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Keine Regierung kann lange bestehen, ohne ihre wahre Natur unter dem Vorwand der allgemeinen Nützlichkeit zu verstecken; sie kann nicht das Leben der Bevorzugten beschützen, ohne dass sie sich den Anschein gibt, das Leben Aller beschützen zu wollen; sie kann nicht den Vorrechten Einzelner Geltung verschaffen, ohne Miene zu machen, das Recht aller Menschen aufrecht zu erhalten. „Das Gesetz“ sagt Kropotkin – das heißt diejenigen. Welche die Gesetze machen, nämlich die Regierung – „das Gesetz hat von den gesellschaftlichen Gefühlen des Menschen Gebrauch gemacht, um mit den allgemein anerkannten moralischen Vorschriften eine Gesellschaftsordnung durchzusetzen, welche der kleinen Anzahl von Ausbeutern nützlich ist, gegen welche die Menschheit sich sonst empört hätte.“ | Keine Regierung kann lange bestehen, ohne ihre wahre Natur unter dem Vorwand der allgemeinen Nützlichkeit zu verstecken; sie kann nicht das Leben der Bevorzugten beschützen, ohne dass sie sich den Anschein gibt, das Leben Aller beschützen zu wollen; sie kann nicht den Vorrechten Einzelner Geltung verschaffen, ohne Miene zu machen, das Recht aller Menschen aufrecht zu erhalten. „Das Gesetz“ sagt Kropotkin – das heißt diejenigen. Welche die Gesetze machen, nämlich die Regierung – „das Gesetz hat von den gesellschaftlichen Gefühlen des Menschen Gebrauch gemacht, um mit den allgemein anerkannten moralischen Vorschriften eine Gesellschaftsordnung durchzusetzen, welche der kleinen Anzahl von Ausbeutern nützlich ist, gegen welche die Menschheit sich sonst empört hätte.“ | ||
Eine Regierung kann nicht wollen, dass die Gesellschaft sich auflöst, denn dann würden ja sie und die herrschende Klasse keine Menschen mehr finden, die sie ausbeuten können. Sie kann auch nicht zugeben, dass die Gesellschaft sich selbst regiert, ohne offizielle Eingriffe, denn dann würde das Volk sehr bald merken, dass die Regierung zu gar nichts nötig ist – außer dazu, um die Besitzenden, die das Volk aushungern, zu beschützen – und es würde anfangen, sich von der Regierung und den Besitzenden zu befreien. | Eine Regierung kann nicht wollen, dass die Gesellschaft sich auflöst, denn dann würden ja sie und die herrschende Klasse keine Menschen mehr finden, die sie ausbeuten können. Sie kann auch nicht zugeben, dass die Gesellschaft sich selbst regiert, ohne offizielle Eingriffe, denn dann würde das Volk sehr bald merken, dass die Regierung zu gar nichts nötig ist – außer dazu, um die Besitzenden, die das Volk aushungern, zu beschützen – und es würde anfangen, sich von der Regierung und den Besitzenden zu befreien. | ||
+ | Heutzutage, wo die Forderungen des Proletariats immer dringender und drohender werden, zeigen die Regierenden die Absicht, sich in das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitern zu mischen. Sie versuchen auf diese Art, die Arbeiterbewegung auf falsche Bahnen zu lenken, und durch einige irreführende Reformen zu verhüten, dass die Armen sich selbst alles dies erkämpfen, was sie nötig haben, nämlich eben soviel Wohlstand als die anderen Menschen genießen. | ||
+ | Außerdem muss man in Betracht ziehen, dass die Bourgeoisie, also die Besitzenden, selber immerfort daran sind, einander gegenseitig zu bekämpfen und zu vernichten; und dass andererseits die moderne Regierung, obgleich sie der Sprössling, der Sklave und der Beschützer der Bourgeoisie ist, sich doch immer, wie jeder Sklave, zu befreien sucht und, wie jeder Beschützer, danach strebt, ihren Schützling zu beherrschen. Daher dieses Hin- und Herschwanken, diese Winkelzüge, dieses Gewähren und Zurücknehmen von Vergünstigungen, dieses Suchen nach Verbündeten im Volke gegen die Konservativen, dieses ganze Spiel, das die Wissenschaft der Regierenden ausmacht und welches den Leichtgläubigen und Faulen, die ihr Wohl immer von Oben erwarten, Sand in die Augen streut. | ||
+ | Mit all dem ändert die Regierung ihre Natur nicht. Wenn sie die Regelung und Aufrechterhaltung der Rechte und Pflichten eines jeden übernimmt, so verdreht sie das Gerechtigkeitsgefühl der Menschen. Jede Tat, welche die Vorrechte der Regierenden und Besitzenden verletzt oder gefährdet, bezeichnet sie als „Verbrechen“ und bestraft dieselbe; die unbarmherzige Ausbeutung der Elenden, das fortwährende langsame, seelische und körperliche Hinmorden der Besitzlosen durch die Besitzenden erklärt sie für „gerecht“ und „gesetzlich“. | ||
+ | Wenn sie die Leitung der öffentlichen Dienstleistungen in die Hand nimmt – also eine Art Staatssozialismus – so hat sie wiederum nur die Interessen der Regierenden und Besitzenden im Auge. Sie kümmert sich nur insoweit um die Interessen des arbeitenden Volkes, soweit es notwendig ist, damit das Volk willig seine Steuern zahlt. Wenn sie Schulen gründet und erhält, so tut sie dies auch nur darum, um die Verbreitung der unabhängig gelehrten Wahrheit zu verhindern und den Geist der jungen Leute so zu erziehen, dass sie zu müßigen Tyrannen und gehorsamen Sklaven heranwachsen – je nach Klasse, aus der sie stammen. In der Hand der Regierung wird alles zu einem Werkzeug der Ausbeutung, alles wird zu einer Polizei-Institution, um das Volk in Fesseln zu halten. | ||
+ | Es kann nicht anders sein. Wenn das menschliche Leben ein Kampf zwischen den Menschen | ||
+ | ist, so gibt es natürlich Sieger und Besiegte und die Regierung – welche der Preis des Kampfes ist, oder als Mittel dient, um den Siegern die Früchte des Sieges zu sichern und zu erhalten – wird selbstverständlich nie in den Händen der Besiegten sein, ob nun der Kampf durch körperliche oder geistige Kraft oder auf wissenschaftlichem Felde gefochten wird. Diejenigen, die gekämpft hatten, um zu siegen, um sich die besten Verhältnisse, die Vorrechte, die Herrschaft und die Macht zu erobern, werden den erfochtenen Sieg gewiss nicht dazu benützen, um das Recht der Besiegten zu beschützen oder um ihrem eigenen Willen – oder dem Willen ihrer Freunde und Verbündeten – Schranken zu setzen. | ||
+ | Die Regierung, oder wie man sie nennt, der „Staat“, ist als Vollstrecker der Gerechtigkeit, als Milderer der gesellschaftlichen Streitigkeiten, als unparteiischer Verwalter der Interessen Aller eine Täuschung, ein Trugbild, eine nie verwirklichte und nie zu verwirklichende Utopie. | ||
