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Latest revision as of 15:14, 22 September 2006
– Gustav Landauer –
AM ANFANG WAR DER ZORN. Der unsagbare, unzügelbare und unvorhersehbare Zorn,
der den Sklaven bisweilen überkommt und ihn dazu bringt, seinem Herrn entweder
den Schädel einzuschlagen oder sich davonzustehlen. Zorn darüber, daß ein Mensch dem
anderen befehlen darf. Wut über Knechtschaft und Unterdrückung. Haß auf die Arroganz
der Macht, die Menschen über Menschen ausüben.
Zorn, Rebellion, Flucht – eine uralte Triebkraft menschlicher Geschichte, ein Teufelskreis, dessen Grenzen schon ein rebellierender Sklave vor fünftausend Jahren kennengelernt ha- ben mag. In dieser Sackgasse ohne Ziel hat sich ein Spartakus* genauso bewegt wie Michael Kohlhaas oder ›Che‹ Guevara*, denn alle mußten sich früher oder später die Frage nach eben diesem Ziel ihrer Rebellion stellen.
Die Freiheit, natürlich! Aber was genau ist das? Wo gab es sie? Konnte man irgendwohin gehen und sie finden? Bedeutete die Flucht vor der Herrschaft, die simple Abwesenheit des Unterdrückers automatisch die Anwesenheit der Freiheit? Und zeigt nicht alle Erfahrung, daß ›Freiheit‹ eine trügerische Hoffnung ist? Wird nicht doch immer nur eine Form der Herrschaft durch eine andere ersetzt? Vor allem aber: Ist der Mensch zur Freiheit überhaupt fähig?
Empörung, Wut, Rebellion sind negative Werte. Sie sagen nur, wie es nicht sein soll, aber nichts darüber, wie es anders, wie es besser sein könnte. Haß ist nicht konstruktiv*, er ist destruktiv – wie könnte es auch anders sein. Natürlich wäre es vermessen, von dem Sklaven, der in seiner höchsten Drangsal gegen seinen Herrn rebelliert, auch sogleich einen fertigen Plan für eine freie Gesellschaft zu erwarten. Befreiung war und ist immer in erster Linie eine Reaktion auf Unfreiheit. Wenn sie aber dort stehenbleibt, wird sie niemals konstruktiv. Das jedoch bedeutet, daß ›Befreiung‹ letztendlich nicht zur Freiheit führt.
In diesem Spannungsfeld zwischen Zorn und Freiheit hat die Menschheit eine Idee geboren, die ebenso alt ist wie die Geschichte der Herrschaft: den Traum von der Anarchie oder, auf gut Deutsch gesagt, der Herrschaftsfreiheit. Im Mittelpunkt dieser Idee steht die Frage, wie Zorn sich selbst überwinden und Freiheit hervorbringen kann. Zweifellos sind Haß und Wut schlechte Ratgeber. Und ebenso klar ist, daß Freiheit nicht mit Mitteln der Unfreiheit geschaffen werden kann. Wahr ist aber auch, daß meistens der Zorn die erste Triebfeder da- für war, über eine ›Gesellschaft der Freiheit‹ überhaupt nachzudenken und, vor allem, sie in die Tat umzusetzen. Theoretiker des modernen Anarchismus haben dies die »schöpferische Kraft der Empörung« genannt, zugleich aber unermüdlich darauf hingewiesen, daß man um den Preis des Scheiterns der Freiheit niemals an diesem Punkt verharren darf.
So ist der Anarchismus – als befreiender Kampf und Lehre von einer herrschaftsfreien Gesellschaft – von Anfang an in diesen Widerspruch hineingeboren und bis heute in ihn verstrickt: Wie läßt sich destruktiver Zorn in konstruktive Befreiung umwandeln? Denn: was nützte jedes Aufbegehren gegen Unfreiheit, wenn an ihrem Ende keine Freiheit stünde?
Sie brächte nur neue Unterdrückung hervor, wenn – ja, wenn die Gedanken nicht über diese spontane Empörung, über Gefühle wie Rache und Wut hinausgingen.
Empörung braucht also eine Idee, die in eine positive Utopie* mündet; mit einem Wort: ein Ziel.
