während die zweite sich im Nebel eines kindischen Märchenreichs verflüchtigt. Das Porzellan der Träume zersplittert in der Aufregung der Geschäfte und der lukrativen Tätigkeiten – und dies buchstäblich in einem Augenblick.

Der Abend fügt die Ãœberreste der arbeitenden Menschen wieder zusammen. Dann verleimt die Nacht die Begierden erneut, die der Besen mechanischer Griffe zum Abfall gekehrt hat. Im Morgengrauen wiederholt sich das Szenario, angereichert mit den Mühen des Vortags. Dies nennen sie die »harte Wirklichkeit der Dinge« oder, mit Zynismus, die »conditio humana«. Dennoch läuft die Ökonomie Gefahr, sich die Pfoten zu verbrennen, wenn sie die letzten Reserven herauskitzelt. Die Warenoffensive hat den Punkt der äußersten Verletzlichkeit erreicht, indem sie sich der Quelle des Lebens nähert. Sobald das Eigentumsrecht auch nur das geringste Stück Boden in seine technokratisch-lukrativen Zangen nimmt, wird die natürliche Kostenlosigkeit zerstückelt und versteigert. Das Wasser zur Bewässerung, der fruchtbar zu machende Boden, der Siedlungsraum, das Umherschweifen und sogar die Luft, alles läßt sich verzinsen, alles muß bezahlt und wieder zurückgezahlt werden, wobei Haß, Frustration und Aggressivität den Wuchersitten das Geleit geben.

Die Arbeit

Die Arbeit hat den Menschen von der Natur und von seiner eigenen Natur so gründlich getrennt, daß von nun an nichts Lebendes mehr in die Ökonomie investiert werden kann, ohne die Partei des Todes zu ergreifen. Es ist verständlich, daß andere Wege sich abzeichnen und daß die ehemals als irreal abgestempelte Kostenlosigkeit nun die einzige Wirklichkeit ist, die geschaffen werden muß. Das Denken des ökonomischen Zeitalters dreht sich seit zehn Jahrtausenden in dem Kreis, in dem es eingemauert ist und mit dem es die Wirklichkeit der Begierden und der natürlichen Kostenlosigkeit umgibt. Ein Denken, das das Leben ausschließt und verneint, kommt nur vorwärts, indem es sich selbst verneint und ausschließt. Die Universalbibliothek der Ideen hat ihre Vielfalt auf eine ständige Banalität gegründet, in der sich das Alte als das Moderne und der kritische Geist als neuer Konformismus verkleiden.

Der Tod

Der Tod triumphiert im planetarischen Sieg der Ökonomie, und alles, was verzweifelt, arbeitet an seiner Vervollkommnung. Genug dieser in der Partei der Verstorbenen gereiften Revolutionen! Revolutionär ist, das Lebende zu schaffen. Sind nicht die abgefeimtesten Politiker und Geschäftsleute, die einen seismographischen Sinn für soziale Veränderungen haben, darum bemüht, den Schein des Lebenden als letzte ideologische Verpackung für die letzten Waren zu benutzen? Heute bezahlt die Hektik aber die Nervenzerrüttung so schlecht, daß etliche Leute, der ständigen Ermüdung einer mechanisierten Zeit überdrüssig, den unerwarteten Genuß des gegenwärtigen Augenblicks wie ein Privileg wiederentdecken. Ein Stück ihrer selbst wird ihnen zurückgegeben, sie zieren sich noch, es anzunehmen, wollen dann aber mehr davon. Ich sehe kein anderes Mittel gegen den denaturierten Tod als die Humanisierung des täglichen Lebens. Das Leben

Jeden Tag so angehen, als ob er die Totalität des – intensiv oder dürftig erlebten – Daseins enthielte, das scheint mir eine Einstellung zu sein, in der das individuelle Schicksal mit vollem Bedacht die sicherste Wette eingeht, um sich zu verwirklichen. Daß man jeden Morgen hartnäckig die Zeit neu ins Leben ruft, von der eben gepflückten Lust mit so aufrichtiger Freude oder Schwermut springt, daß man noch voller Verwunderung dasteht, wenn der Abend oder der Todesschlaf kommt. Die Ewigkeit des Lebens steckt in jedem Augenblick, der dem Lebenden angeboten wird.