+ | Wenn die Interessen der Menschen mit einander im Gegensatz stünden, wenn der Kampf zwischen den Menschen ein notwendiges Gesetz der menschlichen Gesellschaft wäre, wenn die Freiheit von Einigen der Freiheit der Anderen eine Grenze setzen würde; dann würde ein jeder immer danach trachten, seine eigenen Interessen über die Interessen der anderen zum Siege zu verhelfen; ein jeder würde seine Freiheit auf Kosten der Freiheit anderer vergrößern wollen. Wenn es eine Regierung geben müsste, nicht weil dieselbe mehr oder weniger allen Mitgliedern einer Gesellschaft nützlich ist, sondern weil die Sieger sich die Früchte ihres Sieges sichern wollen, indem sie die Besiegten sich fest unterwerfen und um sich nicht immerfort zur Verteidigung bereit halten zu müssen, eigens zum Polizeidienst abgerichtete Menschen mit ihrer Verteidigung betrauen – dann wäre die Menschheit dem Untergang geweiht, oder sie wäre dazu verdammt, sich immerfort zwischen der Tyrannei der Sieger und den Empörungen der Besiegten herumzuschlagen. | ||
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+ | Glücklicherweise ist die Zukunft der Menschheit glückverheissender, denn dieselbe wird durch ein sanfteres Prinzip geleitet: | ||
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+ | Dieses wahrhaft menschliche und gesellschaftliche Prinzip ist die Solidarität. | ||
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+ | Die notwendigen Grundeigenschaften des Menschen sind erstens das Streben nach der Erhaltung seines Lebens, ohne welches nichts Lebendes bestehen würde; und zweitens das Streben nach der Ernährung seiner Art, ohne welche keine Art sich entwickeln oder erhalten könnte. Der Mensch strebt natürlicherweise danach, sein eigenes Leben, sowie jenes seiner Nachkommenschaft gegen Alle und Alles zu verteidigen. | ||
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+ | Die lebenden Wesen haben in der Natur zwei Methoden, um ihr Leben sicherer und angenehmer zu gestalten. Einerseits den Kampf der einzelnen Individuen gegen die Elemente und auch gegen die anderen Individuen derselben Art oder einer anderen Art; andererseits die gegenseitige Hilfe, das Zusammenwirken, welches wir die „Vereinigung zum Kampfe“ nennen können, gegen alle Naturgewalten, die das Dasein, die Entwicklung und das Wohlbefinden der vereinigten Lebewesen gefährden. | ||
+ | In diesen kurzen Zeilen können wir die Rolle dieser zwei Grundprinzipien in der Entwicklung des Lebens, des Kampfes und des Zusammenwirkens und ihr Verhältnis zu einander nicht ausführlicher behandeln. | ||
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+ | Es genügt, festzustellen, daß in der Menschheit das – freiwillige oder unfreiwillige – Zusammenwirken das einzige Mittel für den Fortschritt, zur Vervollkommung, zur Sicherheit geworden ist; der Kampf hingegen – als ein Überbleibsel der Urzeiten – ist ganz unfähig, das Wohlsein der Menschen zu fördern, im Gegenteil, der Kampf bringt den Siegern wie Besiegten nur Schaden. | ||
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+ | Die Erfahrung, welche die aufeinander folgenden Menschengeschlechter erworben und einander überliefert haben, haben dem Menschen gezeigt, dass wenn er sich mit anderen Menschen vereinigt, sein Bestehen gesichert, seine Wohlfahrt größer ist. So hat sich aus dem Kampf ums Dasein, welchen die Menschen gegen die Unbilden der Natur und die eigenen Artgenossen führen mussten, der Gesellschaftstrieb entwickelt, der die Daseinsbedingungen der Menschen vollkommen verändert hat. Durch diesen Trieb konnte sich der Mensch aus dem tierischen Zustand emporarbeiten, eine große Macht über die Natur erhalten und sich so hoch über die übrigen Tiere erheben, dass die spiritualistischen Philosophen es für nötig fanden, eine übernatürliche und unsterbliche Seele für ihn zu erfinden. | ||
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+ | Viele Ursachen haben bei der Bildung dieses Gesellschaftstriebes mitgewirkt. Derselbe hat seinen Ursprung in dem Bestreben aller Lebewesen, ihre Art zu erhalten – welches Bestreben nichts anderes ist, als wie der auf die natürliche Familie beschränkte Gesellschaftstrieb -und er hat sich in solch einer Höhe und Stärke entwickelt, das er von nun an an die eigentliche Grundlage der moralischen Natur des Menschen bildet. | ||
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+ | Als der Mensch sich aus den niedriger stehenden Tierarten entwickelte, war er zu schwach und wehrlos, um einzeln den Kampf mit den Raubtieren aufnehmen zu können. Aber er hatte ein Gehirn, das einer großen Entwicklung fähig war, ein Stimmorgan (Kehle und Zunge), das fähig war, die verschiedenen Regungen dieses Gehirns durch verschiedene Laute auszudrücken; Hände, mit denen er Stein und Holz und andere Stoffe nach seinem Willen formen konnte – und so erkannte er gar bald die Notwendigkeit und die Vorteile der Vereinigung. Man kann sogar sagen, daß er erst dann anfing, Mensch zu sein, als er sich in Gesellschaften vereinigte, und den Gebrauch der Sprache erlangt hatte, die zugleich eine wichtige Errungenschaft und ein mächtiger Förderer der gesellschaftlichen Gefühle ist. | ||
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+ | Da im Anfang die Anzahl der Menschen verhältnismäßig gering war, so war der Kampf ums Dasein zwischen Mensch und Mensch weniger erbittert, nicht so ununterbrochen, sogar weniger notwendig, was jedenfalls sehr viel zur Entwicklung der freundschaftlichen Gefühle beitrug und die Erkenntnis und Würdigung der gegenseitigen Hilfe ermöglichte. | ||
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+ | Der Mensch kann durch die Anwendung seiner ursprünglichen Fähigkeiten, im Zusammenwirken mit mehr oder weniger seiner Genossen die Verhältnisse,in denen er lebt, verändern und sie seinen eigenen Bedürfnissen anpassen. Seine Begierden vermehren sich und wachsen in dem Maße, als es ihm leichter wird, dieselben zu befriedigen; sie werden schließlich zu Bedürfnissen. Die Arbeitsteilung entsteht als Folge der methodischen Ausnützung der Naturkräfte zu Gunsten des Menschen. Und durch all dies wird das gesellschaftliche Leben zur notwendigen Bedingung des menschlichen Daseins, ohne daß der Mensch in die Tierheit zurückfallen würde. | ||
+ | Durch die Verfeinerung des Gefühls in Folge der häufigen Beziehungen unter den Menschen und durch die Gewohnheit, die sich während der Jahrtausende vererbt hat, ist dieses Bedürfnis nach gesellschaftlichem Leben, nach Austausch der Gedanken und Gefühle unter den Menschen zu einem notwendigen Teil des menschlichen Daseins geworden. Es hat sich in Zuneigung, in Freundschaft, in Liebe verwandelt, und besteht unabhängig von den materiellen Vorteilen, die die Vereinigung bietet, so weit das, um es zu befriedigen, man Leiden aller Art und sogar dem Tod entgegen tritt. | ||
+ | Die Vereinigung bringt dem Menschen riesige Vorteile. Wenn er vereinzelt bleibt, ist er trotz seiner geistigen Überlegenheit viel schwächer als die übrigen Tiere; aber er besitzt die Möglichkeit, sich mit immer mehr und anderen Menschen zu vereinigen, immerfort engere und verwickeltere Beziehungen mit ihnen anzuknüpfen, so das sich schließlich die Vereinigung über die ganze Menschheit, über alles, was lebt, ausbreiten kann; er ist fähig, durch vereinte, gemeinsame Arbeit mit anderen mehr hervorzubringen, als er zum Leben braucht. Und aus alledem haben sich endlich die Gefühle der Zuneigung entwickelt. Darum ist der "Kampf ums Dasein" bei den Menschen vollkommen verschieden von dem, welcher bei den anderen Tieren besteht. | ||