Dieses Ziel macht das Wesen jener Bewegung aus, die unter dem Namen »Anarchismus« seit jeher Begeisterung und Schrecken gleichermaßen auslöste. Bunt, bizarr und widersprüchlich wie Freiheit eben sein kann, verführerisch für die einen, Inbegriff des Bösen für die anderen, zieht sie sich seit Jahrhunderten wie ein bunter Faden durch die Geschichte der Menschheit. Zwischen konsequentester Friedfertigkeit und verzweifelter Gewalt entfaltet sich diese Idee der Hoffnung, die die Menschen bis heute zu beflügeln vermag und ihre wahre Zukunft noch vor sich haben dürfte.
Hiervon handelt dieses Buch.
Es geht der Frage nach, ob Anarchie ein weltfremder Traum ist oder ein noch zu reali- sierender Entwurf. Es versucht, das Knäuel der Ideen, die diese radikale Philosophie von der Freiheit bilden, zu entwirren und einige seiner Fäden zu verfolgen. Es berichtet von gescheiterten und erfolgreichen Versuchen, jenen Traum zu verwirklichen. Vor allem aber versucht es, einen Blick voraus zu tun – ein Szenario zu entwerfen und die These einiger zeit- genössischer Denker zu untersuchen, die behaupten, die Gesellschaftsform des kommenden Jahrtausends werde eine an-archische* sein – oder die Menschheit gehe unter.
Die Wurzeln des modernen Anarchismus sind sehr alt. Ihre Ursprünge verlieren sich im Dunkel der Menschheitsgeschichte – schon deshalb, weil vor zwei-, dreitausend Jahren kaum ein Chronist* die ›Geschichte der Empörungen‹ für überliefernswert hielt. Erst etwa ein- hundertfünfzig Jahre jung ist hingegen das, was man den ›modernen Anarchismus‹ nennen kann. Paradoxerweise ist er zwar ausgezeichnet dokumentiert, aber fast völlig unbekannt. Seine Suche nach einer künftigen Gesellschaft gebiert eine schier endlose Reihe von Revol- ten, Ideen und konkreten Experimenten. Sie alle sind voller Spannung und Aktualität, und bei fast allen ging die Auflehnung der Philosophie voraus.
Auch was die persönliche Entwicklung betrifft, dürfte bei den meisten Anarchisten irgendwann der Zorn vor der Utopie gestanden haben. Die wenigsten Menschen sind auf- grund analytischer* Überlegung oder durch philosophische Denkübungen zu dem Wunsch nach einer herrschaftsfreien Gesellschaft gelangt. Selbst Unterdrückung, Herrschaft und Ungerechtigkeit erlebt zu haben, war und ist noch immer die häufigste und kräftigste Trieb- feder, sich einer solchen Idee zu verschreiben.
So gesehen ist das Potential möglicher Empörer unerschöpflich. Wohl jeder selbstbewußte Mensch kennt diesen Zorn. Vielleicht haben auch Sie sich schon einmal die Frage gestellt, wieso da eigentlich Menschen über Ihnen sind, die Ihnen Anweisungen geben und über Ihr Leben und Ihre Zukunft entscheiden dürfen: ein ganzes System der Hierarchie*, von dem wir ja schließlich wissen, daß es alles andere als gut funktioniert.
Das bedeutet indes nicht, daß alle Menschen, die unter Herrschaft leiden, automatisch ›Anarchisten‹ wären. Zum Anarchismus gehört immer auch die Suche nach Alternativen und Zukunftsmodellen. Neue Ideen für die Zukunft aber scheinen heute dringlicher denn je.
Die weltweiten Problemketten auf unserem Planeten verurteilen uns dazu, neue Lösungen zu finden. Lösungen, die in der Lage wären, die überholten Vorstellungen von Zentralismus, Hierarchie, Konzentration und Wachstumswahn abzulösen. Bei dieser Suche kann uns der reiche Fundus anarchistischer Erfahrung interessante Anregungen geben – gute wie schlechte. Nur zu einem taugt er nicht: zum blinden Nacheifern. Ideologie*, Dogmatik* und Fanatismus* widersprechen sozusagen dem Wesensgehalt der Anarchie. Denn der besteht, salopp ausgedrückt, aus ›Freiheit pur‹.