Schöpfung versus Arbeit

Die Geschichte der Ware und die Geschichte der Menschen, die sie produzieren, ist ein und dieselbe; sie entwickelt sich, indem sie diejenigen zerstört, die sie machen. Die Hochburgen des Lebens, die niemals von den aufeinanderfolgenden Wellen der Wareneroberung geschleift wurden, dienten lange Zeit denjenigen als Zuflucht, die von der Routine der Geschäfte und den gedungenen Leidenschaften erdrückt wurden. Diese Inseln, die unter den alten Namen Liebe, Großzügigkeit, Gastfreundschaft, Genuß und Kreativität durch das langsame Zurückfließen von neuem auftauchen, kennzeichnen heute die wahren Wege einer menschlichen Gegenwart auf der Erde. Bis heute ist die Revolution nur ein Wechsel des Bühnenbildes in der jahrhundertealten Inszenierung der Ökonomie gewesen. Eine echte Revolution erahne ich nur in der täglichen und individuellen Gestaltung einer menschlichen Landschaft. Dann ist wieder die einfache und vielfältige Dimension des Menschlichen zu erkennen: Wille zum Leben, nicht Wille zur Macht; Echtheit, nicht Schein; Kostenlosigkeit, nicht Gewinnsucht; pulsierendes Begehren, nicht getrenntes Denken; Gabe, nicht Tausch; Anstrengung, die sich in Anmut auflöst, nicht in Zwang; Brennpunkt des Unersättlichen, nicht des Unbefriedigten. Wenn sie auch ganz in die Macht der Arbeit verstrickt bleibt, so öffnet die Kreativität doch allmählich die Türen des ökonomischen Kerkers, sie läßt der von allen gemachten Poesie freien Lauf, ermutigt die fröhliche Wissenschaft in ihrer vielfältigen Freiheit zu singen, zu komponieren, zu schreiben, zu gärtnern, zu träumen, zu tanzen und eine Welt auf den Trümmern einer Welt zu erfinden, die durch die Herrschaft der fortschreitenden Ausbeutung geplündert worden ist. Würde die Kreativität sich damit begnügen, das Kreuz des Unglücks aus dem Gewissen zu reißen, das die Notwendigkeit, Geld anzuhäufen und zu herrschen, in den Willen, nach eigenem Gutdünken zu leben, eingegraben hat, hätte sie mehr für das Glück der Menschheit getan als alle Revolutionen zusammengenommen, die dessen Hoffnung programmiert haben.

Die Arbeitslosigkeit – Arbeit ohne Arbeit

Es ist nicht wichtig, daß die Arbeit abgeschafft wird; sie schafft sich von selbst ab, sie erschöpft sich, indem sie den Menschen und die natürlichen Ressourcen erschöpft. In der Untertänigkeit aber, im Mangel an Intelligenz und Vorstellungskraft, die in Verhalten und Gewissen weiterhin die Erinnerung an ihre vergangene Nützlichkeit und die Angst vor ihrer gegenwärtigen Harmlosigkeit propagieren, darin besteht das wahre Unheil einer Ökonomie, die im Sterben liegt und die gesamte Welt unter der Fahne des Realismus und der Rationalität in den Tod führt. Die Macht der Arbeit hängt vor allem von der Schwäche und der Selbstverachtung ab, die sie verewigt – aber welch furchterregende Macht und welch verheerende Wirkung auf jene soziale Schicht, die im Volk als »arbeitslos« und in der Geschäftswelt als »stellenlos« bezeichnet wird! Welches Manko, dessen beraubt zu sein, was einem das Leben raubt! Der Lohn sichert die regelmäßige Versorgung, sein Wegfall unterbricht sie, führt zum Mangel und treibt in Verwirrung, Verzweiflung und Panik. Wenn es auch für denjenigen, der seine Augen auf den farblosen Horizont des Ãœberlebens gerichtet hält, wahr ist, daß die Arbeitslosenunterstützung nicht den Frühling verheißt, so muß man schon mit der Blindheit eines Süchtigen geschlagen sein, um nicht den Reichtum einer plötzlich von allen Verpflichtungen befreiten Zeit zu würdigen. Statt nach einer Einstellung zu heulen wie ein Morphinist nach dem Mond, sollte man aus der eigenen Kreativität Funken schlagen und gemeinschaftlich die Aufgabe angehen, die für unmöglich gehalten wird, weil das ökonomische Vorurteil sie verbietet – die Einführung des Kostenlosen. Die Kostenlosigkeit erschreckt, weil sie natürlich ist. Aber wer hätte heute Gründe, sich zu beunruhigen, wenn die über Preiserhöhung und Lohnsenkung Unzufriedenen auf den Gedanken kämen, nicht mehr dafür zu bezahlen, wenn sie fahren, wohnen, sich ernähren, ihre Meinung äußern, sich treffen, miteinander in Verbindung treten, sich vergnügen und Kraft schöpfen wollen?

Wer wird nun gegen die stümperhafte staatliche Planung und die Befehle »von oben« vorgehen? Kleine örtliche Gruppen, Dörfer oder Stadtviertel zögern nicht, die Verteidigung ihrer Umwelt auf den Tisch der internationalen Debatten zu bringen, die Lagerung von Giftstoffen zu denunzieren, die industrielle Verschmutzung zu verbieten und Ersatzlösungen zu fordern.

»Wir meinen zunächst, daß die Welt verändert werden muß. Wir wollen die größtmögliche emanzipatorische Veränderung der Gesellschaft und des Lebens, in die wir als Ausgeschlossene eingeschlossen sind. Wir wissen, daß es möglich ist, diese Veränderung mit geeigneten Aktionen durchzusetzen.« (Guy Ernest Debord, Rapport zur Konstruktion von Situationen)

Raoul Vaneigem, geboren 1934, lebt in Belgien nahe Liége, 1961 bis 1970 war er Mitglied der Situationistischen Internationale.

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