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+ | Wie dem auch sei, so weiß man heute noch – und die Naturforscher der Neuzeit bringen uns immer neue Beweise dafür -, das das Zusammenwirken in der Entwicklung der lebenden Welt eine sehr wichtige Rolle gespielt hat und noch spielt, welche nicht geahnt wird von denen, die – sehr unrichtiger weise – die Macht der Bourgeoisie durch die Entwicklungstheorie Darwins rechtfertigen wollten. Der Unterschied zwischen dem menschlichen und dem tierischen Kampf ist ebenso groß wie zwischen dem Menschen und den übrigen Tieren. | ||
+ | Die übrigen Tiere kämpfen entweder einzeln, oder in den meisten Fällen in kleinen, zeitweiligen oder beständigen Gruppen gegen die ganze Natur, einschließlich ihrer eigenen Artgenossen. Sogar bei den geselligsten Tieren, wie z.B.die Ameisen, Bienen usw.sind die Individuen nur innerhalb derselben Gruppe – desselben Ameisenhaufens oder Bienenstockes – solidarisch miteinander, aber sie sind gleichgültig (wenn nicht feindlich) gegen die anderen Gruppen ihrer Art. Der menschliche Kampf hat hingegen im Gegenteil das Bestreben, die Vereinigung der Menschen immer mehr auszubreiten, ihre Interessen solidarisch zu machen, das Gefühl der Liebe für alle Menschen in einem jeden Menschen zu entwickeln, die Naturkräfte durch die Menschheit und für die Menschheit zu besiegen und zu beherrschen. Jeder unmittelbare Kampf, welcher den Zweck hat,unabhängig von anderen Menschen oder gegen dieselben, für einen Menschen Vorteile zu erringen, widerspricht der gesellschaftlichen Natur des heutigen Menschen und zieht ihn zum tierischen Zustand hinab. | ||
Revision as of 14:53, 30 June 2011
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Anarchie ist ein griechisches Wort und bedeutet: Ohne Herrschaft. Es bezeichnet also den Zustand, in welchem ein Volk ohne festgesetzte Obrigkeit, ohne Regierung seine Angelegenheiten selbst besorgt. Ehe denkende Menschen diesen Zustand als möglich und wünschenswert erkannt haben, ehe derselbe das Ziel einer Bewegung wurde, die seitdem einer der wichtigsten Faktoren im sozialen Kampfe ist, faßte man das Wort »Anarchie« allgemein als Unordnung, Konfusion auf; und es wird noch heute so aufgefaßt von den unwissenden Massen, und von unseren Gegnern, in deren Interesse es liegt, die Wahrheit zu verheimlichen. Wir wollen hier nicht in das Gebiet der Sprach¬wissenschaft abschweifen, denn die Frage ist keine sprachwissenschaftliche, sondern eine geschichtliche. — Die allgemein angenommene Bedeutung des Wortes faßt den wirklichen, sprachlich begründeten Sinn desselben ganz richtig auf; das Mißverständnis entsteht aus dem Vorurteile, daß die Regierung, die Herrschaft notwendig zum Bestehen des gesellschaftlichen Lebens ist, und daß infolge dessen eine Gesellschaft ohne
Herrschaft der Unordnung anheimfallen muß, und zwischen der Allgewalt der Einen und der blinden Rache der anderen hin und herschwanken wird. Es ist leicht erklärlich, wie dieses Vorurteil entstanden ist, und wie dasselbe die Bedeutung des Wortes Anarchie in der Auffassung der Massen beeinflußt hat.
Wie alle Tiere, paßt sich der Mensch an und gewöhnt sich an die Verhältnisse, in denen er lebt; und die angenommenen Gewohnheiten vererbt er auf seine Nachkommen.
Der Mensch, der in Sklaverei geboren und aufgewachsen ist, und von einer langen Reihe von Sklaven abstammt, glaubte, als er anfing zu denken, daß die Sklaverei ein unvermeidlicher Zustand des Lebens sei; die Freiheit erschien ihm unmöglich. So geht es auch dem Arbeiter; seit Jahrhunderten ist er gezwungen, die Arbeit, das heißt das Brot, von der Laune eines Herrn zu erwarten; er ist daran gewöhnt, daß er fortwährend von der Gnade dessen abhängt, der den Boden und das Kapital besitzt; und am Ende glaubt er, daß es der Arbeitgeber ist, der ihm zu essen gibt. In seiner Leichtgläubigkeit sagt er: »Wie würde ich denn leben können, wenn es keine Herren gäbe.'«
So würde es einem Menschen ergehen, dessen Füße seit seiner Geburt gefesselt wären, aber so, daß er doch ein wenig gehen könnte; er würde vielleicht sagen, daß er sich darum bewegen kann, weil er Fesseln anhat, obgleich im Gegenteil die Fesseln ihn am. freien Bewegen hindern.
Außer der Macht der Gewohnheit müssen wir noch die Erziehung der Arbeiter durch die Arbeitgeber, die Priester, die Lehrer erwähnen, die alle ein Interesse daran haben, die Notwendigkeit der Obrigkeit und der Herren zu predigen; wir müssen den Einfluss der Richter und Polizisten in Betracht ziehen, die bestrebt sind, jeden, der anders denkt wie sie, und seine Gedanken verbreiten will, zum Schweigen zu bringen. Dann ist es leicht verständlich, wie in den ungebildeten Köpfen der Massen das Vorurteil über die Nützlichkeit und Notwendigkeit der Arbeitgeber und der Regierung Wurzel gefasst hat. –
Denken wir uns, dass dem Menschen mit gefesselten Füssen, den wir erwähnt haben, der Arzt eine ganze Theorie entwickelt und tausend geschickt erfundene Beispiele erzählt, um ihn zu überzeugen, dass er mit freien Füssen weder gehen noch leben könnte, so würde dieser Mensch wütend seine Fesseln verteidigen und jeden als Feind betrachten, der dieselben zerschneiden wollte. Es ist also natürlich, dass, wenn man die Regierung für notwendig hält, und zugibt, dass ohne Obrigkeit alles nur Unordnung und Verwirrung wäre, das Wort Anarchie, das die Abwesenheit jeder Regierung bedeutet, auch das Fehlen der Ordnung bedeuten wird.
Ändert die Ansichten, überzeugt die Massen, dass die Institution der Regierung nicht nur nicht notwendig, sondern äußerst gefährlich und schädlich ist für das soziale Leben, und dann bedeutet das Wort Anarchie, gerade weil es das Nichtvorhandensein einer Regierung ausdrückt, für alle Menschen die natürliche Ordnung, Harmonie der Bedürfnisse und Interessen von Allen, vollkommene Freiheit und vollkommene Solidarität. Es ist unrichtig zu sagen, dass die Anarchisten ihren Namen schlecht gewählt haben, weil die Massen diesen Namen missverstehen und falsch auslegen. Der Irrtum kommt nicht vom Wort, sondern von der Sache, und die Schwierigkeiten, mit denen die Anarchisten bei ihrer Propaganda zu kämpfen haben, ist nicht die Folge ihres Namens, den sie sich beilegen, sondern die Tatsache, dass unsere Anschauungen alle von Alters hergebrachten Vorurteile verletzen, die das Volk über die Tätigkeit der Regierung oder, wie man gewöhnlich sagt, des Staates, hegt.
Ehe wir fortfahren, müssen wir die Bedeutung dieses Wortes, der Staat, recht klar machen, denn aus der falschen Auffassung desselben entstehen viele Missverständnisse.
Die Anarchisten gebrauchen das Wort Staat, um die Gesamtheit aller politischen, gesetzgeberischen, gerichtlichen, militärischen Institutionen zu bezeichnen, durch die dem Volke die Führung seiner eigenen Angelegenheiten, die Bestimmung seiner eigenen Handlungen, die Sorge um seine eigenen Wohlfahrt entzogen wird, um dieselben einigen Menschen zu übertragen, welche durch Gewaltsanmassung oder die Wahl des Volkes das Recht erhalten, Gesetze über alles und für Alle zu machen, sich zu diesem Zwecke der Kraft des ganzen Volkes bedienen.
In diesem Falle bedeutet das Wort Staat die Regierung oder das Prinzip der Herrschaft, dessen Ausdruck die Regierung ist. Aufhebung des Staates, Gesellschaft ohne Staat, bezeichnet also genau das, was die Anarchisten anstreben. Wenn sie eine jede, auf das Herrschen gegründete politische Organisation bekämpfen und eine Gesellschaft von freien und gleichberechtigten Menschen gründen wollen, die aufgebaut ist auf die Harmonie der Interessen und dem freiwilligen Zusammenwirken Aller für die Befriedigung der gesellschaftlichen Bedürfnisse.
Aber das Wort Staat wird auch noch in manch anderem Sinne gebraucht, von denen einige Missverständnisse hervorrufen können, besonders wenn man mit Leuten zu tun hat, die leider nicht Gelegenheit hatten, sich an die feineren Unterscheidungen der wissenschaftlichen Sprache zu gewöhnen, oder – was schlimmer ist – wenn es sich um solche Gegner handelt, die ein Interesse daran haben, unsere Ansichten zu verdrehen und nicht verstehen zu wollen.
Man gebraucht z.B. das Wort Staat, um eine Gesellschaft, eine Gesamtheit von Menschen zu bezeichnen, die innerhalb der Grenzen eines bestimmten Landes wohnt; oder man gebraucht es einfach als gleichbedeutend mit Gesellschaft überhaupt. Darum glauben unsere Gegner – oder geben vor, es zu glauben – dass die Anarchisten alle gesellschaftlichen Verbindungen, jede gemeinschaftliche Arbeit abschaffen wollen und bestrebt sind, die Menschen von einander abzusondern, das heißt, sie auf eine tiefere Stufe herab ziehen zu wollen, als jene der niedrigst stehenden Wilden es ist.
Unter Staat versteht man auch die oberste Verwaltung eines Landes, die zentrale Regierung im Gegensatz zur provinzialen oder kommunalen Verwaltung; und darum glauben andere, dass die Anarchisten einfach eine Dezentralisation der Landesteile wollen, das Prinzip der Herrschaft, der Regierung aber nicht bekämpfen. Sie verwechseln den Anarchismus mit der Autonomie und nationalen Unabhängigkeit der einzelnen Landesteile.
Darum glauben wir, dass es besser ist, von der vollständigen Entfernung der Regierungen zu sprechen. Wir haben schon gesagt, dass Anarchie eine Gesellschaft ohne Regierung ist. Aber ist die Entfernung der Regierungen möglich? Ist sie wünschenswert? Und ist sie vorauszusehen? Untersuchen wir es.
Was ist die Regierung? Viele sehen in der Regierung ein moralisches Prinzip, das gewisse Eigenschaften: Weisheit, Gerechtigkeit, Unparteilichkeit besitzt, unabhängig von den Personen, die an der Regierung sind. Für diese ist die Regierung, oder besser gesagt, der Staat, die abstrakte gesellschaftliche Macht. Er repräsentiert die allgemeinen Interessen; er ist der Ausdruck von Rechte Aller, der als die Grenze der Rechte eines jeden Einzelnen aufgefasst wird. Diese Auffassung über die Regierung wird von den Regierenden selbst unterstützt, für die es wichtig ist, das Prinzip der Herrschaft zu retten, und dasselbe über die Fehler und Irrtümer der einander folgenden Machthaber zu erheben.
Für uns ist die Regierung die Gesamtheit der Regierenden; und die Regierenden, Monarchen, Präsidenten, Minister, Abgeordnete usw. sind diejenigen, die die Macht haben, Gesetze zu schaffen, um die Beziehungen der Menschen zu einander zu regeln, und die Macht haben, diese Gesetze vollziehen zu lassen; z.B: Steuern auszuwerfen und einzutreiben; die Menschen zum Militärdienst zu zwingen; diejenigen, die gegen die Gesetze handeln, zu verurteilen und zu bestrafen; die privaten Vereinbarungen zu überwachen und gut zu heißen; einzelne Zweige der Produktion und alle öffentlichen Dienstleistungen zu monopolisieren (z.B. Tabak, Salz; Eisenbahnen, Post und Telegraf usw.). oder wenn sie wollen, die ganze Produktion und alle öffentlichen Dienste zu verstaatlichen, in die Hand zu nehmen; den Austausch der Produkte (den Handel) zu fördern oder zu beschränken; mit den Regierungen anderer Länder Krieg anfangen oder Frieden zu schließen; dem Volke das Wahlrecht gewähren oder zu entziehen – und dergleichen Dinge mehr. Die Regierenden sind also, mit einem Wort, diejenigen Menschen, die mehr oder weniger die Macht haben, die Kräfte der Gesellschaft, d.h. die körperlichen, geistigen und wirtschaftlichen Kräfte aller anderen Menschen in ihre Dienste zu zwingen. In dieser Macht besteht das Prinzip der Regierung, das Prinzip der Herrschaft.
Was ist der Zweck der Regierung? Warum sollen wir zu Gunsten einiger Menschen unsere eigene Freiheit, unsere eigene Initiative aufgeben? Warum müssen wir ihnen die Möglichkeit geben, sich – mit oder ohne Willen der übrigen Menschen – der Kraft aller Anderen zu bemächtigen und über dieselbe nach eigenem Gutdünken zu verfügen? Sind sie denn so außergewöhnlich begabt, das sie, mit einigem Rechte, sich an die Stelle des ganzen Volkes setzen, und für die Interessen der übrigen Menschen besser sorgen könnten? Sind sie unfehlbar und moralisch nicht zu verderben, so das man vernünftigerweise das Los eines Jeden ihrer Güte anvertrauen kann?
Und wenn es auch solche allwissende und unendlich gute Menschen gäbe, wenn auch die Regierung in den Händen der Fähigsten und Besten wäre(eine Annahme, die die Geschichte nie bestätigt hat und, so glauben wir, nie bestätigen kann) -auch dann würde der Besitz der Herrschaft ihre wohltätige Macht nicht vermehren. Im Gegenteil, er würde dieselbe lahmlegen und zerstören, denn die Herrschenden wären gezwungen, sich mit allerlei Sachen zu befassen, die sie nicht verstehen; und den besten Teil ihrer Kraft müssten sie darauf verschwenden, um sich an der Regierung zu erhalten, um ihre Freunde zu befriedigen, die Unzufriedenheit im Zaume zu halten und die Rebellen zu vernichten.
-Übrigens, was sind die Regierungen, seien sie gut oder schlecht, weise oder unwissend? Wer stellt sie an ihren hohen Posten? Drängen sie sich selbst auf durch das Recht des Krieges, der Eroberung, der Revolution? Aber welche Garantie hat dann das Volk, dass sie wirklich das allgemeine Wohl im Auge haben? Es ist einfach die Frage, wer der Stärkere ist; und wenn die Untertanen mit ihrer Regierung nicht zufrieden sind, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich an die eigene Kraft zu wenden, um sich vom Joche zu befreien. Wird die Regierung durch eine Klasse, eine Partei bestimmt? Dann sind es ja doch nur die Interessen und Ideen dieser Klasse, die siegen werden, und die Interessen der übrigen Menschen werden denen geopfert. Oder endlich: wird die Regierung durch das allgemeine Wahlrecht erwähnt? Dann ist das einzig Ausschlaggebende die Zahl der Wähler, und diese beweist doch keineswegs die Gerechtigkeit, die Weisheit, die Fähigkeiten der Erwählten. Diejenigen werden oftmals gewählt werden, die das Volk am besten betrügen können, und die Minorität, die möglicherweise die Hälfte der Wähler ausmacht – einen einzigen Menschen abgerechnet – die wird geopfert. Dazu kommt noch, dass man bisher kein Wahlsystem hat finden können, durch das gesichert wäre, dass die Gewählten wenigstens wirklich die Mehrzahl der Wähler verträten.
Es gibt viele verschiedene Theorien, mit welchen man das Dasein der Regierung zu erklären und zu rechtfertigen sucht. Im Grunde genommen sind alle auf der – eingestandenen oder nicht eingestandenen – Voraussetzung aufgebaut, dass die Interessen der verschiedenen Menschen einander entgegengesetzt sind und dass eine äußere, oberste Gewalt notwendig ist, um die Einen zu zwingen, die Rechte der Anderen zu achten, und um für sie alle solchen Regeln aufzustellen, die, so weit es geht, die sich bekämpfenden Interessen versöhnen, und jedem so viel Befriedigung und so wenig Nachteil bringen wie möglich. Die Verteidiger der Herrschaft sprechen folgendermaßen: „ Wenn die Interessen, die Bestrebungen, die Wünsche eines Menschen im Gegensatz zu jenen eines anderen Menschen oder der ganzen Gesellschaft stehen, wer wird dann das Recht und die Macht haben, den Einen zu zwingen, die Interessen des Anderen zu achten? Wer könnte es verhüten, dass ein Mensch den allgemeinen Willen verletzt? Die Freiheit eines jeden – so sagen sie – ist begrenzt durch die Freiheit der übrigen Menschen; aber wer wird diese Grenzen festsetzen und beschützen? Die natürlichen Gegensätze der Interessen und Leidenschaften machen die Regierung notwendig und rechtfertigen die Herrschaft, die den gesellschaftlichen Kampf milder und in einem jeden die Grenzen seiner Rechte und Pflichten anweist.“
Das ist die Theorie. Aber die Theorien müssen sich, um wahr zu sein, auf den Tatsachen aufbauen und dieselben erklären können; und man weiß, dass besonders in den sozialen Fragen die Theorien meistens dazu erfunden werden, um die Vorrechte der Herrschenden zu verteidigen und die Unterdrückten zur geduldigen Ertragung dieser Bedrückung zu zwingen.
Sehen wir also lieber die Tatsachen an.
In der ganzen Geschichte der Menschheit, eben so wie heute, ist die Regierung entweder die gewaltsame, brutale, willkürliche Herrschaft einiger Menschen über die Masse des Volkes oder sie ist ein Werkzeug, um die Macht und die Vorrechte derer zu bewahren, die durch Kraft, List oder Erbschaft alles, was zum Leben notwendig ist – besonders den Grund und Boden – in ihre eigenen Hände gebracht haben und durch diesen Reichtum das Volk in Knechtschaft halten und für sich arbeiten lassen.
Man unterjocht die Menschen auf zweierlei Art; entweder unmittelbar durch die rohe Kraft, die körperliche Gewalt; oder auf Umwegen, indem man ihnen alles wegnimmt, was sie zum Leben brauchen und sie so zur Ohnmacht verdammt. Die erste Art ist der Ursprung der Regierung, der politischen Macht überhaupt; die andere Art ist der Ursprung des Reichtums, der wirtschaftlichen Vorrechte. Es gibt zwar noch eine dritte Art, um die Menschen zu bedrücken; nämlich indem man ihren Verstand und ihre Gefühle unterdrückt. Das ist die religiöse, die priesterliche Herrschaft. Aber so wie der so genannte „Geist“ ein Ergebnis der materiellen Kräfte ist, so ist die Lüge, und die Institutionen, die den Zweck haben, die Lüge zu verbreiten, nur eine Folge der wirtschaftlichen Vorrechte, und ihr Zweck ist nur, diese Vorrechte zu schützen und zu befestigen. In den ursprünglichen Gesellschaftsgruppen, die nur aus wenigen Menschen bestehen, und wo die Beziehungen der Mitglieder zu einander einfach sind, sind die beiden Gewalten, die politische und die wirtschaftliche, in denselben Händen, oft in der Hand eines einzigen Menschen, vereinigt. Dieses ist der Fall, wenn irgendein Umstand die Entwicklung von Solidarität, der gegenseitigen Hilfe verhindert oder zerstört hat, und infolgedessen die Herrschaft des Menschen über den Menschen zustande gekommen ist. – In diesen Gesellschaften haben die Herrschenden durch ihre Kraft die übrigen Menschen besiegt und eingeschüchtert: und so verfügen sie über Personen und die Besitztümer der Besiegten, zwingen dieselben, ihnen zu dienen, für sie zu arbeiten und in allem den Willen zu tun. Sie sind Besitzer, Gesetzgeber, Könige, Richter und Henker in einem. –
Aber dieser Despotismus wird unmöglich, sobald die Gesellschaft größer wird, die Bedürfnisse sich vermehren und die Beziehungen der Menschen zueinander verwickelter werden. Entweder müssen die Herrschenden, um ihre Macht zu sichern, oder aus Bequemlichkeit oder weil sie nicht anders können, sich auf eine bevorzugte Klasse stützen – das heißt, auf eine Gruppe von Menschen, die dieselben Interessen haben wie sie - ; oder sie müssen dulden, dass ein jeder sein Leben so einrichtet, wie er kann; und sie behalten nur die Oberaufsicht für sich, das heißt, das Recht, einen jeden so weit wie möglich auszubeuten und die Befriedigung ihrer Eitelkeit des Kommandierens. So wächst unter dem Schutze der Regierung, mit ihrer Mithilfe – und oft ohne dass sie etwas darüber weiß – das Privateigentum, die besitzende Klasse empor. Mit der Zeit vereinigt diese in ihren Händen die Produktionsmittel (Boden, Maschinen, Werkzeuge usw.), die wahren Quellen des Lebens: Landwirtschaft, Industrie, Handel etc. Sie bildet schließlich eine Macht, der es, durch die vielfachen Interessen die dieselbe umfasst, schließlich immer gelingt, die politische Macht, mehr oder weniger offenkundig zu ihren Diensten zu zwingen und aus der Regierung einen Gendarm der besitzenden Klasse zu machen. Diese Erscheinung hat sich mehrmals in der Geschichte wiederholt. Ein jedes Mal, wenn durch eine Eroberung oder ein kriegerisches Unternehmen die rohe Gewalt in der Gesellschaft gesiegt hat, haben die Sieger versucht, in ihren Händen die Regierung und den Besitz zu vereinigen. Aber die Regierung musste sich immer wieder mit der herrschenden Klasse ins Einvernehmen setzen; sie war nicht im Stande, die ausgedehntere Produktion zu überwachen und zu leiten; und so entwickelte sich wieder das Privateigentum, die zwei Gewalten (politische und wirtschaftliche) trennten sich von einander, und die Machthaber, die Regierenden, wurden abhängig von denen, die die Quelle der Macht, den Reichtum besitzen. Die Regierung wird immer, unvermeidlich, zum Wächter des Eigentums.
Aber diese Erscheinung ist nie so stark zu Tage getreten wie heutzutage. Die Steigerung der Produktionsfähigkeit, der riesige Aufschwung des Handels, die unverhältnismäßig große Macht des Geldes, und die ganze wirtschaftliche Entwicklung, die durch die Entdeckung Amerikas, die Erfindung der Maschinen etc. entstanden ist --- all das hat die kapitalistische Klasse so mächtig gemacht, dass sie sich nicht mit der Unterstützung begnügt, die die Regierungen ihr bietet; sie will, dass die Regierung aus ihren eigenen Reihen hervorgehen soll. Eine Regierung, die im Recht der der Eroberung ihren Platz hatte ( im“göttlichen Recht“ sagen die Könige und Priester) benimmt sich – wenn auch die Umstände sie zum Diener der kapitalistischen Klasse gemacht hatten – doch immer hochmütig und verächtlich gegen ihre früheren reich gewordenen Sklaven, und gegen ihre Gelüste nach Freiheit und Macht. Diese Regierungen waren wohl die Verteidiger, die Gendarmen der Besitzenden, aber sie waren von der Art Gendarmen, die eine hohe Meinung von sich haben und sich frech gegen die Leute benehmen, die sie begleiten und beschützen müssen – wenn sie dieselben nicht an einer einsamen Stelle des Weges umbringen und berauben. Die kapitalistische Klasse ist immer bestrebt, sich von diesem „Schutz“ freizumachen und durch mehr oder weniger gewalttätige Mittel ist es ihr (in den „konstitutionellen Staaten“) gelungen, an Stelle dieser Regierung eine Regierung zu setzen, die sich selbst wählt, die aus ihren eigenen Mitgliedern besteht, über die sie eine fortwährende Aufsicht ausübt, und die eigens dafür organisiert ist, um die Besitzenden, die Reichen gegen die Forderungen der Enterbten, der Armen zu schützen.
Dieses ist der Ursprung des heutigen Parlamentarismus.
Die Regierung besteht heute vollständig aus Besitzenden und aus solchen Leuten, die ihnen dienen; und darum steht sie vollkommen zu Diensten der Besitzenden; so sehr, dass die Allerreichsten unter ihnen sich nicht einmal die Mühe nehmen, selbst an der Regierung teilzunehmen. Ein Rothschild hat es nicht nötig, Abgeordneter oder Minister zu sein; es genügt ihm, dass die Abgeordneten und Minister ihm zur Verfügung stehen. In manchen Ländern hat das Proletariat, dem Namen nach, das Recht, mehr oder weniger an der Wahl der Regierung mitzuwirken. Es ist dies ein Zugeständnis der Bourgeoisie an das Volk; entweder um seine Hilfe im Kampf gegen die Macht des Königtums oder der Aristokratie zu erkaufen; oder um die Gedanken der Unterdrückten von ihrer tatsächlichen Befreiung abzuwenden, indem sie ihnen einen Schein von Freiheit und Selbstbestimmungsrecht gibt. Ob nun die Bourgeoisie diese Wirkung des allgemeinen Wahlrechtes vorgesehen hat oder nicht: jedenfalls ist es eine Tatsache, dass sich dieses „Recht“ als ganz nutzlos erwiesen hat. Es dient nur dazu, um die Macht der Bourgeoisie zu befestigen, indem es dem tatkräftigsten Teil des Proletariats die falsche Hoffnung vorspiegelt, dass es einst selbst zur Herrschaft gelangen wird.
Die Regierung ist auch beim allgemeinen Wahlrecht - oder besser gesagt, gerade beim allgemeinen Wahlrecht - der Diener und der Gendarm der Bourgeoisie. Wenn es anders sein könnte, wenn die Regierung den Reichen je feindlich werden könnte, wenn die Demokratie etwas anderes wäre, als ein Mittel, um das Volk zu betrügen - dann würde die Bourgeoisie, in ihren Interessen gefährdet,eine Empörung ins Werk setzen, und sich aller Macht und allen Einflusses bedienen, den ihr der Besitz des Reichtums gibt, um die Regierung zu ihrer einfachen Pflicht, zu ihren Gendarmendienst zurückzuführen. Immer und überall war die Bedrückung und Ausbeutung des Volkes, das Beschützen der Bedrücker und Ausbeuter die eigentliche Aufgabe der Regierung, was immer für einen Namen sich dieselbe beilegen mochte, wie immer auch ihr Ursprung und ihre Organisation ist.
Ihre wichtigsten, bezeichnendsten Werkzeuge sind der Gendarm und der Steuereintreiber, der Soldat und der Gefängniswächter, denen sich unvermeidlich der Verbreiter von unbewiesenen Behauptungen, der Priester oder zünftige Professor, zugesellt, die die Regierung bezahlt und beschützt, damit sie den Geist der Unterdrückten zur Knechtschaft und zum geduldigen Ertragen ihres Joches erziehen. Freilich haben sich diesen wesentlichen Aufgaben, diesen Hauptwerkzeugen der Regierung, im Laufe der Zeit andere Aufgaben angeschlossen. Geben wir also zu, dass es – in einem einigermaßen zivilisierten Land – nie oder beinahe nie eine Regierung gegeben hat, die außer ihrer Tätigkeit zur Bedrückung und Ausbeutung des Volkes, sich nicht auch anderen Aufgaben zugewandt hätte, die für das gesellschaftliche Leben nützlich oder unentbehrlich sind. Aber das Wesen der Regierung, die Bedrückung und Ausbeutung ist, dass sie durch ihren Ursprung und ihre gegenwärtige Stellung unvermeidlich dazu bestimmt ist, die herrschende Klasse zu beschützen und aufrechtzuerhalten; die Tatsache, dass sie ihr Wesen unter dem Deckmantel der allgemeinen Nützlichkeit zu verbergen sucht, bekräftigt und erschwert also nur noch die Anklagen, die wir gegen dieselbe vorgebracht haben.
Die Regierung übernimmt es, das Leben der Staatsbürger mehr oder weniger gegen unmittelbare brutale Angriffe zu verteidigen. Sie anerkennt und legalisiert eine Anzahl von grundlegenden Rechten und Pflichten, von Gewohnheiten und Gebräuchen, ohne welche ein gesellschaftliches Leben unmöglich ist. Sie organisiert und leitet einige öffentliche Dienstleistungen, wie z.B. die Post, die Landstrassen, die öffentliche Gesundheit, die Wasserregulierung; den Forstschutz usw. sie gründet Waisenhäuser und Spitäler und gibt sich gern den Anschein, dass sie die Beschützerin und Wohltäterin der Armen und Schwachen ist.
Wenn wir es aber genauer betrachten, wie und warum sie diese Aufgaben erledigt, so beweisen die Tatsachen, dass alles, was die Regierung tut, nur darum und deswegen getan wird, um zu herrschen, um die Vorrechte – ihre eigenen und diejenigen der Klasse, die sie vertritt und verteidigt – aufrecht zu erhalten, zu vermehren und zu verewigen.
Keine Regierung kann lange bestehen, ohne ihre wahre Natur unter dem Vorwand der allgemeinen Nützlichkeit zu verstecken; sie kann nicht das Leben der Bevorzugten beschützen, ohne dass sie sich den Anschein gibt, das Leben Aller beschützen zu wollen; sie kann nicht den Vorrechten Einzelner Geltung verschaffen, ohne Miene zu machen, das Recht aller Menschen aufrecht zu erhalten. „Das Gesetz“ sagt Kropotkin – das heißt diejenigen. Welche die Gesetze machen, nämlich die Regierung – „das Gesetz hat von den gesellschaftlichen Gefühlen des Menschen Gebrauch gemacht, um mit den allgemein anerkannten moralischen Vorschriften eine Gesellschaftsordnung durchzusetzen, welche der kleinen Anzahl von Ausbeutern nützlich ist, gegen welche die Menschheit sich sonst empört hätte.“ Eine Regierung kann nicht wollen, dass die Gesellschaft sich auflöst, denn dann würden ja sie und die herrschende Klasse keine Menschen mehr finden, die sie ausbeuten können. Sie kann auch nicht zugeben, dass die Gesellschaft sich selbst regiert, ohne offizielle Eingriffe, denn dann würde das Volk sehr bald merken, dass die Regierung zu gar nichts nötig ist – außer dazu, um die Besitzenden, die das Volk aushungern, zu beschützen – und es würde anfangen, sich von der Regierung und den Besitzenden zu befreien. Heutzutage, wo die Forderungen des Proletariats immer dringender und drohender werden, zeigen die Regierenden die Absicht, sich in das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitern zu mischen. Sie versuchen auf diese Art, die Arbeiterbewegung auf falsche Bahnen zu lenken, und durch einige irreführende Reformen zu verhüten, dass die Armen sich selbst alles dies erkämpfen, was sie nötig haben, nämlich eben soviel Wohlstand als die anderen Menschen genießen. Außerdem muss man in Betracht ziehen, dass die Bourgeoisie, also die Besitzenden, selber immerfort daran sind, einander gegenseitig zu bekämpfen und zu vernichten; und dass andererseits die moderne Regierung, obgleich sie der Sprössling, der Sklave und der Beschützer der Bourgeoisie ist, sich doch immer, wie jeder Sklave, zu befreien sucht und, wie jeder Beschützer, danach strebt, ihren Schützling zu beherrschen. Daher dieses Hin- und Herschwanken, diese Winkelzüge, dieses Gewähren und Zurücknehmen von Vergünstigungen, dieses Suchen nach Verbündeten im Volke gegen die Konservativen, dieses ganze Spiel, das die Wissenschaft der Regierenden ausmacht und welches den Leichtgläubigen und Faulen, die ihr Wohl immer von Oben erwarten, Sand in die Augen streut. Mit all dem ändert die Regierung ihre Natur nicht. Wenn sie die Regelung und Aufrechterhaltung der Rechte und Pflichten eines jeden übernimmt, so verdreht sie das Gerechtigkeitsgefühl der Menschen. Jede Tat, welche die Vorrechte der Regierenden und Besitzenden verletzt oder gefährdet, bezeichnet sie als „Verbrechen“ und bestraft dieselbe; die unbarmherzige Ausbeutung der Elenden, das fortwährende langsame, seelische und körperliche Hinmorden der Besitzlosen durch die Besitzenden erklärt sie für „gerecht“ und „gesetzlich“. Wenn sie die Leitung der öffentlichen Dienstleistungen in die Hand nimmt – also eine Art Staatssozialismus – so hat sie wiederum nur die Interessen der Regierenden und Besitzenden im Auge. Sie kümmert sich nur insoweit um die Interessen des arbeitenden Volkes, soweit es notwendig ist, damit das Volk willig seine Steuern zahlt. Wenn sie Schulen gründet und erhält, so tut sie dies auch nur darum, um die Verbreitung der unabhängig gelehrten Wahrheit zu verhindern und den Geist der jungen Leute so zu erziehen, dass sie zu müßigen Tyrannen und gehorsamen Sklaven heranwachsen – je nach Klasse, aus der sie stammen. In der Hand der Regierung wird alles zu einem Werkzeug der Ausbeutung, alles wird zu einer Polizei-Institution, um das Volk in Fesseln zu halten. Es kann nicht anders sein. Wenn das menschliche Leben ein Kampf zwischen den Menschen ist, so gibt es natürlich Sieger und Besiegte und die Regierung – welche der Preis des Kampfes ist, oder als Mittel dient, um den Siegern die Früchte des Sieges zu sichern und zu erhalten – wird selbstverständlich nie in den Händen der Besiegten sein, ob nun der Kampf durch körperliche oder geistige Kraft oder auf wissenschaftlichem Felde gefochten wird. Diejenigen, die gekämpft hatten, um zu siegen, um sich die besten Verhältnisse, die Vorrechte, die Herrschaft und die Macht zu erobern, werden den erfochtenen Sieg gewiss nicht dazu benützen, um das Recht der Besiegten zu beschützen oder um ihrem eigenen Willen – oder dem Willen ihrer Freunde und Verbündeten – Schranken zu setzen. Die Regierung, oder wie man sie nennt, der „Staat“, ist als Vollstrecker der Gerechtigkeit, als Milderer der gesellschaftlichen Streitigkeiten, als unparteiischer Verwalter der Interessen Aller eine Täuschung, ein Trugbild, eine nie verwirklichte und nie zu verwirklichende Utopie. Wenn die Interessen der Menschen mit einander im Gegensatz stünden, wenn der Kampf zwischen den Menschen ein notwendiges Gesetz der menschlichen Gesellschaft wäre, wenn die Freiheit von Einigen der Freiheit der Anderen eine Grenze setzen würde; dann würde ein jeder immer danach trachten, seine eigenen Interessen über die Interessen der anderen zum Siege zu verhelfen; ein jeder würde seine Freiheit auf Kosten der Freiheit anderer vergrößern wollen. Wenn es eine Regierung geben müsste, nicht weil dieselbe mehr oder weniger allen Mitgliedern einer Gesellschaft nützlich ist, sondern weil die Sieger sich die Früchte ihres Sieges sichern wollen, indem sie die Besiegten sich fest unterwerfen und um sich nicht immerfort zur Verteidigung bereit halten zu müssen, eigens zum Polizeidienst abgerichtete Menschen mit ihrer Verteidigung betrauen – dann wäre die Menschheit dem Untergang geweiht, oder sie wäre dazu verdammt, sich immerfort zwischen der Tyrannei der Sieger und den Empörungen der Besiegten herumzuschlagen.
Glücklicherweise ist die Zukunft der Menschheit glückverheissender, denn dieselbe wird durch ein sanfteres Prinzip geleitet:
Dieses wahrhaft menschliche und gesellschaftliche Prinzip ist die Solidarität.
Die notwendigen Grundeigenschaften des Menschen sind erstens das Streben nach der Erhaltung seines Lebens, ohne welches nichts Lebendes bestehen würde; und zweitens das Streben nach der Ernährung seiner Art, ohne welche keine Art sich entwickeln oder erhalten könnte. Der Mensch strebt natürlicherweise danach, sein eigenes Leben, sowie jenes seiner Nachkommenschaft gegen Alle und Alles zu verteidigen.
Die lebenden Wesen haben in der Natur zwei Methoden, um ihr Leben sicherer und angenehmer zu gestalten. Einerseits den Kampf der einzelnen Individuen gegen die Elemente und auch gegen die anderen Individuen derselben Art oder einer anderen Art; andererseits die gegenseitige Hilfe, das Zusammenwirken, welches wir die „Vereinigung zum Kampfe“ nennen können, gegen alle Naturgewalten, die das Dasein, die Entwicklung und das Wohlbefinden der vereinigten Lebewesen gefährden. In diesen kurzen Zeilen können wir die Rolle dieser zwei Grundprinzipien in der Entwicklung des Lebens, des Kampfes und des Zusammenwirkens und ihr Verhältnis zu einander nicht ausführlicher behandeln.
Es genügt, festzustellen, daß in der Menschheit das – freiwillige oder unfreiwillige – Zusammenwirken das einzige Mittel für den Fortschritt, zur Vervollkommung, zur Sicherheit geworden ist; der Kampf hingegen – als ein Überbleibsel der Urzeiten – ist ganz unfähig, das Wohlsein der Menschen zu fördern, im Gegenteil, der Kampf bringt den Siegern wie Besiegten nur Schaden.
Die Erfahrung, welche die aufeinander folgenden Menschengeschlechter erworben und einander überliefert haben, haben dem Menschen gezeigt, dass wenn er sich mit anderen Menschen vereinigt, sein Bestehen gesichert, seine Wohlfahrt größer ist. So hat sich aus dem Kampf ums Dasein, welchen die Menschen gegen die Unbilden der Natur und die eigenen Artgenossen führen mussten, der Gesellschaftstrieb entwickelt, der die Daseinsbedingungen der Menschen vollkommen verändert hat. Durch diesen Trieb konnte sich der Mensch aus dem tierischen Zustand emporarbeiten, eine große Macht über die Natur erhalten und sich so hoch über die übrigen Tiere erheben, dass die spiritualistischen Philosophen es für nötig fanden, eine übernatürliche und unsterbliche Seele für ihn zu erfinden.
Viele Ursachen haben bei der Bildung dieses Gesellschaftstriebes mitgewirkt. Derselbe hat seinen Ursprung in dem Bestreben aller Lebewesen, ihre Art zu erhalten – welches Bestreben nichts anderes ist, als wie der auf die natürliche Familie beschränkte Gesellschaftstrieb -und er hat sich in solch einer Höhe und Stärke entwickelt, das er von nun an an die eigentliche Grundlage der moralischen Natur des Menschen bildet.
Als der Mensch sich aus den niedriger stehenden Tierarten entwickelte, war er zu schwach und wehrlos, um einzeln den Kampf mit den Raubtieren aufnehmen zu können. Aber er hatte ein Gehirn, das einer großen Entwicklung fähig war, ein Stimmorgan (Kehle und Zunge), das fähig war, die verschiedenen Regungen dieses Gehirns durch verschiedene Laute auszudrücken; Hände, mit denen er Stein und Holz und andere Stoffe nach seinem Willen formen konnte – und so erkannte er gar bald die Notwendigkeit und die Vorteile der Vereinigung. Man kann sogar sagen, daß er erst dann anfing, Mensch zu sein, als er sich in Gesellschaften vereinigte, und den Gebrauch der Sprache erlangt hatte, die zugleich eine wichtige Errungenschaft und ein mächtiger Förderer der gesellschaftlichen Gefühle ist.
Da im Anfang die Anzahl der Menschen verhältnismäßig gering war, so war der Kampf ums Dasein zwischen Mensch und Mensch weniger erbittert, nicht so ununterbrochen, sogar weniger notwendig, was jedenfalls sehr viel zur Entwicklung der freundschaftlichen Gefühle beitrug und die Erkenntnis und Würdigung der gegenseitigen Hilfe ermöglichte.
Der Mensch kann durch die Anwendung seiner ursprünglichen Fähigkeiten, im Zusammenwirken mit mehr oder weniger seiner Genossen die Verhältnisse,in denen er lebt, verändern und sie seinen eigenen Bedürfnissen anpassen. Seine Begierden vermehren sich und wachsen in dem Maße, als es ihm leichter wird, dieselben zu befriedigen; sie werden schließlich zu Bedürfnissen. Die Arbeitsteilung entsteht als Folge der methodischen Ausnützung der Naturkräfte zu Gunsten des Menschen. Und durch all dies wird das gesellschaftliche Leben zur notwendigen Bedingung des menschlichen Daseins, ohne daß der Mensch in die Tierheit zurückfallen würde. Durch die Verfeinerung des Gefühls in Folge der häufigen Beziehungen unter den Menschen und durch die Gewohnheit, die sich während der Jahrtausende vererbt hat, ist dieses Bedürfnis nach gesellschaftlichem Leben, nach Austausch der Gedanken und Gefühle unter den Menschen zu einem notwendigen Teil des menschlichen Daseins geworden. Es hat sich in Zuneigung, in Freundschaft, in Liebe verwandelt, und besteht unabhängig von den materiellen Vorteilen, die die Vereinigung bietet, so weit das, um es zu befriedigen, man Leiden aller Art und sogar dem Tod entgegen tritt. Die Vereinigung bringt dem Menschen riesige Vorteile. Wenn er vereinzelt bleibt, ist er trotz seiner geistigen Überlegenheit viel schwächer als die übrigen Tiere; aber er besitzt die Möglichkeit, sich mit immer mehr und anderen Menschen zu vereinigen, immerfort engere und verwickeltere Beziehungen mit ihnen anzuknüpfen, so das sich schließlich die Vereinigung über die ganze Menschheit, über alles, was lebt, ausbreiten kann; er ist fähig, durch vereinte, gemeinsame Arbeit mit anderen mehr hervorzubringen, als er zum Leben braucht. Und aus alledem haben sich endlich die Gefühle der Zuneigung entwickelt. Darum ist der "Kampf ums Dasein" bei den Menschen vollkommen verschieden von dem, welcher bei den anderen Tieren besteht.
Wie dem auch sei, so weiß man heute noch – und die Naturforscher der Neuzeit bringen uns immer neue Beweise dafür -, das das Zusammenwirken in der Entwicklung der lebenden Welt eine sehr wichtige Rolle gespielt hat und noch spielt, welche nicht geahnt wird von denen, die – sehr unrichtiger weise – die Macht der Bourgeoisie durch die Entwicklungstheorie Darwins rechtfertigen wollten. Der Unterschied zwischen dem menschlichen und dem tierischen Kampf ist ebenso groß wie zwischen dem Menschen und den übrigen Tieren. Die übrigen Tiere kämpfen entweder einzeln, oder in den meisten Fällen in kleinen, zeitweiligen oder beständigen Gruppen gegen die ganze Natur, einschließlich ihrer eigenen Artgenossen. Sogar bei den geselligsten Tieren, wie z.B.die Ameisen, Bienen usw.sind die Individuen nur innerhalb derselben Gruppe – desselben Ameisenhaufens oder Bienenstockes – solidarisch miteinander, aber sie sind gleichgültig (wenn nicht feindlich) gegen die anderen Gruppen ihrer Art. Der menschliche Kampf hat hingegen im Gegenteil das Bestreben, die Vereinigung der Menschen immer mehr auszubreiten, ihre Interessen solidarisch zu machen, das Gefühl der Liebe für alle Menschen in einem jeden Menschen zu entwickeln, die Naturkräfte durch die Menschheit und für die Menschheit zu besiegen und zu beherrschen. Jeder unmittelbare Kampf, welcher den Zweck hat,unabhängig von anderen Menschen oder gegen dieselben, für einen Menschen Vorteile zu erringen, widerspricht der gesellschaftlichen Natur des heutigen Menschen und zieht ihn zum tierischen Zustand hinab.